Immer weniger, immer billiger, immer schlechter? Der Verfallsprozess öffentlicher Dienstleistungen und was der Knast mit dem zum Kunden deklarierten Bürger (nicht) zu tun hat

Schon seit vielen Jahren müssen wir einen Verfallsprozess in
Teilbereichen der öffentlichen Dienstleistungserbringung erleben, der sich aus
mehreren Quellen speist. Generell kann man beobachten, dass viele öffentliche
Dienstleistungen quantitativ eingedampft wurden, also immer weniger Leistungen
erbracht werden – nicht verwunderlich ist dabei, dass das vor allem in
personenbezogenen Dienstleistungsbereichen stattfindet, denn die sind mit
entsprechenden Personalkosten verbunden. Tendenziell kann man sagen, dass –
analog zu dem, was  in „normalen“ Unternehmen
passiert – diejenigen, die geblieben sind, deutlich mehr machen müssen als
früher. Dieser grundsätzliche Rationalisierungsprozess, der im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen immer schon verzögert abgelaufen ist im Vergleich
zu  dem, was viele Arbeitnehmer in der
„normalen“ Wirtschaft erleben mussten und müssen, wird angereichert um eine
weitere Dimension, die ebenfalls eine Kopie dessen ist, was wir in den
profitorientierten Betrieben erleben – immer billiger soll die Arbeit gemacht
werden, zumindest aber Teile der Arbeit. Ob durch Leiharbeit und neuerdings
verstärkt über Werkverträge, über Tarifflucht oder Ausgliederung – im Bereich
der öffentlichen Dienstleistungen läuft das oftmals über Auslagerung aus dem
bislang staatlichen Bereich im Sinne einer Privatisierung, die das dann eben
„billiger“ erledigen können, weil beispielsweise deren Beschäftigte nicht
tarifgebunden arbeiten müssen oder zu niedrigeren Tarifen als die bislang
öffentlich Beschäftigten. Zuweilen auch, weil diese Dritten tatsächlich
ökonomisch effizienter arbeiten als manche nicht nur verkrustet daherkommende
staatliche Einrichtungen.

Das war übrigens auch der Ausgangspunkt einer Entwicklung,
die unter dem Begriff „New Public Management“ Anfang der 1990er Jahre seinen
Siegeszug in den westlichen Gesellschaften angetreten hat. Der Soziologe Colin
Crouch, der den Begriff der „Postdemokratie“ geprägt hat, wirft in seinem
Artikel Kunde statt
Bürger
einen kritischen Blick auf das, was da seit den 90er Jahren passiert
ist. 1993 »erschien in den USA das Buch „Der innovative Staat. Mit
Unternehmergeist zur Verwaltung der Zukunft“ von David Osborne und Ted Gaebler.
Die Idee fand in vielen Ländern Anklang, vor allem aber bei der OECD
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).« Da ist sie
wieder, die OECD, die ja auch beispielsweise für die Pisa-Studien
verantwortlich zeichnet, die bekanntlich und wahrlich nicht unumstritten
erhebliche „Reform“prozesse in den Bildungssystemen vieler Länder ausgelöst
hat.

Interessant ist der Hinweis von Crouch, dass es am Anfang
dieser Entwicklung keineswegs um einen Generalangriff auf den öffentlichen
Dienst und den Staat an sich ging. »Keiner der Autoren war ein Feind des
öffentlichen Dienstes. Vielmehr befürchteten sie, dass er ineffizient und
zunehmend unnahbar werde, weil er von jenem Wettbewerbsdruck verschont war, der
privaten Anbietern Anreize zu ständigen Verbesserungen gerade auch im Bereich
der Kundenfreundlichkeit gibt. Sie wollten den öffentlichen Sektor retten,
indem sie Verfahren vorschlugen, um diesem Problem entgegenzuwirken«, so
Crouch. Wie so oft werden wir auch hier mit einer Entwicklung konfrontiert, die
mit einer guten oder zumindest diskussionswürdigen Absicht startet, dann aber
im weiteren Verlauf instrumentalisiert und deformiert wird. Ein zentraler
Ausgangsvorwurf der Vertreter des „New Public Managements“ an den öffentlichen
Dienst alten Zuschnitts war, »er habe seine Nutzer nicht als Menschen, sondern
gleichsam als Objekte betrachtet, weshalb es zu erheblichen Verbesserungen für
diese führen müsse, wenn sie den Status von „Kunden“ erhielten.« Aus einer
unbefangen-naiven Sicht erscheint das als ein durchaus ehrenwertes Anliegen,
das ja auch deshalb auf fruchtbaren Boden gefallen ist, weil viele Menschen,
die in zahlreichen staatlichen Systemen eher die Erfahrung des Bittstellertums
gemacht haben (und machen), der Kundenbegriff assoziiert ist mit der „Kunde als
König“ und damit die Hoffnung auf einen besseren Umgang.

