Wenn Eltern Geld brauchen von ihren Kindern … Neue Entscheidung des BGH zum Elternunterhalt im Rahmen der Pflegekosten

Alle Fragen rund um die Pflege werden immer mehr zum gesellschaftspolitischen Megathema der vor uns liegenden Jahre. Und der Pflegebedarf wird nicht nur aufgrund der demografischen Entwicklung deutlich ansteigen, mit allen daran gekoppelten Herausforderungen an die Sicherstellung einer menschenwürdigen Versorgung der Pflegebedürftigen. Das alles ist nicht umsonst, sondern es ist in vielen Fällen richtig teuer. Zuerst einmal für die Betroffenen, die neben ihrer Rente und den Leistungen aus der Pflegeversicherung auch ihr gesamtes Vermögen einsetzen müssen – wenn sie denn welches haben. Und wo es Vermögende gibt, sind die Vermögenslosen nicht weit und nicht wenige. Und das sind natürlich oft auch die Menschen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie nur durchschnittliche oder gar unterdurchschnittliche Erwerbseinkommen und damit Rentenansprüche erzielt haben. Die sind dann ab einer bestimmten Pflegephase, häufig im Zusammenhang mit einer stationären Versorgung, auf Leistungen der „Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII, also seitens des kommunalen Sozialamtes, angewiesen, weil die knappe Rente und die Teilkaskobeträge aus der Pflegeversicherung nicht ausreichen, um die Heimkosten zu decken. Die Sozialämter zahlen auch, aber sie versuchen dann, das Geld wenigstens teilweise wieder reinzuholen von den Kindern der Betroffenen, wenn es welche gibt. Rechtsgrundlage für diese Heranziehung der Kinder ist das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).

Dort finden wir die folgende, hier maßgebende Norm:

§ 1601 BGB Unterhaltsverpflichtete
Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren

§ 1603 BGB Leistungsfähigkeit
(1) Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren.

Mit der vor allem aus § 1603 BGB abgeleiteten Problematik, in welchem Umfang die Kinder herangezogen werden dürfen, hat sich erneut der Bundesgerichtshof in einer aktuellen Entscheidung beschäftigt, die gleich genauer beschrieben wird.
Vorweg aber eine kurze Darstellung  des Elternunterhalts, gefunden in dem instruktiven Beitrag „Pflege: Zuzahlung für Angehörige„, vor allem mit Blick auf die Frage der (möglichen) Höhe der Zuzahlung der Kinder zu den Pflegekosten:

»Maßgeblich für eine mögliche Unterhaltspflicht ist zunächst das Nettoeinkommen.
Hiervon dürfen noch die Versicherungsbeiträge, Kreditverpflichtungen, sowie berufsbedingte Aufwendungen (Werbungskosten) abgezogen werden. Die Zwischensumme daraus ergibt das sogenannte „bereinigte Nettoeinkommen”.
Vom diesem bereinigten Nettoeinkommen können zusätzlich etwaige Unterhaltskosten für geschiedene Ehepartner einschließlich der gemeinsamen Kinder abgezogen werden (für die Kinder nur aber dann, wenn diese polizeilich nicht in Ihrem Haushalt gemeldet sind).
Die Summe daraus ergibt den so genannten Selbstbehalt, welcher zurzeit 1.400 € pro Monat beträgt. Das bedeutet: wenn Ihnen nach Abzug der o. g. Kosten weniger als etwa 1.400 € monatlich zum Leben bleiben, muss dem Sozialamt nichts für die Pflege–Kosten dazu gezahlt werden.
Bleibt jedoch mehr übrig, müssen Familienangehörige zum Pflegeunterhalt etwas dabei steuern – und zwar die Hälfte aus der Differenz zwischen dem bereinigtem Nettoeinkommen und dem Selbstbehalt.« (Nur eine aktualisierende Anmerkung, die man auch später der Besprechung der neuen BGH-Entscheidung entnehmen kann: Seit dem 1. Januar 2013 liegt der Selbstbehaltsbetrag bei 1.600 Euro).

