Die Zahl der Pflegebedürftigen könnte stärker steigen als bislang erwartet. Der Pflegereport 2015 mit neuen Zahlen und einem Schwerpunktthema zur häuslichen Pflege

Erst vor wenigen Tagen ist die zweite Stufe der Pflegereform im Bundestag verabschiedet worden – vgl. dazu den Blog-Beitrag Die Altenpflege und die Pflegereform II. Auf der einen Seite himmelhoch jauchzend, auf der anderen Seite zentrale Baustellen, auf denen nichts passiert und Vertröstungen produziert werden vom 14.11.2015.

Und kurz darauf wurde nun der Pflegereport 2015, herausgegeben von der Krankenkasse BARMER GEK und verfasst von Heinz Rothgang mit weiteren Autoren, veröffentlicht.  Und eine der Botschaften nach dem Blick in die Glaskugel lautet: »Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland steigt stärker als bisher vorausgesagt. Im Jahr 2060 werden geschätzt 4,52 Millionen Menschen gepflegt werden. Das sind 221.000 mehr, als bisherige Prognosen erwarten ließen«, kann man der Pressemitteilung zur Veröffentlichung des Reports entnehmen. Die Anpassung der Prognose basiert auf einer Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011, die mit den bisherigen Annahmen verglichen wurden. »Die Studie zeigt zugleich, dass der Anteil hochbetagter Pflegebedürftiger drastisch wachsen wird. 60 Prozent der pflegebedürftigen Männer und 70 Prozent der pflegebedürftigen Frauen werden im Jahr 2060 85 Jahre oder älter sein. Heute liegen die entsprechenden Werte bei 30 beziehungsweise 50 Prozent.«

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Pressemitteilung überschrieben wurde mit Zahl der Pflegebedürftigen steigt stärker als erwartet – in der Überschrift zu diesem Blog-Beitrag wurde daraus bewusst könnte stärker steigen gemacht. Denn es handelt sich um eine exakt daherkommende Vorausberechnung über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren! Bei aller Wertschätzung für die Erkenntnisse und Beiträge der Demografie – aber ein solcher Zeithorizont ist mehr als wagemutig. Wenn überhaupt kann man grobe Schneisen der Entwicklung angeben, immer unter Berücksichtigung der getroffenen Annahmen. Hier werden aber konkrete Zahlen genannt – „221.000 mehr, als bisherige Prognosen erwarten ließen “ – und das ist nicht wirklich hilfreich, man könnte auch sagen: nicht seriös. Vor allem wenn man weiß, dass auch der Zensus 2011 immer noch zahlreiche offene Datenfragen mit sich bringt, es sich um keine wirkliche Volkszählung handelt. Von den Veränderungen bei den Wanderungen am aktuellen Rand mal ganz zu schweigen, die schlichtweg nicht ausreichend Berücksichtigung finden (konnten). Wie wackelig „Prognosen“ oder gar sozialpolitische Schlussfolgerungen sind auf dieser Datenbasis, zeigen beispielsweise diese Blog-Beiträge: Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet vom 6. Mai 2015 oder Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ vom 28. April 2015.

Interessante Daten liefert der Pflegereport 2015 zur Pflegeinfrastruktur: »Die Kapazitäten in der ambulanten und stationären Versorgung sind in den Jahren 1999 bis 2013 deutlich schneller angestiegen als die Zahl der Pflegebedürftigen. Während diese um rund 30 Prozent zunahm, hat das Pflegedienstpersonal, gerechnet in Vollzeitäquivalenten, um knapp 70 Prozent zugenommen. Dieser Anstieg ist vor allem auf Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte zurückzuführen. Im stationären Bereich ist die Bettenzahl um 39,9 Prozent gestiegen. Die Anzahl der stationären Pflegeeinrichtungen stieg im gleichen Zeitraum um 47,1 Prozent. Der Kapazitätsausbau hat dazu geführt, bekannte Versorgungsdefizite im ambulanten Bereich und Wartelisten im stationären abzubauen.«

Sowohl Frauen als auch Männer müssen häufiger mit Pflegebedürftigkeit rechnen. »Von den im Jahr 2013 Verstorbenen waren bereits drei Viertel der Frauen und 57 Prozent der Männer pflegebedürftig. Auch die Dauer der Pflege weitet sich laut Pflegereport der BARMER GEK aus. Von den Männern waren 22 Prozent und von den Frauen sogar 41 Prozent vor ihrem Tod im Jahr 2013 länger als zwei Jahre gepflegt worden.«

Pflege findet immer mehr zu Hause statt. So sank der Anteil vollstationärer Pflege zwischen den Jahren 2005 und 2013 von 31,8 auf 29,1 Prozent.

Zum Thema häusliche Pflege erfahren wir: Die heutige Pflege von rund 1,87 Millionen Menschen im häuslichen Umfeld wird von rund 3,7 Millionen Angehörigen geleistet. »Ein Drittel davon seien Männer. Pflegende Frauen widmeten sich überwiegend im Alter von 40 bis 75 und damit fünf Jahre früher als Männer der Pflege. Werden Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz gepflegt, also beispielsweise Demenzkranke, sind die pflegenden Frauen und Männer bereits deutlich älter. Die Pflege Demenzkranker ist zudem deutlich zeitaufwändiger. Sie beträgt bei einem Drittel der Betroffenen zwischen vier und acht Stunden täglich, bei einem weiteren Drittel sogar zwischen acht und zwölf Stunden. Bei anderen Pflegebedürftigen dominiere ein relativ geringer täglicher Aufwand von ein bis zwei Stunden.«

Interessant ist auch mal wieder die (selektive) Rezeption des neuen Pflegereports in einigen Medien. Beispielsweise in dem Artikel Die „sehr großzügige“ Pflegereform von Gesundheitsminister Gröhe von Cordula Tutt in der Online-Ausgabe der WirtschaftsWoche.  Schon der Anfang des Beitrags verdeutlicht die Stoßrichtung: »Eine Pflege-Studie zeigt: Die Bundesregierung weitet die Leistungen der Versicherung stark aus – doch sie schätzt die Zahl künftiger Hilfebedürftiger zu niedrig ein. Beides dürfte sich bald rächen.«

Die Autorin zieht zwei Botschaften aus dem neuen Pflegereport:

»Die Leistungen seien stärker ausgeweitet worden als von den eigenen Experten der Regierung zuvor empfohlen. Das kommt zwar bei Wählern gut an, kann aber bedeuten, dass das Geld in wenigen Jahren bereits wieder fehlt. Außerdem steige die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland nach den neuen Zensuszahlen stärker als bisher vorhergesagt, heißt es.«

Und worin besteht die „unerwartete Großzügigkeit“ der Pflegereform der Bundesregierung?

