Warum die „Niedrigzinsfalle“ auch ein großes Thema für die Sozialpolitik ist

Die Rentenversicherung und die Krankenversicherung sind die beiden großen Systeme des deutschen Sozialstaats – diese beiden Versicherungszweige bringen es auf mehr als die Hälfte des gesamten Sozialbudgets, also aller Sozialleistungen in Deutschland. Demnach entfielen nach dem amtlichen Sozialbudget 2011 von den 767,6 Mrd. Euro Sozialleistungen 32% auf die Rentenversicherung und 24,5% auf die Krankenversicherung (gesetzliche und private Krankenversicherung zusammen). Die Entwicklung in diesen beiden großen Systemen ist zentral für das, was unter „Sozialleistungen“ diskutiert wird – bzw. eigentlich werden sollte, denn wenn beispielsweise in der öffentlichen Debatte über Einsparmöglichkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gestritten wird, dann ist das aus der Gesamtperspektive des Sozialbudgets ohne spürbare Relevanz.

Man sollte sich an dieser Stelle einmal verdeutlichen, dass alle Ausgaben für den Bereich Kinder- und Jugendhilfe zusammen lediglich 3,4% des Sozialbudgets ausmachen (BMAS, Sozialbudget 2011, S. 6). Wenn man jetzt also – um zu „sparen“ – alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe komplett einstellen würde, also alle Kindertageseinrichtungen schließen würde, alle Kinder- und Jugendheime und Wohngemeinschaften, alle Beratungsangebote, dann würde das erhebliche Verwüstungen vor Ort anrichten, wie sich jeder vorstellen kann, aber der Effekt im Sozialbudget wäre marginal.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der Ausgabenentwicklung in den beiden großen Systemen die größte Bedeutung zukommt. Deshalb hat es ja auch mit den so genannten „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung vor allem Anfang der 2000er Jahre massive Einschnitte bei der gesetzlichen Rente gegeben, die im Wesentlichen daraus bestanden, faktische Rentenkürzungen zuungunsten der Versicherten durchzusetzen. Gleichzeitig wurden die bewusst geschaffenen Sicherungslücken bekanntlich auf dem Papier dadurch „ausgeglichen“, dass man ein mit erheblichen Steuermitteln gepampertes System der (freiwilligen) privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge („Riester-Rente“) installiert hat – zum besonderen Wohlgefallen der Versicherungswirtschaft, die hier ein weiteres staatlich subventioniertes Betätigungsfeld bekommen hat. Es ist hier nicht der Platz, in die Details der vielstimmigen Kritik an dieser Form der Altersvorsorge einzusteigen – aber ein Aspekt soll besonders herausgestellt werden: Die immer wieder vorgetragene Kritik, dass die milliardenschwere öffentliche Förderung der „Riester-Rente“ vor allem den privaten Finanzunternehmen zugute kommt und weniger bis gar nicht den betroffenen Versicherten. Das führt unmittelbar zu der Frage, warum eigentlich diese Säule der Altersvorsorge von privaten, auf Gewinn und Gewinnmaximierung ausgerichteten Unternehmen durchgeführt werden muss und ob man das – wenn schon – nicht in die Hände eines öffentlichen Versicherers hätte legen können und müssen. Vorbilder dafür gibt es in anderen Ländern, beispielsweise in Schweden.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß von Herbert Rische, dem Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung (DRV) von Interesse, den dieser in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ geäußert hat:

»Ich kann mir ein Modell vorstellen, nach dem die Menschen zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Rente, über freiwillige Zahlungen weitere Ansprüche bei der Rentenversicherung erwerben. Solche Zahlungen ließen sich auch mit einer betrieblichen Altersvorsorge oder anderen Altersvorsorgeprodukten kombinieren. Von Versicherten haben wir oft solche Nachfragen. Wir sollten hier die Türen öffnen.«

Rische geht davon aus, dass die Deutsche Rentenversicherung mit einem solchen Angebot konkurrenzfähig wäre.

Es kann allerdings nicht wirklich verwundern, dass es so gut wie keine Resonanz auf diesen Versuchsballon der DRV in der Politik gegeben hat. Man kann sich vorstellen, welche Lobby-Geschütze der finanzindustrielle Komplex auffahren würde, um so eine Konkurrenz zu verhindern.

Aber auch wenn wir uns vorstellen, es würde eine solche private Altersvorsorge-Alternative in der Hand der Deutschen Rentenversicherung geben – sie müsste wie die private Konkurrenz angesichts der Kapitaldeckung in dieser Säule der Altersvorsorge das anzusparende Kapital rentierlich anlegen (können) – und würde damit sogleich vor ein Problem gestellt werden, mit dem die privaten Versicherungsunternehmen schon längst zu kämpfen haben: Der seit längerem anhaltenden Niedrigzinsphase, für deren Ende es in der absehbaren Zeit keine erkennbaren Anzeichen gibt. Das bringt die kapitalgedeckten Systeme in schweres Fahrwasser.

Nehmen wir als Beispiel eines der wichtigsten Instrumente für die private Altersvorsorge in Deutschland: Die Lebensversicherungen, von denen es in Deutschland mehr als 90 Millionen gibt. Die Zinsproblematik wird beispielsweise in dem SWR-Radiobeitrag „Sorge trotz Vorsorge. Warum der Leitzins die privaten Lebensversicherungen unter Druck setzt“ behandelt:

»Die Zinsen sind im Keller. Wer jetzt einen Kredit aufnimmt, kann sich vielleicht freuen. Wer aber spart und versucht fürs Alter vorzusorgen, macht ein langes Gesicht. Beim Blick auf den Bescheid der privaten Renten- und Lebensversicherungen kann einem angst und bange werden. Denn die private Absicherung, die die Versorgungslücke schließen sollte, reicht hinten und vorne nicht mehr. Droht im Alter jetzt Sorge trotz Vorsorge? Und welche Alternativen gibt es? Warum des Deutschen liebstes Vorsorgeprodukt weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Gesprächspartner ist Prof. Uwe Wystup. Der Finanzmathematiker ist Honorarprofessor an der Frankfurt School of Finance und Vorstand der MathFinance AG.«

