Schwarz oder weiß in der Arbeitsmarktpolitik bringt nicht viel – von der Flutschädenbeseitigung in Ostdeutschland bis hin zu Asylbewerbern auf deutschen Bahnhöfen

Zumindest aus der öffentlichen Berichterstattung sind die gewaltigen Überschwemmungen in diesem Hochsommer und ihre massiven Folgeschäden verschwunden, die betroffenen Menschen und die Regionen, in denen sie leben, sind nun wieder auf sich allein gestellt. Ein schnell von Bund und Ländern zusammengezimmertes finanzielles Hilfspaket in Milliardenhöhe wurde diese Tage seitens des verabschiedet und auf seine administrative Reise geschickt. Die Rechtsverordnung für den Aufbaufonds mit einem Volumen von acht Milliarden Euro ist mittlerweile beschlossen worden. Der Aufbauhilfefonds wird von Bund und Ländern gemeinsam finanziert. Dabei wird der Bund die Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Bundesinfrastruktur in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro alleine tragen. An den weiteren Hilfen beteiligen sich Bund und Länder jeweils zur Hälfte.

Vor Ort geht es jetzt vor allem erst einmal ums Aufräumen und Reparieren. Und hier kommen auch die Arbeitslosen ins Spiel: »In Stendal und Umgebung in Sachsen-Anhalt sind die Arbeitslosen unterwegs, Gummistiefel, Handschuhe und nicht zuletzt Mückenspray hat das Jobcenter gestellt. Das ist die Grundausrüstung, um Sandsäcke wegzuschleppen und zu entleeren, Spielplätze zu entschlammen und Treibgut zum Müll zu transportieren – für 1,25 Euro die Stunde«, erfahren wir aus dem Artikel „Langzeitarbeitslose beseitigen Flutschäden“ von Barbara Dribbusch. Die Teilnahme sei freiwillig, betont das örtliche Jobcenter. Sowohl in Sachsen-Anhalt als auch in Thüringen sollen Langzeitarbeitslose dabei helfen, die Flutschäden nach dem Hochwasser zu beseitigen. Allerdings seien die Zahlen bislang nicht sehr hoch: Mitte Juli zählte man in Sachsen-Anhalt 250 Arbeitslose in der Aufbauhilfe und in Thüringen wurden bis Mitte Juli 150 sogenannte Arbeitsgelegenheiten, auch Ein-Euro-Jobs genannt, in den Hochwasserregionen eingerichtet. Allerdings hätten sich viele Freiwillige in den Jobcentern gemeldet. In der Stadt Stendal und Umgebung hat man örtlich aktuellere und auch höhere Zahlen: Dort ackern inzwischen 300 Ein-Euro-Jobber in der Fluthilfe. Die 1,25 Euro in der Stunde gibt es zusätzlich zu den Hartz-IV-Leistungen. Fast die Hälfte der Helfer sei über 50 Jahre alt, berichtet Dribbusch in ihrem Artikel.

In den vergangenen Wochen wurde immer wieder über dieses Thema mal berichtet und die Wahrnehmungswelten scheinen hier zweigespalten: Die einen fordern schneidig die Abordnung der Hartz IV-Empfänger an die „Flutfront“, das sei doch selbstverständlich, können die dann doch mal einen Gegenleistung erbringen für die staatlichen Leistungen aus dem Grundsicherungstopf. Die anderen hingegen sehen hier erneut Elemente einer „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, vor allem für Langzeitarbeitslose zu billigsten Bedingungen. Beide Zugänge zum Thema sind – vorsichtig gesprochen – „unterkomplex“.

Der entscheidende Punkt am Beispiel Hilfe in den von der Flut betroffenen Gebieten: Viele Arbeitslose wollen helfen, aber zugleich ist die Art und Weise, wie sie – wenn überhaupt – eingesetzt werden, ein weiteres Beispiel dafür, dass der Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung in den vergangenen Jahren systematisch heruntergeregelt worden ist auf die billigste und zugleich auch umstrittenste Maßnahme: den Arbeitsgelegenheiten, landläufig als „Ein-Euro-Jobs“ bekannt. Dabei würde es auch anders gehen, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch, wenn wir einen Blick zurück werfen auf die vorangegangene Flutkatastrophe im Jahr 2002. Genau das bringt Barbara Dribbusch auf den Punkt, wenn sie schreibt:

