Jenseits der punktuellen Wahlkampf-Themen und hin zu den „sozialen Innovationen“. Kann man ja mal vorschlagen

Derzeit wird im Wahlkampf über einige wenige, zumeist nicht wirklich weit ausgreifende Themen diskutiert, über Mindestlohn ja oder nein und wenn ja, dann im Spektrum zwischen 8,50 oder 10 Euro, über eine Steuersatzanhebung von einigen wenigen Prozentpunkten hier oder fünf statt drei Pflegestufen da. Alles im einzelnen sicher diskussionswürdig, aber nicht wenige Menschen beschleicht der Verdacht, dass irgendwie die großen gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien umschifft werden, kann man sich doch daran nur verbrennen, so die Wahrnehmung vieler Politiker. Dabei liegen gerade in diesem Bereich die notwendigerweise zu schlagenden Schneisen auf der Hand – man denke an Gesundheit, Pflege, Integration, aber auch der Nicht-Arbeitsmarkt oder die Nicht-Bildung für nicht gerade kleine Bevölkerungsgruppen könnten hier angeführt werden.

Für die Bewältigung dieser Aufgaben benötige man „soziale Innovationen“, deren Potenzial die Politik noch nicht ausreichend oder teilweise gar nicht erkannt habe, so der Vorwurf von Helmut K. Anheier und Volker Then in ihrem Beitrag „Wie die Parteien soziale Innovationen verschlafen„.
Als Beispiele für erfolgreiche soziale Innovationen der Vergangenheit führen die Autoren, die beide an der Hertie School of Governance in Berlin lehren, die Einführung der Sozialversicherung (1880), das Aufkommen des Fairen Handels (seit den 1940ern, tatsächlich schon zu diesem Zeitpunkt: Die ersten Fair-Trade-Organisationen waren die im Jahr 1946 von nordamerikanischen Mennoniten und Brethren in Christ gegründeten Ten Thousand Villages (früher Self Help Crafts) und das 1949 von der Church of the Brethren gegründete Projekt SERRV International; beide Organisationen entstanden im kirchlichen Umfeld und sind noch heute aktiv), die Einrichtung von Hospizen (Ende der 1960er; das erste stationäre Hospiz wurde 1967 Großbritannien eröffnet, in Deutschland 1986) sowie in jüngerer Zeit die Vergabe von Mikrokrediten an Kleinstunternehmer oder die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern.

Soziale Innovationen werden durch kreative Personen, Organisationen oder Unternehmen hervorgebracht, die nicht vom Himmel fallen. Die Politik könne die aber unterstützen und die Autoren verweisen auf den US-Präsidenten Obama, der 2009 ein „Office of Social Innovation and Civil Participation“ eingerichtet habe (vgl. zu den konzeptionellen Hintergründen das Buch von Stephen Goldsmith, Gigi Georges, Tim Glynn Burke: The Power of Social Innovation: How Civic Entrepreneurs Ignite Community Networks for Good, 2011). Auch die EU versucht, hier mitzuspielen: »Die EU plant für die neue Förderperiode von 2014 bis 2020 ein Programm für „Beschäftigung und soziale Innovation“ mit einem Volumen von 815 Mio. Euro. Teil des Programms sind Mikrokredite und die Förderung von Sozialunternehmen.« Das Bundesfamilienministerium hat in Kooperation mit der KfW-Bank 2012 ein zweijähriges Förderprogramm für Sozialunternehmen ins Leben gerufen.

Bei den Parteien tauchen, so die Autoren, „soziale Innovationen“ zwar auf, aber doch nur sehr punktuell und eher am Rande.