Das Handelsblatt bringt es bereits mit einem Zitat in der Überschrift zu einem Artikel auf den Punkt: „Gib mir Geld, ich gebe es ohne Zinsen zurück“: Die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank macht den Anbietern von Lebensversicherungen das Leben schwer. Verbraucherschützer warnen bereits vor dem Abschluss solcher Versicherungen. Ist die Panik berechtigt?
Auf alle Fälle muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Garantiezins bei Neuverträgen auf 1,75 Prozent gedrückt worden ist seitens der Bundesregierung, die für die Festlegung verantwortlich ist – wegen der niedrigen Leitzinsen und magerer Kapitalmarktrenditen. »Auch die Beteiligungen der Versicherten an den Überschüssen der Unternehmen sinken. Verbraucherschützer warnen: Kunden müssten sich fragen, ob sie bei einer Lebensversicherung am Ende – nach Abzug der Inflationsrate – nicht draufzahlen.« Edda Castello von der Verbraucherzentrale Hamburg wird in dem Handelsblatt-Beitrag zitiert mit den Worten: „Alles läuft nach dem Motto: Gib mir Geld, in 30 Jahren gebe ich es zurück, allerdings fast ohne Zinsen“. Allerdings stellt sich das Problem mangelnder Alternativen, den wo soll statt dessen eine Anlage erfolgen? In Aktien oder Immobilien? Aber auch die Lebensversicherer selbst sind ein Risikofaktor, denn sie müssen einlösen, was sie mal zugesagt haben: In den 1990er Jahren beispielsweise lag der erwähnte Garantiezins bei bis zu vier Prozent und die müssen für die Kunden auch erwirtschaftet werden.

Das klingt alles nicht wirklich beruhigend. Zudem wird bei den meisten auch kritischen Berichten über die Probleme der kapitalgedeckten Systeme ein grundlegender Aspekt immer wieder ausgeklammert: Die wahren Probleme der kapitalgedeckten Systeme werden zu Tage treten, wenn die Babyboomer-Generation in die Renten geht oder zu gehen versucht und die Anlagen aufgelöst werden müssen, um die zugesagten Beträge auszahlen zu können. Nur muss es immer auch Nachfrager geben für die Anlagen der Versicherer, also Anleihen, Aktien und Immobilien, die dann ganz konkret zu Gbeld gemacht werden müssen. Dann wird richtig erkennbar werden, dass auch die Kapitaldeckung in großem Stil zumindest eher der Umlagefinanzierung ähnelt, als das heute gerade von vielen Ökonomen gesehen wird, die anscheinend eher einem „Sparkassen-Modell“ gedanklich frönen.

Und das ist nicht nur ein Problem der privaten Altersvorsorge, sondern auch eines für die privaten Krankenversicherer (PKV), wie Thomas Schmitt in seinem im Handelsblatt veröffentlichten Artikel „Privatpatienten tappen in die Zinsfalle“ erläutert. Konkret geht es um den „Rechnungszins“: »Mit diesem Satz werden die Altersrückstellungen verzinst, die in späteren Jahren den Beitragsanstieg in der PKV dämpfen sollen. Dieser Zins beträgt derzeit für die neun Millionen Altkunden 3,5 Prozent. Er ist damit viel höher als der Garantiezins der Lebensversicherung, der nur noch 1,75 Prozent beträgt.«  Aber 18 private Krankenversicherungsunternehmen liegen unterhalb dieses Satzes, wie laut Handelsblatt aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht – die von den Mathematikern der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) ermittelten Werte lägen zwischen 2,86 Prozent und 3,48 Prozent (zu den Auswirkungen der aktuellen Niedrigzinsphase auf die Lebensversicherungen gab es am 25. April 2013 eine Podiumsdiskussion der DAV, die man als Video anschauen kann). Die 18 privaten Krankenversicherungsunternehmen – die übrigens fast 40% der PKV-Unternehmen repräsentieren, zu denen beispielsweise Axa und die Generali-Tochter Central gehören, die beide zusammen 1,2 Mio. Vollversicherte auf die Waage bringen – müssten also den Rechnungszins eigentlich absenken, was aber höhere Beiträge für die Versicherten zur Folge hätte, damit diese im gleichen Umfang für niedrigere Beiträge im Alter vorsorgen können.

Es war immer schon ein grundsätzliches Problem der PKV, dass keiner hier richtig durchblickt. Nun wird auch der Teilbereich des Rechnungszinses ein buntes Biotop: »Gerade erst hat die Branche ab 2013 die Prämien für Neukunden kräftig erhöht – unter anderem auch wegen der niedrigen Zinsen. Manche Anbieter rechnen nun im Neugeschäft mit 2,5 Prozent Rechnungszins, viele mit 2,75 Prozent und manche auch noch mit 3,5 Prozent.« Das wir hier aus Sicht des Verbraucherschutzes ein echtes Problem haben, verdeutlicht der folgenden Passus in dem Beitrag von Thomas Schmitt:

„Größere Transparenz wäre sinnvoll.“ Das sagt selbst ein PKV-Insider wie Gerd Güssler, Geschäftsführer des Branchenspezialisten KVpro.de. Selbst Spezialisten wie er hätten keinen Überblick mehr über so wichtige Kennziffern wie den Rechnungszins einzelner Unternehmen.
Was lernen wir aus beiden Beispielen? Vielleicht mal wieder einen gewissen Respekt vor dem Umlageverfahren in den vielgeschmähten Sozialversicherungssystemen und die Richtigkeit einer grundlegenden Skepsis gegenüber kapitalgedeckten Systemen, die zu lange als die „bessere“ Alternative durch die politische Landschaft segeln konnten. 