»Die Bedingungen sind allerdings schlechter als in der Aufbauhilfe nach dem desaströsen Hochwasser im Jahre 2002. Damals hatte der SPD-Sozialminister Walter Riester ein 50-Millionen-Euro-Programm für die Beschäftigung von 5.000 Arbeitslosen unterzeichnet. Diese waren im Rahmen der Strukturanpassungsmaßnahmen Hochwasserhilfe für einige Monate bei den Trägern sozialversicherungspflichtig angestellt und besser bezahlt worden als die heutigen Ein-Euro-Jobber im Rahmen der sogenannten Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung. In Österreich fördern der Staat und die Arbeitsämter derzeit Erwerbslose, die nach den Flutschäden Aufbauhilfe leisten. Sie bekommen einen Monatslohn von 1.700 Euro brutto.«

Im Jahr 2013 ist die öffentlich geförderte Beschäftigung im Wesentlichen entkernt worden auf das Instrument der „Arbeitsgelegenheiten“, das dadurch aber immer stärker und verständlicherweise in die Kritik gerät, was aber nicht wirklich hilfreich ist, denn die Arbeitsgelegenheiten können durchaus Sinn machen für ganz bestimmte Personengruppen unter den Langzeitarbeitslosen, aber eben nicht als fast alleiniges Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung.

Parallel zu der Fluthilfeproblematik muss an dieser Stelle ein anderes Thema angesprochen werden: Ende Juli ging es einige Tage wieder mal rund im Blätterwald und in den sozialen Netzwerken. Was war passiert? „Asylbewerber in Schwäbisch Gmünd: Kofferschleppen für 1,05 Euro die Stunde„, so konnten wir es beispielsweise auf Spiegel Online lesen. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Der Bahnhof von Schwäbisch Gmünd wird bis Anfang 2014 für sieben Millionen Euro modernisiert, denn im kommenden Jahr wird dort die baden-württembergische Landesgartenschau stattfinden.

»Die Arbeiten bringen für die Reisenden allerhand Beschwernisse mit sich: Die Unterführung, in der die Bahn-Passagiere ihr Gepäck auf einem Förderband abstellen können, ist gesperrt. Aufzüge gibt es nicht. Als Provisorium hat die Bahn eine Stahlbrücke errichtet, die über die Gleise führt. Doch die Treppen sind steil, gerade für ältere Fahrgäste mit viel Gepäck und Mütter mit Kinderwagen ist der Weg sehr beschwerlich geworden. Einige Fahrgäste haben sich bei der Bahn deswegen beklagt.
Bahn, Stadt und Landkreis haben nun auf ungewöhnliche Art Abhilfe geschaffen: … Asylbewerber (helfen) den Reisenden beim Koffertragen. Zehn Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern, Afghanistan und Pakistan, die in einer Unterkunft in Schwäbisch Gmünd leben, haben sich freiwillig zum Dienst gemeldet. In Zweierteams tragen sie in zwei Schichten von 6.15 Uhr bis 18 Uhr das Gepäck der Bahnfahrer. Sie haben rote T-Shirts mit der Aufschrift „Service“ bekommen, tragen Namensschilder und Strohhüte, die vor der heißen Sonne schützen sollen. Der Lohn ist bescheiden: Sie verdienen gerade einmal 1,05 Euro die Stunde.«

Allerdings weist der Artikel selbst darauf hin, warum das mit dem Lohn so ist: »Das ist der Maximallohn für Asylbewerber – mehr lässt das deutsche Asylbewerberleistungsgesetz nicht zu.«

  • Es geht hier um den § 5 AsylbLG. Dort findet man zu dem in diesem Paragrafen normierten „Arbeitsgelegenheiten“ im Absatz 2 die folgende Formulierung: »Für die zu leistende Arbeit nach Absatz 1 Satz 1 erster Halbsatz und Absatz 1 Satz 2 wird eine Aufwandsentschädigung von 1,05 Euro je Stunde ausgezahlt.« Schluss und Punkt – das heißt aber eben auch, dass man an diese Vorschrift und die dort fixierte Höhe der Aufwandsentschädigung vor Ort gebunden ist, auch wenn man etwas anderes zahlen möchte, wird dies nicht möglich sein, denn vor dem Hintergrund des ansonsten bestehenden Arbeitsverbots für Asylbewerber kann man nur zu den Arbeitsgelegenheiten nach § 5 AsylbLG greifen.