Die Autoren plädieren für weitergehende Konzepte, um Veränderungsprozesse im Sozialen zu fördern. Dafür sehen sie drei Ansatzpunkte:

  1. »Im Wohlfahrtsbereich stammen über 80 Prozent der Ressourcen aus öffentlichen Quellen, beispielsweise aus der der Sozialversicherung, der Sozialhilfe oder der Kinder- und Jugendhilfe. Es handelt sich um gesetzlich geregelte Quasi-Märkte, in denen nicht der Kunde oder Patient die Leistung bezahlt, sondern der Staat. Im Bereich der Sozialversicherung beliefen sich die Ausgaben im Jahr 2010 auf rund 506 Mrd. Euro. Fördermaßnahmen in diesen Quasi-Märkten sollten durch innovationsfördernde strukturelle Anreize ergänzt werden. Angesichts der Summe dürfte dies deutlich wirksamer sein als die gesonderte Förderung von sozialen Innovationen.« Sie plädieren für die Einführung einer „Innovationsklausel“ in das SGB I, die nicht auf „Sozialunternehmen“ beschränkt seien, so dass auch die Wohlfahrtsverbände durch eine solche Klausel einen Innovationsanreiz hätten.
  2. Innovative Organisationen würden häufig unterschiedliche Sektorlogiken miteinander kombinieren. Anheier und Then plädieren für bessere bzw. andere rechtliche Rahmenbedingungen für die „hybriden Organisationen zwischen sozialen Zielen und unternehmerischer Logik: »Ein Beitrag hierzu kann die Einführung einer „low-profit limited liability company“ (L3C) nach amerikanischem Vorbild sein. Diese Rechtsform kombiniert die Flexibilität traditioneller Unternehmen mit dem Streben nach gemeinwohlfördernden Zwecken als eigentlichem Organisationsziel. Dies verringert die Gegensätze zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung. Zudem würde es Stiftungen erleichtert, soziale Innovationen zu unterstützen – und zwar nicht durch Fördergelder, sondern durch die Investition ihres Vermögens. Aufgrund der flexibleren Eigentümerstruktur von L3C können Stiftungen einen Teil ihres Vermögens dort vergleichsweise einfach investieren, sofern es mit ihrem Stiftungszweck übereinstimmt. Auf diese Weise könnten innovative Unternehmen in der Rechtsform einer L3C nicht nur an dringend benötigtes Startkapital gelangen, sondern Stiftungen einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten, der über konventionelle Förderung kaum zu erreichen ist.«
  3. »Ein weiterer Ansatz liegt in der Einführung von „Social Impact Bonds“. Grundidee dieses Instruments ist es, innovative Organisationen auf Basis der von ihnen erzielten Einsparungen zu finanzieren. So kann eine Organisation beispielsweise durch die Reintegration von straffällig gewordenen Jugendlichen in die Gesellschaft Kosten für die Gerichte, die Polizei und Gefängnisse sparen. Dabei erfolgt die Vorfinanzierung durch private Investoren, die ihr Investment im Erfolgsfall zuzüglich einer geringen Verzinsung vom Staat zurückbekommen. Hier werden Mittel auf Basis von Wirkungen statt von Kosten vergeben und der Staat trägt kein Risiko.« Zum Thema „Social Impact Bonds“ vgl. beispielsweise den Beitrag „Edle Gewinne. Soziale Bonds sollen Gutes bewirken und zudem Rendite abwerfen. Geht das zusammen?“ von Christina Kyriasoglou sowie die Informationen dazu aus Kanada, den USA oder aus Großbritannien. Vgl. auch aktuelle den Beitrag „Social Impact Bonds“ von Ashley Pettus im Haravard Magazine). Man muss bei aller Leuchtkraft der Idee hinsichtlich der „Social Impact Bonds“ allerdings auch anmerken, dass gegen diesen Ansatz erhebliche Zweifel vorgebracht werden (vgl. aus der Berichterstattung z.B. den Ende 2012 veröffentlichten Artikel „Wetten auf Resozialisierung im Knast: Geld oder neues Leben“ von Marc Winkelmann: Die Investmentbanker von Goldman Sachs spekulieren mit einem neuen Finanzprodukt auf die Resozialisierungsquote von US-Sträflingen). 

Die Vorschläge der beiden Autoren passen sich ein in eine anschwellende Debatte über „Sozialunternehmen“ oder moderner daherkommend „Social Entrepreneurship“, die auch Deutschland erreicht hat (vgl. beispielsweise die Beiträge in dem Sammelband „Social Entrepreneurship – Social Business: Für die Gesellschaft unternehmen„, herausgegeben von Helga Hackenberg und Stefan Empter, 2011).

