Derzeit gibt es mehr als 900 Tafeln in Deutschland. Alle sind gemeinnützige Organisationen. Bundesweit unterstützen sie regelmäßig über 1,5 Millionen bedürftige Personen mit Lebensmitteln – knapp ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Rund 60.000 Menschen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich und spenden ihre Freizeit und ihr Know-how: als Helfer vor Ort, Fahrer, Berater oder Dienstleister. Ein paar Stunden am Tag, in der Woche oder im Monat, so wie es die persönlichen Möglichkeiten zulassen. Soweit die Selbstdarstellung der Tafeln. Es geht hier nicht um die immer wieder geführte Debatte um das Für und Wider dieser Hilfe (vgl. dazu nur beispielsweise die Blog-Beiträge Wird die „Vertafelung“ unserer Gesellschaft durch eine unaufhaltsame Effizienzsteigerung auf Seiten der Lieferanten erledigt? vom 19. April 2015 sowie Von der fortschreitenden „Vertafelung“ der unteren Etagen unserer Gesellschaft und warum die Zahl derjenigen, die nicht in Urlaub fahren können, kein geeigneter Maßstab ist vom 29. Mai 2014). Sondern es geht um einen aktuellen Konflikt, der sich an dem (Nicht-)Umgang mit den Flüchtlingen entzündet hat. Das ging los mit so einer Meldung, die aus Dachau kommt: Kein Zutritt für Asylbewerber. Anna-Sophia Lang berichtete in ihrem Artikel: »Die Tafel gibt keine Lebensmittel an Flüchtlinge aus. Diese sollten lernen, mit ihrem Geld umzugehen, sagt Vorsitzender Bernhard Seidenath.« Der Mann ist einer dieser Mehrfachfunktionäre: Er ist als Kreisvorsitzender des Bayerischen Roten Kreuzes für die Tafel in Dachau zuständig und sitzt zugleich als Abgeordneter für die CSU im bayerischen Landtag. Der Mann hat so seine eigene Sicht auf die Dinge. Er wird beispielsweise mit diesen Worten zitiert: „Wer hier in Deutschland aufgewachsen ist, weiß, wie er sich sein Geld einteilen muss. Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen und sich in unserem Land nicht auskennen, wissen das nicht.“ Und die Leiterin der Dachauer Tafel, Edda Drittenpreis, sekundiert dem forschen Rot-Kreuzler: „Das, was wir haben, essen die Asylbewerber ja alles nicht, die wollen Couscous und Kichererbsen.“ Offensichtlich wird es unappetitlich in dieser Geschichte.
Armut
Diesseits und jenseits von Armutsgefährdungsquoten für alle und für besondere Fälle. Ein Schlaglicht auf ein wachsendes Strukturproblem
Das Statistische Bundesamt hat mal wieder „Armutsgefährdungsquoten“ veröffentlicht. Das löst erwartungsgemäß Reflexe auf allen Seiten aus. Die einen beklagen das, was damit ausgesagt werden soll, die anderen bestreiten, dass diese Quoten überhaupt irgendeine Aussagefähigkeit hinsichtlich des höchst aufgeladenen Begriffs „Armut“ haben. Immer ganz vorne dabei Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der sich auch diesmal zu Wort gemeldet hat: Armut verharrt auf hohem Niveau – Paritätischer warnt vor neuer Rentnerarmut und fordert offensive Armutsbekämpfung, so ist die Pressemitteilung des Wohlfahrtsverbandes überschrieben worden. Darin wird er mit diesen Worten zitiert: „Das Bild, wonach es den Rentnerhaushalten in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung doch noch sehr gut ginge, hat sich mit den neuen Zahlen endgültig erledigt.“ Und weiter: „Die Quote der altersarmen Rentenrinnen und Rentner hat seit 2006 mit 51 Prozent so stark zugelegt wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Politik und Öffentlichkeit müssen sich endlich der Tatsache stellen, dass eine Lawine der Altersarmut auf uns zurollt. Es sind Menschen, deren Einkommen häufig nur knapp über der Sozialhilfeschwelle liegt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Zahlen derer, die in Altersgrundsicherung fallen, auf ein hohes Niveau nachziehen.“
Die andere Seite reagiert natürlich ebenfalls entsprechend und stellt den ganzen Ansatz in Frage, wie schon im April dieses Jahres, als der Paritätische seinen neuen Armutsbericht auf Basis der offiziellen Daten veröffentlicht hat (vgl. hierzu ausführlicher den Blog-Beitrag Das doppelte Kreuz mit der Armut und der Herkunft: Die (angeblichen) Armutskonstrukteure schlägt man und die Ständegesellschaft 2.0 wird nur angeleuchtet vom 3. April 2015). Doch mit Blick auf die neuen Zahlen des Bundesstatistiker soll es nicht um die leidige Grundsatzfrage gehen und auch nicht um den besonderen Fall der Altersarmut (vgl. dazu an anderer Stelle beispielsweise meinen Blog-Beitrag Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig vom 7. August 2015). Die Daten des Statistischen Bundesamtes werfen nämlich ein interessantes Schlaglicht auf ein leider zunehmendes Strukturproblem unterhalb der allgemeinen Durchschnittsquoten: Gemeint ist die Lage der „Geringqualifizierten“. Und die hat sich in den vergangenen Jahren erkennbar (weiter) verschlechtert.