Darf der das? Der Chef der Bundesagentur für Arbeit kritisiert „zunehmende Lohnungleichheit“. Er soll das sogar, weil die eigentliche Botschaft eine andere ist

Das ist eine Schlagzeile, die aufhorchen lässt: Weise kritisiert „zunehmende Lohnungleichheit“, so ein Artikel in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Gemeint ist hier mit Frank-Jürgen Weise immerhin der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Macht der Mann jetzt etwa Wahlkampf für die Oppositionsparteien? Denn es ist doch noch nicht wirklich lange her, da wurde uns im Umfeld der etwas verzögerten Veröffentlichung des „4. Armuts- und Reichtumsberichts“ der Bundesregierung seitens der Regierung wie auch von nicht wenigen Medien die Botschaft vermittelt, wir leben in einem „Erfolgsmodell“ und die Ungleichheit würde in Deutschland zurückgehen, alles sei nun am gut werden.

Dabei hatte schon das zur Bundesagentur für Arbeit gehörende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Zusammenhang mit einer öffentlichen Anhörung zum neuen Armutsbericht zahlreiche Einwände gegen Behauptungen der Bundesregierung in einer Stellungnahme vorgetragen. Diese Stellungnahme hat es durchaus in sich: Keine abnehmende Einkommensungleichheit, Reallöhne gesunken, atypische Beschäftigung gestiegen, Hilfebedürftigkeit bei 60- bis 65-Jährigen um circa 65 Prozent gestiegen, Aufstocker nicht thematisiert – um nur die wichtigsten Aussagen herauszugreifen, wie „O-Ton Arbeitmarkt“ in einem Beitrag über die IAB-Stellungnahme zusammenfassend berichtet hat. Macht der Vorsitzende des Vorstandes der BA jetzt an dieser Stelle weiter?

Schaut man sich einige Kernaussagen an, die man dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung entnehmen kann, dann relativiert sich die ganze Angelegenheit auf den ersten Blick, denn das, was er sagt, ist seit Jahren Gegenstand der sozialpolitischen Debatte und insofern vollzieht er hier nur an und für sich Bekanntes nach:

„Wir haben die Tendenz zu einer zunehmenden Lohnungleichheit“, darüber wird nun schon seit langem berichtet und wer sehenden Auges über den Arbeitsmarkt wandelt, der muss über die Begrifflichkeit Tendenz eher schmunzeln. Oder der hier: „Wer hier nicht mithalten kann, für den bleiben, wenn überhaupt, nur niedrig bezahlte Jobs.“ Sicher auch gerne gehört werden angesichts der vielen befristeten Jobs vor allem für die jungen Menschen solche Worte: „Wenn man Familie haben, ein Auto kaufen, einen Kredit für die Wohnung haben will, gehört dazu Berechenbarkeit auf der Einkommensseite.“

Schon interessanter wird die Sache bei seinen Ausführungen zur Zeit- bzw. Leiharbeit. Hier spricht er davon, dass das Ausmaß der Leiharbeit in Deutschland erträglich geblieben sei. „Wenn wir Zeitarbeit hier in Dimensionen wie in Großbritannien hätten, gäbe es in Deutschland zwei Millionen statt 800.000 Zeitarbeiter“, so Weise. Um dann gleich auch eine interessante Grenze zu ziehen, denn er spricht davon, dass wenn wir mehr als eine Million Leiharbeiter hätten, dann würde das nicht mehr zu „unserem Jobsystem“ passen. Und weiter: »Zeitarbeit sei ein Puffer für Unsicherheit und Kapazitätsspitzen. Sie sollte sich „auf diesen Kern des Geschäfts konzentrieren und kein Modell sein, um niedrigere Lohngruppen in einem Betrieb zu etablieren“.« Das ist dann schon wieder mehr als irritierend, denn genau das ist bei einem nicht geringen Teil der Leiharbeit der Fall, wie Herr Weise wissen sollte.

Dann kommt eine Ankündigung des BA-Chefs, die man sich genau abspeichern sollte für die vor uns liegenden Monate:

»Wir müssen davon weg, dass unsere Kunden dort rein- und rausgehen und zwischendurch auf Hartz IV angewiesen sind. Wir haben manchmal zu oft zehn Menschen in Zeitarbeit vermittelt statt zwei in einen Handwerksbetrieb oder ein anderes kleines oder mittelständisches Unternehmen. Letzteres wäre aber volkswirtschaftlich unter Umständen besser. Deshalb ändern wir das gerade.«

Diese Aussage ist auch deshalb so interessant wie brisant, weil die bisherige Geschäftspolitik der BA eine andere war und ist – mit dem Resultat einer zunehmenden Bedeutung der Leiharbeit: »34 Prozent der offenen Stellen, die der Bundesagentur für Arbeit gemeldet wurden, entfielen im Jahresdurchschnitt 2012 auf die Leiharbeitsbranche«, berichtet O-Ton Arbeitsmarkt. Außerdem »schloss die Bundesagentur für Arbeit zunehmend Kooperationsverträge mit Leiharbeitsunternehmen.«

Die Andeutungen von Weise müssen auch im Zusammenhang gesehen werden mit Diskussionen innerhalb seines Hauses, die er damit bedienen will (denn erst einmal bleibt das eine Ankündigung): Bereits im Oktober 2012 hat der Vorsitzende des Hauptpersonalrats der BA, Eberhard Einsiedler, in einem kritischen Positionspapier die massenweise Vermittlung in Leiharbeit angeprangert. Die Anzahl der Vermittlungsvorschläge in Leiharbeit habe sich zwischen 2007 und 2011 auf knapp neun Millionen mehr als verdreifacht (plus 276 Prozent). Weiter kann man in diesem Papier finden: 2007 kamen auf einen Vermittlungsvorschlag in Leiharbeit noch etwa drei Vermittlungsvorschläge in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. 2011 hat sich das Verhältnis auf eins zu 1,7 verschoben.