Die Stadt Schwäbisch Gmünd selbst hat im Zusammenhang mit der Berichterstattung an den Bund appelliert, den Kommunen in dieser Frage mehr Freiheiten vor Ort zu geben. Und die Stadt ist mit den Realitäten konfrontiert: »250 Asylbewerber leben derzeit in einer Gemeinschaftsunterkunft in Schwäbisch Gmünd – Tendenz steigend.« Die Stadt hat das Projekt als Experiment verstanden und nochmals: die Teilnahme war freiwillig. Es wurde von den Kunden am Bahnhof sehr positiv angenommen. Aber dem Experiment war nur eine kurze Lebensdauer vergönnt: „Bahn lässt Asylbewerber keine Koffer mehr tragen„, so meldete es Spiegel Online kurz nach Beginn der Berichterstattung über das Experiment. Die Großkopferten bei der Bahn hatten sofort kalte Füße bekommen und befürchteten negative Image-Effekte für das eigene Unternehmen, wenn sich der Shitstorm im Anschluss an die ersten Berichte ausbreiten sollte. »Arbeitsverhältnisse zu diesen Konditionen könne die Bahn nicht unterstützen … In der Stadt Schwäbisch Gmünd herrscht Unverständnis über die Entscheidung der Bahn … Die Asylbewerber seien sehr enttäuscht gewesen, als sie vom Aus erfuhren.«
Unverständnis gab es nicht nur auf Seiten der Stadt, in dem Artikel wird auch Bernd Sattler vom Arbeitskreis Asyl zitiert und damit sicher keiner, der irgendwelche dunklen Geschäfte mit den betroffenen Menschen treibt. Er argumentiert besonnen und pragmatisch:

»Für die Flüchtlinge sei der Job am Bahnhof eine Gelegenheit gewesen, der großen Langeweile in der Gemeinschaftsunterkunft zu entfliehen. Kritik an dem Projekt könne allenfalls auf einem Missverständnis beruhen, sagte Sattler. „Wir müssen pragmatische Lösungen finden, um die Asylbewerber zu integrieren. Projekte wie das Koffertragen am Bahnhof ermöglichen ihnen soziale Kontakte. Anders können wir das gar nicht leisten.“ Er verwies darauf, dass Flüchtlinge in Schwäbisch Gmünd bereits in der Behindertenhilfe und in Altenpflegeeinrichtungen tätig seien. „Die Asylbewerber fühlen sich dadurch enorm aufgewertet und werden als gleichberechtigte Kollegen wahrgenommen.“ Außerdem habe die Beschäftigung bereits mehreren Asylbewerbern geholfen, deren Aufenthaltserlaubnis im Zuge einer Härtefallentscheidung verlängert wurde.«

Aber für die Lordsiegelbewahrer des Kampfes gegen „Rassismus“ (bzw. das, was man als solchen ex cathedra definiert), zählt eine solche differenzierte Position nicht. Hier und denen geht es um das Grundsätzliche. Wer dies einmal kurz und bündig nachvollziehen möchte, der möge sich das Video mit dem Beitrag des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ vom 15.08.2013 anschauen: „Bevormundung: Keine Ein-Euro-Jobs für Asylbewerber“: »Dürfen Asylbewerber als 1-Euro-Jobber für Bahnkunden die Koffer tragen? Die Stadt Schwäbisch-Gmünd meinte „Ja“, doch als das Projekt publik wurde, lösten die Bilder einen Empörungssturm aus. Von Rassismus und Ausbeutung war die Rede, das Projekt wurde eingestellt. Die Asylbewerber, die sich über diesen Job freuten, wurden gar nicht erst gefragt.« Ulla Jelpke von der Bundestagsfraktion der Linken spricht gar von einem „Rückfall in den Kolonialismus“ und meint damit wohl eher erst einmal ihre Bilder von Kolonialismus, die sie in ihrem Kopf hat und von denen sie nicht lassen möchte. Mit den Betroffenen gesprochen hat sie jedenfalls nicht, das könnte ja auch durchaus einige Irritationen am eigenen Weltbild auslösen.

