Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden

Sanktionen sind eines der umstrittensten Themen innerhalb der Grundsicherung, dem Hartz IV-System. Dazu gibt es jetzt einen Vorstoß aus den unteren Etagen der Sozialgerichtsbarkeit direkt in die Höhen des Bundesverfassungsgerichts:
»Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts sei der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen, teilte das Gericht in Gotha am Mittwoch mit. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen.«
Das Sozialgericht Gotha sei nach eigenen Angaben – so die Meldung des MDR unter der Überschrift Sozialgericht hält ALG-II-Kürzung für verfassungswidrig – das bundesweit erste Gericht, das die Frage aufwerfe, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zum Sachverhalt, bei dem es letztendlich um die Frage der Verfassungswidrigkeit einer 60%-Kürzung geht:

»Das Gericht urteilte in einem Fall, bei dem ein Mann vom Jobcenter Erfurt Arbeitslosengeld (ALG) II bezog. Nachdem er ein Arbeitsangebot abgelehnt hatte, wurde ihm das ALG II um 30 Prozent, also um 117,30 Euro monatlich gekürzt. Wegen einer weiteren Pflichtverletzung – der Mann lehnte eine Probetätigkeit bei einem Arbeitgeber ab – wurde ihm die Leistung später um weitere 30 Prozent gekürzt, insgesamt also nun um 234,60 Euro pro Monat. Dagegen reichte der Mann Klage am zuständigen Sozialgericht Gotha ein.«

Die 15. Kammer des SG Gotha sieht hier das Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

»So bezweifeln die Richter, dass die Sanktionen mit der im Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde und der im Artikel 20 festgeschriebenen Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik vereinbar sind. Denn aus diesen Artikeln ergebe sich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das bei einer Kürzung oder kompletten Streichung des Arbeitslosengeldes II gefährdet sei, so das Gericht. Außerdem stünden die Sanktionen im Widerspruch zu den Artikeln 2 und 12 des Grundgesetzes, weil sie die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen gefährden könnten. Die genannten Grundgesetz-Artikel garantierten jedoch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«

Die Befassung des höchsten deutschen Gerichts wird in zweierlei Hinsicht interessant:

Zum einen haben wir – soweit man das von außen der Sachverhaltsdarstellung entnehmen kann – im vorliegenden Fall eine Arbeitsverweigerung als sanktionsauslösenden Tatbestand, damit wäre der „Kernbereich“ dessen berührt, was die Befürworter von Sanktionen immer vorbringen, also die aktive Verweigerung einer vielleicht möglichen Beendigung der Hilfebedürftigkeit durch eine Arbeitsaufnahme mit der Folge, dass die Solidargemeinschaft gegen diese missbräuchliche Inanspruchnahme geschützt werden müsse.

Zum anderen – und aus einer grundsätzlichen Perspektive wesentlich relevanter – wird hier ein Grundwiderspruch (?) im bestehenden Grundsicherungssystem aufgerufen: Immer wieder wird auf die wegweisende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 über die (teilweise, weil auf die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs bezogene) Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelleistungen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) hingewiesen. In den Leitsätzen zu dieser Entscheidung findet sich die folgende Formulierung:

»Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.«

Im weiteren Verlauf der Entscheidungsbegründung des BVerfG findet man die folgende Ausführung:

»Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden …«

Vor dem Hintergrund dieser Formulierung kann man schon auf die an sich naheliegenden Frage kommen, wie es denn im Lichte des offensichtlich unbedingten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums möglich sein soll und kann, einem Hilfebedürftigen dieses unbedingte Grundrecht zu entziehen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

An dieser Stelle sei auf eine weitere Entscheidung des BVerfG hingewiesen, aus dem Jahr 2012, als die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz festgestellt wurde. In BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 findet man bei den Leitsätzen den folgenden Passus:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und unter der Absatz-Nr. 120 findet man den folgenden Hinweis:

»Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss.«

In der ersten Gesamtschau verfestigt sich das Bild, dass eine Sanktionierung, wie man sie dem Sachverhalt des Sozialgerichts Gotha entnehmen kann, gegen die Unbedingtheit dieses Grundrechtsanspruchs verstößt.

In diese Richtung argumentierte im Jahr 2013 auch der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof und damalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković in einem Streitgespräch mit Uwe Berlin, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, im Rahmen der Veranstaltung „Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?“ am 10.07.2013 in Berlin. In einem Thesenpapier postulierte Nešković:

»Die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II verstoßen in zweierlei Hinsicht fundamental gegen das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums:

  • Es sind keine das Grundrecht ausgestaltenden Normen, wie sie das BVerfG zur Bestimmung des Leistungsumfangs verlangt. Denn sie berechnen keinen Bedarf, sondern ignorieren ihn. Da bereits Normen, die auf einer willkürlichen Bedarfsschätzung beruhen, gegen das Grundrecht verstoßen (Hartz-IV- Entscheidung des BVerfG), muss dies erst recht für Normen gelten, die Leistungen völlig abgekoppelt von dem tatsächlichen Bedarf zuerkennen.
  • Es liegt jedenfalls ab einer Sanktion von mehr als einem Drittel der Regelleistung außerdem eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums vor. Dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum AsylbLG unmissverständlich erkannt: „Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde …, ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“«

Aber so eindeutig ist es dann auch wieder nicht, wie die Ausführungen von Uwe Berlit zeigen (auch er hatte ein Thesenpapier veröffentlicht sowie eine längere Abhandlung: Uwe Berlit: Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig? In: info also, Heft 5/2013. S. 195 ff.). Seine – von Nešković’s Thesen stark abweichende – Auffassung, hier zitiert aus seinem Artikel in info also:

»Rechtsprechung und Literatur halten nahezu einhellig die Sanktionsregelungen des SGB II insgesamt und weitgehend auch im Detail für mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar … Die These von der Verfassungswidrigkeit des Sanktionensystems insgesamt hat juristisch einen erheblichen Begründungsbedarf. Die Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen des SGB II ist nicht seit Jahren umstritten. Die Rechtsprechung – bis hin zum BSG – wendet sie an. Das verfassungs- und sozialrechtliche Schrifttum sieht weit überwiegend dem Grunde nach keine Bedenken. Allenfalls in Einzelfragen wird für eine verfassungskonform einschränkende Auslegung plädiert. Beispiele sind die besondere Sanktionierung unter 25-Jähriger oder die vormalige Sanktionierung des Nichtabschlusses einer Eingliederungsvereinbarung.«
Es ist interessant, wie Berlit argumentiert, wenn es um die bereits angesprochene – scheinbare (?) – Widersprüchlichkeit geht, dass ein Grundrecht auf eine Existenzminimum durch eine Sanktionieren nach unten unterschritten wird:

»Grundrechtsdogmatisch sind Sanktionen kein Eingriff in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, sondern eine abgesenkte Form der Leistungsgewährung wegen – vermeintlich oder tatsächlich – geringerer Schutzwürdigkeit.«

Letzendlich – und das macht den Ausgangsfall aus Gotha, der nun an Karlsruhe weitergeleitet wird, so spannend – geht es um ein ungelöstes Grunddilemma des gesamten Grundsicherungssystems im SGB II: Hartz IV stellt sich dar als ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ und aus dieser Charakterisierung lassen sich auch ganz zentrale Konfliktfelder des SGB II-Systems ableiten. Nun könnte man vor dem Hintergrund der Grundrechtsausführungen des BVerfG auf die Idee kommen, dass aber dann wenigstens das Existenzminimum geschützt sein müsse gegen eine Absenkung.