Die eigentliche Botschaft des Herrn Weise geht so: Macht euch keine Sorgen wegen der Leiharbeit, so lange die unter einer Million Menschen liegt, ist das in Ordnung (wohl wissend, dass die Leiharbeitsfirmen auf absehbare Zeit diese Grenze gar nicht überschreiten können) und so, wie sie angeblich eingesetzt werden, sind sie in Ordnung. Und wir selbst werden im Sinne einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ so tun, als tun wir was gegen die „win-win-Situation“ zwischen Leiharbeitsfirmen und Bundesagentur.

Und nachdem er gerade die kritischen Geister versorgt hat mit wohlfeilen Botschaften, dass auch er die „Tendenz“ zu einer zunehmenden Lohnungleichheit erkannt habe und man irgendwie was machen wolle gegen allzu schlimme Auswüchse bei der viel kritisierten Leiharbeit, kommt er zum eigentlichen Punkt, der aus einer direkten Wahlkampfunterstützung für die CDU/CSU besteht, die zumindest auf der Ankündigungsebene eine der zentralen Wahlkampfthemen der Opposition abzuräumen versucht: das Thema Mindestlohn, das in weiten Teilen der Bevölkerung und quer zu den Parteipräferenzen eine große Sympathie genießt. Folglich hat Merkel und ihre Union für die Zeit nach der Wahl nicht wie von der Opposition gefordert mindestens einen, sondern ganz viele Mindestlöhne in Aussicht gestellt. Und genau diesen Ansatz präferiert Herr Weise, folgt man der Berichterstattung:

»Im Interview spricht sich Weise für von Arbeitgebern und Gewerkschaftern ausgehandelte, differenzierte Lohnuntergrenzen aus. Wenn diese „moderat und nach Branchen und Regionen unterschiedlich sind, muss dies keine Arbeitsplätze kosten“, sagte er.«

Also wenn der Chef der Bundesagentur für Arbeit das so sagt, dann muss das Konzept der Unionsparteien doch irgendwie richtig sein. Ein gutes Interview. Fragt sich nun nicht mehr, für wen.

Wozu Kritik an den letzten Außenposten des Sozialstaats führen kann: Die Bundesagentur für Arbeit exkommuniziert Frau H. aus H. und schießt ein veritables Eigentor

Ach, der große Tanker Bundesagentur für Arbeit, die sich selbst nach den Jahren der durch viele Unternehmensberater vorangetriebenen Um- und Anbauten als windschnittig daherkommendes und in den buntesten Farben lackiertes Schnellboot auf der großen See des Arbeitsmarktes versteht und sieht. Aber sie ist und bleibt ein Ozeanriese auf den Wogen der Sozialgesetzbücher, deren Inhalte und vor allem dessen sozialrechtlichen Implikationen und sozialpolitischen Verpflichtungen aber mittlerweile zumindest in der Führungsebene der ehemaligen Anstalt, vor allem bei ihrem BWL- und dabei vor allem Controlling-verliebten Vorstandsvorsitzenden Weise, am liebsten klammheimlich unter dem Tisch fallen sollten. Gleichsam historisch ist der vor einigen Jahren von Herrn Weise getätigte und in einem Beitrag eines Politikmagazins im Fernsehen dokumentierte Ausspruch, die Bundesagentur für Arbeit habe keinen sozialpolitischen Auftrag. Das mag die Denkwelt des Herrn Weise auf den Punkt bringen, rechtlich gesehen ist das natürlich Unsinn, denn (noch) gelten die Sozialgesetzbücher, insbesondere in Gestalt der Bücher II und III, auch für die BA. Auf der anderen Seite markiert der wie in Stein gemeißelte Satz des Herrn Weise dessen Wahrnehmung einer Bundesagentur für Arbeit im Sinne eines „am Markt operierenden Konzerns“, der im Grunde der gleichen Logik zu folgen hat wie ein – sagen wir mal – Automobilhersteller oder eine Baumarktkette. Und so haben sich die Führungskräfte der BA in den vergangenen Jahren auch immer öfter und immer stärker verhalten, sicher auch durch die personalpolitische Ausrichtung der Rekrutierung entsprechend ausgerichteter „Manager“-Typen, die mit der gleichen Freude wie ihr Chef morgens auf die Controllingberichte am Bildschirm schauen (sollen).

Herr Weise war nach klassischen Kriterien mehr als erfolgreich – um seinen betriebswirtschaftlich fokussierten Umbau der alten Arbeitsverwaltung ungestört abarbeiten zu können, hat er die BA soweit es ging gegenüber der Presse zurückgenommen, um schlechte Publicity zu vermeiden und zugleich hat er ein Stein im Brett der Politiker, weil es ihm gelungen ist, Milliardenbeträge in der Arbeitslosenversicherung einzusparen (wobei man vielleicht fairerweise anfügen muss, dass die konjunkturelle Entwicklung einiges dabei geholfen hat und für die die BA nun wirklich nichts kann).
Nur mit einem kann Herr Weise sicher nicht zufrieden sein – mit einem zentralen Abfallprodukt der Hartz-Gesetzgebung: den Jobcentern, die sich mit den Grundsicherungsleistungsempfängern herumschlagen müssen. Jahre des Hin und Her liegen hinter uns, herausgekommen ist ein (nicht nur) aus BA-Sicht völlig defizitäres System mit zwei Säulen, den Jobcentern als „gemeinsame Einrichtungen“ von BA und Kommunen sowie den „zugelassenen kommunalen Trägern“, wo also die Kommunen in Alleinregie die Arbeit erledigen und die Bundesagentur für Arbeit vom Spielfeld genommen wurde.