Um es deutlich zu sagen: Natürlich sind 1,05 Euro – zusätzlich zu den Leistungen, die die Asylbewerber bekommen – kein auch nur ansatzweise ordentlicher Lohn. Aber – wie dargestellt – das findet seine Begründung in der bundesgesetzlichen Vorgabe des AsylbLG. Und aus der persönlichen Sicht der betroffenen Asylbewerber kann eine solche defizitäre Tätigkeit von großer positiver Bedeutung sein, wenn denn die Alternative das staatlich verordnete Nichtstun ist.

Staatlich verordnetes Nichtstun verweist abschließend auf eines der Probleme, die über den Fall Schwäbisch Gmünd eine basale Schwachstelle des Asylbewerbersystems in Deutschland adressiert: Das Arbeitsverbot. »Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist auf ein Rekordhoch gestiegen. Geht es nach Wolfgang Bosbach, bleibt es den Flüchtlingen auch in Zukunft verboten zu arbeiten. Andernfalls würde man die Schlepper unterstützen, sagte der CDU-Politiker«, so der Artikel „Bosbach will Arbeitsverbot für Asylbewerber behalten„.

An dieser Stelle nur ein Gedankengang: Es kommen Menschen her, die Asyl beantragen und deren Asylprüfung kann durchaus sehr lange Zeit in Anspruch nehmen. Man belegt sie mit einem Arbeitsverbot und sperrt sie zusammen mit vielen anderen Menschen aus anderen Ländern, Kulturen und Religionen zusammen – und dann wundert man sich, dass es Probleme gibt? Die dann wiederum auf alle „Asylbewerber“ etikettiert werden. Auf dass sich die Vor-Urteile verfestigen.
Die es – wie hier gezeigt wurde – auch auf der Seite der angeblichen Gutmenschen gibt, die für sich in Anspruch nehmen, für die „schwarzen Kofferträger“ zu sprechen und dabei doch nur über und das auch noch ohne sie tun.

Beide Positionen sind mehr als „unterkomplex“.

Langsam aber sicher wird es gefährlich für die Bürger – die Daseinsvorsorge im Schraubstock von Personalabbau und bürokratischer Erstarrung

Es ist ein mittlerweile fast schon antiquiert daherkommender Begriff, dessen Inhalte aber von existenzieller Bedeutung für uns als Bürger sind, was man meistens erst dann merkt, wenn diese Inhalte immer leichter und weniger werden, was zumeist ein fließender Prozess ist: Die Rede ist hier von der Daseinsvorsorge. »Daseinsvorsorge ist ein verwaltungsrechtlicher Begriff, der auch in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Er umschreibt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und Leistungen − die so genannte Grundversorgung. Dazu zählt als Teil der Leistungsverwaltung die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder usw.«

Eine kurze Reminiszenz sei an dieser Stelle vor dem Übergang zur aktuellen Debatte erlaubt: In der ursprünglichen Dogmatik des Verwaltungsrechts gab es nur die Eingriffsverwaltung, die dem Bürger ein Tun, Dulden oder Unterlassen aufgibt und ihn in seiner freien Entfaltung eingrenzt, beispielsweise zur Gefahrenabwehr. Es war Ernst Forsthoff, der in seiner 1938 in Königsberg erschienenen Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ diese auf Eingriffsverwaltung fokussierte Dogmatik um das Konzept der Leistungsverwaltung erweiterte, mit dem das Verhältnis des Einzelnen zum leistungsgewährenden Staat bestimmt werden sollte. Damit hat sich also ein Mann als Geburtshelfer dieses wichtigen Begriffs betätigt, das sei hier der Vollständigkeit halber angemerkt, der vor allem über sein bekanntestes, 1933 veröffentlichte Werk – „Der totale Staat“ – neben  Carl Schmitt, Karl Larenz, Theodor Maunz, Herbert Krüger u.a. zu den Juristen gehörte, die versucht haben, dem Nationalsozialismus eine staatsrechtliche Legitimation zu verschaffen. Nach dem Ende der NS-Zeit konnte er wie viele andere auch seine professorale Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen, u.a. auch als Kommentator unseres Grundgesetzes. Und mit Blick auf das Grundgesetz für die Sozialpolitiker erneut relevant sind seine Beiträge in der Debatte um die Begriffe Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit und deren Zusammenspiel im Verfassungsrecht.

