Derzeit wird im Wahlkampf über einige wenige, zumeist nicht wirklich weit ausgreifende Themen diskutiert, über Mindestlohn ja oder nein und wenn ja, dann im Spektrum zwischen 8,50 oder 10 Euro, über eine Steuersatzanhebung von einigen wenigen Prozentpunkten hier oder fünf statt drei Pflegestufen da. Alles im einzelnen sicher diskussionswürdig, aber nicht wenige Menschen beschleicht der Verdacht, dass irgendwie die großen gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien umschifft werden, kann man sich doch daran nur verbrennen, so die Wahrnehmung vieler Politiker. Dabei liegen gerade in diesem Bereich die notwendigerweise zu schlagenden Schneisen auf der Hand – man denke an Gesundheit, Pflege, Integration, aber auch der Nicht-Arbeitsmarkt oder die Nicht-Bildung für nicht gerade kleine Bevölkerungsgruppen könnten hier angeführt werden.
Für die Bewältigung dieser Aufgaben benötige man „soziale Innovationen“, deren Potenzial die Politik noch nicht ausreichend oder teilweise gar nicht erkannt habe, so der Vorwurf von Helmut K. Anheier und Volker Then in ihrem Beitrag „Wie die Parteien soziale Innovationen verschlafen„.
Als Beispiele für erfolgreiche soziale Innovationen der Vergangenheit führen die Autoren, die beide an der Hertie School of Governance in Berlin lehren, die Einführung der Sozialversicherung (1880), das Aufkommen des Fairen Handels (seit den 1940ern, tatsächlich schon zu diesem Zeitpunkt: Die ersten Fair-Trade-Organisationen waren die im Jahr 1946 von nordamerikanischen Mennoniten und Brethren in Christ gegründeten Ten Thousand Villages (früher Self Help Crafts) und das 1949 von der Church of the Brethren gegründete Projekt SERRV International; beide Organisationen entstanden im kirchlichen Umfeld und sind noch heute aktiv), die Einrichtung von Hospizen (Ende der 1960er; das erste stationäre Hospiz wurde 1967 Großbritannien eröffnet, in Deutschland 1986) sowie in jüngerer Zeit die Vergabe von Mikrokrediten an Kleinstunternehmer oder die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern.
Soziale Innovationen werden durch kreative Personen, Organisationen oder Unternehmen hervorgebracht, die nicht vom Himmel fallen. Die Politik könne die aber unterstützen und die Autoren verweisen auf den US-Präsidenten Obama, der 2009 ein „Office of Social Innovation and Civil Participation“ eingerichtet habe (vgl. zu den konzeptionellen Hintergründen das Buch von Stephen Goldsmith, Gigi Georges, Tim Glynn Burke: The Power of Social Innovation: How Civic Entrepreneurs Ignite Community Networks for Good, 2011). Auch die EU versucht, hier mitzuspielen: »Die EU plant für die neue Förderperiode von 2014 bis 2020 ein Programm für „Beschäftigung und soziale Innovation“ mit einem Volumen von 815 Mio. Euro. Teil des Programms sind Mikrokredite und die Förderung von Sozialunternehmen.« Das Bundesfamilienministerium hat in Kooperation mit der KfW-Bank 2012 ein zweijähriges Förderprogramm für Sozialunternehmen ins Leben gerufen.
Bei den Parteien tauchen, so die Autoren, „soziale Innovationen“ zwar auf, aber doch nur sehr punktuell und eher am Rande.
Die Autoren plädieren für weitergehende Konzepte, um Veränderungsprozesse im Sozialen zu fördern. Dafür sehen sie drei Ansatzpunkte:
- »Im Wohlfahrtsbereich stammen über 80 Prozent der Ressourcen aus öffentlichen Quellen, beispielsweise aus der der Sozialversicherung, der Sozialhilfe oder der Kinder- und Jugendhilfe. Es handelt sich um gesetzlich geregelte Quasi-Märkte, in denen nicht der Kunde oder Patient die Leistung bezahlt, sondern der Staat. Im Bereich der Sozialversicherung beliefen sich die Ausgaben im Jahr 2010 auf rund 506 Mrd. Euro. Fördermaßnahmen in diesen Quasi-Märkten sollten durch innovationsfördernde strukturelle Anreize ergänzt werden. Angesichts der Summe dürfte dies deutlich wirksamer sein als die gesonderte Förderung von sozialen Innovationen.« Sie plädieren für die Einführung einer „Innovationsklausel“ in das SGB I, die nicht auf „Sozialunternehmen“ beschränkt seien, so dass auch die Wohlfahrtsverbände durch eine solche Klausel einen Innovationsanreiz hätten.