Die Führungsspitze der BA hatte – aus ihrer Sicht auch verständlich -, immer zwei Optionen vor Augen: Entweder den gesamten SGB II-Bereich unter ihre alleinige Zuständigkeit zu stellen oder aber letztendlich Rückzug aus dem Mischmodell mit den Kommunen und damit Kommunalisierung des SGB II, da die Kommunen doch oftmals ganz anders ticken als die immer noch (und heute eigentlich noch intensiver über ihre Steuerungssysteme) zentralistisch ausgerichtete BA mit ihrem Oberraumschiff in Nürnberg und der Folge einer Reduzierung auf eine als „moderne“ Versicherungsagentur aufgestellte Instanz für die „guten Risiken“ nach dem SGB III. Dann wäre man wenigstens den frustrierenden Hartz IV-Kram losgeworden. Doch aus beiden Ansätzen ist nichts geworden – und man kann den Frust innerhalb eines Teils der BA, was die Jobcenter angeht, aus deren Brille durchaus nachvollziehen, denn die schlechten Nachrichten aus dieser Welt werden meistens eins zu eins an die BA weitergereicht, auch wenn es sich um eine Optionskommune oder eben um Probleme in einem gemeinsam mit den Kommunen getragenen Jobcenter handeln sollte. Hartz IV wird sicher von den meisten Bundesbürgern mit dem „Arbeitsamt“, dass es zumindest semantisch seit Jahren schon nicht mehr gibt, gleichgesetzt und auch die Verantwortung wird immer erst einmal an die BA adressiert. Da kann man es bis zu einem gewissen Grad schon verstehen, dass die BA-Spitze angesichts der tatsächlich wesentlich komplexeren Lage zuweilen die Geduld verliert.

Was man aber nun wirklich nicht mehr verstehen kann, ist die unglaublich unprofessionelle und sprachlos machende Peinlichkeit in Form des „Presse Info 035 vom 14.06.2013“ mit der Überschrift: „Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter“. Ach hätte man doch einen direkten Draht zu denen da in Nürnberg in ihrem Hochhaus, der Trutzburg der deutschen Arbeitsverwaltung, man hätte zum Telefonhörer greifen und ihnen zurufen können: Habt ihr noch alle Tassen im Nürnberger Schrank? Wie tief muss eine – immerhin noch – Behörde eigentlich gesunken sein, um so einen Unsinn abzusondern, so dass sämtliche Reflexe des Fremdschämens beim Leser ausgelöst werden? Denn die Bundesagentur für Arbeit schreibt in ihrer Pressemitteilung:

»Angesichts der anhaltenden öffentlichen Attacken der (inzwischen freigestellten) Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters Inge Hannemann sieht sich die Bundesagentur für Arbeit gezwungen, Stellung zu nehmen – allein schon zum Schutz der vielen tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die durch die Äußerungen von Frau Hannemann beleidigt, herabgewürdigt und in Gefahr gebracht werden.«

Das ist schon mal starker Tobak. Eine Frau aus der Freien und Hafenstadt Hamburg bringt das Jobcenter-System in eine derart bedenkliche Schieflage? Ein Druckfehler? Nein, die meinen das wirklich so:

Frau Hannemann »bringt ihre Kolleginnen und Kollegen in Gefahr, die sich zunehmend Aggressionen von Seiten der Kunden ausgesetzt sehen.« Also wird jetzt die Frau H. aus H. in Zukunft für die leider immer wieder zu beobachtenden Zwischenfälle in den Jobcentern verantwortlich sein? Es kann doch wohl nicht wahr sein, wenn man sich die komplexen Hintergründe anschaut, die beispielsweise in der Vergangenheit zu Übergriffen seitens der „Kunden“, wie die vom System profitierende abhängige Menschen heute oft neusprechmäßig genannt werden, geführt hat.
Man hat bei dieser Pressemitteilung den Eindruck, eine schnell dahingeschriebene Kommentierung unter einem Facebook- oder Blogbeitrag irgendwo in den Niederungen des Internets lesen zu müssen, nicht aber das offizielle Statement einer deutschen Behörde. »Frau Hannemann missbraucht ihre angeblichen Insider-Ansichten, um sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darzustellen«, so die BA und darüber hinaus »gefällt sie sich in der Rolle der Märtyrerin, die von ihrem Arbeitgeber (der Freien und Hansestadt Hamburg) „kaltgestellt“ werden soll.«

Besonders „erheiternd“ ist der folgende Passus der Pressemitteilung:

»Frau Hannemann ist keine „Whistleblowerin“, die Missstände aufdeckt, denn die behaupteten Missstände gibt es nicht – sie kann daher auch keine „Hartz IV-Rebellin“ sein.«

Zwei Anmerkungen: Erstens ist das keine wirklich überzeugende Gegenrede, wenn die BA behauptet, es gebe bei ihr einfach keine Missstände. Und zweitens ist der Terminus „Hartz IV-Rebellin“ von RTL verwendet worden, solche terminologischen Überspitzungen seitens der Presse kennt jeder, der Medienerfahrungen hat sammeln können oder müssen.

Aber worum und vor allem um wen geht es hier eigentlich? Dazu muss man sich das Subjekt des wutschnaubenden Ausfalls der großen Behörde genauer anschauen. Ingrid Hannemann hat in den vergangenen Monaten eine für unsere Mediengesellschaft bezeichnende Öffentlichkeitskarriere hingelegt, die ihren Ursprung hat in ihrem Blog „altonabloggt“, wo sie sich sehr kritisch mit der Arbeit der Jobcenter auseinandersetzt. Insbesondere ihre grundsätzliche Ablehnung des Sanktionsinstrumentariums sticht dabei heraus – und das in Zeiten, in denen die Sanktionen im Grundsicherungsbereich eine große und eben auch sehr umstrittene Rolle spielen. Erst vor kurzem wurde über einen neuen Rekordstand bei den Sanktionen im Hartz IV-Bereich berichtet, wobei gerade ein differenzierter Blick auf die Sanktionen in einem Bereich, in dem es immerhin um die Absicherung des Existenzminimums geht, notwendig ist: Durch die Medien ging die Meldung, mehr als eine Millionen Sanktionen sind im vergangenen Jahr verhängt worden – und viele, die diese Information aufgenommen haben, stellen sich bewusst oder unbewusst eine Million Hartz IV-Empfänger vor, denen deshalb die Leistungen gekürzt oder gar entzogen wurden, weil sie sich gedrückt haben vor einem Arbeitsangebot.

Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei dieser Zahl um Sanktionsfälle und nicht um unterschiedliche Personen handelt: »2012 wurden rund 1.025.000 Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher verhängt. Die Zahl hat damit gegenüber dem Vorjahr um elf Prozent zugenommen. Grund hierfür sind aber keineswegs häufigere Ablehnung von Jobangeboten oder mangelnde Eigeninitiative bei der Jobsuche. Tatsächlich beruht der Zuwachs vollständig auf Terminversäumnissen«, so die Zusammenfassung bei „O-Ton Arbeitsmarkt“ in deren Beitrag „Mehr Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher wegen Arbeitsverweigerung?“ Und weiter: »Gerade die relativ harmlosen Meldeversäumnisse waren 2012 allerdings Grund für rund 70 Prozent der Sanktionen. Gegenüber dem Vorjahr ist ihr Anteil an allen Sanktionen um mehr als vier Prozentpunkte gestiegen. Der Anstieg aller Sanktionen erklärt sich daher alleine über die Zunahme der Meldeversäumnisse. Kürzungen, die wegen der Ablehnung von Jobangeboten oder aufgrund mangelnder Kooperation bei der Arbeitssuche ausgesprochen wurden, haben über die letzten Jahre sogar kontinuierlich abgenommen. Sie begründeten 2012 lediglich 28 Prozent aller Sanktionen, rund vier Prozentpunkte weniger als noch 2011.« Das ergibt schon mal ein differenzierteres Bild. Und weiter: »Befragungen von Fachkräften der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass gerade kleinere Sanktionen, wie Meldeversäumnisse, häufig in „erzieherischer“ Absicht genutzt werden, um die Beziehung zwischen Berater und Arbeitslosem verbindlicher zu gestalten. Gleichzeitig stehen viele  Arbeitsvermittler Sanktionen wegen Ablehnung von Arbeitsangeboten kritisch gegenüber. Vielfach können sie nur unpassende oder schlechte Arbeitsangebote machen, darunter auch immer mehr aus dem Bereich der Leiharbeit.«

Warum das hier so ausführlich dargelegt wird? Zum einen, weil Frau Hannemann an der durchaus auch von anderen vertretenen Kritik bis hin zu einer grundsätzlichen Infragestellung von Sanktionen inhaltlich ansetzt und sie es mit ihrem Blog über dieses Thema und vor allem dem Verhalten, sich den Sanktionserwartungen in der eigenen Arbeit im Jobcenter Hamburg nicht zu fügen, in die Medien geschafft hat, bis hin zu einem Artikel im SPIEGEL (Heft 17/2013), um nur ein Beispiel zu zitiereren: »Widerstand aus Zimmer 105. Im Jobcenter Hamburg-Altona kämpft ausgerechnet eine Arbeitsvermittlerin gegen Hartz IV: Inge Hannemann weigert sich, Arbeitslosen das Geld zu kürzen, wenn sie nicht erscheinen«.

Nun sind Presseberichte oder auch kurze Interviews in Print oder Radio das eine. Wer sich etwas umfassender über die Positionierung von Frau Hannemann informieren möchte, der wird sicher umfänglich fündig in dem folgenden längeren Radiogespräch, das von DRadio Wissen veröffentlicht wurde und das man als Audio-Datei anhören und abrufen kann:

Dradio Wissen: Die Empörung einer Sachbearbeiterin (12.05.2013): Zu Gespräch im Online-Talk: Inge Hannemann. Die Bloggerin arbeitet im Jobcenter und ist scharfe Kritikerin des Hartz-IV-Systems

Kommen wir nun wieder zurück zu der Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 14.06.2013, mit der sie Frau Hannemann gleichsam exkommuniziert:

»Wer in einem Jobcenter arbeitet, hat sich an Recht und Gesetz zu halten. Es kann nicht sein, dass eine Mitarbeiterin nach Gutdünken handelt und persönliche, politische Vorlieben auslebt. Frau Hannemann hat sich den falschen Beruf ausgesucht. Sie sollte nicht ihre Kolleginnen und Kollegen darunter leiden lassen«, so tönt es ex cathedra von der BA aus ihrer Festung in Nürnberg.
Starke Worte, die geprüft werden müssen.

Viele werden in einem ersten Schritt der geäußerten Auffassung, dass sich die Mitarbeiter einer Behörde an Recht und Gesetzt zu halten haben, uneingeschränkt zustimmen – und genau das ist ja auch mit der Formulierung von der BA so beabsichtigt. Wer von uns Normalmenschen würde das nicht erwarten, wenn wir an Polizei, Finanzämter oder Gerichte denken? Nun wird an dieser Stelle der eine oder die andere schon innerlich etwas unsicherer werden, wenn man an die eine oder die andere Entwicklung beispielsweise im Bereich der Justiz denkt (vor dem aktuellen Hintergrund des Falls Mollath in Bayern würde sich beispielsweise der Hinweis genau auf diesenFall anbieten, das soll hier nur mal ohne weitere Kommentierung als ein mögliches Beispiel unter vielen stehen bleiben).