Forsthoff hat auf die Notwendigkeit, dass dem Einzelnen Teilhaberechte an Leistungen der Daseinsvorsorge zustehen müssen, hingewiesen. Als Daseinsvorsorge ist demnach die „leistungsgewährende Betätigung des Staates“ zu verstehen, um die Teilhaberechte der einzelnen Bürger einlösen zu können – wenn wir an die gegenwärtige Debatte über Inklusion und die Realisierung von Teilhabe für behinderte Menschen denken, dann erkennt man, dass der so verstandene Begriff nichts an Aktualität eingebüßt hat, ganz im Gegenteil markiert er eine der sicher größten Baustellen der vor uns liegenden Jahren, wenn man denn Inklusion als das versteht, was es ist: ein revolutionäres Konzept aus Sicht der bestehenden Strukturen.

Aber zurück zu dem „klassischen“ Verständnis von Daseinsvorsorge, wie er bei Forsthoff und seinen Nachfolgern viele Jahrzehnte präsent und verankert war: Für die Sicherstellung der Daseinsvorsorge braucht man „slebstverständlich“ eine funktionierende, soll heißen eine leistungsfähige Verwaltung. Auf die Idee, die mit Daseinsvorsorge verbundenen Aufgaben an private Unternehmen auszulagern, wäre man lange Zeit sicher nicht gekommen und die Versuche in diese Richtung, die wir vor allem seit den 1990er Jahren erleben, sind ja mehr als ambivalent zu bewerten, um das mal vorsichtig auszudrücken.

Und genau um eine funktionierende „Leistungsverwaltung“ soll es hier gehen. Denn diese – das zeigen die chaotischen Entwicklungen, die wir derzeit bei der Bahn rund um den Hauptbahnhof Mainz erleben müssen, die man aber nur als oberste Spitze eines weitgehend nicht-sichtbaren Eisberges verstehen muss – wird immer offensichtlicher in Frage gestellt. Denn aus unterschiedlichen Gründen ist die Leistungsfähigkeit der Leistungsverwaltung substanziell beschädigt (worden). So die These von Carsten Brönstrup in seinem Artikel „Öffentlicher Dienst schlägt Alarm wegen Personalmangel„: »Die Bahn ist kein Einzelfall. Auch bei der Polizei, in Kliniken, bei Feuerwehr und Verwaltungen fehlt nach Jahren des Sparens das Personal. Für die Bürger wird das allmählich gefährlich.« Für Brönstrup ist der Engpass bei der Bahn kein Einzelfall. Überall im öffentlichen Bereich hat sich der Staat in den vergangenen Jahren zurückgezogen und beim Personal bis zur Schmerzgrenze gespart. Nach Jahren des Sparens tun sich immer mehr Lücken auf – bei der Polizei, bei der Feuerwehr, in Schulen und Kitas, im Gesundheitssektor und damit in Bereichen, die für uns Bürger von existenzieller Bedeutung sind.

Ganz offensichtlich laufen wir systematisch in eine doppelte Falle hinein: Zum einen fehlt es vorne und hinten an Personal aufgrund der Kürzungen in der Vergangenheit, zum anderen aber steht aufgrund der Altersstruktur eine große Pensionierungs- bzw. Verrentungswelle bevor, die für sich genommen schon einen erheblichen Ersatzbedarf auslöst.

Zum Aspekt Demografie ein Blick auf Berlin:

»Seit der Wende halbierte der Senat die Zahl seiner Bediensteten auf nun noch gut 105.000 Stellen. Folge: Das Durchschnittsalter liegt bereits bei 50 Jahren. Bis 2018 wird jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst in den Ruhestand gehen. Schon jetzt sei das Personal so knapp, dass etwa die Feuerwehr immer länger brauche, bis sie am Einsatzort eintreffe, heißt es bei den Gewerkschaften. Bei jedem zweiten Einsatz dauere es länger als acht Minuten.«

Brönstrup beleuchtet einige Felder der Daseinsvorsorge beispielhaft:

»Beispiel Polizei: „In den vergangenen Jahren hat es einen rasanten Kahlschlag gegeben“, sagt Rainer Wendt, der Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. „10 000 Stellen sind in den vergangenen 15 Jahren bundesweit abgebaut werden, die müssten wieder aufgebaut werden“, sagte er dem Tagesspiegel. Doch danach sieht es nicht aus, vor allem nicht in Ostdeutschland: Dort sollen in den nächsten fünf Jahren Wendt zufolge noch einmal 9000 Stellen wegfallen. „Die Polizei zieht sich dort aus der Fläche zurück. Wir haben Sorge, dass sich andere Faktoren als Ordnungskräfte aufspielen, Rechtsextreme zum Beispiel.“«

Ein weiteres Beispiel wären die vielen fehlenden pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen – und das angesichts der Tatsache, dass der Staat erst vor kurzem den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz auf die unter dreijährigen Kinder erweitert hat.