Was sind Sozialunternehmer? Was ist eine gute Idee? Wie stehen die staatlich finanzierten, freien Wohlfahrtsverbände zu einer Konkurrenz, die unternehmerisch denkt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Feature von Deutschlandradio Kultur, das unter dem Titel „Effektiv und effizient – Sozialunternehmer in Deutschland“ am 09.09.2013 ausgestrahlt wurde. Darin eine ganz gute Einführung in die Debatte hier in Deutschland.

Die einen negieren ihn, die anderen spüren ihn: Ärztemangel in Deutschland zwischen Realität, Propaganda und notwendigen Fragen an die Bundesländer

Da kommt eine Menge zusammen bei der Frage „Ärztemangel“ ja oder nein – die demografische Entwicklung, die Angebotsrelationen aufgrund der Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen, die Abwerbung ausländischer Mediziner aufgrund des Wohlstandsgefälles zwischen deren Heimatländern und Deutschland, die Abwanderung deutscher Ärzte ins Ausland, aber auch höchst diffizile Fragen der Proportionen zwischen den einzelnen Ärztegruppen (z.B. Haus- und Fachärzte), regionale Ungleichverteilungen oder die Versäulung der Tätigkeitsfelder in ambulant und stationär.

Hinzu kommt eine massive interessengeleitete Aufladung des Themenfeldes – denn der angebliche oder behauptete Ärztemangel eignet sich auf der einen Seite natürlich hervorragend, um bessere Verhandlungspositionen beispielsweise gegenüber den Krankenkassen als Kostenträger zu bekommen, so dass diese wiederum ein Interesse haben, in der öffentlichen Debatte den Eindruck zu vermeiden, es würden Mediziner in einer spürbaren Größenordnung fehlen, was sich zu einer möglichen Gefährdung der gesundheitlichen Versorgung auswachsen könnte. Denn – das wissen beide Seiten – das Thema ist in der Bevölkerung emotional stark aufgeladen mit vielen Ängsten und Bedrohungsgefühlen.

Dass die Nachfrage nach Ärzten offensichtlich größer ist als das vorhandene Angebot, scheint sich nach einem ersten Blick auf die Zahlen aufzudrängen: Die Zahl der in Deutschland berufstätigen ausländischen Ärzte ist 2012 nach Angaben der Bundesärztekammer um 15,1 Prozent auf 28.310 gestiegen. 2002 waren es noch 13.180 Ärzte. Die meisten dieser Mediziner arbeiten in Krankenhäusern.

„Es gibt inzwischen Krankenhäuser, in denen kaum noch ein Arzt richtig deutsch spricht“ – mit diesen Worten wird Samir Rabbata von der Bundesärztekammer zitiert in dem Artikel „Vermittlung von ausländischen Ärzten boomt„. Übrigens – die meisten ausländischen Ärzte kommen aus Rumänien. Ein einheitlicher Sprachtest soll bald in ganz Deutschland gelten.

Nach Angaben der Bundesärztekammer fehlt es in vielen Regionen an niedergelassenen Haus- und Fachärzten, aber auch in den Krankenhäusern sind bundesweit mehr als 6.000 Arztstellen unbesetzt. In dem Artikel wird als Beispiel Bremerhaven zitiert, wo nach Angaben eines dort ansässigen Gynäkologen  in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Hälfte der Frauenärzte aus Altersgründen aufhören werden. Viele der von ihnen abzugebenden Praxen werden keine Nachfolger bekommen (können).

Dies verweist – neben den vielen anderen angedeuteten Ursachen für die Misere – auf einen Aspekt, auf den hier ein besonders Augenmerk geworfen werden soll: Der Nachwuchs an Mediziner/innen, der aus den Universitäten in die ärztliche Weiterbildung gelangt bzw. gelangen kann und der dann die ausscheidenden Mediziner ersetzen könnte, wenn die fachärztliche Weiterbildung erfolgreich absolviert wurde. Die Altersstruktur der praktizierenden Ärzte ist ja seit langem bekannt und man darf schon die Frage aufwerfen, ob man im Lichte dieses Wissens genügend eigenen Nachwuchs auf den Weg gebracht hat. Offensichtlich – wenn die Zahlen stimmen – nicht. Als Nadelöhr erweist sich bei der Frage nach dem „Warum“ für dieses Auseinanderfallen das Studium und die sich anschließende Weiterbildung. Die erste Abbildung zeigt die Entwicklung der Zahl der Studierenden im Studienfach Medizin an deutschen Universitäten in einer langen Zeitreihenbetrachtung seit 1975.