Hierzu finden wir in dem Beitrag von Berlit (2013) einige interessante Hinweise:

»Weder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen oder sonst eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums«, so Berlit (2013: 199). Er geht hier explizit ein auf das bereits zitierte Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010:
»Das Regelbedarfsurteil befasst sich nur mit der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs. Der Fokus liegt nicht auf den tatbestandlichen Leistungsvoraussetzungen.« Und dann kommt der entscheidende Passus:

»Bereits der Begriff „Hilfebedürftiger“ macht deutlich: Das Grundgesetz verlangt keine tatbestandlich ungebundene, voraussetzungslose Leistungsgewährung oder ein solche, die tatbestandlich allein auf die Anrechnung tatsächlich verfügbaren, bedarfsdeckenden Einkommens oder Vermögens abstellt. Eine positive Schutzpflicht des Staates besteht vielmehr nur dann, „wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann.“ Dies umfasst auch die Mittelbeschaffung durch Erwerbsarbeit. das SGB II ist eine – verfassungsrechtlich zumindest mögliche – klare Entscheidung gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine unbedingte Grundsicherung.« (Berlit 2013: 199)
Diese Ausführungen sollen nur aufzeigen – auch wenn jetzt der Gang nach Karlsruhe begonnen wurde -, dass sich die Gegner der Sanktionen nicht zu früh freuen sollten. Am Ende kann auch eine Entscheidung stehen, die der Logik folgt, die man in Berlit’s Ausführungen erkennen kann.

Aber wie heißt es so treffend: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.

Aus den untersten Etagen des deutschen Arbeitsmarktes: Lohnprellerei, Subunternehmer-Ketten und Generalunternehmer, die eigentlich haften müssen. Und ein echtes Staatsversagen

Und wieder erreichen uns Berichte aus den untersten Etagen des deutschen Arbeitsmarktes, wo Ausbeutung grassiert und Hilfe nötig ist: »Das Frankfurter Europaviertel wächst und gedeiht. Bauherrn wie Immobilienfirmen haben Grund zur Freude. Nicht so die rumänischen Arbeiter, die dort protestierten. Sie sind seit Wochen nicht entlohnt worden.« So beginnt der Artikel Abermals rumänische Arbeiter geprellt von Jochen Remmert.

Über 50 rumänische Bauarbeiter, die in Frankfurt am Europaviertel mitbauen (vgl. dazu den Artikel Wo die Wohntürme wachsen) haben seit Wochen keinen Lohn mehr bekommen. Da ist z.B. Adrian Trandafir, ein verheirateter Vater zweier Kinder (11 und 16 Jahre), die mit der Mutter in Rumänien geblieben sind – und auf das Geld aus Deutschland dringend warten.

»Mit dem Bus dauert die Reise nach Frankfurt eineinhalb Tage, sie kostet 150 Euro. Schon dieses Geld müssen sich die Arbeiter oft erst einmal leihen und darauf hoffen, dass sie es dann in Deutschland schnell wieder verdienen. Versprochen werden gut 14 Euro Stundenlohn. Tatsächlich aber liegt das Entgelt nicht selten darunter, berichten die Arbeiter. Die wirkliche Arbeitszeit ist kaum zu prüfen, und wenn noch Kosten für Unterkünfte abgezogen werden, sind Manipulationen Tür und Tor geöffnet.«

Und wenn man sich den Sachverhalt genauer anschaut, dann versteht man in Umrissen, warum es so wichtig ist, sich mit den hoch problematischen Subunternehmer-Ketten in der Bauwirtschaft zu beschäftigen, mit einem Instrument namens Generalunternehmerhaftung und auch, warum es spezieller Hilfsangebote seitens der Gewerkschaften – die aber nur fehlendes und eigentlich dringend erforderliches staatliches Handeln zu kompensieren versuchen, braucht, um denjenigen, denen hier Unrecht angetan wird, helfen zu können.

Zum Sachverhalt aus Frankfurt:

»Generalunternehmer der Baustelle an der Hattersheimer Straße am Rande des Europaviertels in Frankfurt ist die D & B Bau GmbH aus Neustadt an der Weinstraße. Sie wiederum gehört zur Demathieu-&-Bard-Gruppe in Frankreich.«

Jetzt kommt das Subunternehmer-Thema ins Spiel:

»Die Ausführung des Baus hat D & B Bau allerdings einem Offenbacher Unternehmen übertragen. Sie hat die Lohnsumme zwar von der D & B Bau nach deren Angabe in voller Höhe kassiert, das Geld aber nicht oder nur zu einem Bruchteil an die rumänischen Bauarbeiter ausgezahlt. Alles in allem stehen rund 200.000 Euro an Löhnen aus, hat die IG Bau errechnet. Zudem hat das Offenbacher Subunternehmen die Miete für Unterkünfte der Wanderarbeiter nach Angaben der Gewerkschaft nicht bezahlt – mit der Folge, dass mehr als 20 von ihnen zunächst keine Bleibe mehr hatten.«

Offensichtlich geht es hier um die Offenbacher Kaczor Bauunternehmen GmbH, wie man einem anderen Artikel zu den Vorgängen in Frankfurt entnehmen kann.

Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass der Fall an die Öffentlichkeit gebracht wurde?
»Dass deren heikle Lage überhaupt publik wurde, ist nicht zuletzt Letitia Türk vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ zu danken. Die in Rumänien geborene Gewerkschafterin hilft den Männern, die in der Regel kein Deutsch sprechen können, ihre Rechte einzufordern.«

»Ganz leicht dürfte es erst einmal nicht werden, die ausstehenden Löhne rasch zu bekommen. Denn der Subunternehmer aus Offenbach scheint verschwunden.«

Nun könnte der eine oder andere Rechtskundige einwerfen, genau für solche Fälle gilt doch nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz die Generalunternehmerhaftung mit den daraus resultierenden Verpflichtungen. Im Prinzip ja und der Generalunternehmer erklärt auch öffentlich, er wolle diese Verpflichtungen selbstverständlich erfüllen. Also grundsätzlich, aber:

»Man müsse aber erst einmal prüfen, wer von den Arbeitern, die der flüchtige Offenbacher Bauunternehmer angeheuert habe, tatsächlich auf der Baustelle an der Hattersheimer Straße tätig gewesen sei. Das waren nach Auskunft der IG Bau 54 Männer. Allerdings hat die Offenbacher Firma offenbar weitere 250 ebenfalls um Löhne geprellt. Sie waren aber nicht auf Baustellen der D & B Bau tätig. Ihnen könne man nicht helfen … Für das Unternehmen ist die Lage nicht nur heikel, weil es nun zweimal für dieselbe Leistung zahlen muss, sondern auch deshalb, weil der Zeitplan für das 180 Wohnungen umfassende Projekt an der Hattersheimer Straße in Gefahr gerät. Nach wie vor geltende Fristen sind womöglich nicht mehr oder nur mit erheblichem zusätzlichem Kostenaufwand einzuhalten.«

Nun könnte der eine oder andere auf die Idee kommen, dann soll doch das Unternehmen einfach die rumänischen Bauarbeiter direkt einstellen, um die Baustelle schnell wieder ans Laufen zu bekommen. Das sei „zu kompliziert“, wird einer der Verantwortlichen aus dem Unternehmen zitiert. »Man sei aber auf der Suche nach einem neuen Subunternehmer, der die Arbeiter von der Hattersheimer Straße übernehme.«

Von der Subunternehmer-Kette will man also nicht lassen.