- Innovative Organisationen würden häufig unterschiedliche Sektorlogiken miteinander kombinieren. Anheier und Then plädieren für bessere bzw. andere rechtliche Rahmenbedingungen für die „hybriden Organisationen zwischen sozialen Zielen und unternehmerischer Logik: »Ein Beitrag hierzu kann die Einführung einer „low-profit limited liability company“ (L3C) nach amerikanischem Vorbild sein. Diese Rechtsform kombiniert die Flexibilität traditioneller Unternehmen mit dem Streben nach gemeinwohlfördernden Zwecken als eigentlichem Organisationsziel. Dies verringert die Gegensätze zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung. Zudem würde es Stiftungen erleichtert, soziale Innovationen zu unterstützen – und zwar nicht durch Fördergelder, sondern durch die Investition ihres Vermögens. Aufgrund der flexibleren Eigentümerstruktur von L3C können Stiftungen einen Teil ihres Vermögens dort vergleichsweise einfach investieren, sofern es mit ihrem Stiftungszweck übereinstimmt. Auf diese Weise könnten innovative Unternehmen in der Rechtsform einer L3C nicht nur an dringend benötigtes Startkapital gelangen, sondern Stiftungen einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten, der über konventionelle Förderung kaum zu erreichen ist.«
- »Ein weiterer Ansatz liegt in der Einführung von „Social Impact Bonds“. Grundidee dieses Instruments ist es, innovative Organisationen auf Basis der von ihnen erzielten Einsparungen zu finanzieren. So kann eine Organisation beispielsweise durch die Reintegration von straffällig gewordenen Jugendlichen in die Gesellschaft Kosten für die Gerichte, die Polizei und Gefängnisse sparen. Dabei erfolgt die Vorfinanzierung durch private Investoren, die ihr Investment im Erfolgsfall zuzüglich einer geringen Verzinsung vom Staat zurückbekommen. Hier werden Mittel auf Basis von Wirkungen statt von Kosten vergeben und der Staat trägt kein Risiko.« Zum Thema „Social Impact Bonds“ vgl. beispielsweise den Beitrag „Edle Gewinne. Soziale Bonds sollen Gutes bewirken und zudem Rendite abwerfen. Geht das zusammen?“ von Christina Kyriasoglou sowie die Informationen dazu aus Kanada, den USA oder aus Großbritannien. Vgl. auch aktuelle den Beitrag „Social Impact Bonds“ von Ashley Pettus im Haravard Magazine). Man muss bei aller Leuchtkraft der Idee hinsichtlich der „Social Impact Bonds“ allerdings auch anmerken, dass gegen diesen Ansatz erhebliche Zweifel vorgebracht werden (vgl. aus der Berichterstattung z.B. den Ende 2012 veröffentlichten Artikel „Wetten auf Resozialisierung im Knast: Geld oder neues Leben“ von Marc Winkelmann: Die Investmentbanker von Goldman Sachs spekulieren mit einem neuen Finanzprodukt auf die Resozialisierungsquote von US-Sträflingen).
Die Vorschläge der beiden Autoren passen sich ein in eine anschwellende Debatte über „Sozialunternehmen“ oder moderner daherkommend „Social Entrepreneurship“, die auch Deutschland erreicht hat (vgl. beispielsweise die Beiträge in dem Sammelband „Social Entrepreneurship – Social Business: Für die Gesellschaft unternehmen„, herausgegeben von Helga Hackenberg und Stefan Empter, 2011).
Was sind Sozialunternehmer? Was ist eine gute Idee? Wie stehen die staatlich finanzierten, freien Wohlfahrtsverbände zu einer Konkurrenz, die unternehmerisch denkt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Feature von Deutschlandradio Kultur, das unter dem Titel „Effektiv und effizient – Sozialunternehmer in Deutschland“ am 09.09.2013 ausgestrahlt wurde. Darin eine ganz gute Einführung in die Debatte hier in Deutschland.