Entsprechend lautet die Überschrift der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes: Höhere Armutsgefährdung von gering Qualifizierten als 2005.
Einige Hinweise zu den Daten: Die stammen aus dem Mikrozensus. Der Mikrozensus ist die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa; er bietet aufgrund seiner Stichprobengröße die Möglichkeit, für alle Bundesländer verlässliche Indikatoren zu ermitteln und zu vergleichen. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. In Deutschland trifft das etwa auf Einpersonenhaushalte mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 917 Euro zu. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Das bedarfsgewichtete Einkommen (Äquivalenzeinkommen) wird auf Basis der 1994 entwickelten neuen OECD-Skala berechnet. Nach dieser wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1 zugeordnet, für die weiteren Haushaltsmitglieder werden kleinere Gewichte eingesetzt (0,5 für weitere Personen im Alter von 14 und mehr Jahren und 0,3 für jedes Kind im Alter von unter 14 Jahren), weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen. Die Werte des Statistischen Bundesamtes, die in der Abbildung zusammengefasst sind, basieren auf der Armutsgefährdungsschwelle auf Bundesebene (Bundesmedian), die für Bund und Länder einheitlich ist und somit einen regionalen Vergleich ermöglicht. Detaillierte Ergebnisse zur Armutsgefährdung, zum Teil in tiefer regionaler Gliederung, sowie genaue Erläuterungen zu den Datenquellen und den angewandten Berechnungsverfahren stehen im Internetangebot der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zur Verfügung. Dort finden sich auch Armutsgefährdungsquoten, die auf Basis regional unterschiedlicher Armutsgefährdungsschwellen ermittelt wurden. Zu den Geringqualifizierten gehören Personen, die ausschließlich einen Hauptschul- oder Realschulabschluss beziehungsweise keinen Hauptschulabschluss sowie keinen beruflichen Bildungsabschluss besitzen.
Die Abbildung mit den Armutsgefährdungsquoten im Vergleich der Jahre 2005 und 2014 verdeutlicht generell, dass es keine Abnahme in den zurückliegenden Jahren gegeben hat, sondern der Anteil ist bundesweit sogar leicht von 14,7 auf 15,4 Prozent angestiegen, wobei sich das aus zwei gegenläufigen Entwicklungen speist, in Westdeutschland ist der Anteil etwas gesunken, während in Ostdeutschland die Quote angestiegen ist.