Wenn man das schon meint machen zu müssen, dann hat man aber auch die Konsequenzen zu tragen – und übrigens ist es auch nicht so, dass man sich immer herausreden kann mit dem Hinweis, man habe ja leider nicht wissen können, was da unter der Subunternehmer-Decke alles passiert. Nur ein ganz handfester Vorschlag, der in dem Artikel von Jochen Remmert zitiert wird:

»Rainer von Borstel, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Baugewerblichen Unternehmer Hessen, glaubt zwar nicht, dass sich ein solcher Missbrauch ganz verhindern lässt. Es gebe aber für Generalunternehmer durchaus Möglichkeiten, die Seriosität von Subunternehmern zu prüfen. So lasse sich bei den Sozialkassen der Branche erfragen, wie viele Mitarbeiter ein Unternehmen überhaupt angemeldet habe.«

Und damit keine Missverständnisse aufkommen – das ist eben kein bedauerlicher Einzelfall. Bleiben wir in Frankfurt:

»Vor ziemlich genau einem Jahr zahlte die Bögl-Gruppe nach rund einer Woche des Protests – ebenfalls vor einer Baustelle im Frankfurter Europaviertel – 175.000 Euro vorenthaltenen Lohn an 50 Rumänen, nachdem ein dubioser Subunternehmer zwar von Bögl Geld kassiert, den Lohn aber anschließend nicht an die Arbeiter ausgezahlt hatte. In diesem Jahr hat es allein in der Rhein-Main-Region schon vier größere Fälle von Lohnprellerei gegeben, sagte gestern Hans-Joachim Rosenbaum, Regionalleiter der IG Bau Hessen.«

Und man kann und muss davon ausgehen, dass das alles nur die Spitze eines Eisbergs ist, denn viele der rumänischen Wanderarbeiter, vor allem, wenn nur wenige und keine größeren Gruppen betroffen sind, trauen sich nicht, sich zu wehren oder wissen schlichtweg nicht, ob und was sie machen können. Die Dunkelziffer wird sehr hoch sein.

Zugleich sind wir hier mit einem veritablen – und man muss es so nennen – Staatsversagen konfrontiert, denn gerade hier hätte der Staat eine elementare Schutzfunktion gegen Ausbeutung und so lobenswert Projekte wie die „Faire Mobilität“ des DGB auch sein mögen – hier muss man flächendeckende staatlich organisierte und finanzierte Hilfsangebote in einer verlässlichen Form erwarten dürfen. Hier – aber auch in anderen Bereichen, man denke an die Mindestlohnthematik – zeigt sich wieder einmal die offensichtliche Schwäche in Deutschland, dass es keine ganzheitlich ausgerichtete Arbeitsinspektion gibt, sondern entweder gar nichts da ist oder aber das Motto „Viele Köche verderben den Brei“ seinen Niederschlag findet.

Verteidigen, erzwingen, aufwerten. Grundlinien und Dilemmata der gegenwärtigen und zukünftigen Streikwelt

Nun rollen die Züge wieder und die große Koalition hat mit ihrer erdrückenden Mehrheit noch pünktlich vor dem Pfingstwochenende das so genannte „Tarifeinheitsgesetz“  über die parlamentarische Hürde im Bundestag gehievt. Nach dem verlängerten Wochenende wird dann erst einmal nicht mehr über Lokführer diskutiert und gestritten, sehr wohl aber über andere, sich derzeit im Arbeitskampf befindliche Berufsgruppen, allen voran die Erzieherinnen der kommunalen Kindertageseinrichtungen, die sich weiterhin im unbefristeten Ausstand befinden und deren Gewerkschaften ver.di und GEW auf irgendein substantielles Angebot von der Arbeitgeberseite warten, während die Situation für die betroffenen Eltern immer kritischer wird. Das ist genau der richtige Zeitpunkt, um von einzelnen konkreten Auseinandersetzungen ein Stück weit zurückzutreten und die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob und wenn ja welche Muster in der neuen Streikwelt zu erkennen sind. Es geht also um die großen Schneisen. Hier wird die These aufgestellt, dass sich die durchaus vielgestaltige Welt der Arbeitskämpfe, die wir derzeit und wahrscheinlich in Zukunft beobachten können, in einem mehrdimensionalen Raum entfalten lässt, in dem sich folgende Ausprägungen erkennen lassen: Verteidigung („von oben“), Erzwingung, Aufwertung, Instrumentalisierung, aber auch möglicherweise „tarifeinheitsgesetzinduzierte Streiks“ sowie – nur teilweise ironisch gemeint – „Übungsstreiks“.

Man muss am Anfang der nun folgenden Überlegungen einen ganz weiten Schritt zurück machen und in Erinnerung rufen, dass der („richtige“, also nicht Warn-)Streik eigentlich und wenn überhaupt nur als „ultima ratio“ in der Endphase eines über längere Phasen laufenden Tarifkonflikts zum Einsatz kommen sollte. Und wenn es so etwas wie einen „Normalfall“ hinsichtlich der Tarifkonflikte gibt, dann handelt es sich hierbei sicherlich um „klassische“ Auseinandersetzungen um mehr Geld bzw. andere Arbeitsbedingungen, beispielsweise eine Arbeitszeitverkürzung. Im Kern geht es dabei um eine Verbesserung aus Sicht der Arbeitnehmer nach der Logik „von unten nach oben“. Hier finden wir quasi in Reinkultur die „Fahrstuhlfunktion“ der klassischen Tarifpolitik. Dieser Kernbereich dessen, was wir als Tarifpolitik bezeichnen, hatte seine Bedeutung und wird auch weiterhin in vielen Branchen seine Bedeutung haben. Aber die Abweichungen davon spielen eine gewichtige Rolle beim Verständnis dessen, was sich derzeit im Bereich der Arbeitskämpfe verändert.

Bevor auf die bereits angesprochenen Ausprägungen der neuen Streikwelt näher eingegangen wird, sollen drei zentrale Thesen vorangestellt werden.

1.) Derzeit sind wir – und das ist ein für viele irritierendes Moment – konfrontiert mit einer Gleichzeitigkeit von mehr und weniger Streiks. Wenn auch der subjektive Eindruck vieler Menschen derzeit sicherlich gut beschrieben wird mit der Aussage, dass Deutschland sich zu einem „Streikland“ entwickelt, so zeigen doch die Daten ein mindestens differenziertes, wenn nicht sogar in der Gesamtschau diese Diagnose nicht bestätigendes Bild. Diese irritierende Gleichzeitigkeit resultiert zum einen aus der gewählten Messgröße, denn es macht schon einen großen Unterschied, ob man bei einer Streikbilanzierung ausgeht von der Zahl der Streiks, der Zahl der streikenden Arbeitnehmer oder den Ausfalltagen durch die Arbeitskämpfe. Von nicht zu unterschätzender Relevanz ist hierbei auch die Frage, auf welche Grundgesamtheit die Zahl der Arbeitskämpfe bezogen wird. Verdeutlichen kann man sich das dahinter stehende Problem am Beispiel dessen, was als „Postreform“ in den neunziger Jahren abgelaufen ist. Bis dahin gab es mit der Deutschen Bundespost ein staatsmonopolistisches Unternehmen und folglich auch eine sehr überschaubare Zahl an tarifvertraglichen Regelungen. Seitdem haben wir nicht nur die drei großen Post-Nachfolgeunternehmen, also die Deutsche Post DHL, die Telekom und die Postbank, sondern die Zahl der Tarifverträge hat sich vervielfacht und damit auch die Zahl der daraus resultierenden möglichen Tarifauseinandersetzung. Gerade in den Bereichen, in denen wir in den vergangenen Jahren eine Fragmentierung und Zersplitterung der Tariflandschaft haben sehen müssen, hat natürlich auch die Zahl der Tarifkonflikte enorm zugenommen.

2.) Betrachtet man die Bereiche, in denen (nicht) mehr gestreikt wird, dann erkennt man eine gewaltige Verschiebung: Vor unseren Augen entwickeln sich weite Bereiche der Industrie sukzessive zu streikfreien Zonen, während gleichzeitig in vielen Dienstleistungsbereichen teilweise im wahrsten Sinne des Wortes „Häuserkämpfe“ stattfinden. Mittlerweile werden mehr als neun von zehn Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich ausgetragen. Hingegen muss man zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise die IG-Metall, die in der Vergangenheit immer wieder für sehr große Arbeitskampfaktionen gesorgt hat, mittlerweile kaum noch durch größere Streiks auffällt – dies auch und gerade vor dem Hintergrund, dass sich die Industrieunternehmen in einem überaus brutalen internationalen Wettbewerb befinden und zugleich die Industrieproduktion durch die Verlagerung der Lagerhaltung auf die Straße extrem anfällig ist für eine Unterbrechung der Produktion und der Lieferungen, so dass die betroffenen Unternehmen alles versuchen, um Streikaktionen zu vermeiden bzw. von vornherein zu verhindern. Und die Industrie-Gewerkschaften wissen aufgrund ihrer Ko-Managementfunktion in vielen dieser Unternehmen sehr gut Bescheid über die wirtschaftliche Situation der Firmen.