Colin Crouch sieht Großbritannien als einen besonderen
Treiber dieser Entwicklung und die Transformation der Labour Partei unter Tony
Blair, der 1994 Vorsitzender wurde, zu „New Labour“ ist Ausdruck dieser
Geisteshaltung einer auf Markt und Wettbewerb und Abbau klassischer Steuerungsmechanismen
des Staates setzenden Philosophie. In diesem Kontext darf daran erinnert
werden, dass die „Hartz-Kommission“ 2002 umfangreiche Anleihen beim britischen Jobcenter-Modell
gemacht hat, die dann in die Vorschläge der Kommission und in die „Hartz-Gesetze“
eingeflossen sind:

»Den Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als „Kunden“ zu
bezeichnen, ist zunächst einmal eine britische Spezialität (die in Deutschland
von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wurde). Eine Zeit lang haben die
Behörden sogar mit dem Gedanken gespielt, Gefängnisinsassen zu „Kunden“ zu
erklären, für die man immerhin die Dienstleistung des Freiheitsentzugs
erbringe. Aus den offiziellen Verlautbarungen des britischen Transportwesens
indes ist das Wort „Fahrgast“ komplett verschwunden, dort ist nur mehr von
„Kunden“ die Rede.«

Auf die Gefängnisse werden wir gleich noch wieder zu
sprechen kommen.
Dann bringt Crouch einen interessanten Satz: »Das einzige
Merkmal, das den „Kunden“ von anderen Dienstleistungsnutzern unterscheidet, ist
seine Absicht, den fraglichen Service käuflich zu erstehen.« Genau daran kann
man aber mit Blick auf Arbeitslose oder Knastinsassen oder Teilnehmer an einer
Jugendhilfemaßnahme zweifeln.

Ein weiterer Aspekt ist darin zu sehen, dass das
„Kunden“-Konzept unvermeidlich eine Ungleichheit impliziert, die sich mit dem
Konzept eines mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers nicht verträgt. In jedem
privatwirtschaftlichen Unternehmen werden Kunden mit hoher Kaufkraft besser
behandelt als solche mit geringer – es gibt im privaten Sektor keine
Entsprechung zum staatlichen Konzept der Gleichheit vor dem Gesetz, so Crouch.
Man könnte hier eine Ursprungsquelle erkennen für äußerst umstrittene Konzepte
einer Kategorisierung von hilfesuchenden Menschen in der Arbeitsverwaltung nach
ihrer jeweiligen – unterstellten bzw. ihnen zugeschriebenen – „Marktnähe“, aus
der dann ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Ausgestaltung des „Fördern
und Fordern“ resultieren.
Der entscheidende Punkt: Die Differenzierung der Kunden nach
ihrer „Werthaltigkeit“ ist in der normalen Wirtschaft eine absolut logische
Konsequenz, die allerdings ihre Schattengesichtigkeit offenbart, wenn man diese
Logik auf öffentliche Dienstleistungen überträgt. Crouch verdeutlicht das an
einem illustrativen Beispiel aus der britischen Diskussion:

»Im August 2009 erklärte der Konservative Mike Freer, damals
Vorsitzender der Bezirksverwaltung des Londoner Stadtbezirks Barnet, die
Kommune wolle sich mit ihrem Dienstleistungsangebot künftig am „Modell Ryanair“
orientieren. Die Bezirksverwaltung werde den Bürgern elementare
Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und sie für alles darüber
Hinausgehende zur Kasse bitten.
So sollten etwa Bewohner kommunaler Altenheime einfache
Mahlzeiten kostenlos erhalten, besseres Essen aber nur gegen Aufpreis. Wer eine
Baugenehmigung beantragen wolle, könne gegen Entrichtung einer Gebühr in der
Warteliste nach vorne rücken, ähnlich wie die Passagiere (oder vielmehr Kunden)
von Ryanair per Aufschlag einen bestimmten Sitzplatz erwerben können. In
Anlehnung an den Namen einer anderen Fluggesellschaft sprechen Befürworter wie
Kritiker des Konzepts auch vom „easyCouncil“ … In Barnet hat man inzwischen
so gut wie alle öffentlichen Aufgaben an Privatfirmen outgesourct, die Mehrzahl
an Unternehmen der Capita Group. Bürger, die sich mit einem Anliegen ans
Rathaus wenden, werden an eines der vielen Callcenter der Firma verwiesen.
Infolgedessen verfügt die Kommunalverwaltung heute nicht mehr über die nötige
Sachkompetenz, um die Qualität der fremdvergebenen Dienstleistungen zu
beurteilen. Sie beschäftigt beispielsweise keine eigenen Juristen mehr – und
geht damit einen großen Schritt weiter, als es Billigfluglinien je auch nur
erwägen würden.« (vgl. zu Barnet auch den Artikel Outsourced
and unaccountable: this is the future of local government
).

 Immer weniger und immer schlechter kann man auch bei uns an
vielen Stellen beobachten. Zu welchen – nur auf den ersten Blick kuriosen –
Effekten der nur noch als pathologisch zu bezeichnende „Immer-weniger-Personal“-Wahn
führen kann, soll das folgende Beispiel illustrieren: Unter der Überschrift Häftlinge
prügeln sich, weil Wärter fehlen
berichtet Frank Bachner über die Situation
in der Justizvollzuganstalt Berlin-Tegel. Mehr als 800 Männer sitzen in der JVA
Tegel ein. Oft müssen sie fast den ganzen Tag in der Zelle bleiben – und werden
deshalb immer aggressiver, was nicht wirklich verwundern sollte. „Wenn du 23
Stunden eingeschlossen bist und in der Zelle kein Radio und keinen Fernseher
hast, drehst du durch. Dann züchtet man dort regelrecht Bomben.“ Mit diesen
Worten wird ein ehemaliger Häftling zitiert. Aus Sicherheitsgründen produziert
man ein Sicherheitsrisiko, so lässt sich das zusammenfassen, denn natürlich
weiß man, dass das Wegschließen keine gute Sache ist:

»Aber es geht nicht anders. Wärter fehlen. Wärter, die
Freistunden beaufsichtigen, Wärter, die in den Betrieben aufpassen, Wärter, die
bei den Sportstunden kontrollieren. Und wenn Wärter fehlen, müssen die
Gefangenen notfalls in ihren Zellen bleiben, 23 Stunden lang. Aus
Sicherheitsgründen.«

21 Stellen im Vollzugsdienst sind derzeit nicht besetzt,
19 Stellen sollen im kommenden Jahr wegfallen. Und die, die auf dem Papier da
sind, müssen es nicht auch in der Realität sein. Im August gab es an einem Tag
einen Krankenstand von 17,7 Prozent.

Im August gab es in Tegel in der Nähe der Essensausgabe eine
Massenschlägerei. „Diese Prügelei wundert mich nicht, das ist die Folge des
Personalmangels“, so wird ein Beschäftigter der JVA zitiert. Und noch ein weiteres
Beispiel aus dem August dieses Jahres, das die ganze Skurrilität der möglichen
Folgen des Personalmangels aufzeigen kann:

»In der JVA Plötzensee griff in der Freistunde ein
Gefangener eine Wärterin mit einem Besteckmesser an. Andere Gefangene überwältigten
ihn und führten ihn in eine gesicherte Zelle. Gefangene, nicht Wärter. Die
standen nicht zur Verfügung.«

Jetzt wird die Arbeit der Vollzugsbeamten schon
„outgesourct“ an die Gefangenen, sorry: an die Kunden der Justizverwaltung. Und
das System kann froh sein, dass das sogar funktioniert.
Und auch die Bedeutung von Arbeit kann man diesem
Fallbeispiel entnehmen:

»Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der
Hälfte des geplanten Personals arbeiten. Und wenn für einen der 14 Betriebe …
genügend Aufsichtspersonal fehlt, wird der Betrieb an diesem Tag geschlossen.
Die Gefangenen müssen dann in ihren Zellen bleiben. Im ersten Halbjahr 2015 gab
es in Tegel an 37 Tagen Betriebsschließungen. 37 Impulse, die eine gefährliche
Spirale in Gang bringen können. Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, wer
kein Geld verdient, kann sich weniger Kaffee und Zigaretten kaufen, eine
wichtige Währung im Gefängnis. Dann kann man auch weniger tauschen. 23 Stunden
in der Zelle kommen noch dazu. Kein Kaffee? Keine Zigaretten? Für einen
Gefängnispsychologen, der große Anstalten kennt, ist das eine
Horrorvorstellung: „Für viele sind Kaffee und Zigaretten ein Ventil. Die dienen
auch zum Spannungsabbau. Wenn sie es nicht haben, setzt sie das noch mehr unter
Spannung.“ 23 Stunden in der Zelle erhöhen den Druck.«

Aber in der JVA Tegel werden trotzdem Stellen gestrichen, eine
Folge von „Organisations- und Strukturänderungen“. Auch so ein Folterbegriff
für ganz viele Arbeitnehmer heute.
Perspektiven der Fortschreibung dieser Entwicklung?
Outsourcing ist das Stichwort. Dass man unsere 5-Euro-T-Shirts in Myanmar oder
demnächst wo auch immer produzieren lässt, daran haben wir uns ja schon – seien
wir ehrlich – gewöhnt. Und das osteuropäische Billigstarbeiter unser
Hackfleisch machen, da wird zwar die Nase gerümpft, aber die meisten wenden
sich beim Gedanken an Massentötungen im Sekundentakt schnell wieder anderen
Themen zu. Aber wie wäre es mit diesem Beispiel aus der Knast-Welt?

»Zu viele Häftlinge, zu wenig Platz. Norwegen hat ein
Problem mit der Unterbringung von Straftätern. Praktisch: In den Niederlanden
stehen viele Zellen leer. Oslo mietet kurzerhand ein komplettes Gefängnis – die
niederländischen Vollzugsbeamten gleich mit.«

Das kann man dem Artikel Oslo
schickt Straftäter in die Niederlande
entnehmen. »Schon seit 2010 sitzen
650 belgische Straftäter in einem von einem Belgier geleiteten niederländischen
Gefängnis in Tilburg ein. Für die Norweger gilt ebenso wie für die Belgier: Im
Strafvollzug gilt das Recht des Heimatlandes. Die Vollzugsbeamten in
Norgerhaven wurden dementsprechend geschult. Sie mussten auch ausreichend
Englisch lernen, um sich mit den Häftlingen verständigen zu können.« Das sind
doch Perspektiven. Für die Apologeten des New Public Management. Die werden
sich freuen und sicher „Effizienzvorteile“ durch „intelligente Arbeitsteilung
aufgrund von Kostendifferentialen“ bestimmen können.
Aber für die Gesellschaft stellt sich die Frage, ob und wie
wir von der Rutschbahn des immer weniger, immer billiger und immer schlechter
in der öffentlichen Daseinsvorsorge runterkommen können. 

Erschöpfende Lehre oder erschöpfte Leere? Jeder dritte Azubi hängt – angeblich – in den Seilen

Die AOK hat ihren neuen Fehlzeiten-Report veröffentlicht – neben den allgemeinen Informationen über den Krankheitsstand von elf Millionen AOK-versicherten Arbeitnehmern im Jahr 2014, der mit 5,2 Prozent auf dem Niveau des Vorjahres lag – damit hat jeder Beschäftigte im Durchschnitt 18,9 Tage aufgrund einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Betrieb gefehlt – gibt es auch in diesem Jahr ein Schwerpunktthema. Herausforderung für die Betriebe: Mehr als jeder fünfte Auszubildende zeigt riskantes Gesundheitsverhalten, so hat der AOK-Bundesverband seine Pressemitteilung dazu überschrieben. Immer wieder interessant, was die Presse daraus macht. So lautet die Artikel-Überschrift im Tagesspiegel beispielsweise Erschöpfende Lehre. Da drängt sich der Eindruck auf: Jetzt schlägt die brutale Arbeitswelt schon bei Beginn des Erwerbsleben derart hart zu, dass man zur Kenntnis nehmen muss, dass Azubis überdurchschnittlich oft krank sind. Ein Drittel leidet häufig unter körperlichen und psychischen Beschwerden. Schauen wir uns die neuen Befunde einmal genauer an. Zuerst einmal die Datenbasis: Es handelt sich um die erste repräsentative Befragung von Auszubildenden, so die Selbstdarstellung der AOK. Ende 2014 gab es knapp 1,4 Millionen Auszubildende in Deutschland. Für die Studie wurden rund 1.300 Auszubildende in kleinen  und mittelständischen Betrieben mit 50 bis 200 Mitarbeitern Anfang des Jahres 2015 befragt.

