Jobcenter allein zu Haus und nachhaltig überfordert (nicht nur) mit den Folgen eines gescheiterten Rechtsvereinfachungs- und Bürokratieabbauversprechens

Normalerweise ist es ja so, dass man es gerne sieht, wenn die eigene Beurteilung eines Sachverhalts zu einem späteren Zeitpunkt bestätigt wird, so dass man sagen kann, das kam jetzt nicht überraschend. Aber wenn es sich um sozialpolitische Sachverhalte handelt, dann wird diese Neigung gegen Null gefahren, wenn man bedenkt, dass es sich oftmals um Verschlechterungen, Kürzungen oder Streichungen von Leistungen handelt, auf die Menschen angewiesen sind, die sich in Not befinden oder die sich eben nicht selbst helfen können. Oder die einer bürokratischen Maschinerie ausgeliefert sind. Davon können wir ausgehen, wenn wir über die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), umgangssprachlich auch als Hartz IV-System bezeichnet, sprechen.

Und hier hat es vor kurzem wieder einmal gesetzgeberische Aktivitäten gegeben, die auf den ersten Blick Hoffnung begründen, wenn sie denn Wirklichkeit geworden wären. Es geht um das 9. SGB II-Änderungsgesetz, das nunmehr auch sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat verabschiedet worden ist. Der Startpunkt liegt schon einige Jahre zurück: Im November 2012 hatte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II beschlossen. Über den Weg der Rechtsvereinfachung, so der explizite Auftrag, sollte Bürokratie abgebaut und in Folge die Verwaltung, also die Jobcenter, entlastet werden. Hört sich gut an. Und die Arbeitsgruppe hat auch gearbeitet. Von Juni 2013 bis Juni 2014 hat sie eine ganze Reihe an Vorschlägen erarbeitet (124 gingen in die Arbeitsgruppe und 36 sind dann von allen getragen wieder rausgekommen). Wie ein guter Schinken musste das Ergebnis abhängen, wurde angereichert um zwischenzeitlich aufgelaufene Veränderungswünsche der Politik bei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und ist dann nach einigen koalitionsinternen Querelen gute zwei Jahre später in den Gesetzgebungsprozess eingespeist worden.
Aber was ist herausgekommen? Man kennt das Muster: Da startet man mit einer guten, ehrenwerten Absicht (Recht vereinfachen, Bürokratie abbauen, die Verwaltung entlasten) und landet am Ende bei Gegenteil (das Recht wird komplizierter, die Bürokratie schlägt neue und zusätzliche Kapriolen und die Verwaltung kollabiert). Leider keine übertriebene Kurzfassung dessen, was Union und SPD da abgeliefert haben.

Dabei hört sich das alles doch so vielversprechend an: „Ziel dieses Gesetzes ist es …, dass leistungsberechtigte Personen künftig schneller und einfacher Klarheit über das Bestehen und den Umfang von Rechtsansprüchen erhalten und die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern anzuwendenden Verfahrensvorschriften vereinfacht werden“, konnte man dem Gesetzentwurf entnehmen.

Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Deutschen Bundestages, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat (vgl. dazu Experten bezweifeln eine Entlastung der Jobcenter), zu der auch der Verfasser geladen war, wurden wie üblich schriftliche Stellungnahmen abgegeben. In meiner Stellungnahme (vgl. dazu Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 127-133) findet man am Ende der Ausführungen dieses Fazit:

»In der Gesamtschau ist das teilweise allein aufgrund des Detaillierungsgrades extrem komplizierte 9. SGB II-Änderungsgesetz zurückzuweisen. Es macht viele Dinge komplizierter, belastet Leistungsberechtigte zusätzlich und verschärft die heute schon vorhandene Unwucht zuungunsten der Leistungsberechtigten und führt vor allem nicht nur nicht zu einer erkennbaren Entlastung der Jobcenter-Mitarbeiter, sondern wird deren Belastung in der Summe weiter erhöhen.« (S. 132)

Das war wie gesagt Ende Mai und auch zahlreiche andere Sachverständige bzw. Organisationen hatten sich äußerst kritisch zu den damals noch geplanten, mittlerweile verabschiedeten Änderungen im SGB II positioniert. Keiner kann also sagen, man habe es nicht wissen können.