Der Berechnung des dann heranzuziehenden „bereinigten Nettoeinkommens“ der Kinder liegt folgende Logik zugrunde: Wenn man Kredite laufen hat, dann mindern die die Bemessungsgrundlage für den Elternunterhalt: »Als vermindernd gelten alle privaten Verbraucherkredite, Bauspardarlehen und Bank- oder Versicherungshypotheken zum Kauf, zur Modernisierung oder Renovierung einer Immobilie. Als relevante Ausgaben können nicht nur die Zinsbelastungen, sondern auch die Tilgungszahlungen angesetzt werden. Alle Kosten werden zu 100% angerechnet.«
Anders sieht es aus, wenn die Kinder Vermögen gebildet haben, denn grundsätzlich gilt, dass dieses ebenfalls einzusetzen ist für die Unterhaltsverpflichtung gegenüber den eigenen Eltern. Grundsätzlich bedeutet wie immer: Es gibt Ausnahmen von dieser Regel:

»Die Sozialämter erlauben in aller Regel ein bestimmtes Mindestvermögen, welches je nach Kommune aber sehr unterschiedlich sein kann. Meistens liegt der erlaubte Betrag zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Wer mehr Sparvermögen hat, muss es zum Pflege–Unterhalt solange einsetzen, bis es an das erlaubte Mindestvermögen grenzt. Die Behörde darf ein Sparvermögen für die Pflege jedoch generell nicht anrechnen, wenn es zur eigenen Altersvorsorge über Lebens- oder Rentenversicherungen dient. Sie darf es auch dann nicht anrechnen, wenn die Auflösung eines Sparvertrages/einer Kapitalanlage mit finanziellen Verlusten verbunden wäre – oder aus anderen Gründen unwirtschaftlich ist.«

Ein für viele Menschen sicher sehr wichtige Frage: Wie sieht es aus mit dem Wohneigentum des Kindes bzw. der Kinder? Grundsätzlich gilt hier Entwarnung, wenn der Angehörige selbst darin wohnt und dies der Hauptwohnsitz ist, denn dann ist das Wohneigentum nach der Rechtsprechung des BGH vor einer Verwertung geschützt – und wieder muss man ein „aber“ einschieben: Das Sozialamt kann für das Wohnen im eigenen Haus einen geldwerten Vorteil ansetzen, der wie ein zusätzliches Einkommen hinzu gerechnet wird bei der Bestimmung des „bereinigten Nettoeinkommens“.

Und wie ist es eigentlich mit den Schwiegereltern? Muss man für die auch zahlen? Auch hier wieder grundsätzlich eigentlich nicht. Und dann das „aber“:

»Bei Ehepartnern mit nur einem Verdiener steht das bereinigte Nettoeinkommen jedoch zur Hälfte dem anderen Partner zu. Beträgt das Einkommen des Allein-verdieners also mehr als 2.800 €, muss er eine Zuzahlung auch für die Pflege-Kosten der Schwiegereltern leisten.«

Alles klar? Der eine oder die andere könnte jetzt durchaus auf die Idee kommen, dass es bei dieser Gemengelage „vernünftig“ wäre, vor dem Eintreten eines kostenträchtigen Pflegefalls sowohl bei den Betroffenen wie auch bei den Kindern alles auf den Kopf zu hauen, Schulden zu machen (die man ja, wie wir erfahren haben, unter bestimmten Bedingungen abziehen kann), also bloß kein Vermögen aufzubauen. Das ist durchaus richtig, wenn man es denn nur auf diese Gemengelage beziehen würde.

Jetzt aber zu der neuen Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH), die sich auseinandersetzt mit der oftmals strittigen Frage nach der „Leistungsfähigkeit zur Zahlung von Elternunterhalt„, die sich natürlich in dem grundsätzlichen Spannungsfeld bewegt, dass die einen möglichst eingeschränkt leistungsfähig daherkommen möchten, während die Kommunen einen möglichst hohen Zuzahlungsbetrag realisieren möchten.