»Anders als vom eigenen Expertenbeirat empfohlen, würden nun noch mehr Menschen als pflegebedürftig gelten und hätten Anspruch auf Leistungen. Außerdem würden noch mehr Versicherte bei der Umstellung von bisher drei Pflegestufen auf künftig fünf Pflegegrade höher bewertet und bekämen allein schon deshalb mehr Geld. Die Bundesregierung habe auch bei Pflegebedürftigen keine Abstriche gemacht, die bisher im Vergleich großzügig abgeschnitten hätten.«

Und was stört die Verfasserin des Artikels? Hier bringt sie es auf den Punkt:

»Auch die Pflegereform verfehlt nun den Anspruch, sparsam und effizient Leistungen umzustellen. Das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsinstitut (RWI) berechnete zuletzt, dass die Gröheschen Gesetze zwischen 2015 und 2020 bis zu 40 Milliarden Euro Mehrausgaben im Gesundheitssystem bedeuten – auch wenn nicht alle Kosten direkt bei den Versicherten anfallen, sondern auch beim Staat. Demografiefest sieht aber anders aus.«

Man darf an dieser Stelle der Verfasserin zurufen – ja und? Was ist die Alternative? Die Ausgaben werden anfallen, wenn man eine halbwegs akzeptable Pflege gewährleisten will. Und man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass es viele Pflegeexperten gibt, die sagen, dass es bereits im bestehenden System eine eklatante Finanzierungslücke gibt und auch die nun verabschiedeten Reformbausteine würden nur einen Teil davon zu kompensieren versuchen.

Offensichtlich stört sie sich an der Finanzierung über die Pflegeversicherung. Das kann man machen – vor dem Hintergrund des Wissens allerdings, dass die Pflegeversicherung lediglich eine Teilkaskoversicherung ist und in den vergangenen Jahren zumindest ein schleichender Realwertverlust der Leistungen stattgefunden hat, weil es keine adäquate Dynamisierung gab. Spiegelbildlich sind die von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen aufzubringenden Anteile an der Finanzierung der Pflege angestiegen.

Die – in dem Artikel allerdings nicht mal embryonal zu Ende gedachten – Konsequenzen wären: Entweder man deckelt und kürzt die Leistungen aus der bestehenden, also aus Beiträgen finanzierten Pflegeversicherung und erhöht damit weiter und stärker als bislang die Eigenanteile der Betroffenen und ihrer Familien bzw. der kommunalen Sozialhilfe („Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII). Oder man geht hin und überdenkt die Finanzierung der Pflegeversicherung, die als jüngster Spross der Sozialversicherungen in Deutschland wie die anderen auch im Wesentlichen eine umlagfinanzierte und auf Beiträgen aus der sozialversicherungspflichtigen Arbeit basierende Versicherung darstellt. Man könnte entweder die Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung erweitern – Stichwort: Bürgerversicherung – oder aber man stellt das System um auf ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz. Aber davon lesen wir nichts in dem Artikel. Möglicherweise glaubt oder träumt die Autorin von einer stärkeren „Eigenvorsorge“ der Menschen in Form einer zusätzlichen privaten Absicherung des Pflegerisikos. Dann aber kennt sie nicht wirklich die Einkommenslage von Millionen Haushalten in unserem Land. Selbst wenn die wollten, könnten viele nicht. Weil nicht genügend da ist. Denn die sollen bekanntlich auch noch fürs Alter privat vorsorgen, Stichwort Riester-Rente.

Und wieder einmal zeigt sich, wie fatal es ist, das keine substanzielle Debatte stattfindet über die Weiterentwicklung der Finanzierung der Pflege. Aus Sicht der Politik derzeit auch verständlich, warum soll man diese Baustelle eröffnen, wenn es doch noch ganz gut läuft und die Systeme (noch) funktionieren. Wenn man sich an den Reserven der Pflegeversicherung bedienen und diese erst einmal verfrühstücken kann. Aber das wird natürlich nicht auf Dauer funktionieren.

Profit aus der Pflege verträgt sich nicht mit guten Pflegeheimen. Sagt eine neue Studie. Ist das aber wirklich so?

Diese Botschaft wurde von vielen Medien gerne aufgegriffen, bedient sie doch plausibel daherkommende Einschätzungen, die man auch ohne empirische Fundierung vor dem inneren Auge hat: Betreuung in profitorientierten Pflegeheimen oft schlechter, konnte man beispielsweise der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts entnehmen: »Die Pflegequalität ist in profitorientierten Pflegeheimen in Deutschland schlechter als in nicht-profitorientierten Einrichtungen. Das berichtet eine Forscher­gruppe um den Gesundheitssystemforscher Max Geraedts vom Institut für Gesundheitssystemforschung der Universität Witten/Herdecke. Ihre Ergebnisse sind in der Zeitschrift Aging International erschienen.« Es handelt sich hierbei um die Studie Trade-off Between Quality, Price, and Profit Orientation in Germany’s Nursing Homes von Max Geraedts , Charlene Harrington, Daniel Schumacher und Rike Kraska.

Eine Überlegung ohne jede Studie, die eine vergleichbare Einschätzung auslösen wird, geht so: Wenn man bedenkt, dass der größte Kostenblock in der Altenpflege die Personalkosten sind und wir uns in einem System der administrierten Preise bewegen, bei denen zwar individuelle Pflegesätze verhandelt werden, diese sich aber a) in einer Bandbreite der anderen Pflegesätze in dem jeweiligen Bundesland bewegen müssen und b) auch Steigerungen sich nicht an realen Kostensteigerungen (z.B. durch höhere Vergütungen beim Personal) orientieren, sondern vor allem an den Budgetsteigerungen der Pflegeversicherung als maßgeblicher Verhandlungspartner, dann wird schnell erkennbar, dass man an den Personalkosten herumschrauben muss, wenn man gleichzeitig einen wie auch immer hohen Profit aus der Pflege ziehen will oder muss, weil man beispielsweise ein an der Börse notierter Pflegeheimbetreiber ist. Letztendlich gibt es dann in einer solchen Konstellation einen starken Anreiz, die Qualität der Pflege, die über das Personal läuft, abzusenken, denn dazu muss es kommen, wenn man beispielsweise die Quantität und/oder die Qualität der Pflegekräfte reduziert oder es aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen zu einer hohen Fluktuation kommt.

Die angesprochene neue Studie der Universität Witten/Herdecke scheint genau diese These zu stützen. Die Pressemitteilung zur Studie aus der Hochschule ist überschrieben worden mit: Pflegeheime pflegen schlechter, wenn sie profitorientiert und billig sind. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass hier nicht „nur“ von profitorientiert gesprochen wird, sondern billig müssen die Pflegeheime auch noch sein. Das ist keine Nebensache, wie man diesem Passus entnehmen kann: »Gerade im unteren Preissegment pflegen die profitorientierten Pflegeheime schlechter als die nicht-profitorientierten. Im obersten Preissegment unterscheiden sich die Pflegeheime kaum noch nach ihrer Profitorientierung.«

Wir müssen also, folgt man den Studienergebnissen, von einer offensichtlichen schlechten Kombination von profitorientiert + billig ausgehen, wenn es um die Qualitätsfrage geht. Aber im oberen Preissegment, wo es also teuer ist, verliert das Merkmal profitorientiert seine besondere Relevanz.