Man erkennt, dass es nach einer kräftigen Expansionspahse in der zweiten Hälfte der 1970er und langsam auslaufend  in den 1980er Jahre Anfang der 1990er Jahre sogar einen Rückgang gegeben hat und seit Mitte der 1990er Jahre oszilliert die Zahl der Medizinstudierenden immer um die 80.000 herum, am aktuelle Rand mit einer kleinen Steigerung. Eigentlich müssten die Studierenden-Zahlen seit einigen Jahren nach oben gehen, weiß man doch allein um die Ersatzbedarfe aufgrund der Altersstruktur der in Deutschland praktizierenden Ärzteschaft.

  • Und noch einen anderen interessanten Befund liefert uns die Abbildung, wenn man sich die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses bei den Medizin-Studierenden anschaut. Bereits vor dem Ende der 1990er Jahre hat die Zahl der weiblichen Medizin-Studierenden die der männlichen übertroffen und seitdem geht die Schere immer weiter zugunsten der Frauen auseinander. Die erkennbare „Feminisierung“ des Arztberufs hat gewichtige Auswirkungen auf die hier relevante Bedarfsfrage, denn – ohne jede negative oder positive Bewertung – kann man sagen: Ein Arzt heute bringt aufgrund veränderter Vorstellungen beispielsweise hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mehr das gleiche Arbeitsvolumen wie ein Arzt vor zehn oder zwanzig Jahren. Das kann und wird zu dem Phänomen führen, dass es bei einer gleichbleibenden oder gar steigenden Zahl an Ärzten (gemessen pro Kopf) weniger Ärztevolumen gibt.

Wer jetzt annimmt, dass aufgrund der ja bereits seit Jahren geführten Debatte über einen zumindest partiellen Ärztemangel seitens der Politik die Zahl der Studienplätze in Medizin erhöht wird, der muss grosso modo enttäuscht werden. Die Systeme reagieren nicht oder nur sehr langsam. Die zweite Abbildung zeigt die Entwicklung der Studienanfängerzahlen für Humanmedizin und der Block auf die ebenfalls dargestellten prozentualen Veränderungen gegenüber den jeweiligen Vorjahreswerten verdeutlicht zugleich, dass man tendenziell am aktuellen Rand sogar eine abnehmende Dynamik sehen muss.

Die Erklärung dafür ist relativ simpel und lässt sich zusammenfassend bilanzieren mit: „Am (fehlenden) Gelde hängt’s“. Soll heißen: Für die Hochschulsysteme sind (eigentlich) die Bundesländer alleine zuständig, damit auch für deren Finanzierung. Es ist allgemein bekannt und auch nur logisch, dass die Kosten eines Studienplatzes für Medizin ein Vielfaches der Kosten für einen anderen Studienplatz beispielsweise in den Wirtschafts- oder Geisteswissenschaften betragen. Wenn die Bundesländer sparen wollen/müssen, dann werden sie keine besonderen Anreize haben, gerade die teuren Studienplätze auch noch auszubauen. Und auch die milliardenschweren Hilfestellungen des Bundes für den Ausbau neuer Studienplätze in den Bundesländern – die so genannten „Hochschulpakte“ – setzen aufgrund ihrer Konstruktion bei der prioritären Zielsetzung, möglichst viele neue Studienplätze zu schaffen, eher einen Anreiz, diese neuen Studienangebote in den „billigen“ Studienfächern zu schaffen.

Fazit: Angesichts der jahrelangen und auch aktuell weiterhin zu beobachtenden Zurückhaltung beim Ausbau der Kapazitäten für den Mediziner-Nachwuchs wird sich das Angebotsproblem im Zusammenspiel mit den eingangs erwähnten Faktoren weiter verschärfen und das Angewiesensein auf einen Import ausländischer Mediziner perpetuieren und potenzieren – übrigens mit teilweise katastrophalen Folgen für die „Export-Länder“, denn man muss keine Studien machen, um sich vorzustellen, dass der Wegzug der Ärzte aus Osteuropa dort erhebliche Versorgungsprobleme in den dortigen Gesundheitssystemen auslöst.