Zuerst einmal der Sachverhalt, mit dem der XII. Zivilsenat des BGH konfrontiert wurde:

»Die 1926 geborene Mutter des Antragsgegners lebt in einem Altenpflegeheim. Weil sie die Heimkosten nicht vollständig aus ihrer Rente und den Leistungen der Pflegeversicherung aufbringen kann, gewährt der Antragsteller ihr Leistungen der Sozialhilfe. Im vorliegenden Verfahren verlangt der Antragsteller Erstattung der in der Zeit von Juli 2008 bis Februar 2011 geleisteten Beträge. Die Beteiligten streiten allein darüber, ob der Antragsgegner aus seinem Einkommen oder aus seinem Vermögen leistungsfähig ist.«

In der weiteren Beschreibung des Sachverhalts bekommen wir eine Konkretisierung der allgemeinen Beschreibung des Elternunterhalts und seiner Berechnung, mit der dieser Beitrag begonnen hat:

»Der Antragsgegner erzielte im Jahr 2008 ein Jahresbruttoeinkommen in Höhe von 27.497,92 €, woraus das Oberlandesgericht ein bereinigtes Nettoeinkommen von monatlich 1.121 € errechnet hat. Er ist Eigentümer einer aus drei Zimmern bestehenden Eigentumswohnung, deren Wohnvorteil das Oberlandesgericht mit 339,02 € ermittelt hat. Außerdem ist der Antragsgegner hälftiger Miteigentümer eines Hauses in Italien, dessen anteiliger Wert vom Antragsteller mit 60.000 € angegeben ist, und verfügt über zwei Lebensversicherungen mit Werten von 27.128,13 € und 5.559,03 € sowie über ein Sparguthaben von 6.412,39 €. Eine weitere Lebensversicherung hatte der Antragsgegner gekündigt und deren Wert zur Rückführung von Verbindlichkeiten verwendet, die auf dem Haus in Italien lasteten.«

Vor dem Amtsgericht ist der Sohn der pflegebedürftigen Mutter verurteilt worden, rückständigen Unterhalt in Höhe von insgesamt 5.497,78 € an das Sozialamt zu zahlen. Das Amt wollte aber noch mehr, was das Oberlandesgericht zurückgewiesen hat, wie den ganzen Antrag gleich mit. Das Oberlandesgericht hat auf der Grundlage der Einkünfte und Nutzungsvorteile von insgesamt rund 1.460 € die Leistungsfähigkeit des Sohnes verneint, weil der für den Elternunterhalt geltende, ihm zu belassende Selbstbehalt von 1.500 € nicht überschritten sei. Das nun wiederum lehnt der BGH ab, weil das nicht rechtsfehlerfrei zustande gekommen sei (weil das Nettoeinkommen nicht richtig bestimmt worden sei und weil damals noch die Grenze des Selbstbehalts bei 1.400 Euro lag, erst zum 1. Januar 2011 wurde der Selbstbehalt auf 1.500 € und zum 1. Januar 2013 auf 1.600 € erhöht.

Aber bei der neuen Entscheidung geht es nicht um Fragen der Berücksichtigung des laufenden Einkommens: Von besonderer Bedeutung sind die weiteren Ausführungen des Bundesgerichtshofs zum Einsatz des Vermögens im Rahmen des Elternunterhalts:

»Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss das unterhaltspflichtige Kind grundsätzlich auch den Stamm seines Vermögens zur Bestreitung des Unterhalts einsetzen. Einschränkungen ergeben sich aber daraus, dass nach dem Gesetz auch die sonstigen Verpflichtungen des Unterhaltsschuldners zu berücksichtigen sind und er seinen eigenen angemessenen Unterhalt nicht zu gefährden braucht. Dem dient auch die eigene Altersvorsorge, die der Unterhaltsschuldner neben der gesetzlichen Rentenversicherung mit weiteren 5 % von seinem Bruttoeinkommen betreiben darf. Entsprechend bleibt dann auch das so gebildete Altersvorsorgevermögen im Rahmen des Elternunterhalts unangreifbar … Der Bundesgerichtshof hat jetzt entschieden, dass der Wert einer angemessenen selbst genutzten Immobilie bei der Bemessung des Altersvermögens eines auf Elternunterhalt in Anspruch genommenen Unterhaltspflichtigen grundsätzlich unberücksichtigt bleibt, weil ihm eine Verwertung nicht zumutbar ist. Übersteigt das sonstige vorhandene Vermögen ein über die Dauer des Berufslebens mit 5 % vom Bruttoeinkommen geschütztes Altersvorsorgevermögen nicht, kommt eine Unterhaltspflicht aus dem Vermögensstamm nicht in Betracht.«

Fazit: Gewisse Schutzplanken für das selbst genutzte Wohneigentum sowie ein überschaubarer Vermögensanteil für die eigene Altersversorgung werden durch diese Entscheidung eingezogen, aber grundsätzlich gilt: Auch der Vermögensstamm der Kinder muss eingesetzt werden, wenn es um die Frage der Zuzahlungen zu den Pflegekosten der Eltern geht. Wir können davon ausgehen, dass die Fragen des Elternunterhalts in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen werden – vor allem, wenn die vielen Alten mit sehr niedrigen Renten in die Pflegebedürftigkeit rutschen.

Wenn Eltern zur Gefahr werden … Zahl der Inobhutnahmen der Jugendämter erreicht neuen Höchststand

Im Jahr 2012 haben die Jugendämter in Deutschland 40.200 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 1.700 oder 5 % mehr als 2011. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, hat die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten Jahren stetig zugenommen, gegenüber 2007 (28.200 Inobhutnahmen) ist sie um 43 % gestiegen.

Mit diesen trockenen Worten beschreibt des Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung „Zahl der Inob­hut­nah­men im Jahr 2012 auf neuem Höchst­stand“ eine höchst bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung.

Eine Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation be­finden. Jugendämter nehmen Minderjährige auf deren eigenen Wunsch oder auf Grund von Hinweisen Anderer – beispielsweise der Polizei oder von Erzieherinnen und Erzie­hern – in Obhut und bringen sie in einer geeigneten Einrichtung unter, zum Beispiel in einem Heim, so die Beschreibung des Statistischen Bundesamtes.
Betrachtet man die Entwicklung der Inobhutnahmen – also der Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien und die zeitweise oder auch längere Unterbringung beispielsweise bei Pflegeeltern oder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe („Heime“), dann erkennt man seit dem Jahr 2005 eine beständige Zunahme der Fälle. Von 2005 bis 2012 ist die Zahl der Inobhutnahmen um 57% angestiegen.

Schaut man sich die detaillierten Werte an (vgl. hierzu Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2012, Wiesbaden 2013), dann kann man anhand der Relation der Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen je 10.000 Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahre erkennen, dass es eine erhebliche Zunahme der Eingriffsintensität in den vergangenen Jahren gegeben hat: Lag dieser Wert beispielsweise im Jahr 2005 noch bei 17, ist er im vergangenen Jahr bei 30. Damit belief sich dieser relative Anteilsanstieg von 2005 bis 2012 sogar auf über 76%.

Schaut man sich die Altersverteilung der von einer Inobhutnahme betroffenen Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr an, dann kann man erkennen, dass zum einen sehr kleine Kinder überproportional vertreten sind, also in der Altersgruppe bis 3 Jahre sowie die Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr.