Das gilt natürlich alles nur, wenn man das der Studie zugrundeliegende Qualitätskonzept akzeptiert für die Annahme der Schlussfolgerungen. Hierzu erfahren wir:

Für die Studie haben die Autoren die Daten der gesetzlich festgelegten Qualitätsprüfung des medizinischen Dienstes von mehr als 10.000 Altenheimen der Jahre 2011 und 2012 ausgewertet. Deren Aussagekraft wird zwar vielfach hinterfragt, jedoch lässt die Konsistenz der Ergebnisse den Zusammenhang ausreichend sicher interpretieren. „Man kann am Sinn dieser Überprüfung an vielen Stellen sicher zweifeln. Aber sie wird einheitlich für alle Träger durchgeführt und bietet daher einheitliche Daten.“

Man kann, so einer naheliegender Einwand an dieser Stelle, nicht nur berechtigt am Sinn des so genannten „Pflege-TÜVs“ zweifeln, sondern eben auch an der inhaltlichen Aussagekraft dessen, was da bislang erhoben wurde und wird . Nicht umsonst sind sich (fast) alle einig darin, dass der bisherige Pflege-TÜV gescheitert ist und man hat im Zuge der gerade beschlossenen zweiten Stufe der Pflegereform u.a. auch vereinbart, dass ein neues System der Qualitätsprüfungen eingeführt werden soll – allerdings erst in 2018, weil man das noch entwickeln und umsetzen muss. So lange macht man mit einem wirklich kritikwürdigen Prüfsystem weiter. Man schaue sich nur einmal die Notenverteilung über die Bundesländer an und vor allem die nun wirklich ausreichend dokumentierten Fälle, dass offensichtlich sehr schlechte Pflegeheime (wenn man vom Pflegebedürftigen ausgeht) immer wieder mit außerordentlich positiv Bewertungen aufgefallen sind.

Natürlich – da muss man die Forscher verstehen – ergibt sich hinsichtlich der Verwendung der Bewertungsdaten aus dem Pflege-TÜV der Vorteil, dass man einheitliche Daten für die Häuser hat. Aber, so meine zentrale Frage: Was soll die Einheitlichkeit der Daten nutzen, wenn hinter diesen keine wirkliche Substanz steht, wenn es sich nicht selten um Zahlen handelt, die aus dokumentationsoptimierten potemkinschen Zahlendörfern stammen und die wenn, dann eher etwas darüber aussagen, wie „professionell“ das jeweilige Heim bei der prüfungsausgerichteten Dokumentation war.

Das führt notwendigerweise in die Irre. Qualität in einem Pflegeheim ist eine „24-Stunden-Qualität“, sie sich nur in der unmittelbaren Versorgung und Interaktion zwischen den Fachkräften und den Pflegebedürftigen offenbart. Das macht sie zugleich so schwer mess- und überprüfbar.

Davon unberührt bleibt die Notwendigkeit einer gesunden Skepsis gegenüber allen Pflegeanbietern, die auf Gewinn gerichtet sind, gerade vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Überlegung hinsichtlich der Bedeutung der Personalkosten. Nur bedeutet nicht-gewinnorientiert bei den anderen Anbietern keineswegs, dass die völlig selbstlos und nur im Interesse des Pflegebedürftigen agieren. Bei den konfessionell gebundenen Anbietern oder den anderen Non-Profit-Trägern heißen die Gewinne oftmals nur anders, z.B. „Überschüsse“, wenn es sich um gemeinnützige Träger handelt.

Es bleibt dabei – hinsichtlich der Qualität eines Pflegeheims kommen wir nicht darum herum, individuell genau hinzuschauen und zugleich darauf zu verweisen, dass von entscheidender Bedeutung die Haltung, das Zusammenspiel und die Professionalität des Personals ist. Und keiner möge an dieser Stelle behaupten, dass es in vielen nicht-profitorientierten Pflegeheimen dahingehend keine Probleme gibt.

Fazit: Ein netter Versuch, eine eingängige These zu belegen. Allerdings muss man die empirische Grundlage aufgrund des Rückgriffs auf die Daten aus dem völlig zu Recht hoch umstrittenen Pflege-TÜV mit einem dicken Fragezeichen versehen. Dennoch kann der Hinweis bleiben: Es gibt gute Gründe, aus grundsätzlichen Erwägungen eine auf Gewinn gerichtete Pflege alter Menschen für ethisch nicht in Ordnung zu halten. Weil das auch Ressourcen bindet, die ansonsten für den pflegebedürftigen Menschen hätten genutzt werden können. Aber die Betonung liegt hier auf „hätte“ oder „könnte“ – nur weil ein Träger „nicht-profitorientiert“ ist, bedeutet das noch lange nicht, dass er sich besser verhält als ein an der Börse notierter Pflegeheimbetreiber. Es könnte sogar sein, dass der in der Öffentlichkeit stehende privatgewerbliche Anbieter mehr Rücksicht nehmen muss als ein gemeinnütziger Heimbetreiber aus dem wohlfahrtsverbindlichen Spektrum. Die Welt ist eben dann doch komplizierter als man denkt.

Die Altenpflege und die Pflegereform II. Auf der einen Seite himmelhoch jauchzend, auf der anderen Seite zentrale Baustellen, auf denen nichts passiert und Vertröstungen produziert werden

Es ist vollbracht. Auch die zweite Stufe der Pflegereform
hat die parlamentarischen Hürden genommen und das „Zweite Pflegestärkungsgesetz“
wurde im Bundestag verabschiedet. Auf der Mitteilungsseite
des Bundestags
zu den Beschlüssen liest sich das bürokratisch-trocken so: »Gegen
das Votum der Linken bei Enthaltung der Grünen hat der Bundestag am 13.
November den zweiten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der
pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (18/5926, 18/6182) in der vom
Gesundheitsausschuss geänderten Fassung (18/6688) angenommen.
Damit wird ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues
Begutachtungsinstrument mit fünf Pflegegraden eingeführt. Dadurch sollen die
Inhalte der Pflegeversicherung und die pflegerische Leistungserbringungen auf
eine neue pflegefachliche Grundlage gestellt werden. Erstmals werden alle für
die Feststellung der Pflegebedürftigkeit relevanten Kriterien in einer
einheitlichen Systematik erfasst. Ergänzt und neu strukturiert werden die
Vorschriften zur Sicherung und Entwicklung der Qualität in der Pflege. Der
Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung wird um 0,2 Beitragssatzpunkte
erhöht.« Immerhin kann man der Mitteilung entnehmen, dass es nicht nur eine
Große Pflegekoalition gibt, sondern auch die beiden Oppositionsparteien hatten
– erwartungsgemäß erfolglos – versucht, den Finger auf weiter offene Wunden zu
legen: der Finanzierung des Systems und der Personalfrage:

»Gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen scheiterte Die
Linke mit ihrem Entschließungsantrag (18/6692), einen
Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Pflegebegriffs vorzulegen. Mit
dem gleichen Stimmenverhältnis lehnte der Bundestag einen Antrag der Linken (18/5110) ab, in dem
die Einführung einer Bürgerversicherung in der Pflege gefordert wird. Damit
ließen sich Reformen wie die Einführung des neuen Pflegebegriffs und deutliche
Leistungsverbesserungen schultern, argumentierte die Fraktion. Gegen das Votum
der Opposition scheiterten die Grünen mit einem Antrag (18/6066), indem
umfassende Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege gefordert werden.
Unter anderem wollten die Grünen eine Pflege-Bürgerversicherung einführen und
pflegende Angehörige stärker unterstützen.«

Wenn es jemand gerne überschäumender hätte hinsichtlich der
positiven Bewertung der nun verabschiedeten zweiten Stufe der Pflegereform,
dann sollte man einen Blick werfen in den Artikel Bundestag
beschließt Revolution des Pflegesystems
von Rainer Woratschka.
Offensichtlich ist hier Großes geleistet worden: »Der Bundestag hat eine
Pflegereform abgesegnet, die den Namen wirklich verdient. An Kleinreparaturen
hatten sich schon etliche Minister versucht. Hermann Gröhe vollendet nun einen
Kraftakt.«

Vielleicht liegt die Wahrheit ja irgendwie in der Mitte.
Dann wären wir konfrontiert mit der Gleichzeitigkeit von wichtigen und guten
Weiterentwicklungen des bestehenden Systems (bei denen es anders als ansonsten
mittlerweile beim Thema Reformen nicht um Einsparungen und
Leistungsreduzierungen geht) und zugleich aber auch die Fortexistenz
grundlegender Systemprobleme, deren Bearbeitung entweder ausgeklammert oder auf
die zeitlich lange Bank zwischengelagert werden.

Einen Hinweis auf die Ambivalenz der Pflegereform kann man
beispielsweise der reichlich miesepetrigen Kommentierung in der FAZ entnehmen.
Heike Göbel schreibt unter der wegweisenden Überschrift Wähler-Pflege:
»Der Bundestag hat den teuersten Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung
seit deren Gründung vor zwanzig Jahren beschlossen. Aber die Regierung scheut
sich, die Bürger mit den vollen Konsequenzen zu konfrontieren.« Und weiter:

»Pünktlich zur Bundestagswahl 2017 wächst damit der Kreis
der Anspruchsberechtigten, vor allem durch die Einbeziehung der Demenzkranken,
um eine halbe Million. Zugleich steigen vielfach die Leistungen, die
Eingruppierung der zu Pflegenden erfolgt nach einem ganz neuen Schlüssel. Die
Umstellung ist mit Bestandsschutz für die verbunden, die schon Geld erhalten.
Ihre Leistungen können nur steigen, nicht sinken. Das alles verschlingt fünf
Milliarden Euro jährlich zusätzlich, finanziert über abermals höhere
Beitragssätze und aus den – noch – vorhandenen Reserven der Pflegekasse.«

Was aber stört sie? »Notwendig wäre eine noch stärkere
Anhebung der Beitragssätze – und zwar begleitet von Einsparungen in anderen
Säulen des Sozialsystems. Stattdessen wird überall gleichzeitig erweitert, die
Kranken- ebenso wie die Rentenversicherung. Hier baut sich Druck auf die
Lohnkosten auf, verbunden mit Gefahren für die Beschäftigung nicht nur der
Flüchtlinge.« Und sie legt noch eine Schippe nach: »Auch fehlt der klare
Hinweis, dass die gesetzliche Versicherung nur dazu gedacht ist, einen
(kleinen) Teil der Kosten zu decken. Der zügige Ausbau erweckt den Eindruck,
eigene Vorsorge sei nicht nötig. Die Regierung pflegt mit dieser Reform ihre
älteren Wähler, die Jüngeren müssen wieder einmal sehen, wo sie bleiben.«

Nach so viel Kritik muss man einfach zum Ausgleich einen
Blick werfen in den Artikel, der uns eine Revolution des Pflegesystems
verspricht. Woratschka sieht „eine wirkliche Grundsanierung des Systems“. Im
weiteren Gang seiner Argumentation wird auch klar, dass er das Bild von der
Revolution kopiert hat, denn es geht hierbei um den neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff:
»Experten wie der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang
sehen darin „eine Art Revolution“ . Das bisherige System orientierte sich fast
ausschließlich an den körperlichen Gebrechen der Pflegebedürftigen. Danach
wurden sie eingestuft und entsprechend sahen die Leistungen aus
(„Satt-Sauber-Pflege“). Nun rücken auch Alltagskompetenz und kognitive
Fähigkeiten in den Fokus, die soziale und psychische Situation wird
gleichwertig berücksichtigt. Dadurch bleiben etwa Demenzkranke, die körperlich
fit sind, aber dennoch aufwendige Betreuung benötigen, nicht länger außen vor.
Statt der bisherigen drei Pflegestufen gibt es künftig fünf Pflegegrade … Beurteilt
werden die Menschen künftig nach ihrer Fähigkeit zu Mobilität, Orientierung,
Kommunikation, Selbstversorgung, Alltagsgestaltung und sozialen Kontakten. An
den daraus erwachsenden Bedürfnissen sollen sich künftig die zugestandenen
Leistungen bemessen. Die Verrichtungspflege nach Minuten wird abgeschafft.«

Weitere Verbesserungen müssen genannt werden: So bekommen Heimbewohner
garantiert, dass sich ihr Eigenanteil an den Kosten auch bei zunehmender
Pflegebedürftigkeit nicht erhöht. Bisher droht ihnen bei jeder Einstufung in
eine höhere Pflegestufe auch eine höhere Zuzahlung. »Laut Ministerium soll der
heimindividuelle Eigenanteil in den Pflegegraden zwei bis fünf künftig für alle
im Schnitt bei 580 Euro liegen. Bisher sind es, je nach Pflegestufe, 460 bis
900 Euro im Monat.« Alle Heimbewohner haben einen Anspruch auf zusätzliche
Betreuungsangebote, was auch für die Pflegebedürftigen gilt, die zu Hause
betreut werden. Damit nicht genug: »Die Versicherer haben jedem
Pflegebedürftigen einen persönlichen Berater zu nennen. Länger als zwei Wochen
braucht künftig keiner mehr auf einen Beratungstermin zu warten. Auch
Angehörige erhalten einen eigenständigen Anspruch auf Beratung, wenn die Pflegebedürftigen
zustimmen – und auf kostenlose Pflegekurse.« Auch die pflegenden Angehörigen
dürfen auf Verbesserungen hoffen – sie werden in der Renten- und
Arbeitslosenversicherung besser abgesichert. »Und wer seinen Job aufgibt, um
sich der Pflege eines Angehörigen zu widmen, erhält künftig auch seine Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung aus dem Topf der Pflegeversicherung – für die
gesamte Dauer seiner Pflegetätigkeit.«