Und genau hier muss man der BA entgegenhalten: So einfach kann man es sich eben mit dem „Recht und Gesetz“ nicht machen. Vor allem nicht im Bereich der Sanktionierung von Menschen, die im Grundsicherungssystem sind. Denn auch viele wissenschaftliche Analysen haben zeigen können, dass die bestehende Sanktionspraxis eben nicht auf einer gut strukturierten und eindeutigen, mithin also fehlerfreien Rechtsanwendungspraxis basiert, sondern angesichts der enormen Varianz der faktischen Anwendung bzw. eben auch Nicht-Anwendung von Sanktionen muss ein gewisses Maß an Willkür diagnostiziert werden, das zumindest diskussionsbedürftig ist, wenn nicht sogar ein Hinweis, dass ein bestimmter Anteil der Entscheidungen gerade nicht auf einer rechtmäßigen, sondern eher auf einer persönlichen Grundlage beruhen. Also wäre dann nicht nur das sanktionsablehnende Verhalten der Frau Hannemann als Abweichung von „Recht und Gesetz“ zu beklagen, sondern auch zahlreiche tatsächliche Sanktionsentscheidungen. Die aber – obgleich seit Jahren auch im seriösen Fachdiskurs als ein Problem des Jobcenter-Systems thematisiert – sieht die BA „natürlich“ nicht als Problem einer Verletzung von „Recht und Gesetz“ an, sondern ihr geht es doch im Grunde um etwas ganz anderes: Um ein „Automaten-Modell“ hinsichtlich der eigenen, internen Weisungen bei den Mitarbeitern, die mit Zielsteuerungsvereinbarungen und zahlreichen anderen Werkzeugen der subkutanen Verhaltenssteuerung die Vorgaben von oben (beispielsweise die Reduzierung der Leistungsempfängerquote wie auch immer und das heißt, wenn nicht durch Integration in Arbeit, dann eben durch andere Maßnahmen).

Dass wir es hier eben nicht mit einem einfachen Rechtsanwendungsmodell zu tun haben, kann man sich vielleicht an dem folgenden Beispiel verdeutlichen: Im SGB III, also in der klassischen Arbeitslosenversicherung, gibt es eine erstmal völlig berechtigte Schutzvorschrift für die Beitragszahlergemeinschaft, die besagt, dass man für drei Monate vom Bezug der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I ausgesperrt wird, wenn man selbst gekündigt hat. Mit dieser Vorschrift will man verhindern, dass es zu einer missbräuchlichen Inanspruchnahme der Versicherungsleistung kommt. So weit, so gut. Wie so oft allerdings liegen möglicher Missbrauch und komplexe Lebensrealität dicht beieinander. Bleiben wir beim Beispiel Eigenkündigung des Arbeitnehmers und stellen wir uns eine Entscheidungssituation für den Mitarbeiter der Arbeitsagentur vor, bei der eine Arbeitnehmerin argumentiert, sie habe wegen Mobbings oder wegen sexueller Belaästigung durch den Chef kündigen müssen. Formal müsste sie gesperrt werden – außer es liegt ein „wichtiger Grund“ vor, so sieht es das Gesetz selbst vor. Ist das jetzt ein „wichtiger Grund“? Sollte die sexuelle Belästigung tatsächlich vorgelegen haben, wird jeder sofort sagen, natürlich. „Natürlich“ wird aber in einem solchen Fall der betroffene Arbeitgeber alles abstreiten und dann stehen, wenn keine Zeugen da sind, Aussage gegen Aussage. Was bleibt dem Mitarbeiter in der Arbeitsagentur? Würfeln? Glauben? Nicht-Glauben? Das Beispiel sollte verdeutlichen können, dass die Realität eben nicht weiß oder schwarz ist, sondern meistens sehr grau. Natürlich könnte es auch sein, dass die Arbeitnehmerin beispielsweise über die vielen Hilfeseiten im Internet darüber informiert ist, dass es sich bei einem „wichtigen Grund“ um eine Möglichkeit handelt, eine dreimonatige Sperre zu vermeiden und sie wählt den beschriebenen Vorwurf als Instrument, um das Ziel zu erreichen, was faktisch Missbrauch wäre. Aber wie will man das beweisen können?

Man sollte auch bei der BA wahrnehmen, dass es – um auf den Fall der Frau Hannemann zurückzukommen – um das Problem bzw. die Herausforderung „abweichenden Verhaltens“ der eigenen Mitarbeiter geht. Aber um den Ball mal wieder zurückzuspielen ins Feld der BA: Es gibt auch viele andere Institutionen, die an Recht und Gesetz gebunden sind und bei denen die Einhaltung dieser Vorschriften auch deshalb so wichtig ist, weil hier existenzielle Folgen produziert werden. Man denke hier z.B. an Schulen und Hochschulen mit ihrer Notengebung – und jetzt denke jeder mal an die vielfältigen Formen „abweichenden Verhaltens“ von Lehrer/innen an Schulen oder gar an Hochschullehrer, die unter dem sehr schützenden Dach der „Freiheit von Lehre und Forschung“ segeln können. In diesen Systemen gibt es gerade deshalb das Problem des Umgangs mit „abweichenden Verhalten“, weil die Exit-Option für den Arbeitgeber auch aufgrund des Beamten-Status schwierig bis unmöglich zu ziehen ist. Also muss man andere Formen des Umgangs finden. Das hätte man sich auch im Fall der Frau Hannemann gewünscht, die ja schon seit längerem freigestellt ist von ihrer Tätigkeit im Jobcenter Hamburg.