Besonders relevant ist aber der Befund hinsichtlich der spezifischen Armutsgefährdungsquote der „Geringqualifizierten“. Die Süddeutsche Zeitung fasst das in dem Artikel Ausbildung verhindert Armut kompakt so zusammen: »Geringqualifizierten droht in Deutschland heute häufiger ein Leben in Not als noch vor zehn Jahren.« Auch Spiegel Online schließt sich diesem Tenor an: Armutsgefährdung in Deutschland steigt. Natürlich gibt es auch die anderen, denen solche Daten gar nicht passen, aber man kann ja die Berichterstattung „gewichten“. Ein Beispiel dafür ist der Artikel Den Geringqualifizierten geht es doch nicht so schlecht von Dietrich Creutzburg in der FAZ. Schon die Überschrift irritiert vor dem Hintergrund der Ausgangsmeldung des Statistischen Bundesamtes und der Rezeption in anderen Medien. Wie kann es dazu kommen? Dazu erfahren wir: »Das Armutsrisiko der Geringqualifizierten ist gestiegen … Doch es lohnt sich ein genauerer Blick auf die Zahlen. Die Einkommen der Geringqualifizierten etwa sind keineswegs gesunken.« Creutzburg versucht es so:
»Aus dem gestiegenen Armutsrisiko der Geringqualifizierten folgt nicht, dass die absolute Höhe ihrer Einkommen gesunken ist. Ihre Einkommen sind nur langsamer gestiegen als die mittleren Einkommen in der Gesellschaft – welche nun von mehr Höherqualifizierten getragen werden.«
Na ja, netter Versuch, ändert aber nichts an dem Befund, den alle anderen auch erkannt haben. Man muss schon ein wenig dem Motto „Frechheit siegt“ verfallen sein, um so zu argumentieren. Die absoluten Einkommen sind nicht gesunken – bei einem relativen Maß, dass sich als Anteilswert am Einkommensdurchschnitt der Gesellschaft bemisst. Auf welch tönernen Füßen das steht, kann man sich an einem einfachen Gedankenspiel verdeutlichen: Wenn alle in der Gesellschaft oberhalb der Ebene der Geringqualifizierten bei den Einkommen ordentlich zulegen und nach ein paar Jahren in absoluten Euro-Beträgen 100 Prozent mehr haben, die Geringqualifizierten aber nur sagen wir mal 10 Prozent mehr haben gemessen an den absoluten Euro-Beträgen, dann wurde Creutzburg zu dem Ergebnis kommen: Den Geringqualifizierten geht es doch nicht so schlecht. Jeder andere würde natürlich erkennen, dass wir es mit einer gewaltigen Abkoppelung der Geringqualifizierten zu tun hätten (und auch haben), denn auch wenn deren absolute Euro-Beträge nicht gesunken, aber auch kaum gestiegen sind – selbst ein Nicht-Ökonom müsste sich nun wirklich vorstellen können, was es bedeutet, wenn die anderen zwei Drittel der Gesellschaft ihre Einkommen um 100 Prozent oder wie viel auch immer gesteigert haben – beispielsweise hinsichtlich des Preisniveaus dieser Volkswirtschaft, in der die Menschen leben.
Na ja, da ging es wohl um etwas anderes. In Wirklichkeit geht es dabei um den Kampf gegen die durchaus breite und fundierte Kritik an der Entwicklung wie vor allem auch an den Folgen der zunehmenden Ungleichheit. Zur Höchstform bei der grundsätzlichen Infragestellung eines kritischen Blicks auf Ungleichheit (nachdem man in einem ersten Schritt die „Armut“ bei uns „wegdefiniert“ hat) läuft Rainer Hanke, der verantwortliche Redakteur für Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, auf: Warum soll Ungleichheit ein Übel sein?, so hat er seinen Artikel in der FAS überschrieben und legt gleich im Untertitel nach: »Gleichheit wird maßlos überschätzt. Das meinen jetzt auch ein paar häretische Linke.« Es gibt aber auch nichts Schöneres als wenn ein paar Abtrünnige aus dem anderen Lager die eigene Meinung unterstützen oder man das so verkaufen kann.
Sozialpolitisch, aber auch volkswirtschaftlich wesentlich relevanter als diese ideologischen Verrenkungen derjenigen, die sich die Welt so malen wollen, wie sie gefälligst zu sein hat, damit keiner an den bestehenden Zuständen zweifelt, ist die Frage, was denn aus diesen erst einmal sehr trockenen Zahlen resultiert.
Das eine ist der Befund an sich, die zunehmende Abkoppelung der Geringqualifizierten von der allgemeinen Einkommensentwicklung. Wohlgemerkt mit Blick zurück auf Jahre, in denen wir in Deutschland eine insgesamt gesehen positive Arbeitsmarktentwicklung gehabt haben, in der es eigentlich bei entsprechenden Verteilungsstrukturen auch für die da unten hätte besser werden müssen. Was aber offensichtlich nicht der Fall war. Das hängt zusammen mit einer generellen Polarisierung gerade auf den Arbeitsmärkten und das betrifft eben nicht nur die Geringqualifizierten in der Abgrenzung des Statistischen Bundesamtes.