Nun muss man aber auch darauf hinweisen, dass das Gesetz
zwar zum 1. Januar 2016 in Kraft treten wird, die wesentlichen Reformpunkte
aber erst zu einem späteren Zeitpunkt wirksam werden. So werden der neue
Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Leistungen nach den fünf Pflegegraden sowie
die Fixierung des Eigenanteils bei den Heimbewohnern erst ab dem 1. Januar 2017
das Licht der Pflegewelt erblicken.
Ein große Leerstelle auch dieser ambitionierten Reform
bleibt leider wieder die Personalfrage. Man muss nur die Twitter-Beiträge mit
dem Hashtag #Pflegestreik verfolgen, um zu erkennen, wie prekär bis skandalös
schlecht schon heute die Pflege-Bedingungen in den Kliniken und gerade auch in
den Pflegeheimen sind. Das ganze System lebt offensichtlich von der Substanz.
Dazu nur ein – scheinbar – krasser Ausnahmefall aus dem
Pflegealltag in unserem Land: Feuerwehrleute
kommen Pflegerin zu Hilfe und retten Kranke
oder Wenn
einer Pflegerin nur der Notruf bleibt
, um nur zwei der
Artikel-Überschriften zu zitieren. »Sie war allein mit 21 hochgradig
Pflegebedürftigen eines privaten Altenheims. Als sie merkte, dass sie nicht
alle versorgen konnte, wählte sie die 112. Das Heim ist in Branchenkreisen
bekannt«, so Antje Hildebrandt in ihrer Schilderung der Ereignisse in Berlin.
Das Pflegeheim in Berlin-Rudow nennt sich Gartenstadt und wirbt auf seiner
Homepage mit dem Slogan „Ein Platz zum Wohlfühlen“ und dem Hinweis
auf „Ausgezeichnete Pflegequalität – jetzt auch geprüft!“

»Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen dort offenbar weit
auseinander – und am vergangenen Sonntag wurde das zum ersten Mal auch
öffentlich bekannt. Eigentlich waren zwei Kollegen für die Sonntagsschicht
eingeteilt, doch die Fachkraft, so heißt es heute beim Träger Casa Reha, sei
kurzfristig erkrankt. Die Hilfspflegerin habe daraufhin einen Kollegen aus
einem anderen Wohnbereich um Hilfe gebeten, doch der habe abgelehnt.«

Und mit dieser Konstellation wurde eine Angehörige
konfrontiert:
»Es ist der Albtraum aller Menschen, deren Angehörige in
einem Pflegeheim betreut werden: Man besucht diesen Verwandten an einem
Sonntagvormittag. Man stellt fest, es geht ihm nicht gut. Er hätte schon um
sieben Uhr morgens Insulin und andere Medikamente benötigt. Doch niemand kommt.
Es ist nur eine Pflegerin für 21 Bewohner da. Und auf Anfrage erfährt der
Besucher, diese Pflegerin dürfe leider keine Medikamente verabreichen. Sie sei
nur Hilfspflegekraft.«
Die Angehörige des Pflegeheimbewohners »hat die Polizei
alarmiert. Die wiederum forderte die Pflegerin auf, die 112 zu wählen, um einen
Notfallarzt zu rufen.«

Das Landeskriminalamt ermittelt jetzt wegen des Verdachts
der Vernachlässigung von Schutzbefohlenen. Der Fall hat ein grelles Licht auf
den Pflegenotstand in deutschen Altenheimen geworfen.

Nun wird der eine oder andere nicht ganz unplausibel
einwenden, dass das sicherlich ein krasser Fall ist, unakzeptabel, aber eben
ein Ausreißer, ein bedauerlicher Einzelfall.
Dann also ein Blick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dem Thema Personalnotstand in der Altenpflege. Im
Nachtdienst versorgt eine Pflegerin 52 Bewohner
, so ein Bericht von Rainer
Woratschka über eine neue Studie von Wissenschaftlern der Universität
Witten/Herdecke. Die Zahlen sind skandalös: »Nachts haben die Altenpflegerinnen
in vielen Heimen „Stress pur“. Einer aktuellen Studie zufolge muss
sich fast jede zehnte Pflegekraft sogar um mehr als 100 Menschen kümmern.« Legt
man den Durchschnittswert von 52 Heimbewohnern zugrunde, dann bedeutet das: Für
einen Heimbewohner pro Nacht  stehen gerade
mal zwölf Minuten Zeit zur Verfügung. Aber: »Mindestens 40 dieser 52 Bewohner
benötigten nachts nämlich auch „direkte Unterstützung“ – sei es, dass sie
regelmäßig umgelagert werden, Medikamente gespritzt bekommen oder zur Toilette
begleitet werden müssten. Allein für die vorgeschriebene Handhygiene seien pro
Nacht mindestens zwei Stunden zu veranschlagen.« Es gibt in den an sich schon
untragbaren Zuständen in der wirklichen Wirklichkeit noch Steigerungsformen: In
einigen Fällen seien Pflegekräfte sogar für mehrere Häuser verantwortlich und
hätten mit dem Auto hin- und herzupendeln, berichtete die Studienleiterin. Noch
ein paar weitere Aspekte aus der Befragung der Pflegekräfte? »26 Prozent gaben an,
während ihres Nachtdienstes nur selten oder nie Pausen machen zu können. Knapp
zwei Drittel hätten sich „häufig“ oder „sehr oft“ um herumirrende Patienten mit
Demenz zu kümmern. Und jede zweite Pflegekraft kann nachts auch in Notfällen
auf keinen Hintergrunddienst zurückgreifen.« Kann es da wirklich noch
verwundern, wenn berichtet wird, »dass etwa ein Viertel der Versorgten mit
freiheitseinschränkenden Maßnahmen oder Medikamenten ruhiggestellt wird. Der
Studie zufolge verabreicht im Schnitt jede Pflegeperson pro Nacht rund zwölf
ihrer Schützlinge Schlafmittel, bei sieben kommen Bettgitter zum Einsatz.«

Und auch diese Zahl sollte gerade vor dem aktuellen
Hintergrund der Diskussion und parlamentarischen Behandlung von
Palliativmedizin wie auch Sterbehilfe zur Kenntnis genommen werden: »Am meisten
litten die Pflegekräfte darunter, im Nachtdienst keine Zeit für Sterbende zu
haben … 66 Prozent der Befragten klagten in der Studie darüber.«
Aber die Befragten haben auch Rückmeldungen gegeben, was
sich ändern müsste. Diese Stimmen aus der Praxis haben die Forscher in
einem Forderungskatalog zusammengefasst
:
  • In der Nacht muss gewährleistet sein, dass mindestens zwei
    bis drei Pflegende für 60 Bewohner anwesend sind
  • Verantwortliche Pflegefachpersonen müssen über die beste
    Qualifikation verfügen, da sie schnell und alleine Situationen einschätzen und
    passgenaue Versorgungsmaßnahmen einleiten können müssen
  • Jede Einrichtung muss einen hochqualifizierten
    Hintergrunddienst bereitstellen, der jederzeit beratend und unterstützend
    eingreifen kann
  • Notfallleitlinien, ein erreichbarer ärztlicher
    Hintergrunddienst und eine stetig lieferbereite Apotheke stellen eine
    erforderliche Grundlage dar
  • Es muss gewährleistet sein, dass Nachtpflegende mindestens
    pro Nacht eine 30-minütige Pause haben, die sie ohne Störungen verbringen
    können
  • Mehr als vier Nächte hintereinander sollten Pflegende nicht
    die Verantwortung für die BewohnerInnen übernehmen
  • Es muss sichergestellt werden, dass Pflegende des
    Nachtdienstes an  Fortbildungen
    teilnehmen können, ohne ihre Schlafzeit reduzieren zu müssen