Abschließend bleibt natürlich die Frage: Was tun? Hier können nur einige erste Stichworte mit Blick auf die notwendigen Weichenstellungen formuliert werden:

  • Die Kapazitäten für die Medizinerausbildung an den Hochschulen müssen erhöht werden – und das nicht nur rein quantitativ, sondern anzustreben wäre zugleich eine qualitative Weiterentwicklung der Ärzteausbildung im Zusammenspiel mit dem offensichtlichen Qualifizierungsbedarf in anderen, wichtiger werdenden Gesundheitsberufen wie der Pflege, den Physio- und Ergotherapeuten und Logopäden, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier würde sich der konsequente Umbau in Richtung auf ein „Medical School“-Modell empfehlen, wo alle Gesundheitsberufe gemeinsam ausgebildet und für eine zusammenarbeitsorientierte Zukunft der Gesundheitsversorgung vorbereitet werden. Ganz offensichtlich damit im Zusammenhang steht die Infragestellung des bestehenden Systems der Hochschulfinanzierung und -steuerung. Die Bundesländer allein werden mit Blick auf ihre Haushaltslage und deren weitere Verengung im Kontext der „Schuldenbremse“ definitiv nicht in der Lage sein, nur den quantitativen Ausbau zu stemmen, geschweige denn den eigentlich notwendigen Umbau in Richtung auf „Medical School“-Modelle. Auch hier zeigt sich erneut die beklagenswerte Unlogik des „Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern, das dringend beseitigt werden muss. Allerdings sollte eine regelhafte Bundesbeteiligung an der Hochschulfinanzierung auch qualitativ mit Leben gefüllt werden, beispielsweise durch die angedeutete Ausrichtung auf neue Ausbildungskonzepte.
  • Das insgesamt immer noch erheblich pyramidal ausgerichtete Versorgungssystem mit der Fokussierung auf den Arzt muss aufgeweicht und umgebaut werden durch eine Stärkung anderer Gesundheitsberufe – das ergibt sich allein schon aufgrund der Sicherstellunsgprobleme im Gefolge des demografischen Wandels.
  • Die seit gefühlt Jahrhunderten beklagte Versäulung in ambulant und stationär muss endlich konsequent aufgebrochen werden, die Grenzen zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Tätigkeit müssen aufgebrochen werden. Dafür muss auch darüber nachgedacht werden, das Finanzierungssystem für die Krankenhäuser nicht nur singulär weiterzuentwickeln, sondern ein sektorübergreifendes Finanzierungssystem in den Fokus zu nehmen.

Kurzum: Es gibt viel zu tun in der neuen Legislaturperiode.

Werkverträge und ihr Missbrauch für unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung – nicht nur im Schlachthof oder bei Daimler, auch in der grünen Stiftungswelt?

Es ist – das sei hier vorangestellt – richtig, wenn die Grünen in ihrem Wahlprogramm ausdrücklich feststellen: „In Betrieben, in denen immer mehr Festangestellte durch externe Leiharbeitskräfte oder Werkvertragsbeschäftigte verdrängt werden, da zersplittern die Belegschaften.“ Deshalb sprechen sie sich auch dafür aus, gerade bei den zunehmend ins Blickfeld genommenen Werk- und Dienstverträgen die Regulierungsschrauben anzuziehen und haben hierzu in der nun auslaufenden Legislaturperiode entsprechende parlamentarische Vorstöße unternommen.

Vor diesem Hintergrund ist es natürlich pikant und ein gefundenes Fressen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wenn sie berichteten kann: „Unzulässige Leiharbeit in der Heinrich-Böll-Stiftung„, so lautet die Schlagzeile von Corinna Budras zu einem Sachverhalt, über den auch die taz berichtet: „Leiharbeiter klagt sich ein„. Dabei geht es hier – um genauer zu werden – nicht um Leiharbeit an sich, sondern um ein Thema, das auch auf dieser Seite mehrfach problematisiert worden ist: Werk- und Dienstverträge, die es schon immer gegeben hat, die aber von einem Teil der Unternehmen zunehmend missbraucht werden, um die „zu teuer“ gewordene Leiharbeit zu substituieren für Strategien der Tarifflucht und der Lohnkostensenkung sowie dem Auslagern von Arbeitgeberpflichten, die mit einer Normalbeschäftigung verbunden wären.