»Um fast ein Drittel ist der Personalbestand des Staates seit 1991 zurückgegangen. Schlank sollte das Gemeinwesen sein, das war die Maxime. Die Arbeitsdichte und der Stress haben so überall deutlich zugenommen«, so Brönstrup. Übrigens hat dieses Kaputtsparen auch volkswirtschaftlich negative Effekte, die man beispielsweise beobachten konnte, als der Staat 2009 im Jahr der Krise ein umfangreiches Konjunkturprogramm aufgelegt hat, das u.a. erhebliche Bauinvestitionen in den Kommunen beinhaltete. In der Praxis verzögerte sich trotz der verfügbaren Mittel dann die Realisierung der Bauvorhaben, weil in vielen Kommunen die Bauämter schlichtweg auf der allerniedrigsten Sparflamme gefahren werden, die dem zusätzlichen Ansturm einfach nicht gewachsen waren.

Ein weiteres, durchaus unappetitliches Beispiel aus dem Artikel von Brönstrup:

»Sogar beim Essen spüren die Bürger die Folgen des Spardiktats: Die Zahl der Lebensmittelskandale häuft sich, weil es an Kontrollen fehlt. „Um Irreführungen und Täuschungen aufzudecken, bräuchten wir mindestens 1.200 bis 1.500 zusätzliche Kollegen“, sagt Martin Müller, Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure. In Berlin etwa sei ein einziger Kontrolleur für bis zu 1.200 Betriebe zuständig. „Da können wir einfach nicht mehr den nötigen Druck machen. So ist der nächste Lebensmittelskandal programmiert“, befürchtet Müller.«

In den Krankenhäusern sieht es nicht besser aus. Bundesweit müssten 162 000 Kräfte eingestellt werden, urteilt die Gewerkschaft Verdi. 70 000 Stellen davon entfallen auf das Pflegepersonal.

Eine bessere Ausstattung der Leistungsverwaltung mit Personal würde Geld kosten. An dieser Stelle kommt dann immer reflexhaft die Frage, woher dieses Geld denn kommen soll. Eine – mögliche – Antwort wird uns von Brönstrup mit auf den Weg gegeben, indem er den Chef der Deutschen Steuergewerkschaft, Thomas Eigenthaler, zitiert:

„Jeder neu eingestellte Finanzbeamte bringt ein Vielfaches dessen ein, was er kostet“, sagt er. Ein Betriebsprüfer im wirtschaftsstarken Bayern etwa erhöhe die Steuereinnahmen um mindestens 1,5 Millionen Euro im Jahr, ein Fahnder um eine Million. Doch kaum ein Finanzminister lässt einstellen. „Wir bräuchten im Minimum 11.000 bis 15.000 neue Leute“, fordert Eigenthaler. Wer bei der Einnahmen-Verwaltung spare, spare auch bei den Einnahmen. Was sich auf dem Mainzer Bahnhof abspiele, geschehe in den Finanzämtern jeden Tag. „Wir haben ein Dauer-Mainz – nur interessiert sich dafür niemand.“«

Auch wenn es den vor sich hin plätschernden Nicht-Wahlkampf stört – mal wieder das deutsche „Jobwunder“. Denn das wurde teuer erkauft