Mit einem Anteil von 43 % war die Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils der häufigste Anlass für die Inobhutnahme – insgesamt waren davon 17.300 Kinder und Jugendliche betroffen. An dieser Stelle kann man vermuten, dass die seit einigen Jahren zu beobachtende Thematisierung, Problematisierung und Sensibilisierung für Fragen der Kindeswohlgefährdung in den steigenden Fallzahlen bei den Inobhutnahmen ihren Niederschlag gefunden hat, vor allem bei den unter dreijährigen Kindern.

Außerdem weist das Statistische Bundesamt auf einen Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik hin, denn weiter stark zugenommen hat die Zahl der Minderjährigen, die auf Grund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen wurden. Insgesamt kamen 2012 rund 4800 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung über die Grenze nach Deutschland, gut fünfmal mehr als im Jahr 2007, wo das 900 Minderjährige waren.

39 Prozent der betroffenen Minderjährigen kehrten nach der Betreuung wieder zu den Sorgeberechtigten zurück. Für ein knappes Drittel schlossen sich ambulante oder stationäre Hilfen an, etwa in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohngemeinschaft.
Bei 13 Prozent waren stationäre Hilfen notwendig, beispielsweise in einem Krankenhaus oder der Psychiatrie. Die anderen wurden entweder ins Ausland zurückgeschickt – oder sie kamen wieder in ihre Pflegefamilie, ihr Heim oder eine stationäre Einrichtung, aus der sie weggelaufen waren.

Wer sich für weiterführende und vertiefende Analysen interessiert, der wird fündig in der Berichterstattung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund, die im Forschungsverbund mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) arbeitet. Die Arbeitsstelle gibt als Periodikum die Zeitschrift „KOMDAT“ (Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe) heraus. Dort findet man – mit Blick noch auf die Daten des Jahres 2011 – eine fachliche Gesamteinordnung beisppielsweise in dem Beitrag von Sandra Fendrich und Agathe Tabel: Konsolidierung oder Verschnaufpause? Aktuelle Entwicklungen bei den Hilfen zur Erziehung, in: KOMDAT, Heft 3/2012, S. 11-13. In diesem Beitrag wird parallel zum Anstieg der Inobhutnahmen – die ja erst einmal „nur“ eine kurzfristige Maßnahme der Herausnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen aus seinem familialen Setting darstellt – herausgearbeitet, dass es insbesondere bei der Fremdunterbringung und hierbei bei der Heimunterbringung starke Zunahmen gegeben hat. Und auch in diesem Beitrag wird auf die Zunahme der unbegleitet eingereisten Minderjährigen hingewiesen: »So werden in der Heimerziehung verstärkt männliche Jugendliche aufgrund einer „unzureichenden Grundversorgung“ untergebracht. Einiges deutet hier auf unbegleitete Flüchtlinge hin, die in Heimen und betreuten Wohneinrichtungen eine Bleibe finden. Die damit verbundenen Herausforderungen mit Blick auf adäquate Unterbringungssettings sind nicht zu unterschätzen. Es zeigen sich bei vielen Jugendlichen komplexe Problemlagen, bedingt durch das Verlassen ihres Herkunftslandes, ihrer Heimat mit womöglich unter- schiedlichen kulturellen Hintergründen und vor allem dort erfahrene Traumata, etwa durch Kriegserlebnisse.«

Auch freiberufliche Künstler und Publizisten in Deutschland haben ein Stück Bismarck – die Künstlersozialkasse. Und da gibt es ein schwarzes Loch