Die Pflegeexpertin der Grünen im Bundestag, Elisabeth
Scharfenberg, zeigte sich „entsetzt“ über die Ergebnisse der Studie. Sie frage
sich, „wie Pflegekräfte das mit sich machen lassen können“ und wo die
Aufsichtsbehörden seien. Gute Fragen.

Wer die ganze Studie im Original lesen möchte, der kann die
hier als PDF-Datei downloaden:
Christel Bienstein 
und Jörg große Schlarmann: Die
Nacht in deutschen Pflegeheimen. Ergebnisbericht
, Department für Pflegewissenschaft,
Universität Witten/Herdecke, 2015.
Wir könnten das jetzt fortführen – natürlich gibt es auch am
Tag erhebliche Personalprobleme in der Altenpflege. Und was sagt die
Pflegereform zu diesem nicht nur sensiblen, sondern auch zentralen Thema für
eine wirkliche Reform der Pflege?

Also hier fehlt der revolutionäre Impuls, den Rainer
Woratschka für die Pflegereform generell unterstellt hat – und er
schreibt selbst
: » Die Selbstverwaltung werde verpflichtet … „bis
Mitte 2020 ein wissenschaftlich abgesichertes Verfahren zur
Personalbedarfsbemessung zu entwickeln“. Damit soll dann zumindest irgendwo
stehen, wie viele Pflegekräfte theoretisch für gute Pflege benötigt werden. Ob
und wie das in den Heimen umgesetzt werden kann, bleibt offen.«
Was für ein Signal an die immer stärker
aufgebracht-frustrierten Pflegekräfte. Haltet durch, nur noch ein paar Jahre.
Und wenn wir schon bei dem Muster „auf die lange Bank
schieben sind“, dann sollten wir den Pflege-TÜV an dieser Stelle nicht
vergessen. Pflege-TÜV? Wurde der nicht vom Pflegebeauftragten der
Bundesregierung, Staatssekretär Laumann höchstpersönlich, für gescheitert
erklärt? Einer Bewertung, der sich auch 95 Prozent der Experten und vor allem
der Praktiker zustimmen werden. Im Prinzip ja, muss die Antwort hier ausfallen.
Was aber nicht bedeutet, dass man das jetzt konsequent entsorgt und in die
Tonnen haut:

»Es gibt einen Neuanlauf. Ab 2018 soll es für die Heime und
ab 2019 auch für die ambulanten Pflegedienste ein völlig neues Bewertungssystem
geben. Damit habe „die Irreführung der Bürger ein Ende“, sagte der
Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU). Danach werde
es bei der Beurteilung eines Heims beispielsweise nicht mehr möglich sein,
„dass schwere Pflegefehler bei der Medikamentenausgabe durch eine schön
gedruckte Speisekarte ausgeglichen werden können“. Bis dahin dürfen die
Betreiber allerdings weiter mit ihren offensichtlich geschönten Noten werben.
Der sogenannte Pflege-TÜV war in die Kritik geraten, weil bei dem bisherigen
Prüfverfahren selbst Heime mit offensichtlichen Mängel Bestnoten erreichten.«

Die Idiotie muss man sich erst einmal verdeutlichen. Da wird
festgestellt, dass man mit den Noten des Pflege-TÜV eigentlich nichts anfangen
kann und dass das abgeschafft gehört, dann trifft man die Entscheidung, mit
einem neuen, (hoffentlich) besseren Verfahren das alte System zu ersetzen – aber
bis dahin macht man erst einmal mit dem alten Unsinn weiter. Bis 2018.
Ein anderer Teilbereich der Pflegelandschaft geht hingegen
seinen Weg – gemeint sind hier die privaten, auf Gewinnerzielung ausgerichteten
Pflegekonzerne. Die wachsen und konsolidieren sich, wie die Ökonomen das
nennen. Sie schließen sich also untereinander zusammen. Und hier können wir
wieder anknüpfen an die Geschichte mit der völlig überforderten Pflegehelferin
aus einem Berliner Altenheim, der die Polizei geraten hatte, den Notarzt zu
rufen, was sie dann auch gemacht hat. Das Heim, in dem es zu diesem
schwerwiegenden Vorfall gekommen ist, gehört zu Casa Reha, einer dieser
privaten, auf Gewinn ausgerichteten Betreiber. Casa Reha mit Sitz in Oberursel
bei Frankfurt betreibt 70 Pflegeheime mit mehr als 10.000 Betten und 4.100
Mitarbeitern. Der Jahresumsatz liegt bei 270 Millionen Euro, der operative
Gewinn (Ebitda) Finanzkreisen zufolge bei 30 Millionen Euro.

Für die wird sich auf der obersten Ebene und mit Blick auf
das ganze Unternehmen eine Menge ändern, denn: Casa
Reha geht an französische Korian
. Es handelt sich dabei um einen französischen
Altenheim- und Klinikbetreiber. QCasa Reha mit Sitz in Oberursel bei Frankfurt
betreibt 70 Pflegeheime mit mehr als 10.000 Betten und 4100 Mitarbeitern. Der
Jahresumsatz liegt bei 270 Millionen Euro, der operative Gewinn (Ebitda)
Finanzkreisen zufolge bei 30 Millionen Euro.«
Und der schlägt jetzt zum dritten Mal zu in Deutschland: »Nach
den Pflegeheim-Ketten Phoenix und Curanum verleibt sich Korian auch die Nummer
drei Casa Reha ein, wie die Unternehmen am Dienstag mitteilten. Casa Reha hatte
seit 2007 dem britischen Finanzinvestor Hg Capital gehört … .«

Fazit: Hier
laufen die Geschäfte. Die Betonung liegt auf hier. 