»Ein Drittel der Auszubildenden berichtet über häufig auftretende körperliche und psychische Beschwerden. Gesundheitsgefährdendes Verhalten wie wenig Bewegung, schlechte Ernährung, wenig Schlaf, Suchtmittelkonsum oder übermäßige Nutzung der digitalen Medien ist bei jedem fünften Auszubildenden zu beobachten. Bei beinahe jedem zehnten Befragten treten gesundheitliche Beschwerden und gesundheitsgefährdendes Verhalten gleichzeitig auf«, so die AOK in ihrer Pressemitteilung. Josefa Raschendorfer schreibt in ihrem Artikel Erschöpfende Lehre:

»Mehr als die Hälfte  der befragten Auszubildenden (56,5 Prozent ) berichtet über häufige körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Verspannungen. Außerdem klagen 46,1 Prozent der Befragten über psychische Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung, Lustlosigkeit, Reizbarkeit oder Schlafstörungen.«

Wir kennen solche Befunde auch aus der Diskussion über die gesundheitlichen Belastungen erwachsener Arbeitnehmer und sie werden oftmals im Zusammenhang gestellt mit den möglichen krankmachenden Auswirkungen der Arbeitswelt. Dieser Aspekt findet sich übrigens auch in der neuen Ausgabe des Fehlzeiten-Reports für den allgemeinen Krankenstand der Belegschaften: Jeder »Beschäftigte (hat) im Durchschnitt 18,9 Tage aufgrund einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Betrieb gefehlt. Bedenklich sei dabei der Anstieg der psychischen Erkrankungen, die zu langen Ausfallzeiten von durchschnittlich 25,2 Tagen je Fall führen. Als Grund für den Anstieg der psychischen Erkrankungen nennt Schröder unter anderem die zunehmende Belastung in den Unternehmen auf den Mitarbeiter. „Immer mehr Arbeit lastet auf weniger Schultern.“«

Zurück zu unseren Azubis, denn die Befragungsergebnisse fördern weitere interessante Informationen zu Tage. Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, wird mit den Worten zitiert: Beim Gesundheitsverhalten der Auszubildenden zeigen sich „teilweise Defizite in den Bereichen Bewegung, Ernährung und Schlaf sowie im Umgang mit Suchtmitteln und digitalen Medien“. Und konkreter:

»Ein Viertel der Auszubildenden ist kaum sportlich aktiv, 27 Prozent nehmen kein regelmäßiges Frühstück zu sich und 15,8 Prozent verzichten auf ein tägliches Mittagessen. Hinzu kommt ein hoher Konsum von Fast Food und zuckerhaltigen Lebensmitteln.
Mehr als ein Drittel der männlichen Auszubildenden und jede vierte weibliche Auszubildende schlafen unter der Woche weniger als sieben Stunden pro Nacht. So fühlen sich mehr als 12 Prozent in Arbeit und Schule fast nie oder niemals ausgeruht und leistungsfähig. Der wenige Schlaf sei möglicherweise auch auf den hohen Medienkonsum zurückzuführen, der durchschnittlich bei insgesamt 7,5 Stunden pro Tag liege … Mehr als jeder dritte Auszubildende raucht, fast jeder fünfte zeigt einen riskanten Alkoholkonsum.«