Ach, früher war alles irgendwie einfacher. Da gab es die vielen Arbeiter, einige Angestellte und ein paar Selbständige – vom eher armen Handwerker über den schon eher reichen Unternehmensinhaber aus dem Mittelstand bis hin zu den ganz reichen großbürgerlichen Familien. Und Beamte natürlich. Die gibt es heute auch noch, aber ansonsten ist alles irgendwie viel komplizierter geworden. Das hat sich natürlich auch niedergeschlagen in der sozialen Sicherung der Menschen. Die sich auf immer mehr ausgedehnt hat, wo doch Bismarck angefangen hat mit den Arbeitern und dann auch noch in einem so hohen Alter, dass nur wenige biblische Exemplare am Anfang überhaupt in den Genuss von Leistungen beispielsweise der Rentenversicherung gekommen sind. Irgendwann einmal hat man in diesem Land sogar die Lehrbuchexemplare für das, was man handfest-volkstümlich auch als „Hungerleider“ bezeichnet, unter den Schutzschirm dessen bringen wollen, was in Deutschland als Sozialversicherung eine eigene Wesenheit darstellt. Also hat man bereits 1983 eine neue Spielwiese der Sozialversicherung eingerichtet, die es allerdings hinsichtlich ihrer Klientel mit einer echten Herausforderung zu tun hat: die Künstlersozialkasse. Denn diese Einrichtung soll sich um eine an sich schon sehr heterogene Personengruppe kümmern, die zudem noch als freiberuflich tätige Selbständige agieren, also eben nicht in einem Arbeitnehmerstatus sind, aber in der Mehrzahl der Fälle so geringe Einnahmen haben, dass sie mindestens genau so, wenn nicht noch mehr schutzbedürftig sind, als viele „konventionelle Arbeitnehmer“. Etwa 177.000 Selbständige mit mehr als 100 verschiedenen Berufen sind in der Künstlersozialkasse (KSK) versichert. Es handelt sich tatsächlich in der Mehrzahl der Fälle um „arme Schlucker“: Das Jahreseinkommen eines Mitglieds in der KSK beläuft sich im Durchschnitt auf gerade einmal gut 14.500 Euro.

Schauen wir uns die Selbstbeschreibung dieser Künstlersozialkasse genauer an:

»Das Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) und die vom Gesetzgeber mit der Umsetzung dieses Gesetzes beauftragte Künstlersozialkasse (KSK) sorgen dafür, dass selbständige Künstler und Publizisten einen ähnlichen Schutz der gesetzlichen Sozialversicherung genießen wie Arbeitnehmer. Sie ist selbst kein Leistungsträger, sondern sie bezuschusst die Beiträge ihrer Mitglieder zu einer Krankenversicherung freier Wahl und zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung. Selbständigen Künstlern und Publizisten, die in der KSK sind, steht der gesamte gesetzliche Leistungskatalog zu. Sie müssen dafür aber nur die Hälfte der jeweils fälligen Beiträge aus eigener Tasche zahlen, die KSK stockt die Beträge auf aus einem Zuschuss des Bundes (20 %) und aus Sozialabgaben von Unternehmen (30 %), die Kunst und Publizistik verwerten. Welchen Monatsbeitrag ein Künstler/Publizist im Einzelnen an die KSK zahlt, hängt von der Höhe seines Arbeitseinkommens ab.« (Quelle: Künstlersozialkasse – Kurzcharakteristik)

Das hört sich gut an und ist auch gut gedacht – aber wie immer stecken die Probleme des Teufels im Detail. Und das Detail findet sich in der Kurzbeschreibung unter dem Stichwort „Sozialabgaben von Unternehmen (30%), die Kunst und Publizistik verwerten“, eine Formulierung, die so unschuldig neben dem Zuschuss des Bundes steht, dass man sie glatt überlesen könnte. »Vom Bund beziehungsweise Steuerzahler gab es … 2012 immerhin 160 Millionen Euro, das ist ein Fünftel des Etats der Künstlersozialkasse. Weitere 30 Prozent stammen von Verlagen, Theatern, Galerien, Werbeagenturen, Museen oder gar Zirkus-Unternehmen«, so Thomas Öchsner in einem Anfang Juni in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel „Soziale Absicherung für Kreative ist in Gefahr„. Er schreibt weiter und zum Kern des aktuellen Problems vorstoßend: »Wer regelmäßig selbständigen Künstlern einen Auftrag erteilt, muss eine Künstlersozialabgabe in Höhe von 4,1 Prozent auf die entsprechenden Honorare entrichten. Etwa 150.000 sogenannte Verwerter tun dies bereits. Tausende Unternehmen zahlen allerdings nicht oder wissen gar nicht, dass sie zahlen müssen.«