Aus den Tiefen und Untiefen des größten Pflegedienstes in Deutschland: Pflegende Angehörige. Und das, was die tun, kann krank und arm machen

Laut Planung wollte man sich eine Stunde und fünf Minuten Zeit nehmen, um am vergangenen Freitag als ersten Tagesordnungspunkt im Plenum des Deutschen Bundestags über einen wichtigen Teilbereich der Pflege zu debattieren. Es ging um die erste Beratung des von der Bundesregierung  eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II), den man hier als Drucksache 18/5926 abrufen kann. Tatsächlich sind es dann aber eine Stunde und 43 Minuten geworden, jedenfalls ausweislich der Aufzeichnung der Debatte im Bundestag, die man hier als Video anschauen kann. Mit diesem Gesetz wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Praxis umgesetzt. Es soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten. Das neue Begutachtungsverfahren und die Umstellung der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung sollen zum 1. Januar 2017 wirksam werden. Es geht also um eine wichtige Änderung in der Pflegeversicherung.

Das Bundesgesundheitsministerium erläutert: »Diese Reform nutzt allen – den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und unseren Pflegekräften – denn der tatsächliche Unterstützungsbedarf wird besser erfasst. Über die Leistungshöhe entscheidet künftig, was jemand noch selbst kann und wo sie oder er Unterstützung braucht – unabhängig davon, ob jemand an einer Demenz oder körperlichen Einschränkung leidet.«

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An sich ein guter Tag für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörige. Mehr Leistungen und – diskussionsbedürftige – Weichenstellungen. Gleichzeitig twittert der #Pflegestreik mit sich selbst

Mit einem umfassenden Reformanspruch geht das Pflegestärkungsgesetz II einher, das vom Bundeskabinett am heutigen Mittwoch angeschoben wurde. Mehr Hilfe für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, so hat der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Erläuterungen seines Ministeriums zur Pflegerform überschreiben lassen. Das Gesetz soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten und es enthält auch den – gefühlt seit Jahrzehnten angekündigten – neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der mit einem neuen Begutachtungsverfahren zum 1. Januar 2017 kommen soll. Bereits Anfang 2015 wurde mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Unterstützung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgeweitet und jetzt wird noch mal was nachgelegt. Und keiner soll behaupten, es gehe hier um Peanuts: Insbesondere Menschen mit Demenz und psychischen Störungen eine bessere Pflege erhalten. Sie haben künftig Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die bislang drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Bis zu 500.000 Menschen können nach Angaben des Ministers mittelfristig durch die Reform zusätzliche Unterstützung erhalten. Auch die pflegenden Angehörigen werden bedacht: »Wer für die Pflege aus dem Beruf aussteigt, erhält künftig von den Pflegekassen dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Bislang werden Beiträge nur während der maximal sechsmonatigen gesetzlichen Pflegezeit übernommen. Auch werden betreuenden Angehörigen in Zukunft höhere Ansprüche an die gesetzliche Rentenkasse gutgeschrieben«, kann man dem Artikel Bundeskabinett beschließt grundlegende Pflegereform entnehmen.

»Finanziert wird die zweite Stufe der Reform mit einer erneuten Anhebung des Beitragssatzes um 0,2 Beitragssatzpunkte zum 1. Januar 2017. Bereits zu Beginn dieses Jahres war er mit Inkrafttreten des ersten Pflegestärkungsgesetzes um 0,3 Punkte gestiegen. Beide Erhöhungen bringen zusammen rund fünf Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen«, kann man dem Artikel Demenzkranke haben Anspruch auf höhere Leistungen entnehmen.

Es gibt auch kritische Stimmen: Zum großen Wurf hat es wieder nicht gereicht, kommentiert Wolfgang Prosinger. Neben den unbestreitbar positiven Aspekten der neuen Pflegereform identifiziert er die folgenden Schwachstellen:

»Die Entlastungen für die Angehörigen sind jedenfalls entschieden zu gering ausgefallen. Und eine Aufstockung des Personals für die stationäre oder ambulante Pflege ist ganz und gar nicht in Sicht … Auch das unsinnige, weil irreführende Bewertungssystem von Pflegeheimen ist nicht abgeschafft worden, genauso wenig wie das nicht gerade humane System der Pflege im Minutentakt. Ebenso wenig hat sich das Gesundheitsministerium an die Aufwertung des Berufs der Altenpfleger herangetraut. Aufwertung hieße auch bessere Bezahlung. Der physische und psychische Einsatz von Pflegern und deren beschämende Entlohnung stehen noch immer in einem krassen Missverhältnis zueinander.«

Damit spricht Prosinger tatsächlich einige diskussionsbedürftige Punkte an.

Nehmen wir die von vielen begrüßte Ankündigung, das bisherige System der Pflegestufen zu ersetzen durch ein System der Pflegegrade Bisher haben wir vier Pflegestufen (also eigentlich drei plus der so genannten „Pflegestufe 0“ bei Feststellung einer erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Das soll durch fünf Pflegegrade abgelöst werden. Zum neuen System und seinen Unterschieden zum Status Quo erfährt man vom Ministerium: »In Zukunft werden körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen erfasst und in die  Einstufung einbezogen. Mit der Begutachtung wird der Grad der Selbstständigkeit in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und – mit unterschiedlicher Gewichtung – zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt.« Vereinfacht gesagt: „Gleichbehandlung“ der Einschränkungen und damit weg von der bisherigen Engführung auf einen rein somatischen Pflegebedürftigkeitsbegriff und zweitens weg von der Defizit- und hin zur Ressourcenorientierung („Grad der Selbständigkeit“). Das hört sich erst einmal gut an. Aber es lohnt sich, hier einmal genauer und durchaus auch kritisch hinzuschauen. Das Versprechen des neuen Systems lautet ja, dass es jetzt darum geht, die (noch verbliebene) Selbständigkeit zu taxieren und daran die Hilfeleistung zu taxieren.

Letztendlich ist das aber auch nur die andere Seite dessen, was bislang als „defizitorientierter“ Ansatz kritisiert wurde, denn es gilt: Das Begutachtungssystem wird auch in Zukunft die zentrale Aufgabe haben, Bedarfe und aus deren Grad abgeleitet dann die entsprechenden Hilfevolumina zuzuteilen (oder eben auch zu begrenzen oder zu verweigern). Und was soll jetzt wirklich anders sein als vorher? Die Einschränkungen und ihre Intensität lösen eine entsprechende Einstufung und damit verbundene Mittel aus.