Auch hier mag es das Henne-Ei-Problem, also die oftmals nicht zu beantwortende Frage nach dem ursprünglichen Auslöser einer Kausalkette, geben. Aber seien wir ehrlich – am Anfang des Berufslebens wird man kaum davon ausgehen können, dass die Wirkungen der Arbeitswelt schon dermaßen durchgeschlagen haben, dass sie die zitierten Werte erklären können. Letztendlich werden wir hier konfrontiert mit den Folgen eines Lebenswandels eines Teils der jungen Generation, der sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt negativ auszuprägen scheint, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei den Befunden um Befragungsergebnisse im Sinne einer Selbstauskunft handelt. Und es betrifft wie eigentlich immer auch nur einen Teil der Gruppe, denn auch das hat die Studie ans Tageslicht gebracht: »Mehr als die Hälfte der Azubis lebt gesundheitsbewusst und hat kaum körperliche und psychische Gesundheitsbeschwerden.«

Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Die Position der Krankenkasse ist verständlich: „Es braucht gesundheitsförderliche Maßnahmen, die auf die speziellen Bedürfnisse der Auszubildenden abgestimmt sind“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO und Mitherausgeber. „Betriebliche Gesundheitsförderung für diese Zielgruppe stellt auch einen Wettbewerbsfaktor für die Unternehmen dar. Mittelfristig werden in vielen Branchen und Regionen gesunde Auszubildende händeringend gebraucht.“ Es ist sicher gut und lobenswert, wenn Unternehmen nicht nur versuchen, mit Angeboten des betrieblichen Gesundheitsmanagements die älteren und älter werdenden Mitarbeiter zu erreichen, um sie möglichst lange arbeitsfähig zu halten. Sondern sich schon um die jungen Leute zu kümmern versuchen. Aber ehrlich – gegen die Versuchungen, denen die ausgesetzt sind und vor denen so einige kapitulieren, kann man nur schwer ankommen. Bei nicht wenigen wird sich das irgendwie auswachsen, die anderen werden dann in anderen sozialpolitischen Handlungsfeldern wieder aufschlagen.

Buchcover: AOK

Outsourcing als eine Quelle für die zunehmende Lohnungleichheit in Deutschland

Outsourcing ist ein sehr weit gefasster Oberbegriff für teilweise sehr unterschiedliche Prozesse innerhalb des Wirtschaftslebens. Darunter würde die Abgabe einer bislang von eigenen Beschäftigten betriebenen Werkskantine an ein Catering-Unternehmen, dass die fortan im Auftrag als ein „Betrieb im Betrieb“ bewirtschaftet, genauso subsumiert werden wie die Auslagerung der Produktion eines Automobilherstellers an einen rumänischen Standort. Zum Outsourcing gehört beispielsweise auch das Vorgehen im Bereich der Paketdienste, über Subunternehmer-Ketten auf eigene Mitarbeiter im klassischen Sinne verzichten zu können (man denke hier an GLS oder Hermes), sondern die Arbeit von „selbständigen“ Paketfahrern erledigen zu lassen. Oder generell die Fremdvergabe innerhalb eines Unternehmens über das Instrumentarium der Leiharbeit oder die Vergabe an eine Fremdfirma über die Nutzung von Werk- und Dienstverträgen. Und mit Leiharbeit und Werkverträgen haben wir bereits Stichworte aufgerufen, die seit Jahren immer wieder überaus kritisch diskutiert werden hinsichtlich der Folgen ihrer immer intensiveren Nutzung in vielen Unternehmen.

In diesen Tagen beginnt eine erneute und massive Kampagne der IG Metall gegen die aus ihrer Sicht oftmals missbräuchlichen Inanspruchnahme von Werkverträgen – vgl. dazu bereits den Blog-Beitrag Outsourcing mit Folgen: Werkverträge im Visier. Die IG Metall versucht, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen vom 1. September 2015 sowie den Beitrag Problemfall Werkvertrag. Das System der verlängerten Werkbank von Johannes Schulten und Jörn Boewe.
Das Problem ist wie so oft bei Fragen des Arbeitsmarktes: Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß, sondern eben auch viele Grautöne. Das kann man sich verdeutlichen am Beispiel der Werkverträge. An sich ist diese Rechtshülle nicht verwerflich, sie bildet viele Geschäftsbeziehungen ab, die gar nicht anders abgewickelt werden könnten. Wenn man einen Maler beauftragt, das eigene Wohnzimmer zu streichen, dann schließt man einen Werkvertrag. Es macht auch nicht wirklich Sinn, den Maler in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis einzustellen. Wenn man ein Schreibbüro beauftragt, mehrere Stunden Audio-Aufzeichnungen von Interviews im Rahmen eines Forschungsprojekts abzutippen, dann ist das eine sinnvolle Fremdvergabe. Insofern macht es aus Sicht einer Effizienzsteigerung durch Konzentration auf die eigenen Kernkompetenzen durchaus Sinn, Aufgaben auszulagern und nicht selbst zu machen.