Das europaweit einmalige System der Sozialversicherung von freien Künstlern und Autoren, eingeführt von der früheren sozial-liberalen Koalition, droht in eine finanzielle Schieflage zu geraten, weil die gegenwärtige Bundesregierung es nicht geschafft hat, entgegen den Wünschen der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann (CDU), schärfere Kontrollen an dieser Stelle gesetzlich zu verankern. Was genau ist das Problem? Hierzu Thomas Öchsner:

»Seit 2007 soll die gesetzliche Rentenversicherung prüfen, ob sich Unternehmen vor der Abgabe drücken – zunächst recht erfolgreich. Binnen zweier Jahre trieben die amtlichen Kontrolleure 62 Millionen Euro zusätzlich ein. Seit 2010 wird aber wesentlich lascher geprüft. 2011 kamen lediglich etwa 560.000 Euro an Nachforderungen zusammen – bei Umsätzen von 137 Milliarden in der Branche, die Kreativwirtschaft genannt wird. Der Grund: Die Rentenversicherung fordert fürs Nachhaken extra Geld, hat dafür aber nichts bekommen.«

Und weil die nichts dafür bekommen, wollen sie jetzt nicht mehr prüfen, könnte man vermuten – was institutionenegoistisch durchaus nachvollziehbar wäre, kann man sich doch gut vorstellen, dass es bei den vielen kleinen Krautern, die in diesem Bereich als Auftraggeber unterwegs sind, ziemlich aufwendig sein muss, zu prüfen und dann relativ bescheidene Beträge einzufordern. Die Rentenversicherung selbst hat den Aufwand auf 50 Millionen Euro taxiert, während das BMAS nur von fünf Millionen Euro ausgeht. Eigentlich sollte die regelmäßige Prüfung der Abgabepflicht der Unternehmen gesetzlich festgeschrieben werden als Pflichtaufgabe der Deutschen Rentenversicherung. Hiergegen gab es aber Widerstand – von Seiten der Wirtschaftsfunktionäre, denn die Wirtschaftsverbände protestierten gegen das Vorhaben, angeführt von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), assistiert vom Bund der Steuerzahler. Aus den Plänen eines Teils der Bundesregierung wurde nichts:
»Die FDP hatte Einwände, Wirtschaftspolitiker der Union opponierten, sodass es in den Ausschüssen des Bundestags keine Mehrheit für die Pläne gab. Eine ausgeweitete Prüfpflicht hätte „einen bürokratischen Rattenschwanz nach sich gezogen. Jeder Metzger, jeder kleine Einzelhändler, der Geld für Werbung oder eine Internetseite ausgibt, wäre prüfpflichtig geworden“, sagt Gitta Connemann, Mitglied im Parlamentskreis Mittelstand der Unionsfraktion.«

Die Folgen könnten erheblich sein, denn das Bundesarbeitsministerium befürchtet, dass der Künstlersozialkasse so jährlich bis zu 50 Millionen Euro an Einnahmen verloren gehen. Das Ministerium rechnet vor, dass der Abgabesatz für die zahlenden Unternehmen 2014 bereits auf 5,2 Prozent und bis 2016 auf über sechs Prozent anziehen wird aufgrund dieser Ausfälle an Beitragseinnahmen. Staatsminister Neumann wird zitiert mit der zutreffenden ordnungspolitischen Problematisierung: „Dann müssen die abgabeehrlichen Arbeitgeber für die anderen mitbezahlen. Das ist mit dem Grundsatz der Abgabegerechtigkeit nicht vereinbar“. Faktisch bedeutet der Kontrollverzicht  ein Schutz von Sozialversicherungsbetrügern durch Untätigkeit. Logisch zu Ende gedacht, könnte die Abgabepflicht degenerieren zu einer freiwilligen Spende.