Zuweilen aber geht es auch um die Schwierigkeit, in der betrieblichen Praxis den rechtlichen Anforderungen zu entsprechen, die erfüllt sein müssen, damit es sich um einen „echten“ Dienstvertrag und nicht um eine „unerlaubte“ Arbeitnehmerüberlassung handelt – die erhebliche rechtliche Konsequenzen für das faktisch entleihende Unternehmen hat, wenn das ans Tageslicht gefördert wird und das Werkvertragsunternehmen nicht über den „Reservefallschirm“ einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis verfügt (zu den sich hier andeutenden Tiefen und Untiefen vgl. auch Sell, S.: Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze (Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 13-2013), Remagen, 2013).

Zum Sachverhalt:

»Das Arbeitsgericht Berlin hat ausgerechnet die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen wegen unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung verurteilt. Geklagt hatte ein Mitarbeiter, der bei einem Unternehmen für Besucherservice angestellt ist. Seit mehreren Jahren wurde er bei der Heinrich-Böll-Stiftung für Umbauarbeiten zur Vorbereitung von Veranstaltungen in ihrem Konferenzzentrum eingesetzt. Dabei war er bei der Stiftung jedoch gar nicht angestellt, weder regulär noch als Leiharbeitnehmer. Vielmehr hatten beide Seiten einen Werkvertrag vereinbart, durch den der Dienstleister flexibler und kostengünstiger eingesetzt werden kann.«

Die grüne Stiftung hat nun ein großes Problem, denn die Werkvertragsfirma Xenon aus Berlin verfügt nicht über eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung und damit nicht über den bereits erwähnten „Reservefallschirm“ (vgl. Sell 2013). Daher, so das Gericht folgerichtig, bestehe ein direktes Arbeitsverhältnis des Klägers Michael Rocher mit der Heinrich Böll Stiftung, wo er seit April 2011 beschäftigt ist, wie man dem taz-Artikel entnehmen kann. Die Stiftung ist an einem der Grundproblem des richtigen Einsatzes von Werk- und Dienstverträgen gescheitert:

»Im konkreten Fall sollte das Unternehmen Personal für den Besucher- und Veranstaltungsservice zur Verfügung stellen und den Service auch selbst betreiben. In der Praxis mischte sich dabei jedoch die Stiftung ein. „Deshalb handelt es sich bei dem zustande gekommenen Vertragsverhältnis nicht um einen Werk- oder Dienstvertrag, sondern um einen Arbeitnehmerüberlassungsvertrag“, so das Gericht«, berichtet Corinna Budras in ihrem Artikel.

Der Kläger Rocher hofft, dass das Urteil kein Einzelfall bleibt, denn: Rund 20 Mitarbeiter seien mit ähnlichen Verträgen, wie sie das Gericht jetzt als unrechtmäßig klassifiziert hat, bei der Stiftung beschäftigt. Rocher wurde von der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) unterstützt, die in den letzten Wochen eine Kampagne gegen Leiharbeit bei der Böll-Stiftung initiierte. Im Rahmen dieser Kampagne wurden auch die Wahlplakate der Grünen persifliert. So steht beispielsweise neben dem Konterfei des Schriftstellers Heinrich Böll die Frage „Ich bin gegen prekäre Arbeit bei der grünen Heinrich Böll Stiftung und Du?“

Das neue Urteil reiht sich ein in weitere Entscheidungen zuungunsten der Arbeitgeber, die in der jüngeren Vergangenheit von den Gerichten gefällt worden sind, so beispielsweise gegen die Bertelsmann-Tochter Arvato-Systems. Auch Daimler hat jüngst Niederlagen vor Gericht einstecken müssen.

Die wichtigste Botschaft dieser neueren Entwicklungen hat Marcus Creutz in einem Artikel auf Focus Online in seine Überschrift gepackt: „Werkverträge: Unternehmen müssen sich in Acht nehmen„. Und das ist auch gut so.