Der IG Metall und anderen geht es aber nicht um diese nicht-vermeidbaren Fälle der Auslagerung. Sondern um eine Auslagerung, die überwiegend oder ausschließlich veranstaltet wird, um die „zu hohen“ Kosten der Stammbeschäftigten zu drücken, in dem Leiharbeit und/oder Werkverträge in Anspruch genommen werden, um das Kostendifferential zu nutzen.

»Mehr als zwei Drittel der Betriebe kauften inzwischen Leistungen bei anderen Firmen ein, ergab eine Umfrage der IG Metall unter gut 4000 Betriebsratsvorsitzenden. In fast drei Vierteln dieser Fälle müssten die Beschäftigten der Werkvertragsfirmen zu schlechteren Bedingungen arbeiten als ihre festangestellten Kollegen. Häufig sei eine solche Fremdvergabe von Arbeit per Werkvertrag mit niedrigeren Löhnen, längeren Arbeitszeiten oder weniger Urlaubstagen verbunden«, so der Artikel IG Metall beklagt Missbrauch von Werkverträgen.

In diesem Zusammenhang – zugleich über das Feld der IG Metall hinausreichend – interessant sind die Ergebnisse einer Studie, die vor kurzem vom Institut Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn veröffentlicht worden sind:

Deborah Goldschmidt and Johannes F. Schmieder: The Rise of Domestic Outsourcing and the Evolution of the German Wage Structure. Discussion Paper No. 9194. Bonn: IZA, July 2015

Das Institut hat die dazu gehörende Pressemitteilung lapidar überschrieben mit: Outsourcing erhöht Lohnungleichheit in Deutschland. Daraus einige interessante Befunde:

»Die Forscher dokumentieren das Ausmaß des Outsourcings für Wirtschaftsbereiche, die besonders von dieser Entwicklung profitieren: Reinigungs-, Sicherheits- und Logistikdienstleistungen (RSL) sowie Zeitarbeitsfirmen. Während 1975 nur rund zwei Prozent aller Beschäftigten für RSL-Dienstleister oder Zeitarbeitsfirmen tätig waren, stieg dieser Anteil bis 2008 auf fast acht Prozent an.« Die beiden Wissenschaftler haben sich auf Situationen konzentriert, in denen Betriebe ganze Gruppen von Arbeitskräften gemeinsam an Dienstleister auslagern, um die Fälle auszuschließen, dass nur diejenigen Mitarbeiter ausgelagert werden, die in den Augen des Arbeitgebers eine geringere Produktivität aufweisen.

»Die Löhne fallen nach der Auslagerung deutlich und liegen nach zehn Jahren etwa 10-12 Prozent niedriger als die von vergleichbaren Arbeitern, die nicht ausgelagert wurden. Die Verluste sind am höchsten für Reinigungspersonal und Zeitarbeiter. Etwas geringer fällt der Effekt für Logistikarbeiter aus, z.B. LKW-Fahrer oder Kantinenmitarbeiter.«

Und weiter:

»Attraktiv ist das Auslagern von vorher betriebseigenen Prozessen und Aufgaben vor allem für Unternehmen, die relativ hohe Löhne bezahlen und an Tarifverträge gebunden sind. Das führt in vielen Fällen dazu, dass Arbeitskräfte in ohnehin schlecht bezahlten Berufen in ihrem neuen Beschäftigungsverhältnis weitere Lohneinbußen in Kauf nehmen müssen. Entsprechende Folgen hat der Trend für die Lohngerechtigkeit: Die Simulationen legen nahe, dass allein das Outsourcing im Reinigungs-, Sicherheits- und Logistikbereich etwa 10% des Gesamtanstiegs der Lohnungleichheit in Deutschland erklären kann.«