Mittlerweile geht die Entwicklung genau in die angedeutete Richtung: Ende Juli berichtete wieder die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift „KSK will höhere Abgaben von den Unternehmen„: Die Künstlersozialabgabe ist bereits von 3,9 auf 4,1 Prozent im Jahr 2013 gestiegen. »Bald wird es für die zahlenden Auftraggeber noch teurer: Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wird die Abgabe von 2014 an auf 5,2 Prozent klettern. Sie erhöht sich damit innerhalb von gut einem Jahr um mehr als 30 Prozent.« Um mehr Geld einzutreiben, wird nun erneut an der Künstlersozialabgabe geschraubt – was aber nichts anderes ist als eine Notlösung.

Unter der Nummer 43188 gibt es eine bis zum heutigen 6. August laufenden Petition „Prüfung der Abgabepflicht zur Künstlersozialversicherung durch Rentenversicherung vom 10.06.2013“, mit der der Deutsche Bundestag aufgefordert wird, die »Deutsche Rentenversicherung gesetzlich dazu (zu) verpflichten, im Rahmen ihrer Betriebsprüfungen – spätestens alle vier Jahre – zu kontrollieren, ob die Unternehmen, die freischaffende Künstler und/oder freischaffende lehrende Künstler beschäftigen, ihrer Abgabeverpflichtung nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz nachgekommen sind.« Die notwendigen 50.000 Unterschriften, damit sich der Bundestag nochmals mit der Angelegenheit beschäftigen muss, sind zwar erreicht worden, aber es gilt als unwahrscheinlich, dass sich in absehbarer Zeit noch etwas verändern lässt.

Der Initiator der Petition, Hans-Jürgen Werner, Syndikus des Präsidiums des Deutschen Tonkünstlerverbandes, wurde zu der Thematik interviewt: „Viele Unternehmen drücken sich einfach„, so ist das Gespräch überschrieben. An einem Beispiel wird eingangs deutlich, dass die Problematik auch viele kleine Unternehmen betrifft: Auf die Frage »Ein freier Webdesigner entwirft eine Homepage für den Fahrradladen um die Ecke und aktualisiert sie dreimal im Jahr. Muss der Laden dafür zahlen?«, antwortet Werner: »Ja, hier wird die Abgabe in Höhe von derzeit 4,1 Prozent des Honorars fällig.« Das Beispiel verdeutlicht sicher – auch wenn Werner das im weiteren Verlauf als Nebenproblem bezeichnet – die Problematik, dass es sicher viele kleine und sehr kleine Unternehmen gibt, die schlichtweg nicht wissen, dass sie abgabepflichtig sind.

Auch ein weiteres Problem wird in dem Interview angesprochen: Die Künstler müssen ihr erwartetes Einkommen nur schätzen, um die Höhe der Beiträge festzusetzen. Auch daraus resultiert natürlich ein gewisses Potenzial für zu geringe Beitragseinnahmen. Werner verweist hier auf die Kontrollen bei den Mitgliedern der Künstlersozialkasse, verlangt an dieser Stelle aber keineswegs mehr Kontrollen wie bei den Unternehmen.

Wie dem auch sei – die Zukunftsfähigkeit der Künstlersozialkasse ist von großer Bedeutung weit über den sehr heterogenen Bereich der Künstler und Publizisten im engeren Sinne hinaus: Denn diese Form der Absicherung wird durchaus auch explizit als Vorbild für eine mögliche Lösung des Sicherungsproblems einer wachsenden Gruppe genannt, bei der ein erheblicher Handlungsbedarf besteht: den digitalen Tagelöhnern (vgl. hierzu den Artikel „Davon kann niemand leben“ von Caspar Dohmen). Und auch hier wird die Frage, ob und dann wie es gelingen kann, Auftraggeber zu verbeitragen, die entscheidende sein.