Noch vor gut zehn Jahren, im Jahr 2002, galt Deutschland explizit wegen der hohen Arbeitslosigkeit als der „kranke Mann Europas“. Wie haben sich seitdem die Zeiten – und die Berichterstattung geändert. Bereits im vergangenen Jahr schlagzeilte der altehrwürdige „The Economist“ mit einer Headline auf Deutsch, was einen echten Tabu-Bruch dargestellt hat: „Modell Deutschland über alles. The lessons the rest of the world should—and should not—take from Germany„. Und das ist der Ausgangspunkt für Roland Kirbach: »Es ist dies der erste Bundestagswahlkampf seit Jahrzehnten, in dem das einstige deutsche Dauerleiden Arbeitslosigkeit keine Rolle spielt. Der Patient scheint geheilt. Er gilt jetzt als Vorbild.« Er hat eine kompakte und lesenswerte Dekonstruktion des deutschen „Jobwunders“in der ZEIT veröffentlicht: „… und raus bist du. Deutschland feiert sein Jobwunder. Doch der Erfolg ist teuer erkauft: Durch Leiharbeit, Niedriglöhne und die ständige Gefahr des sozialen Abstiegs.“ Bereits im vergangenen Jahr wurde anlässlich des zehnjährigen „Jubiläums“ der „Hartz-Reformen“ am deutschen Arbeitsmarkt das angebliche „Jobwunder“ verbunden mit dem, was die Kommission um den ehemaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz an wundersamen Reformen angestoßen habe.

Roland Kirbach lässt sich von der scheinbar offensichtlichen Erfolgsmeldung – »Im Jahr 2002, vor Inkrafttreten der Agenda 2010, lag die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland bei 39,3 Millionen. Heute sind es 41,8 Millionen. Das ergibt einen Zuwachs von 2,5 Millionen neuen Jobs« – nicht blenden, sondern schaut genauer hin und identifiziert die zentralen und immer wieder auch kritisierten Problemstellen im Gewebe des deutschen „Jobwunders“, mit persönlichen Fallgeschichten illustrativ aufbereitet, so dass das abstrakte Arbeitsmarktgeschehen ein Gesicht bekommt:

  • Zum einen die seit der Deregulierung im Gefolge der „Hartz-Gesetze“ expandierende Leiharbeit.
  • Zum anderen an einem Beispiel aufgezeigt der sukzessive Abstieg aus einer Vollzeitbeschäftigung über eine befristete Teilzeitbeschäftigung in einen Minijob und von dem in einen Minijob im Rahmen der Selbständigkeit des Ehemannes.
  • Auch die sich ausbreitenden Solo-Selbständigen werden thematisiert.
  • Herausgearbeitet wird die Entwicklungsachse hin zum „Niedriglohnland Deutschland“.

Hier einige Zitate aus dem Artikel: »Im Jahr 2012 gab es in Deutschland 820.000 Leiharbeitsplätze. Zehn Jahre zuvor, vor Beginn des Jobwunders, waren es nur 310.000. Ein Zuwachs von mehr als 500.000 Leiharbeitsjobs … Aber nur 250.000 dieser Jobs, also die Hälfte, sind wirklich neue Arbeitsplätze. Die anderen 250.000 haben besser bezahlte, unbefristete Jobs vernichtet.«
Die Minijobs haben sich als Illusion erwiesen. Kirbach zitiert hier mit Blick auf die besonders von geringfügiger Beschäftigung betroffenen Frauen eine von Carsten Wippermann durchgeführte Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Für Menschen mit Minijob als Haupt- und nicht als Nebenbeschäftigung entfalteten die Jobs „eine schnell einsetzende und hohe Klebewirkung und keine Brückenfunktion“, so wird Wippermann in dem Artikel zitiert. »Nur jeder siebte Minijobber schafft den Sprung auf eine Vollzeitstelle, hat Wippermann herausgefunden. Nur jeder vierte erreicht wenigstens eine reguläre Teilzeitstelle mit mindestens 20 Stunden pro Woche.« Wippermann spricht zu Recht von einem „stigmatisierenden Label“ Minijobberin. Damit ist weitgehend das Gegenteil von dem eingetreten, was man damals erhofft hatte.