3.) Die wohl wichtigste Veränderung findet innerhalb der Gesellschaft hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung von Streiks statt: Funktionalisierung und Neutralisierung der Arbeitskämpfe in der Gesellschaft sind hier die Stichworte, mit allen Folgeproblemen, die wir auch in anderen Bereichen beobachten können, man denke hier nur an die Freie Wohlfahrtspflege oder die Kirchen bis hin zu den Parteien. Wobei Gesellschaft hier nicht etwas Zeitloses meint, sondern die Streikaktionen, die in früheren Zeiten tatsächlich mehr oder weniger stark eingebettete waren in gesellschaftliche Subkulturen mit einem hohen Grad an kollektiven Bewusstsein, treffen heute auf eine atomisierte „Beliebigkeitsgesellschaft“, in der bei vielen Menschen keine entsprechende Fundierung mehr vorausgesetzt werden kann, was Arbeitskämpfe betrifft, und dazu führt, dass die Reaktion entsprechend heftig ausfallen können, vor allem wenn die Medien das auch noch vorantreiben.

In diesem – zugegeben überaus komplexen, hier allerdings nur schlagwortartig andeutbaren gesellschaftlichen – Kontext sind die folgenden Ausprägungen der neuen Streikwelt zu sehen:

Eine gewichtige Rolle bei den aktuellen Arbeitskämpfen spielt die Verteidigung „von oben“. Hier geht es darum, Besitzstände zu verteidigen und zu verhindern, dass teilweise erkämpfte Verteilungsansprüche zuungunsten der Arbeitnehmer umverteilt werden.

Zwei aktuelle Beispiele dafür wären zum einen der Arbeitskampf der Piloten-Gewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa sowie die derzeit höchst brisante Auseinandersetzung der Gewerkschaft Verdi mit der Deutschen Post DHL (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn der Appel den Mehdorn macht, ist Gefahr im Verzug. Oder: Wenn Streikaktionen der Gewerkschaften bei der Deutschen Post mehrere und leider auch gute Gründe haben vom 2. April 2015 sowie meinen Meinungsbeitrag bei SWR 2: Ein echtes Armutszeugnis. Die Post AG, ihr Streben nach Gewinn und der Umgang mit den streikenden Mitarbeitern). Auf der einen Seite ist es absolut nachvollziehbar, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer dagegen wehren, dass ihre Arbeitsbedingungen nicht nur nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlechtert werden sollen. Auf der anderen Seite – gleichsam die betriebswirtschaftliche Logik – ist es aus der Sicht der betroffenen Unternehmen durchaus „rational“, angesichts des teilweise brutalen Wettbewerbsdrucks „von unten“ zu versuchen, die eigenen Arbeitskosten zu reduzieren. Immer wieder mit Hinweis darauf, dass „bei den anderen“ noch deutlich schlechter bezahlt wird. Aus einer grundsätzlichen Perspektive haben diese Verteidigungskämpfe „von oben“ den „Nachteil“, dass sie letztendlich immer aus einer defensiven Position geführt werden müssen.

Hinzu kommt ein weiterer, nicht zu unterschätzender Punkt: Der Verteidigung von oben stehen zu geringe bis gar keine Aktivitäten von unten gegenüber. Dies auch deshalb, weil der Organisationsgrad der Gewerkschaften gerade in den unteren Etagen einer Branche oftmals unterdurchschnittlich schlecht ist, zum anderen aber auch, weil viele Arbeitgeber gar nicht in einem Arbeitgeberverband und damit auch nicht tarifgebunden sind. Konkret formuliert: Selbst Kritiker des immer wieder aufgelegten Piloten-Streiks bei der Lufthansa hätten möglicherweise Verständnis für Streikaktionen der Piloten am unteren Ende der Branche, also beispielsweise bei Ryanair, deren Piloten deutlich schlechter bezahlt (unbehandelt) werden als die bei der Lufthansa. Das gleiche gilt für den Bereich der Deutschen Post, auch hier könnte man sich vorstellen, dass viele applaudieren würden, wenn die, die am schlechtesten behandelt werden, also in den Paketdiensten beispielsweise bei Hermes und GLS, für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, die teilweise nur als Hund miserabel zu beschreiben sind, kämpfen würden.

Eine weitere Ausprägung in der heutigen Streikwelt kann man unter die Überschrift Erzwingung bzw. Erschließung stellen. Hier geht es darum, dass die Gewerkschaften versuchen, überhaupt einen Fuß in ein bestimmtes Unternehmen zu bekommen. Paradebeispiel für diesen Bereich sind die nunmehr seit Jahren laufenden und auch derzeit wieder aktiven Bestrebungen der Gewerkschaft Verdi bei Amazon, das Unternehmen dazu zu bewegen, nach dem Tarifvertrag für den Versandhandel zu bezahlen und nicht in Anlehnung an die Vergütungen in der Logistikbranche bei Verweigerung jeglicher tarifvertraglicher Regelung der Arbeitsbedingungen. Ein weiteres Beispiel wäre der Versuch von Verdi, beim Textildiscounter Kik Einzelhandelstarifverträge für Lagerarbeiter, die derzeit teilweise auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, durchzusetzen.

Eine ganz besonders große Baustelle lässt sich mit dem Begriff Aufwertung beschreiben. Derzeit stehen hier die Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen im Mittelpunkt, da sie sich in einem unbefristeten Ausstand befinden (aber auch die Sozialarbeiter in vielen sozialen Diensten, die ebenfalls streiken und die in der aktuellen Berichterstattung immer untergehen; vgl. dazu den Beitrag Im Schatten des Kita-Streiks und der Erzieherinnen: Die streikenden Sozialarbeiter). Hier geht es im Kern darum, das bestimmte Berufe bzw. korrekter bestimmte Tätigkeiten deutlich besser bewertet werden als in der Vergangenheit bzw. in der Gegenwart. Es ist nicht überraschend, dass wir diesen Teil der Arbeitskampf Entwicklung vor allem im Bereich der Sozial- und Gesundheitsberufe finden. Die Vergütung in diesen Berufen läuft seit geraumer Zeit der Entwicklung in weiten Teilen der „normalen“ Wirtschaft hinterher. Zusätzlich „erschwerend“ kommt hinzu, dass es sich überwiegend um frauentypische Berufe handelt.

Der in dieser Form erstmalige unbefristete Ausstand der Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen markierte insofern ein „historisches Moment“, weil er – sollte der Streik in welcher Form auch immer erfolgreich sein – enorme Ausstrahlungseffekte haben kann. Vor allem in einem Bereich, in dem die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren tatsächlich eine enorme Verschlechterung erfahren haben und wo sich bei den betroffenen Arbeitnehmern erhebliche Aggressionen aufgestaut haben – gemeint ist hier der Bereich der Pflegekräfte. Sollten die Erzieherinnen mit ihren Arbeitskampfmaßnahmen einen nennenswerten Erfolg erzielen können, dann wird das durchaus befruchten und wirken auf die Pflegekräfte, die dann möglicherweise in einer zweiten Welle folgen werden. Zugleich aber muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Gewerkschaften hier mit erheblichen Problemen konfrontiert sind, nicht nur im „klassischen“ Sinne eines teilweise desaströs niedrigen Organisationsgrades sowie nicht unerheblicher Probleme, die sich aufgrund von Sonderrechten bestimmter Arbeitgeber-Gruppen wie den Kirchen mit ihrem Streikverbot ergeben, sondern auch hinsichtlich des Gegenstands der Arbeit.