Dazu gibt es eine neue Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen: Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck, so haben Gerhard Bosch und Thorsten Kalina ihre Studie überschrieben (vgl. als Beispiel für die Berichterstattung darüber beispielsweise den Artikel von Michael Kohlstadt: Mittelschicht schrumpft trotz Rekordbeschäftigung zusammen). Einige Befunde aus der Studie von Bosch und Kalina:
»Seit Mitte der 1990er Jahre hat in Deutschland die Einkommensungleichheit stärker als in vielen anderen europäischen Ländern zugenommen. Der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Markteinkommen (60 bis 200% des Medianeinkommens) ging um gut acht Prozentpunkte von 56,4% im Jahre 1992 auf 48% im Jahre 2013 zurück. Der Sozialstaat hat die wachsende Ungleichheit der Markteinkommen nur zum Teil auffangen können. In der Sekundärverteilung, also nach Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers, schrumpfte der Anteil der Mittelschicht von 83% im Jahre 2000 auf knapp 78% im Jahre 2013 … Die Abstände in der bezahlten Arbeitszeit zwischen den Schichten sind in den letzten 20 Jahren gestiegen und haben die Ungleichheit vergrößert. Immer weniger Haushalte der Unterschicht und der unteren Mittelschicht können von ihren Erwerbseinkünften leben. Unter ihnen gibt es vermehrt Singlehaushalte und Haushalte mit nur geringer Erwerbstätigkeit, in vielen Branchen haben sie oft nur noch Zugang zu Minijobs und kurzer Teilzeitarbeit.«
Wenn man zwei zentrale und notwendigerweise holzschnittartige Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der IAQ-Studie wie auch anlässlich der Daten des Statistischen Bundesamtes zu der besonderen Entwicklung bei den Geringqualifizierten ziehen soll, dann könnte man folgendes formulieren:
Zum einen sind es nicht nur generell niedrige Löhne, die ein Problem darstellen, sondern diese vor allem auch in Verbindung mit wenigen Arbeitsstunden, am ausgeprägtesten in Form der geringfügigen Beschäftigung, aber auch bei vielen „normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen bis 20 Stunden in der Woche. Es geht also um eine Stabilisierung und Aufwertung der niedrigen Löhne an sich (passende Stichworte mögen hier Mindestlöhne und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sein), sondern zugleich muss es auch gelingen, die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden nach oben zu bringen.
Zum anderen und mit dem Blick auf die besondere Gruppe der „Geringqualifizierten“ in der Abgrenzung des Statistischen Bundesamtes (als ohne Berufsabschluss unter 25 Jahr und älter): Hierbei handelt es sich wenigstens zum Teil auch um die Opfer eines Ausbildungsstellenmarktes der Vergangenheit, in der es zu wenige Ausbildungsplatzangebote und eine zu große Nachfrage gab, also Jahre, in denen viele jungen Menschen leer ausgegangen sind bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Die sich dann irgendwann verabschiedet haben in das Geld verdienen als un- und angelernte Arbeitskräfte in der Industrie oder auf Servicejobs im Dienstleistungsbereich.
Wenn es uns gelingen würde – wie seit Jahren übrigens gefordert und von Berlin nicht wirklich ge-, geschweige denn erhört -, nur einen Teil dieser Menschen, die heute als Geringqualifizierte etikettiert werden und realen Verschlechterungen ausgesetzt sind, in Form von Umschulungen bzw. Erstausbildungen in die Bereiche des Handwerks und der Facharbeit hinein zu qualifizieren, wo wir absehbar und definitiv einen erheblichen Personalbedarf in den kommenden Jahren bekommen werden, dann wäre das ein individueller Ausweg für viele Betroffene und volkswirtschaftlich gesehen eine mehr als lohnende Investition. Dazu müsste man aber die Bereitschaft für und die Realisierung einer Ausbildung monetär bei diesem erwachsenen Personenkreis ganz anders fördern als das, was bislang passiert. Das bislang nicht endlich auf die Schiene gesetzt zu haben, ist ein Armutszeugnis für die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und vor allem für die, die diese zu verantworten haben.
Man könnte aber auch optimistisch enden, mit einem gewissen zynischen Unterton: Vielleicht wird ja jetzt endlich die Blockade dieser sinnvollen Nachqualifizierung (derjenigen, die das auch wollen) fallen, weil im Zuge der Arbeitsmarkt- und Ausbildungsintegration der vielen Flüchtlinge, die bei uns bleiben werden, klar werden wird, dass man angesichts der ungeheuren Aufgaben und Anstrengungen für die Flüchtlinge diejenigen nicht vergessen darf und sollte, die das „Pech“ (oder auch das selbstgewählte Schicksal) erfahren haben, vor einigen Jahren durch die Löcher unserer Schul- und Ausbildungssystems zu fallen. Ihnen gehört eine zweite, vielleicht auch dritte und vierte Chance gegeben.
Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“
Man stelle sich folgende Situation vor: Auf einer Veranstaltung eines Jobcenters in einer westdeutschen Großstadt wird über Fördern und Fordern berichtet. Mit einem gewissen Stolz verkündet die Führungskraft, dass es gelungen sei, „unberechtigten Leistungsbezug“ im Hartz IV-System energisch zu bekämpfen. Beispielsweise bei den jungen Menschen unter 25, die Grundsicherungsleistungen beantragt haben. Wenn die sich melden, dann werden sie gleich am Folgetag in eine Maßnahme geschickt, die jederzeit in der Lage ist, neue Teilnehmer aufzunehmen. Nichts anspruchsvolles, vielleicht sogar etwas anstrengend ausgestaltet. Und das Ergebnis? Mehr als 30 Prozent der jungen Menschen wurden in den darauffolgenden Tagen nicht mehr gesehen, nicht mehr in der Maßnahme und auch nicht im Jobcenter. Schluss und Hoffen auf große Zustimmung. Und dann eine Frage aus dem Plenum: Ob er denn wisse, was aus den jungen Menschen geworden sei? Wo sind die jetzt? Wovon leben die? Ratlose Gesichter auf dem Podium, Schulterzucken. Darüber wisse man nichts. Die sind halt weg.
Das gilt auch oft für die, die man schon im System hatte, die dann aber in die Sanktionsmaschinerie geraten sind. Nun muss man wissen, dass die Sanktionen in der Grundsicherung für die „U 25“, kein deutsches U-Boot, sondern das Kürzel für die unter 25-Jährigen, nach der gegenwärtigen Gesetzeslage strenger sind als für die „Normal-Kunden“. So kann man dem § 31a unter der Überschrift „Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen“ entnehmen: »Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen beschränkt. Bei wiederholter Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig.« Hier die Variante in einfacher Sprache: Wenn der junge Mensch beispielsweise eine „zumutbare Maßnahme“ – die das Jobcenter definiert – abbricht (auch wenn es gute Gründe dafür geben mag), dann wird ihm nicht nur etwas von seinen Hartz IV-Leistungen gestrichen, sondern sofort alles bis auf die Leistungen für für Unterkunft und Heizung. Geld fürs Leben? Weg. Und macht er dann noch mal Ärger, dann wird ihm auch das gestrichen. Rien ne va plus. Außer Lebensmittelgutscheine, wenn er oder sie die beantragen würde und nicht schon irgendwohin abgetaucht ist.
Arbeitslose und Niedriglöhner als Spielball der „Unterhaltungsindustrie“. Aus den Latrinen-Etagen der Fernsehwelt
Wir sollten uns wahrlich nicht über die Geschichte erheben und darauf bestehen, dass unsere Gesellschaften durchgängig auf einem viel höheren Entwicklungsniveau angekommen sind. Beispielsweise wird man als ein Beleg für das Wirken des zivilisatorischen Prozesses anmerken, dass heutzutage Gott sei Danke keine Gladiatorenkämpfe ausgefochten werden, in denen Menschen zu Tode kommen. Daumen runter. Nein, das Stadium haben wir verlassen, wir sind jetzt auf einer ganz anderen, höheren Umlaufbahn.
Das mag für viele Bereiche unseres Daseins der Fall sein, nicht aber für einen Teil der Medien, möchte man ausrufen, wenn man diese Nachricht aus den Latrinen-Etagen der modernen „Unterhaltungsindustrie“ zur Kenntnis nehmen muss: BBC plant „Hunger Games“ für Arbeitslose und Arme. »In Großbritannien soll demnächst eine Show starten, in der ausschließlich Arbeitslose und Geringverdiener gegeneinander antreten. Kritiker sprechen von „Hungerspielen“, um die Massen zu unterhalten«, berichtet Katja Mitic-Pigorsch in ihrem Artikel.
„Poverty Porn“ nennen es die Kritiker in Großbritannien, wenn finanzielle Not im Fernsehen zur Schau gestellt wird, um die Einschaltquote in die Höhe zu treiben. Doch genau solch einen „Armutsporno“ soll nun ausgerechnet die BBC planen. Der Sender will eine fünfteilige Reality-Doku mit dem Titel „Britain’s Hardest Grafter“ zeigen, übersetzt etwa der „härteste Malocher“ oder das „beste Arbeitstier“.
