Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit? Zur Ambivalenz eines Geschäftsmodells für „Bürger in sozialen Schwierigkeiten“

Prognosen haben es oftmals an sich, dass sie nicht eintreten. Oder das tatsächliche Ergebnis weit von dem entfernt ist, was vorausgesagt wurde. Nehmen wir als Beispiel die Obdachlosen- oder Straßenzeitungen. Dieser Ansatz kann durchaus auf eine lange Geschichte zurückblicken. Zur Entwicklung in Deutschland erfahren wir rückblickend: »In den Jahren 1987 und 1988 erschienen die ersten von Hans Klunkelfuß herausgegebenen Berberbriefe, unregelmäßig erscheinend, etwa viermal im Jahr, 8–12 Seiten auf fotokopiertem Papier mit einer Auflage von 100 bis 500 Stück. Klunkelfuß und andere Wohnungslose nutzen den Verkauf der von ihnen selbst hergestellten Zeitung, um damit unabhängig von staatlicher Hilfe ihr Überleben auf der Straße zu sichern. Im Jahr 1992 erschien in Köln mit dem BankExpress, später BankExtra, heute Draussenseiter, die erste deutsche Straßenzeitung; im Oktober 1993 kamen Bürger In Sozialen Schwierigkeiten – BISS in München und 14 Tage später Hinz und Kunzt aus Hamburg dazu. Im Jahr 2006 gab es bereits ca. 30 Straßenzeitungen in Deutschland.«

Aber bereits 1999 konnte man im SPIEGEL unter der Überschrift Abgenutzte Idee lesen: »Vor vier Jahren war es eine Sensation: Die Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunzt“ nahm die Auflagenhürde von 100 000 Exemplaren. Nun sind die goldenen Zeiten vorbei, die Straßenblätter stecken in der Krise: Nur noch 75 000 Exemplare „Hinz & Kunzt“ werden monatlich verkauft. Die Auflagen der Berliner „Strassenzeitung“ und der Düsseldorfer „Fifty fifty“ sind von 30 000 auf 25 000 gesunken. „Die Idee hat sich abgenutzt, die Neugier ist vorbei“, erklärt Jutta Welle, Macherin der „Strassenzeitung“, das Phänomen. Und: „Die Menschen haben wohl selbst genug Ärger und wollen nicht noch über den der Obdachlosen etwas hören.“« Ein voreiliger Abgesang auf diesen Ansatz, den man durchaus als ein Modell für Hilfe zur Selbsthilfe bezeichnen kann.

mehr

Sinn-lose Zahlenspielereien über Flüchtlinge mal wieder. Dabei geht es in Wirklichkeit um handfesten Sozialabbau

Die „seriösen“ Schätzungen der Gesamtkosten für eine Million Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben, liegen „auf der Basis von Generationenbilanzen“ zwischen 79 Milliarden und 450 Milliarden Euro. Das kommt – nun ja – nicht wirklich beruhigend genau daher., ganz im Gegenteil, die enorme Streuung der möglichen Kosten ist doch kaum eine Basis, den dahinter liegenden Berechnungen irgendwie zu vertrauen. Aber ganz genau kann der unermüdliche Zahlenspieler Hans-Werner Sinn für das gerade begonnene 2016 die Kosten vorhersagen: »Für dieses Jahr gehen wir von 21 Milliarden Euro aus.«