Anders ausgedrückt: Während Industriearbeiter durchaus mit einer klaren Vorstellung von dem, der durch einen Streik geschädigt werden würde, in den Arbeitskampf ziehen können, ist das bei vielen Dienstleistungen im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens ganz anders. Auch hier ist natürlich die Arbeitgeber-Seite der Hauptadressat der Arbeitskampfmaßnahmen, aber erst einmal und unmittelbar getroffen von den Streikaktionen wird nicht der Arbeitgeber, also im Fall des Kita-Streiks die Kommunen, sondern die Eltern mit ihren Kindern. Das wäre noch weitaus dramatischer, wenn man sich vorstellen würde, ein erheblicher Teil der Pflegekräfte würde in einen unbefristeten Arbeitskampf gehen. Hier einen Streik zu organisieren ist weitaus komplexer und schwieriger und letztendlich auch unwahrscheinlicher als in den „klassischen“ Wirtschaftsbereichen.

Man sollte an dieser Stelle allerdings nicht unerwähnt lassen, dass es die durchaus plausible These gibt, dass die Streikaktionen beispielsweise der Erzieherinnen in den Kitas bei einigen Funktionären in den Gewerkschaften durchaus auch „benutzt“ werden im Sinne einer Instrumentalisierung für organisationspolitische Ziele (vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015). Die Plausibilität ergibt sich daraus, dass gerade die sehr umfassende, weil breite Betroffenheit in unserer Dienstleistungsgesellschaft dazu führt, das diesen Auseinandersetzungen eine große Aufmerksamkeit gegenüber gebracht wird und angesichts der Angewiesenheit auf Dienstleistungen wie beispielsweise der Kinderbetreuung in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft ein enormes Druckpotenzial entwickelt werden kann.

Den Aspekt der „tarifeinheitsgesetzinduzierten“ Streiks habe ich bereits in dem Beitrag Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“ vom 22. Mai 2015 entfaltet. Auch ein Teil der Härte sowie der Frequenz bei den nunmehr neun Streikwellen der Lokführergewerkschaft  kann und muss ich hier so summiert werden.

Und an dieser Stelle – aber nicht wirklich – abschließend sei der Hinweis auf den Aspekt „Übungsstreik“ erlaubt. Diese Begrifflichkeit ist nur teilweise ironisch gemeint, dahinter steht ein durchaus relevantes Problem:  Man nehme beispielsweise eine Gewerkschaft wie die IG BCE. Diese Gewerkschaft hat das letzte Mal vor – tatsächlich – 44 Jahren gestreikt. Das bedeutet in praxi: Keiner der heute in dieser Gewerkschaft arbeitenden hauptamtlichen Funktionäre hat irgendwelche Erfahrungswerte mit der Organisation, Durchführung und vor allem der Abwicklung von größeren Streikaktionen sammeln können. Allein aus Übungszwecken wäre es dringlich angesagt, dass in diesem Bereich wieder einmal Streiks organisiert werden. Dahinter steht das grundsätzliche Problem, das Arbeitskämpfe nicht einfach vom Himmel fallen, sondern eine unglaubliche Organisationen, Planung und Unterstützung bedürfen, für deren Realisierung man über entsprechende Erfahrungswerte verfügen muss.

Fazit: Flapsig formuliert könnte man sagen, dass der Streik auch nicht mehr das ist, was er mal war. Er war mal ein wichtiger, allerdings überaus dosiert eingesetzter Baustein in den „normalen“ Tarifauseinandersetzung. Diese Zeiten sind – immer mehr – vorbei.  Damit wir die Lage keineswegs einfacher.

Gute Bettler, schlechte Bettler? Was ein „sektorales Bettelverbot“ in Salzburg und eine Obdachlosenzeitschrift in Berlin miteinander zu tun haben

Wenn in den Medien über „Armut“ berichtet wird, dann findet man ganz oft eine Illustration mit Fotos, die Obdachlose oder bettelnde Menschen zeigen, auch wenn es sich eigentlich um eine Diskussion über „Armut“ handelt, die sich am gesellschaftlichen Durchschnitt festmacht und von der – folgt man der gängigen Abgrenzung von Einkommensarmut – Millionen Menschen betroffen sind, von denen sich die wenigsten als Bettler betätigen oder auf der Straße leben (müssen). Aber die Bilder wirken, sie sind bewusst oder unbewusst in unseren Köpfen verankert – zugleich markieren Obdachlose und Bettler die unterste Stufe der „Armutshierarchie“ und sie sind verstörend für uns aus der Mehrheitsgesellschaft, denn sie stören unsere geschäftigen oder aber auf Erholung gerichteten Kreise, sie drängen sich körperlich und unausweichlich in unser Blickfeld, in unsere Nähe. Und das ertragen viele nicht.

Und selbst in der Konfrontation mit dem „ganz unten“ gibt es nicht nur Schattierungen, sondern letztendlich eine erkennbare Hierarchisierung, die zu einer Differenzierung in „gute Bettler, schlechte Bettler“ führt. „Gut“ im Sinne von in Ordnung und wenn es denn sein muss halbwegs akzeptabel sind viele Formen der „stillen“ Bettelei, lässt diese uns doch die Option des Vorbeigehens und des Nicht-Beachtens, wir bleiben Entscheidungsträger, wenn wir (nicht) wollen, geben wir (nicht) was. Und die, die faktisch um ein Almosen bitten, aber irgendeine Gegenleistung anbieten, stehen auf einem der oberen Ränge in der Hierarchie der Armut ganz unten. Dazu gehören neben denjenigen, die sich in Musik versuchen, vor allem die Verkäufer von Obdachlosenzeitschriften, bei denen man das – für die Mehrheitsgesellschaft gute – Gefühl hat, dass die auch irgendwie arbeiten. Auf der anderen Seite gibt es die „schlechten“ Bettler, dass sind vor allem die, bei denen man mit aggressiver Bettelei rechnen muss, die einen aktiv angehen, die einen zuweilen im wahrsten Sinne des Wortes bedrängen, die fordern und einen direkt anschauen und ansprechen. Da wird man unter einen unangenehmen Druck gesetzt. Ganz besonders schlimm wird dann der Einsatz von Kindern und von Behinderten empfunden, gleichsam als eine Art Überdosis an mitleidshaschenden Effekten. Und gerade bei diesen Bettlertypen hat man doch immer wieder gehört von der Existenz regelrechter „Bettler-Banden“, deren Hintermänner sich die Taschen vollstopfen und in Saus und Braus leben können von der Bettel-Industrie, die sie da aufgezogen haben.

Es ist naheliegend und nicht wirklich überraschend, dass schon frühzeitig immer wieder versucht wurde, die Bettelei von Seiten der Obrigkeit zu regulieren. Man kann sogar die hier nicht weiter begründbare These aufstellen, dass die Erfahrungen damit wichtige, wenn nicht zentrale Vorarbeiten für die sich später durchsetzende Unterteilung in „gute Arme, schlechte Arme“ gleistet hat. Bereits das Mittelalter war von einer Dualität der obrigkeitsstaatlichen Bekämpfungsversuche „unberechtigter Bettelei“ auf der einen Seite und auf der anderen Seite der durchaus formalen Gewährung von Bettelrechten für bestimmte Personengruppen, beispielsweise durch die Ausstellung behördlicher Bettelbriefe, gekennzeichnet. Als älteste Bettlerordnung im deutschsprachigen Raum in diesem differenzierenden Sinne gilt die von Nürnberg aus dem Jahr 1478. Und immer wieder stößt man auf die Folgewirkungen der protestantischen Arbeitsethik: Die Stadt Zürich erließ z.B. im Jahr 1520 auf Empfehlung von Ulrich Zwingli »eine eigene Verordnung, die sich mit der Versorgung bedürftiger Personen befasste. Ausdrückliches Ziel dieser Regelung war es, die öffentliche Bettelei zu unterbinden und stadtfremde Bettler von der Stadt fernzuhalten. Es wurden zwei Pfleger gewählt, denen die Bedürftigkeitsprüfung und die Verteilung der durch den Rat bzw. durch Stifter zur Verfügung gestellten Mittel oblag. Um die Armen „ab der gasse“ zu bringen, erfolgte eine regelmäßige Armenspeisung. Der Zugang hierzu war davon abhängig, dass der jeweils Bedürftige vorher nicht öffentlich gebettelt hatte«, so die Hinweise in einem Artikel über Bettler.