Gegeneinander im Wettstreit antreten dürfen dabei nur Arbeitslose und Geringverdiener, um am Ende 15.000 Pfund (etwa 20.000 Euro) Siegprämie zu erhalten – allerdings nur der Sieger, alle anderen bekommen gar nichts, sie gehen leer aus.
Bekanntlich kann man jeden Müll irgendwie in einem Legitimationsgeschwafel verpacken: Die »BBC verteidigt das Konzept als „seriöses soziales Experiment“, um die Auswirkungen von Arbeit auf das Leben eines Menschen darzustellen und den Niedriglohnsektor in den Fokus der Berichterstattung zu rücken.« Dazu auch der Artikel BBC defends reality show involving poor, dubbed ‚Hunger Games‘.
Zurzeit werden aber 25 Teilnehmer über 18 Jahren gesucht, die im Jahr weniger als 15.500 britische Pfund (umgerechnet etwa 21.000 Euro) zum Leben zur Verfügung haben. Kandidaten also, die trotz Schulabschluss oder Ausbildung entweder einen Job haben, in dem sie höchstens den Mindestlohn verdienen, oder Menschen, die gerade aktiv auf der Suche nach einer Stelle und/oder abhängig von Sozialhilfe sind.
Übrigens – die potenzielle Grundgesamtheit für Kandidaten ist riesig: »2014 sollen laut Schätzungen mindestens 13 Millionen Einwohner an der Armutsgrenze gelebt haben. Während früher vor allem Arbeitslose betroffen waren, sorgen steigende Lebenshaltungskosten, Mieten und Lohndumping dafür, dass immer mehr Menschen trotz ihres Jobs nicht mehr genug verdienen, damit es zum Leben reicht. Viele sind auf Essenspenden der Kirchen angewiesen.« Dazu beispielsweise Hungernd in London. In Großbritannien steigt die Nachfrage nach kostenlosen Lebensmitteln enorm aus dem Dezember 2014.
Das ist alles in Großbritannien keine neue Entwicklung:
«Erstmals heftig diskutiert wurde das Konzept „Poverty Porn“ …, als Channel 4 im Jahr 2014 die Reality-Doku „Benefits Street“, zu deutsch also die „Straße der Sozialleistungen“, zeigte. Darin wurden Familien der Unterschicht aus 13 Nationen ein Jahr lang ungefiltert in ihrem Alltag mit der Kamera begleitet.
Die erste Folge der Sendung erreichte eine sagenhafte Quote von 4,3 Millionen Zuschauern, später sogar noch mehr. Allerdings gingen daraufhin auch Dutzende Beschwerden ein. In der Kritik standen nicht nur der Sender wegen der Stigmatisierung der Sozialhilfeempfänger, sondern auch die Bewohner selbst, denen Faulheit und Ausbeutung des Sozialstaates auf Kosten der Steuerzahler vorgeworfen wurde. Für den Sender war die hitzige Debatte natürlich eine gelungene PR.«
Ach so, zurück zu den armen Gladiatoren aus den vergessenen Schichten unserer so brutalen Vorgänger-Welt: Auch durch moderne Medien bedingt assoziieren wir alle mit Gladiatoren Sklaven und Kriegsgefangene, die keine Alternative hatten zu dem Joch, das ihnen da auferlegt wurde. Und anders als die Gladiatoren kommen die Niedriglöhner und Arbeitslosen im britischen Fernsehen doch nicht zu Tode. Aber wie immer sah und sieht die Welt differenzierter aus:
Bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. verpflichteten sich auch freie Bürger als Gladiator. Obwohl Gladiatoren gesellschaftlich noch niedriger als Sklaven standen, war das Interesse, Gladiator zu werden, zeitweilig so hoch, dass der Senat dies durch ein Gesetz einzuschränken versuchte. So sollen gegen Ende der Republik fast die Hälfte der Gladiatoren ehemals freie Bürger gewesen sein, die mit dem Eintritt in den Berufsstand der Gladiatoren ihre Freiheit aufgaben.
Wie das? Freiwillig? Ein Erklärungsansatz zeigt wieder mal auf: Sozialpolitik war und ist überall: Ein Gladiator hatte nur ein- bis dreimal pro Jahr zu kämpfen und wurde in der restlichen Zeit gut versorgt. Die medizinische Versorgung der Gladiatoren galt als beispielhaft in der damaligen Zeit.
Zumindest das mit der beispielhaften medizinischen Versorgung würden sich (nicht nur) viele Briten bestimmt auch heute wünschen.