Das und mehr kann man einem Interview mit ihm entnehmen, das der „Tagesspiegel“ veröffentlicht hat: „Die Integration der Flüchtlinge wird teuer“, so ist das Gespräch mit Sinn überschrieben worden.
Das hat noch nicht mal was von halbwegs seriös daherkommender Kaffeesatzleserei. Es ist einfach nur zum Dauer-Kopfschütteln, wenn solche Zahlen derzeit in die Welt gesetzt werden.
Aber Hans-Werner Sinn geht es – übrigens wie auch bei seinen hanebüchenen „Prognosen“ zum (angeblichen) Jobkiller Mindestlohn, wo er es war, der mit mehr als 900.000 Jobs, die durch den Mindestlohn ganz bestimmt „vernichtet“ werden, durch die Lande und vor allem durch viele willige Medien gezogen ist – gar nicht um die konkreten Zahlen, mit denen er erneut um sich wirft, sondern um eine ganz bestimmte politische Botschaft, die er unter das Volk bringen will und dazu braucht man in unserer heutigen Medienwelt offensichtlich irgendwelche Horrorbotschaften, die sich gut „verkaufen“ lassen, weil sie beim Leser, Hörer oder Zuschauer Angstschweiß produzieren können.

Und seine politischen Botschaften haben es in sich und würde man ihnen folgen, dann müssten vor allem die unteren Einkommensgruppen leiden. Hier einige Zitate aus dem Interview:

»Wir dürfen die Integration der Flüchtlinge auf keinen Fall mit einer höheren Verschuldung finanzieren, sondern müssen auf den laufenden Haushalt zurückgreifen.«

Und wie soll man das gegenfinanzierten? Die Einnahmen erhöhen für den laufenden Haushalt, beispielsweise durch einen höheren Spitzensteuersatz in der Einkommenssteuer? Aber auf gar keinen Fall, sondern altbekannte Sinn’sche Forderungen werden auch hier erneut platziert, auch wenn der eine oder andere sich schon fragen wird, was denn das mit der Finanzierung von Integrationskursen oder sonstigen Maßnahmen zu tun haben soll:

»Man könnte das Renteneintrittsalter nach hinten verschieben oder Subventionen kürzen.«
Und natürlich, man ahnt es schon: »Der Mindestlohn ist ein Integrationshemmnis erster Güte.«

Und nun ja, gegen Subventionen ist man offensichtlich nicht generell im Hause Sinn:

»Statt des Mindestlohns sollte man Menschen, die wenig verdienen, einen staatlichen Zuschuss zahlen, so dass sie zusammen mit diesem Zuschuss ein ausreichendes Gesamteinkommen haben.«

Auf die Nachfrage, ob der Mindestlohn für die Flüchtlinge abgeschafft werden sollte, kommt eine aufschlussreiche Antwort:

»Man kann nicht nur Flüchtlinge ausnehmen. Dann würden sie die Einheimischen unterbieten und ihnen die Jobs wegnehmen. Nein, man müsste für alle Berufsanfänger eine Ausnahme machen – sowohl für Einheimische als auch für Flüchtlinge. In den ersten Jahren Berufstätigkeit sollte der Mindestlohn generell nicht gelten.«

Und dabei soll es natürlich nicht bleiben. Auf die Nachfrage, wie man denn die Integration der Flüchtlinge finanzieren kann, wenn schon nicht über Steuererhöhungen, die Sinn rundweg ablehnt, antwortet er:

»Man muss Abstriche machen, Ausgaben kürzen. Das ist eine schwierige politische Entscheidung.«

Und legt dann nach:

»Jedenfalls wird es wohl auch die Ärmsten treffen. Der Sozialstaat wird durch die freie Zuwanderung zwangsläufig lädiert.«

Wie praktisch für manche, dass man mit so einer Aussage alle vor uns liegenden Einschnitte in der Kommunikation mit der Bevölkerung immer auf „die Flüchtlinge“ und die von denen verursachten „Kosten“ schieben kann, ohne das im Detail begründen zu müssen, was auch Großmeister Sinn nicht macht.

Am Ende bekommen wir dann noch eine wichtige persönliche Information, denn im Frühjahr wird Hans-Werner Sinn sein Amt als Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München abgeben und in den Ruhestand eintreten. Und was wird er dann tun? Hierzu die letzte Passage aus dem Interview:


Was werden Sie tun, wenn Sie im Frühjahr Ihr Amt als Ifo-Chef abgeben?
Ich werde Bücher schreiben und alle Viere von mir strecken.
Ehrlich?
Ganz ehrlich.