Mit diesem folglich sehr alten Unterscheidungsansatz werden wir auch heute immer wieder konfrontiert. Im August 2014 verhängte die Stadt München eine Allgemeinverfügung gegen aggressives so wie organisiertes bandenmäßiges Betteln in der Innenstadt. Grund für diese Maßnahme war ein Zuwachs von Bettlern, die die Passanten direkt ansprachen oder verbal und körperlich bedrängten: Dazu den Radio-Beitrag  München – Keine Almosen für Banden, der am 17.12.2014 vom Deutschlandfunk ausgestrahlt worden ist.

Oder wir werfen einen ganz aktuellen Blick in das Nachbarland Österreich, konkret in die Stadt Salzburg. Thomas Neuhold hat seinen Artikel über die Vorgänge dort unter die Überschrift Salzburg: Bettler werden aus Altstadt vertrieben gestellt. Der Gemeinderat hat dort »ein zeitlich und räumlich beschränktes Bettelverbot für weite Teile der Altstadt verhängt. Dieses sektorale Bettelverbot soll Anfang Juni in Kraft treten.« Dieser Beschluss ist auch maßgeblich Folge einer monatelangen Kampagne der Kronen Zeitung gegen das „Bettelunwesen“. Besondere Aufmerksamkeit bekommt der Vorgang auch deshalb, weil die Ausrufung eines Bettelverbots in Salzburg mit den Stimmen der Sozialdemokraten erfolgte, obgleich die SPÖ noch vor gar nicht so langer Zeit gegen ein solches Verbot gewettert hatte. Da ist Widerspruch und Protest zu erwarten:

»Für viel Empörung sorgt die neue Linie der SPÖ auch bei sozialdemokratischer Prominenz: Wolfgang Radlegger, ehemals Landesparteichef und Landeshauptmannstellvertreter und heute Chef der Wüstenrot-Holding, verteilte an die 40 Gemeinderatsmitglieder eine persönlich gehaltene Denkschrift: „Barmherzigkeit kennt keinen Sperrbezirk“, sagt Radlegger. Er wirft den Betreibern des Verbotes vor, dieses vor allem mit Rücksicht auf die Geschäftemacherei „mit Kitsch und Kommerz“ durchzusetzen.«

Womit wir bei einem Kernmotiv für die Verdrängungsversuche des überaus vielgestaltigen Bettlerwesens sind: Es geht um die Absicherung geschäftlicher Interessen zumeist in den Innenstadtlagen, die sich hier entfalten, denn natürlich stören die Bettler das Einkaufsvergnügen in der City – und insofern ist man in Salzburg konsequent, denn das Bettelverbot dort ist ein sektorales, also auf bestimmte Gegenden bzw. Straßen bezogen.

Aber gegen solche Entwicklungen gibt es immer auch Widerstände, die in Österreich beispielsweise von der Bettellobby, einer Initiative gegen Bettelverbote und selbst ernannte Interessenvertretung der Bettler in Österreich, vorgetragen werden:

„Wir werden das sicher beeinspruchen“, sagt Ferdinand Koller von der Bettellobby Wien. Betteln sei ein Menschenrecht (was im Übrigen auch der Verfassungsgerichtshof entschieden hat). „Ich glaube nicht, dass die Menschen in Salzburg so gestört wurden, dass ein Menschenrecht beschränkt werden darf“, sagt er.

Schon seit längerem wird (nicht nur) in Österreich über eine so genannte „Bettelmafia“ diskutiert. Eva Winroither  hat in ihrem Artikel „Viele Bettler sehen sich nicht als Opfer“ dazu ausgeführt:

»Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle im Bundeskriminalamt zur Bekämpfung von Menschenhandel will das Wort Bettelmafia nicht verwenden. Er unterteilt Bettler in drei Kategorien: Es gibt jene, die aus Armut betteln und aus eigenem Willen damit wieder aufhören können (nicht strafbar), diejenigen, die sich zu einem gewissen Grad organisieren, etwa durch gemeinsame Anfahrt oder Unterkunft (maximal Verwaltungsstrafe), und jene, bei denen Menschen unter massiver Drohung zum Betteln gezwungen werden. Das sei die kleinste Kategorie, sagt Tatzgern. Dreimal wurden in diesem Zusammenhang Menschen in Österreich verurteilt … In den anderen beiden Kategorien würden sich die Fälle die Waage halten. Ein Beispiel für die organisierte Bettelszene seien Massenquartiere. Oft alte Häuser, wo Bettler (aber auch Prostituierte oder Obdachlose) auf engstem Raum zusammenwohnen. „100 bis 150 Euro“, würde eine Matratze pro Monat kosten, sagt Tatzgern. Erbetteltes Geld, das anderen zufließt. Rund 1000 der geschätzten 1500 Bettler in Wien würden so ein Haus in Anspruch nehmen.«

Auch in Deutschland gibt es diese Diskussion über Motive und Ausformungen der Bettelei, dazu beispielsweise die Gesprächssendung Warum betteln Menschen im Sozialstaat? Mitleid als Geschäftsmodell des SWR vom 24.04.2014 mit Stefan Gillich von der Evangelischen Obdachlosenhilfe Frankfurt, Hans-Jörg Longin vom Ordnungsamt der Stadt Stuttgart und Dr. Iulia-Karin Patrut, Kulturwissenschaftlerin, von der Universität Trier.

Aus Deutschland wird ein anderes Beispiel für die Ausdifferenzierung der Bettelei berichtet. Obdachlosenzeitung geht gegen aggressive Bettler vor, so Stefan Strauß: »Weil sich immer häufiger Verkäufer der Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ über Betteleien von Migranten beschweren, hat der Verein des Sozialprojektes jetzt neue Regeln für alle Verkäufer aufgestellt. Denn Betteln schade dem Ansehen der Verkäufer, so ihr Argument.«

Beispiel Obdachlosenzeitung Straßenfeger:  Ein Exemplar kostet 1,50 Euro. 90 Cent bekommen die Verkäufer, 60 Cent gehen an den Verein mob. e.V., der die Zeitung herausgibt. So funktioniert das Prinzip. Man habe die Regeln für den Verkauf verschärft, „um Schaden von allen ehrlichen Verkäufer/innen abzuhalten“, so wird der Chefredakteur der Zeitung Straßenfeger, Andreas Düllick, zitiert. Was ist der Hintergrund?

»In den vergangenen Monaten haben sich immer häufiger langjährige, meist deutsche Verkäufer über Migranten aus Osteuropa beschwert. Diese würden kaum oder gar kein Deutsch sprechen und auch keinen Verkaufsausweis haben. Häufig würden sie ein altes Exemplar der Zeitung in einer Hülle eingeschweißt bei sich tragen, die Zeitung aber nicht verkaufen, sondern um Spenden betteln. „Das ist ein klarer Verstoß gegen die Verkaufsregeln“, sagt Düllick.«

Erkennbar wird eine ganz eigene Hierarchie innerhalb derjenigen, die ganz unten sind – und zugleich Irritationen für ein ganz eigenes Geschäftsmodell:

»Meist seien es Migranten, die plötzlich an einem Verkaufsplatz mit nur einem Exemplar vom Straßenfeger auftauchen und betteln würden. Das schade dem Ansehen der Verkäufer, für die es klare Verhaltensregeln gebe. So berichtet ein langjähriger Verkäufer namens CaDe in der Straßenfeger-Ausgabe vom Januar 2015, ein guter Verkäufer müsse mindestens fünf Tage die Woche mit der Zeitung in der Hand an einem Platz stehen. „Er muss freundlich sein, höflich, und er sollte wissen, was in der Zeitung steht. Er sollte tunlichst auf Alkohol oder Drogen verzichten, und er sollte auch nicht betteln“, schreibt CaDe.«

Es gibt noch eine andere Obdachlosenzeitung, das „motz“ bzw. „motz-life“. Hierfür ist der Verein motz & Co verantwortlich. Die haben eine etwas andere Auffassung, wie Stefan Strauß in seinem Artikel berichtet:

Beim Obdachlosenmagazin Motz wollen die Herausgeber gelassener mit diesen Problemen umgehen. „Beschwerden über Verkäufer, die über die Stränge schlagen oder alkoholisiert verkaufen, wollen wir nicht hochkochen“, sagt Stefan Peter vom Vorstand. Motz-Verkäufer bräuchten keinen Ausweis mit ihrem Namen. „ Viele wollen anonym bleiben. Sie werden ständig verscheucht, erniedrigt und eingeschüchtert“, sagt Peter. „Es sind die Ärmsten der Armen. Da muss man tolerant sein.“

Auch hier geht es letztendlich um die Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Bettelei. Ein letztendlich unauflösbares Dilemma.