Aus den untersten Etagen des deutschen Arbeitsmarktes: Lohnprellerei, Subunternehmer-Ketten und Generalunternehmer, die eigentlich haften müssen. Und ein echtes Staatsversagen
Und wieder erreichen uns Berichte aus den untersten Etagen des deutschen Arbeitsmarktes, wo Ausbeutung grassiert und Hilfe nötig ist: »Das Frankfurter Europaviertel wächst und gedeiht. Bauherrn wie Immobilienfirmen haben Grund zur Freude. Nicht so die rumänischen Arbeiter, die dort protestierten. Sie sind seit Wochen nicht entlohnt worden.« So beginnt der Artikel Abermals rumänische Arbeiter geprellt von Jochen Remmert.
Über 50 rumänische Bauarbeiter, die in Frankfurt am Europaviertel mitbauen (vgl. dazu den Artikel Wo die Wohntürme wachsen) haben seit Wochen keinen Lohn mehr bekommen. Da ist z.B. Adrian Trandafir, ein verheirateter Vater zweier Kinder (11 und 16 Jahre), die mit der Mutter in Rumänien geblieben sind – und auf das Geld aus Deutschland dringend warten.
»Mit dem Bus dauert die Reise nach Frankfurt eineinhalb Tage, sie kostet 150 Euro. Schon dieses Geld müssen sich die Arbeiter oft erst einmal leihen und darauf hoffen, dass sie es dann in Deutschland schnell wieder verdienen. Versprochen werden gut 14 Euro Stundenlohn. Tatsächlich aber liegt das Entgelt nicht selten darunter, berichten die Arbeiter. Die wirkliche Arbeitszeit ist kaum zu prüfen, und wenn noch Kosten für Unterkünfte abgezogen werden, sind Manipulationen Tür und Tor geöffnet.«
Und wenn man sich den Sachverhalt genauer anschaut, dann versteht man in Umrissen, warum es so wichtig ist, sich mit den hoch problematischen Subunternehmer-Ketten in der Bauwirtschaft zu beschäftigen, mit einem Instrument namens Generalunternehmerhaftung und auch, warum es spezieller Hilfsangebote seitens der Gewerkschaften – die aber nur fehlendes und eigentlich dringend erforderliches staatliches Handeln zu kompensieren versuchen, braucht, um denjenigen, denen hier Unrecht angetan wird, helfen zu können.
Zum Sachverhalt aus Frankfurt:
»Generalunternehmer der Baustelle an der Hattersheimer Straße am Rande des Europaviertels in Frankfurt ist die D & B Bau GmbH aus Neustadt an der Weinstraße. Sie wiederum gehört zur Demathieu-&-Bard-Gruppe in Frankreich.«
Jetzt kommt das Subunternehmer-Thema ins Spiel:
»Die Ausführung des Baus hat D & B Bau allerdings einem Offenbacher Unternehmen übertragen. Sie hat die Lohnsumme zwar von der D & B Bau nach deren Angabe in voller Höhe kassiert, das Geld aber nicht oder nur zu einem Bruchteil an die rumänischen Bauarbeiter ausgezahlt. Alles in allem stehen rund 200.000 Euro an Löhnen aus, hat die IG Bau errechnet. Zudem hat das Offenbacher Subunternehmen die Miete für Unterkünfte der Wanderarbeiter nach Angaben der Gewerkschaft nicht bezahlt – mit der Folge, dass mehr als 20 von ihnen zunächst keine Bleibe mehr hatten.«
Offensichtlich geht es hier um die Offenbacher Kaczor Bauunternehmen GmbH, wie man einem anderen Artikel zu den Vorgängen in Frankfurt entnehmen kann.
Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass der Fall an die Öffentlichkeit gebracht wurde?