Das Gefälle der Sozialabgaben in der EU, der Europäische Gerichtshof (EuGH) und ein Kläger, den es gar nicht gibt, in einem Verfahren von grundsätzlicher sozialpolitischer Bedeutung. Mehr als peinlich

Wir sprechen hier nicht über irgendein Feld-, Wald- und Wiesen-Gericht, sondern über den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union (EU). Und die Entscheidungen dieses Gremiums spielen auch in der Sozialpolitik eine immer bedeutsamere Rolle. Man nehme als Beleg für diese Bewertung nur die neueste Entscheidung des EuGH aus dem September 2015 zur Frage nach einem Anspruch auf Sozialleistungen von EU-Bürgern in einem anderen EU-Staat – für Deutschland nicht nur grundsätzlich von Relevanz, sondern in dem angesprochenen Fall hatte das Bundessozialgericht (BSG) selbst den EuGH angerufen mit der Bitte um eine Entscheidung (vgl. dazu ausführlicher Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger vom 15.09.2015 sowie zu den sich daran anschließenden Entscheidungen des BSG, die nun bei uns einige Verwirrung ausgelöst haben: Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 03.12.2015). Man mag bereits an diesem Beispiel erkennen, dass wir es mit sozialpolitisch hoch brisanten Fragen zu tun haben, zu denen sich der EuGH nicht nur äußert, sondern zu dem Urteile mit handfesten Folgen gefällt werden. Wenn das so ist, dann muss man sich natürlich darauf verlassen können, dass dieses Gerichtssystem nicht missbraucht werden kann. Allerdings muss man daran einige Zweifel bekommen, wenn man sich mit dem folgenden Sachverhalt beschäftigt:

In seinem Artikel Der Kläger, der nie klagte berichtet Thomas Kirchner über einen nur auf den ersten Blick skurrilen Fall: Beim EuGH gibt es einen offiziellen Fall Namen „Chain gegen Atlanco“, doch der Pole Bogdan Chain hat nach eigener Aussage überhaupt keine Klage eingereicht.

Möglicherweise, so Kirchner, sind wir hier mit einer einzigartigen Schein-Klage konfrontiert, die um ein Haar die europäische Sozialgesetzgebung beeinflusst hätte. Und es geht nicht um irgendwelche Kleinigkeiten, sondern um die Frage, wo Arbeitnehmer, die innerhalb eines Jahres in mehr als zwei EU-Staaten tätig sind, ihre Sozialabgaben bezahlen. Damit geht es hier um einen Sachverhalt, der etwa drei Millionen Arbeitnehmer in der EU betrifft. So viele sind im Laufe eines Jahres in mehr als zwei EU-Staaten tätig. »Wo aber zahlen sie Sozialabgaben? Um die Sache zu vereinfachen und die Mobilität der Bürger nicht zu behindern, entscheidet in der EU in diesem Fall der Registrierungsort des Arbeitgebers.«

Jeder, der auch nur eine kleine Vorstellung hat von den unterschiedlichen Abgabenniveaus innerhalb der EU, kann sich bereits an dieser Stelle vorstellen, was es bedeutet, wenn man das gegebene Gefälle bei der Sozialabgabenbelastung gezielt nutzen kann, um damit Personal in einem anderen, „hochpreisigen“ EU-Land anzubieten und einzusetzen. Auf so eine Idee ist auch das Unternehmen Atlanco gekommen – und gleich am Anfang der Geschichte werden wir Zeuge einer dieser „interessanten“ Unternehmenskonstruktionen in der EU, die natürlich einen ganz bestimmten Zweck verfolgen:

»Der irischen Leiharbeiter-Firma Atlanco passte das hervorragend: Sie war auf Zypern gemeldet, wo die Sozialabgaben sehr niedrig sind. So konnte sie ihre Leute in Nordeuropa zu konkurrenzlos günstigen Bedingungen einsetzen.
Den EU-Staaten gefällt die Regelung weniger, denn sie müssen ihren Bürger Sozialleistungen gewähren, egal wo sie eingezahlt haben. 2011 entzog Zypern den Iren ohne weitere Erklärungen die Erlaubnis, woraufhin Atlanco klagte, um sein lukratives Geschäftsmodell zu retten. Im April 2014 leiteten die zypriotischen Richter den Fall nach Luxemburg weiter, wo er die Verfahrensnummer C 189/14 erhielt.«

Was aber hat Bogdan Chain aus dem südostpolnischen Stalowa Wola mit dieser Angelegenheit zu tun? Er »hatte tatsächlich einige Jahre für Atlanco gearbeitet. Und er war mehrmals Opfer des EU-Systems geworden: Norwegen hat Sozialabgaben von ihm eingefordert, die er eigentlich schon in Zypern bezahlt hatte, und Polen weigert sich, die Arztkosten zu bezahlen, die nach einer Herzattacke Chains 2014 anfielen.« So weit, so zutreffend – aber mit der in Luxemburg anhängigen Klage hat er dennoch rein gar nichts zu tun, so dass die Annahme naheliegt, dass Atlanco sich seiner Personalakte bedient hat, um einen fingierten Fall zu konstruieren.

Irische Journalisten fanden heraus, »dass der Anwalt, der Chains Sache anfänglich auf Zypern vertrat, niemals Kontakt mit seinem Mandanten hatte; seine Instruktionen habe er vielmehr von einer Brüsseler Anwaltskanzlei erhalten. Die wiederum handelte offenbar gleichzeitig im Auftrag von Atlanco, was standeswidrig wäre.«

Über das Unternehmen und deren Lohndumping-Praktiken wurde bereits vor einiger Zeit berichtet, so beispielsweise in diesem Artikel der European Federation of Building and Woodworkers (EFBWW): Another shocking documentary on cross-border social dumping practices of Atlanco Rimec:

»Polish workers, employed via local Polish subsidiaries of Atlanco Rimec, are offered Cypriot working contracts, even if they have never been in Cyprus. This “letterbox trick” is being abused on a large scale in order to post workers to large building sites as “cheap workers”. Although the company has been subject of various investigations and has been condemned several times, it continues to exploit workers as “disposable commodities” … Unfortunately, the Atlanco Rimec case is not unique. All over Europe there are labour agencies exploiting posted workers on a massive scale. Internal estimates of the EFBWW show that approximately one million workers are exploited as posted workers annually.«

Aber nun wird ja alles gut, nachdem offensichtlich geworden ist, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Oder? Dazu Thomas Kirchner:

»Obwohl Chain beim EuGH protestierte, gab es im März 2015 eine Anhörung. Am 21. Mai stellte sich der Generalanwalt, dem EuGH-Richter meist folgen, im Schlussantrag auf Atlancos Seite. Inzwischen hat Zypern das Verfahren beim EuGH zurückgezogen, zyprische Staatsanwälte ermitteln nun. Das offizielle Schreiben sei aber erst am 28. Mai eingetroffen, sagt ein EuGH-Sprecher. Im Übrigen müsse sich das Gericht bei „Vorabentscheidungsverfahren“ auf die Angaben nationaler Gerichte verlassen.«

Man kann nur hoffen, dass hier im letzten Moment die Notbremse gezogen wird. Unabhängig davon gehört der Ball natürlich in ein ganz anderes Spielfeld, das die Gewerkschafter von der EFBWW klar benennen – und auch das Problem:

»Although the problem is well-known at European level, there is not enough interest to resolve the problem. Yes, statements have been made by the President of the European Commission, Mr Jean-Claude Juncker, that social dumping will be combated, but virtually no effective measures are undertaken. Instead of supporting Member States to strengthen their controls and to close the existing, well-known, legal and administrative European loopholes, the European Commission continues to weaken the national control measures and to facilitate these scandalous practices.«