Foto: © Stefan Sell 

Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“

Heute ist – so viel lässt sich schon jetzt sagen – ein „historischer Tag“ für die Sozialpolitik, zu deren Kernbereich die „Arbeitsbeziehungen“ gehören. Und da spielen Gewerkschaften eine zentrale Rolle und wenn es sein muss, dann müssen die auch streiken können. Nun ist das Streikrecht eine höchst diffizile Angelegenheit und es gibt ein solches eigentlich nur als abgeleitetes Recht aus der „Koalitionsfreiheit“, die im Grundgesetz verankert ist. Dort finden man im Artikel 9 Absatz 3 diese – man sollte meinen eindeutige – Formulierung: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.« Die Konkretisierung des aus diesem – nicht umsonst ganz vorne im Grundgesetz normierten – Grundrechts abgeleiteten Streikrechts für die Gewerkschaften basiert auf einer über Jahrzehnte andauernden ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.

Wenn man den Kritikern des Gesetzes, das heute im Bundestag mit der alles erdrückenden Mehrheit der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD verabschiedet wird, folgt, dann wird das „Gesetz zur Tarifeinheit“ zu einem Eingriff in das Streikrecht führen, zumindest für einen Teil der Gewerkschaften. Und möglicherweise wird es sich noch mal als ein weiterer Treppenwitz der Sozialgeschichte erweisen, dass es eine sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin war, die in das filigrane Gebäude des Streikrechts mit der Planierraupe gefahren ist. Zugleich ist bereits heute nicht nur klar erkennbar, dass das Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht getragen wird mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit, dort für verfassungswidrig erklärt zu werden, sondern auf alle Fälle werden wir Zeuge der Geburt eines wahren „Bürokratiemonsters“, ein weiterer schwerer Kollateralschaden der eigentlich mit dem Gesetz angestrebten Ausschaltung bestimmter kleiner, aber (potenziell) schlagkräftiger Gewerkschaften.

Über die generelle Problematik des Tarifeinheitsgesetzes ist in der jüngeren Vergangenheit viel berichtet und gestritten worden, das muss an dieser Stelle nicht erneut aufgerufen werden. Statt dessen sollen exemplarisch zwei heute veröffentlichte Kommentierungen aus der Presse aufgerufen werden, mit denen man das eine Grundproblem verdeutlichen kann – von der 2010 durch eine Korrektur der bis dahin pro Tarifeinheit lautenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hin zur Tarifpluralität mit einer expliziten Bezugnahme auf die grundgesetzliche verankerte Koalitionsfreiheit – und nun zurück zur Tarifeinheit. Allerdings nur für die eine Seite, also für die Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften:

Eva Roth hat ihren Leitartikel mit Tarifeinheit schwächt kleine Gewerkschaften überschrieben.

»Das Gesetz beschneidet die Rechte von kleinen Berufsgewerkschaften wie der GDL, dem Ärzteverband Marburger Bund und der Pilotenvereinigung Cockpit. Und das geht so: Wenn es für eine Berufsgruppe Tarifverträge von zwei Gewerkschaften gibt, dann soll künftig nur noch der Vertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb gelten. Bei der Bahn wird das Gesetz die größere Bahn-Gewerkschaft EVG stärken. In Kliniken kann Verdi darauf pochen, dass Ärzte nach den Verdi-Regeln vergütet werden und nicht nach den Verträgen des Marburger Bundes. Das will Verdi zurzeit nicht, aber die Zeiten können sich ändern.«

Sie weist darauf hin, dass viele Juristen das Gesetz für verfassungswidrig halten, weil die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit faktisch für einen Teil der Gewerkschaften ausgehebelt wird, denn die kleineren Gewerkschaften können für ihre Mitglieder nichts mehr durchsetzen, sobald ein größerer Konkurrenzverband die Bühne betritt. Die faktische Außerkraftsetzung des Streikrechts für die kleinen Gewerkschaften resultiert wiederum aus der Arbeitskampfrechtsprechung: Als „unverhältnismäßig“ gilt in der Rechtsprechung ein Streik unter anderem dann, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist, das mit ihm gar nicht erreicht werden kann. Wenn aber ein angestrebter Tarifvertrag gar nicht erreicht werden kann, weil sowieso der der größeren Organisation gilt, dann müsste der Streik als „unverhältnismäßig“ bewertet und untersagt werden. Warum aber sollen sich dann Arbeitnehmer in der kleineren Gewerkschaft organisieren, wenn die nur im Windschatten der größeren Gewerkschaft segeln darf und kann? Damit aber stellt sich logischerweise die Existenzfrage der kleineren Organisationen.

Genau an diesem gewollten Effekt setzt die Kommentierung von Janko Tietz an, der seinen Beitrag unter die Überschrift Maßlosigkeit ist kein Grundrecht gestellt hat. Und dieser Kommentar beginnt schon mehr als populistisch, weil Ängste vor Chaos schürend:

»Sind Sie zufällig Lackierer bei Volkswagen? Oder Müllmann? Warum haben Sie noch keine eigene Gewerkschaft gegründet? Mit einer Gewerkschaft fürs Lackiererhandwerk oder einer fürs Abfallbeseitungswesen hätten Sie doch wunderbar Ihren Betrieb lahmlegen können. Einfach das doppelte Gehalt fordern, dann streiken – und schon stünden bei Volkswagen die Bänder still oder der Müll würde sich wochen- wenn nicht gar monatelang an den Straßen türmen.
Nichts anders haben Spartengewerkschaften wie die GDL (für Lokführer), die Vereinigung Cockpit (für Piloten) oder der Marburger Bund (für Ärzte) in der Vergangenheit getan: Betriebe in die Knie gezwungen, – man könnte auch sagen, erpresst – um Partikularinteressen durchzusetzen.«

Man möchte dem Mann zurufen: Wie wäre es mit etwas Empirie, bevor man solche Sachen raushaut? Offensichtlich geht es hier um das, was man in der Tarifpolitik mit dem Begriff der „Überbietungskonkurrenz“ zu fassen versucht. Die wird einfach mal so behauptet, um den Hammer, den man jetzt gegen die Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften schwingt, zu legitimieren. Aber was sagen die Daten? Dazu ein Blick in meinen Beitrag Die kleinen egoistischen Wilden? Beiträge zur Versachlichung der Debatte über Berufs- und Spartengewerkschaften, in dem ich die lesenswerte Ausarbeitung Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik von Reinhard Bispinck rezipiere:

»Immerhin: »Hohe Tarifabschlüsse durch Cockpit (Lufthansa 2001), Marburger Bund (Ärzte 2006) und GDL (Deutsche Bahn 2008) legen den Schluss nahe: Wenn Berufsgewerkschaften antreten, erzielen sie deutlich bessere Ergebnisse.« Wie so oft kann es helfen, wenn man die Abschlüsse über einen längeren Zeitraum verfolgt. »Das Ergebnis: Bei der Deutschen Bahn hat die EVG in den Jahren 2007 bis 2014 etwas besser abgeschnitten als die GDL, bei der Lufthansa erreichten Cockpit ein Plus von 17 Prozent, UFO 21 Prozent und ver.di 27 Prozent.«

Und wie ist es mit der heftig diskutierten „Streikwelle“ durch diese Gewerkschaften, die auch Tietz an die Wand malt? Auch hier ist wieder ein nüchterner Blick angesagt: »Die Bedeutung der Streiks in der Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften wird deutlich überschätzt. Es gibt zwar eine Reihe von spektakulären Arbeitskämpfen, die von Berufsgewerkschaften durchgeführt worden sind, aber keineswegs nur solche. Die normale Tarifrunde einer Berufsgewerkschaft ist nicht immer durch Warnstreiks oder Streiks gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir haben in den letzten Jahren ein völlig normales Tarifgeschäft beobachten können«, so Bispinck in seiner Analyse.