»Dass deren heikle Lage überhaupt publik wurde, ist nicht zuletzt Letitia Türk vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ zu danken. Die in Rumänien geborene Gewerkschafterin hilft den Männern, die in der Regel kein Deutsch sprechen können, ihre Rechte einzufordern.«
»Ganz leicht dürfte es erst einmal nicht werden, die ausstehenden Löhne rasch zu bekommen. Denn der Subunternehmer aus Offenbach scheint verschwunden.«
Nun könnte der eine oder andere Rechtskundige einwerfen, genau für solche Fälle gilt doch nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz die Generalunternehmerhaftung mit den daraus resultierenden Verpflichtungen. Im Prinzip ja und der Generalunternehmer erklärt auch öffentlich, er wolle diese Verpflichtungen selbstverständlich erfüllen. Also grundsätzlich, aber:
»Man müsse aber erst einmal prüfen, wer von den Arbeitern, die der flüchtige Offenbacher Bauunternehmer angeheuert habe, tatsächlich auf der Baustelle an der Hattersheimer Straße tätig gewesen sei. Das waren nach Auskunft der IG Bau 54 Männer. Allerdings hat die Offenbacher Firma offenbar weitere 250 ebenfalls um Löhne geprellt. Sie waren aber nicht auf Baustellen der D & B Bau tätig. Ihnen könne man nicht helfen … Für das Unternehmen ist die Lage nicht nur heikel, weil es nun zweimal für dieselbe Leistung zahlen muss, sondern auch deshalb, weil der Zeitplan für das 180 Wohnungen umfassende Projekt an der Hattersheimer Straße in Gefahr gerät. Nach wie vor geltende Fristen sind womöglich nicht mehr oder nur mit erheblichem zusätzlichem Kostenaufwand einzuhalten.«
Nun könnte der eine oder andere auf die Idee kommen, dann soll doch das Unternehmen einfach die rumänischen Bauarbeiter direkt einstellen, um die Baustelle schnell wieder ans Laufen zu bekommen. Das sei „zu kompliziert“, wird einer der Verantwortlichen aus dem Unternehmen zitiert. »Man sei aber auf der Suche nach einem neuen Subunternehmer, der die Arbeiter von der Hattersheimer Straße übernehme.«
Von der Subunternehmer-Kette will man also nicht lassen.
Wenn man das schon meint machen zu müssen, dann hat man aber auch die Konsequenzen zu tragen – und übrigens ist es auch nicht so, dass man sich immer herausreden kann mit dem Hinweis, man habe ja leider nicht wissen können, was da unter der Subunternehmer-Decke alles passiert. Nur ein ganz handfester Vorschlag, der in dem Artikel von Jochen Remmert zitiert wird:
»Rainer von Borstel, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Baugewerblichen Unternehmer Hessen, glaubt zwar nicht, dass sich ein solcher Missbrauch ganz verhindern lässt. Es gebe aber für Generalunternehmer durchaus Möglichkeiten, die Seriosität von Subunternehmern zu prüfen. So lasse sich bei den Sozialkassen der Branche erfragen, wie viele Mitarbeiter ein Unternehmen überhaupt angemeldet habe.«
Und damit keine Missverständnisse aufkommen – das ist eben kein bedauerlicher Einzelfall. Bleiben wir in Frankfurt:
»Vor ziemlich genau einem Jahr zahlte die Bögl-Gruppe nach rund einer Woche des Protests – ebenfalls vor einer Baustelle im Frankfurter Europaviertel – 175.000 Euro vorenthaltenen Lohn an 50 Rumänen, nachdem ein dubioser Subunternehmer zwar von Bögl Geld kassiert, den Lohn aber anschließend nicht an die Arbeiter ausgezahlt hatte. In diesem Jahr hat es allein in der Rhein-Main-Region schon vier größere Fälle von Lohnprellerei gegeben, sagte gestern Hans-Joachim Rosenbaum, Regionalleiter der IG Bau Hessen.«
Und man kann und muss davon ausgehen, dass das alles nur die Spitze eines Eisbergs ist, denn viele der rumänischen Wanderarbeiter, vor allem, wenn nur wenige und keine größeren Gruppen betroffen sind, trauen sich nicht, sich zu wehren oder wissen schlichtweg nicht, ob und was sie machen können. Die Dunkelziffer wird sehr hoch sein.
Zugleich sind wir hier mit einem veritablen – und man muss es so nennen – Staatsversagen konfrontiert, denn gerade hier hätte der Staat eine elementare Schutzfunktion gegen Ausbeutung und so lobenswert Projekte wie die „Faire Mobilität“ des DGB auch sein mögen – hier muss man flächendeckende staatlich organisierte und finanzierte Hilfsangebote in einer verlässlichen Form erwarten dürfen. Hier – aber auch in anderen Bereichen, man denke an die Mindestlohnthematik – zeigt sich wieder einmal die offensichtliche Schwäche in Deutschland, dass es keine ganzheitlich ausgerichtete Arbeitsinspektion gibt, sondern entweder gar nichts da ist oder aber das Motto „Viele Köche verderben den Brei“ seinen Niederschlag findet.