Aber den Statistikern ist es egal, ob es sich um Leiharbeiter oder Minijobber handelt – sie zählen genau so als „Beschäftigte“ wie der unbefristet vollzeitbeschäftigte, womöglich gar noch tariflich abgesicherte Arbeitnehmer mit Betriebsrat. Die Betroffenen sehen sich selbst eher als Verlierer des Arbeitsmarktes. »Offiziell aber zählen sie zu den Gewinnern, zu jenen, denen das Medikament Agenda 2010 geholfen hat.«

Die Förderung der Selbstständigkeit war neben der Erleichterung von Leih- und Teilzeitarbeit ein weiterer wichtiger Bestandteil der Agenda 2010. Scheinbar eine große Erfolgsgeschichte: »Zwischen 2002 und 2012 ist die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen in Deutschland von 1,7 Millionen auf 2,2 Millionen gestiegen.« Doch viele dieser solo-selbständigen prekären Existenzen verdienen so wenig, dass sie sich noch nicht einmal mehr eine halbwegs ordentliche Absicherung gegen Krankheitsrisiken leisten können. »Nach einer aktuellen Schätzung des Bundesverbandes der Privaten Krankenversicherungen haben inzwischen 140.000 Bundesbürger keine Krankenversicherung.«

Viele der bislang schon beschriebenen Fallkonstellationen bewegen sich im so genannten „Niedriglohnsektor“. Hierzu erläutert Kirbach:

»In Deutschland liegt die Grenze bei 9,54 Euro brutto in der Stunde, alles darunter wird als Niedriglohn bewertet. Das trifft auf die Löhne von rund 7,3 Millionen Menschen zu – 22 Prozent aller Berufstätigen. Einen höheren Anteil an Geringverdienern als Deutschland haben in Europa nur Lettland, Litauen, Rumänien und Polen. In manchen Branchen arbeiten in Deutschland fast nur noch Geringverdiener. 87 Prozent aller Taxifahrer bekommen einen Niedriglohn, ergab eine Untersuchung des Statistischen Bundesamts. Ebenso 86 Prozent der Friseure, 77 Prozent der Bedienungen in Gaststätten, 69 Prozent der Verkäufer im Einzelhandel, 68 Prozent aller Leiharbeiter, 68 Prozent der Beschäftigten in Callcentern, 62 Prozent des Hotelpersonals, 60 Prozent der Wachleute bei privaten Sicherheitsdiensten.«

Traurig, aber wahr ist die folgende Beschreibung der Situation:

»Längst ist die Bundesrepublik in einigen Branchen zum Billiglohnland des Kontinents geworden. Empörten sich die Bürger vor wenigen Jahren noch darüber, dass Nordseekrabben in Marokko gepult wurden, werden mittlerweile Schweine aus europäischen Nachbarländern nach Deutschland gekarrt und hier geschlachtet.«

Es versteht sich fast schon von selbst, dass Kirbach dies verdeutlicht am Beispiel der mittlerweile viel diskutierten osteuropäischen Werkvertragsschlachter, die in der deutschen Fleischindustrie die alten, „normalen“ Arbeitsverhältnisse verdrängt haben.

Und dann noch ein wichtiger Aspekt, der oftmals untergeht, wenn über angeblich 2,3 Millionen „neue Jobs“ schwadroniert wird, ohne zu berücksichtigen, dass es sich oftmals um andere Jobs handelt als die, die der Normalbürger vor Augen hat: »(Die Agenda 2010) hat neue Arbeit erzeugt, aber vor allem viel alte Arbeit anders verteilt. Während die Gewerkschaften allerdings immer verlangten, dass dies ohne starke Lohneinbußen zu bewerkstelligen sei, haben die Hartz-Reformer die Neuverteilung der Arbeit erreicht, indem die Qualität und die Bezahlung vieler Arbeitsplätze in Deutschland sanken.«

Und der Vollständigkeit halber: »Inzwischen gibt der Staat jedes Jahr rund elf Milliarden Euro aus, um Jobs zu subventionieren, von deren Gehältern keiner leben kann: Die Zahl der Beschäftigten, deren Lohn unter dem Hartz-IV-Niveau liegt, pendelt seit Jahren um die 1,3 Millionen, davon sind 300.000 Vollzeitstellen.« Ein gigantisches Niedriglohnsubventionierungsprogramm hat sich hier ausdifferenziert, auch, weil es gerade in den überdurchschnittlich stark davon betroffenen Branchen kaum oder keine Lohnuntergrenzen mehr gibt, weil die Tarifparteien hier keine Rolle mehr spielen und weil der Staat es bislang vermeidet hat, einen gesetzlichen Mindestlohn als Sicherungsnetz nach unten einzuziehen.

Insofern endet der Beitrag von Kirbach mit einer zutreffenden Bilanzierung der viel gerühmten „Agenda 2010“: »Deutschland ist anders geworden. Das Medikament … hatte starke Nebenwirkungen.«