Aber lassen wir Janko Tietz fortfahren mit seinem Lobgesang auf das Tarifeinheitsgesetz, denn er sprich einen zentralen Punkt an:

»Wenn Konzerne wie die Deutsche Bahn oder die Lufthansa argumentierten, dass der Betriebsfrieden gestört werde, wenn es innerhalb eines Unternehmens zig Tarifverträge gibt, war das den Spartengewerkschaften herzlich egal …  Maßlosigkeit ist aber kein Grundrecht. Es ist Gift, wenn es innerhalb eines Unternehmens unterschiedliche Bedingungen für gleichwertige Arbeit gibt. Wenn es Gutverdiener gibt, die auf weniger gut Verdienende herabschauen. Wenn für sie deshalb weniger da ist, weil die anderen besonders dreist aufgetreten sind.«

Auch hier möchte man dem Kommentator zurufen: Ein Blick in die betriebliche Realität würde wirklich helfen. Das, was hier effektheischend als Überforderung der armen Unternehmen herausgestellt wird, machen die auf der anderen Seite jeden Tag in teilweise hyperkomplexen Strukturen selbst! Gerade die großen Unternehmen haben überhaupt kein Problem und erst recht keine Skrupel, vielfach „abgeschichtete“ Belegschaften zu managen, Stammbeschäftigte, Leiharbeiter, Werkvertragsbeschäftigte usw. – alle zu ganz unterschiedlichen Tarif- bzw. teilweise eben auch Nicht-Tarifbedingungen. Selbst ein Journalist, der das Gegenteil von gewerkschaftsfreundlich ist, Rainer Hank von der FAZ, hat den logischen Widerspruch klar erkannt und in einem bemerkenswerten Kommentar – Warum Weselsky nicht durchgeknallt ist – auf den Punkt gebracht:

»Es ist die Ironie der Geschichte, dass SPD-Minister sich zum Handlanger der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes) machen lassen: Die beiden Kartellverbände fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von den kleinen Gewerkschaften bedroht und verstehen es prächtig, ihre Machtanmaßung als Gemeinwohlinteresse zu kaschieren. In Wirklichkeit soll das Diktat der Mehrheit die Minderheit ersticken. Dabei hatten gerade die Arbeitgeberverbände noch nie ein Problem damit, durch Leiharbeit oder Werkverträge verursachte Lohnkonkurrenz in ihren Betrieben friedlich zu handhaben.«

Dem ist leider nichts hinzuzufügen.

Bleibt abschließend noch der Hinweis auf ein zweites Grundproblem des Tarifeinheitsgesetzes – es wird sich als veritables „Bürokratiemonster“ erweisen. Und diese Charakterisierung stammt von Leuten, die es wissen müssen, weil sie das Gesetz auszubaden haben. Also die Arbeitsrichter. Dazu der Artikel Arbeitsrichter rechnen mit mehr Streiks – schon die Überschrift muss irritieren, denn man verspricht uns doch gerade weniger Streiks durch das Ausschalten der angeblich bösen Kleinen. Diese Vorhersage kann man einem Positionspapier des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA) entnehmen. Schauen wir uns deren Argumentation genauer an:
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass bei konkurrierenden Tarifverträgen nur noch der Vertrag der Mehrheitsgewerkschaft gilt. Maßgeblich ist die Mehrheit im Betrieb. Das scheint doch eindeutig. Wo soll hier ein Problem liegen? Mehrheit ist Mehrheit.

So einfach ist es eben nicht, die beiden zentralen Probleme liegen in den Begriffen „Betrieb“ und auch „Mehrheit“. Dazu liefert der Artikel de folgende Erläuterung am Beispiel der Tarifauseinandersetzungen bei der Deutschen Bahn, die ja gleichzeitig mit der GDL und der DGB-Gewerkschaft EVG verhandelt:

»Wenn das Tarifeinheitsgesetz bereits in Kraft wäre, dürfte die GDL weiter streiken, weil sie möglicherweise in einem der über 300 Bahnbetriebe die Mehrheit hat … „Ihr Tarifvertrag könnte irgendwo zur Anwendung kommen, deswegen dürfte sie auch streiken.“ Und zwar im gesamten Unternehmen. Das ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Nach Angaben eines EVG-Sprechers hat die GDL tatsächlich in einigen wenigen Bahnbetrieben die Mehrheit.«

Faktisch bedeutet das für die Praxis, dass man die „Betriebsfrage“ in den Unternehmen klären muss und dann zu ermitteln hat, wer denn konkret in dem Betrieb die Mehrheit hat. das hört sich einfacher an, als es daherkommt, denn man muss dafür wissen, ob und wer der Arbeitnehmer Mitglied in welcher Gewerkschaft ist. Gleichzeitig gibt es aber auch das Recht, dass man nicht gezwungen werden kann, seine Mitgliedschaft zu einer Gewerkschaft offenzulegen. Das wird viel Arbeit machen und sicher auch viele neuen Einnahmen auf der Seite der juristischen Fachkräfte generieren.

Damit aber nicht genug. Diese Ausgestaltung des Tarifeinheitsgesetzes kann sich als Streiksteigerungsprogramm erweisen:

»Wenn sowohl die EVG, als auch die GDL einen Tarifvertrag abgeschlossen haben, müsste laut Tarifeinheitsgesetz geklärt werden, welche Gewerkschaft in den einzelnen Bahnbetrieben mehr Mitglieder hat. Der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft würde dann in dem jeweiligen Betrieb gelten, der andere würde verdrängt.
Um in möglichst vielen Betrieben zum Zug zu kommen, müssten die Gewerkschaften um Mitglieder werben. Dieser Wettbewerb „kann durch das geplante Gesetz noch beflügelt werden“, schlussfolgert der Arbeitsrichter-Verband. „Der im Betrieb unterlegenen Gewerkschaft bleibt meist nichts anderes, als durch Streikmaßnahmen vermehrt auf sich aufmerksam zu machen.“«

Und es wird noch besser, wenn man die Hoffnung vieler Befürworter des neuen Gesetzes vor Augen hat, dass es jetzt wesentlich einfacher wird, Arbeitskampfmaßnahmen zu verbieten:

»Arbeitsgerichte könnten Streiks von Berufsgewerkschaften in aller Regel nicht einfacher als bisher verbieten, erläutert Vetter, der auch Vizepräsident des Landesarbeitsgerichts Nürnberg ist. Denn das Gesetz sieht vor, dass die Mehrheits-Verhältnisse erst dann geklärt werden, wenn beide konkurrierenden Tarifverträge vorliegen. „Während gestreikt wird, weiß das Gericht noch nicht, wer zum Zeitpunkt des Abschlusses mehr Mitglieder hat.“«

Alles klar? Und das soll eine sinnvolle Regelung sein?

Nein, natürlich nicht.

Und weitaus schlimmer – dieses Gesetz kann sich als Türöffner erweisen für die nächsten Schritte der Einschränkung des Streikrechts, die bereits vorbereitet werden und die dann alle, auch die DGB-Gewerkschaften treffen werden. Vgl. dazu meinen Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle. Man benötigt nicht wirklich prognostische Kompetenzen um vorherzusagen, dass alsbald die nächsten Forderungen nachgeschoben werden. Und schneller als man denkt sind alle Gewerkschaften auf einer ziemlich glatten Rutschbahn nach unten.