»Es gibt bestimmt jede Menge Gründe, warum sich das Arbeitsverhältnis von Inge Hannemann in einem Zustand zwischen Krise und Krieg befindet, jeden Tag ein Stück weniger Krise, jeden Tag ein Stück mehr Krieg«, so Jürgen Dahlkamp in seinem im April veröffentlichten Artikel im SPIEGEL über Ingrid Hannemann. Genau hier liegt eine Tragik der absehbaren Eskalationsspirale, denn es besteht die Gefahr, dass durch das Öl, dass die BA mit ihrer infantilen Pressemitteilung ins Feuer gegossen hat, beide Seiten in die totale Konfrontation getrieben werden. Dabei wäre gerade Frau Hannemann zu wünschen, dass sie sich nicht runterziehen lässt auf die Ebene einer von den Medien natürlich auch gerne inszenierten und für eine kurze Zeit des Medienhypes auch promovierte Rolle einer „Hartz IV-Rebellin“. Die Gefahr ist real, natürlich auch, weil sich jetzt viele Unterstützer zu Wort melden, die in ihr eine Gallionsfigur ihres Kampfs gegen das „Hartz IV-System“ allgemein und gegen „die“ Jobcenter besonders sehen und sie dafür auch einspannen wollen. Natürlich muss man auch so konsequent sein, zu argumentieren, dass eine Verteidigung der Frau Hannemann und ihrer wichtigen Kritik in dem komplexen Gefüge Jobcenter und SGB II, auch wenn man einige ihrer Positionen gerade nicht vertritt oder eine andere Meinung beispielsweise zur grundsätzlichen Frage der Sanktionierung hat, nur dann Sinn macht, wenn sie nicht grundsätzlich gebrochen hat mit der Vorstellung, sich in einer unvollkommenen und kritikwürdigen Praxis bewegen zu können. Dann kann man auch von dem System verlangen, den „Fremdkörper“ nicht nur zu akzeptieren, sondern abweichendes Verhalten als Bereicherung, zumindest als Anregung für die eigene Weiterentwicklung als Institution zu begreifen.

Es wäre schade, wenn sich Frau Hannemann auf eine Ebene begeben würde, die sicher viele der Systemkritiker lauthals begrüßen und unterstützen würden – und die zu einer pauschalen und wirklich falschen grundsätzlichen Ablehnung von allem, was in den Jobcentern passiert, führen würde. Abschreckendes Beispiel eines solchen freien Falls nach unten wäre für mich Ralph Boes, der Ende vergangenen Jahres mit einer Hungerstreik-Aktion für Aufsehen gesorgt hat: »Für einige ist er ein Held, der sich für die Menschenwürde aufopfert. Für andere ist Ralph Boes Deutschlands frechster Schnorrer. Mit einer Anti-Hartz-IV-Kampagne kandidiert der Langzeitarbeitslose jetzt für den Bundestag, Nazi-Vergleiche inklusive«, so ein Artikel mit der bezeichnenden Überschrift: „Hartz-IV-Schnösel“ will in den Bundestag. Es geht hier nicht um seine grundlegende Einstellung zu Hartz IV oder den Jobcentern, das sehen bekanntlich auch viele andere kritisch. Aber es geht darum, dass man sich mit solchen Positionen ins Aus manövriert:

»Über die Schriften der geistigen Väter der Agenda 2010 sagt er: „Wenn man das liest, ist der Vergleich zum Dritten Reich nicht weit.“ Schließlich habe auch Hitlers Regime klein angefangen. Jobcenter-Mitarbeitern unterstellt er ein „Eichmann-Syndrom“.«

Das ist unterstes Niveau und eine unglaubliche Entgleisung, die natürlich wieder zu einer entsprechenden Schließung auf der anderen Seite führen muss.

Insofern bleibt zu hoffen, dass es auf der einen Seite eine konstruktive Auseinandersetzung der Jobcenter und der BA mit den Positionen von Ingrid Hannemann geben wird, dies auch vor dem Hintergrund kritischer Anfragen an das Jobcenter-System von anderen, die sicher in vielen Punkten nicht die Auffassung von Frau Hannemann teilen. Es gibt ja auch innerhalb der Jobcenter zahlreiche kritische Stimmen, die versuchen, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen (vgl. hierzu nur beispielsweise den Beitrag „Frust im Jobcenter. Kunden und Mitarbeiter unter Druck“ des Politikmagazins „Frontal 21“ (ZDF) vom 04.06.2013 oder für einen anderen Ansatz und mit Bezug auf Hamburg die Ergebnisse des Projekts „Einspruch“ des Diakonischen Werks, in deren Kontext beispielsweise die Studie „Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg“ und ganz aktuell die Studie „Zwischen Vermessen und Ermessen“ erstellt und veröffentlicht wurden).
Wenn es sich bei den Jobcentern um die „letzten Außenposten des Sozialstaats“ handelt (vgl. hierzu: Sell, S. (2010): Vom „Herzstück“ der „Hartz-Reformen“ zur ewigen Dauerbaustelle? Schwierige Jobcenter in schwierigen Zeiten, Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 08-2010, Remagen, 2010), dann brauchen wir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über das, was in den Jobcentern passiert – mit den Betroffenen, aber auch mit den dort arbeitenden Menschen, die doch keine Maschinen sind, wenngleich sich das manche wünschen würden.

Frau Hannemann bleibt zu wünschen, dass sie auch in Zukunft vor ihrem grundsätzlichen Hintergrund primär fachlich zu argumentieren versucht, so wie sie das ganz aktuell mit ihrer Gegendarstellung zu der Pressemitteilung der BA gemacht hat, wo sie auf die einzelnen Punkte eingeht.

Es droht die Gefahr eines Effekts, der in dem wirklich lesenswerten Buch „Finks Krieg“ von Martin Walser beschrieben worden ist, wenn man sich in der Spirale der Eskalation verheddert. Das sollte man aufgrund der damit verbundenen Beschädigungen, wie aber auch aufgrund der daraus resultierenden Nicht-Veränderungen unbedingt vermeiden.

Und der BA möchte man zurufen. Die Welt ist deutlich bunter als diese Ideologie des „Wir hier gegen die da draußen“, die sich immer wieder Bahn bricht bei der großen Bundesagentur. Die Wagenburg-Zeit sollte doch schon längst vorbei sein. Oder etwa nicht?