Nur wenige Beiträge in der Pflegedebatte greifen diese Punkte kritisch-ablehend auf. Ein Beispiel wäre der Artikel Warnung vor dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aus dem Pflege-Selbsthilfeverband. Dort findet man die folgenden Hinweise:

»Im Ergebnis hat dieser Ansatz jedoch den Effekt, dass sich jene finanziell belohnt sehen, die Pflegebedürftigkeit verstärken, hingegen andere bestraft sehen, die sich erfolgreich um Aktivierung und Wiedererlangung der Selbstständigkeit bemühen. Nach wie vor wird Pflege, die den Bedürftigen bedürftiger werden lässt besser bezahlt als solche die seine Selbstständigkeit fördert. Wie das alte, so wirkt auch das neue Verfahren entgegen der eigentlichen Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetztes: Es fördert den Pflegebedarf und behindert Prävention, Aktivierung und Rehabilitation.«

Und auch bei einem anderen Hoffnungspunkt wird in dem Artikel Wasser in den Wein gegossen – bei der Hoffnung, dass mit dem neuen Pflegebedürfigkeitsbegriff endlich die zerstörerische „Minutenpflege“ abgeschafft wird. Für das „aber“ an dieser Stelle wird ein ausgewiesener Pflege-Experte zitiert:

»Heinz Rothgang von der Universität Bremen … spricht von jähen Enttäuschungen, die vorprogrammiert seien. „Der Wissenschaftler räumte mit weiteren Mythen rund um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf. So führe dieser nicht, wie vielfach erhofft, zur Abschaffung der so genannten Minutenpflege.“«

Viele kritische Stimmen heute in den Medien haben darauf hingewiesen, dass eines der drängendsten Probleme im Bereich der Pflege nicht adressiert wird mit der Gesetzgebung – der Personalmangel und die Frage, ob und wie es gelingen kann, ausreichend Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Nun könnte man an dieser Stelle sehr viel empirisch gesichertes Material anführen, das zu einer Bestätigung der Skepsis beitragen würde.

Aber man kann es auch anders machen und lediglich einen Satz zitieren, der dem Artikel Wirtschaft sucht Arbeitskräfte: Diese Branchen hoffen auf die Flüchtlinge entnommen ist. »Die deutsche Wirtschaft sieht in dem Zustrom von Flüchtlingen vor allem Chancen: Viele Unternehmen wollen gut qualifizierte Asylbewerber einstellen – etwa als Bäcker oder Stuckateure. Wenn die Politik sie lässt«, können wir dort lesen. Und welche Branchen sich besondere Hoffnungen machen. Aus allen Ecken werden positive Erwartungen laut. Und dann am Ende des Artikels dieser eine Satz:

»Nur in den Pflegeberufen sind die Arbeitsbedingungen nach Ansicht des zuständigen Verbandes so schlecht, dass sie auch für Flüchtlinge unattraktiv seien.«

Den sollte man sich ausschneiden, um das in den Worten einer tradierten Arbeitstechnik zu benennen. Mehr muss man gar nicht sagen oder schreiben.

Und die Pflegekräfte selbst? Die machen tagaus tagein ihren Job, sie arbeiten oftmals unter skandalös schlechten Bedingungen. Wenn sie denn aufbegehren, dann erfolgt das eher im Modus der „Privatisierung“, also als individuelle Reaktion, beispielsweise durch Flucht aus dem Arbeitsfeld Pflege, durch Bemühungen, durch Aufstieg den Bedingungen an der Pflegefront zu entkommen, bei nicht wenigen anderen durch Krankheit und innerer Kapitulation.

Und ein Teil der Pflegekräfte twittert sich den Frust über die real existierenden Arbeitsbedingungen aus der Seele. Schon seit längerem – und heute war wieder so ein Höhepunkt – wird unter dem Hashtag #Pflegestreik versucht, zum einen auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch immer wieder daran zu erinnern, was wäre, wenn die Pflege mal streiken würde. Und viele wollen genau das, sie fordern ihn ein, den Pflegestreik.

Dann aber auch wieder aggressiv-empörte Reaktionen auf die wahrgenommene Nicht-Reaktion des Themas in den Medien und der Politik. Man wird einfach nicht gehört. Durchaus naheliegend die Vermutung: man wird nicht für voll genommen. Denn bei allen Problemen aus Sicht der Betroffenen – der Laden läuft doch (noch). Keine Ausfälle, keine katastrophalen Zustände aufgrund eines für die Öffentlichkeit offensichtlichen Personalmangels und wenn der mal an die Oberfläche kommt, dann kann man das als Einzelprobleme kleinschreddern.

In dieser Gemengelage könnte man durchaus zur der logischen Schlussfolgerung kommen, dass es dann wohl wirklich an der Zeit ist, durch einen echten Arbeitskampf der Welt zu zeigen, welche katastrophalen Auswirkungen ein Streik des Pflegepersonals hätte. Und im Prinzip hätten die Pflegekräfte eine gewaltige Schlagkraft bei einem flächendeckenden Streik, denn innerhalb kürzester Zeit würde in unserer Gesellschaft in Millionen von Familien vieles zusammenbrechen.
Im Prinzip heißt aber eben auch – nicht unbedingt in der Realität. Denn die Pflegekräfte sind durchaus mit zahlreichen analogen Rahmenbedingungen konfrontiert wie die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen oder den Jugendämtern oder den Jugendhilfeeinrichtungen, die erst vor kurzem erste Erfahrungen sammeln konnten mit einem unbefristeten Streikversuch. Und letztendlich gescheitert sind, wenn man das aktuelle Desaster um den von den Gewerkschaftsmitgliedern mit großer Mehrheit abgelehnten, von der Gewerkschaftsspitze vorher bei den Verhandlungen aber durchgewunkenen Schlichterspruchs betrachtet und der leider erwartbaren Reaktivierung in Form punktueller, tageweiser Streiks, die den Arbeitgebern noch weniger weh tun werden als die mehrwöchigen Streikaktionen vor der Schlichtung. Irgendwann wird man das abbrechen.

Und die Pflege hat nicht nur vergleichbare Strukturprobleme wie die Sozial- und Erziehungsdienste, bei ihr sehen die noch krasser aus. Denn es handelt sich eben nicht um „klassische“ Streikmaßnahmen gegen Unternehmen, die die Streikfolgen unmittelbar und sofort zu spüren bekommen in der eigenen Schatulle. Anders ausgedrückt: Sowohl für Kitas wie auch für Pflegeeinrichtungen gilt der Tatbestand, dass man mit den Streiks die Eltern/Kinder bzw. die Pflegebedürftigen und deren Angehörige primär treffen würde, obgleich die Arbeitgeber gemeint sind. Die hingegen sind in einer wesentlich besseren Situation als privatwirtschaftliche Unternehmen, weil sie nur dann wirklich unter Druck geraten würden, wenn die gar nicht gemeinten, tatsächlich aber getroffenen Dritten ihre Wut gegen sie richten würden und nicht gegen die Streikenden.

Damit das nicht missverstanden wird – wenn man sich in der gegebenen Machtkonfiguration bewegt, dann wäre ein aufrüttelnder Arbeitskampf in der Pflege längst überfällig. Die berühmte „Eine-Million-Euro-Frage“ lautet hingegen: Wie bekommt einen solchen organisiert? Und wie verhindert man ein Desaster wie im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste. Das sind keine trivialen Fragen, aber sie müssen a) gestellt und b) bearbeitet werden. Denn das zeigen leider auch die Erfahrungen des Streiks der Sozial- und Erziehungsdienste: Wenn man das machen will oder meint zu müssen, dann hat man eigentlich nur einen Schuss frei und gerade deshalb sollte man sich vorher auf einer realistischen Basis klar sein darüber, wie man wieder raus kommen kann, wenn man irgendwo reingeht. Beispielsweise in einen Arbeitskampf.