Und im August 2016 berichtet Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Nachhaltig überlastet: »Ein neues Gesetz sollte die Mitarbeiter in Jobcentern eigentlich entlasten. Stattdessen habe es für mehr Arbeit gesorgt, kritisieren sie. Die Arbeitslosen frustriert es.«
Knapp »einen Monat, nachdem viele der neuen Regeln in Kraft getreten sind, erheben Jobcenter-Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen die Ministerin: Ihr Gesetz habe das Gegenteil bewirkt und die Überlastung der Mitarbeiter noch verschärft.«

Auslöser für diesen Artikel ist ein Brief, den die Personalräte der Jobcenter an den zuständigen Ausschuss des Bundestages sowie an die Arbeitsministerien der Bundesländer geschrieben haben. Das Original findet man hier:

Die Jobcenterpersonalräte nach § 44h Abs.4 SGB II: Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand, Hannover, 24.08.2016

Ludwig berichtet in ihrem Artikel von einigen der Kritikpunkte der Personalräte: Jobcenter sollen Hartz-IV-Empfänger künftig auch dann noch beraten, wenn sie bereits einen Job gefunden haben. Sie sollen die Menschen ausführlicher über ihre Rechte aufklären und sich auch um Azubis kümmern, deren Lohn nicht zum Leben reicht. „Wir finden es gut, die Beratung zu verbessern, aber wir brauchen mehr Mitarbeiter, um das zu schaffen“, wird Moritz Duncker aus dem Vorstand der Jobcenterpersonalräte zitiert.

Das muss man vor dem Hintergrund einer seit längerem im bestehenden System gegebenen Unterausstattung der Jobcenter mit Personal sehen. Das Bundesarbeitsministerium höchstselbst hatte vor drei Jahren die Unternehmensberatung Bearing Point beauftragt, den Personalbedarf in denjenigen Abteilungen der Jobcenter zu untersuchen, die das Arbeitslosengeld auszahlen. 200 bis 600 Vollzeitstellen hätten damals in dieser Sparte bundesweit gefehlt, so der damalige Befund (vgl. den Forschungsbericht des BMAS Personalbemessung Leistungsgewährung in den gemeinsamen Einrichtungen SGB II vom Januar 2015). Zwar wurden diese Stellen mit Zeitverzögerung Schritt für Schritt besetzt, aber seit dem gab es keine neue Personalbemessung, während sich die Aufgaben natürlich in der Zwischenzeit verändert haben und teilweise auch ausgeweitet wurden bzw. gerade werden, wenn wie an dieser Stelle mal an die vielen Flüchtlinge denken, von denen immer mehr nach ihrer Anerkennung in das Hartz IV-System kommen und dort versorgt werden müssen. Hinzu kommt jetzt die Umsetzung der Neuregelungen durch das 9. SGB II-Änderungsgesetz.

Ludwig erwähnt in ihrem Artikel, dass die Personalräte der Jobcenter bereits im vergangenen Jahr das Bundesarbeitsministerium gedrängt haben, eine neue Personalbemessung durchzuführen. Und hier findet man einen entlarvenden Passus:

»Nach langen Debatten mit Ländern und Kommunen holten ihre Mitarbeiter demnach im Dezember ein Schreiben der Arbeitsagentur hervor: Man lehne die Studie zum Personalbedarf grundsätzlich ab, stand darin. Schließlich würden so „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“. Damit habe das Ministerium das Projekt für gescheitert erklärt. Auf einen Alternativvorschlag warteten die Mitarbeitervertreter bis heute vergeblich.«

Das wäre fast schon als putzige Argumentation zu bezeichnen, wenn sie nicht so handfeste Konsequenzen für die Betroffenen vor Ort hätte. Der „moderne Dienstleister am Arbeitsmarkt“, wie sich die Bundesagentur für Arbeit selbst gerne beschreibt in Fortsetzung der offiziellen Betitelung der Hartz-Kommission aus dem Jahr 2002, lehnt also eine Studie zum Personalbedarf ab, weil durch eine solche „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“ werden. Ja genau. Das ist eigentlich der Zwecke einer Personalbemessung, wie es – wiederum eigentlich – betriebswirtschaftlicher Standard ist. Die Ablehnung der BA hätte korrekterweise so formuliert werden müssen:

Also wir wissen natürlich, dass eine echte Analyse der Personalsituation ergeben würde, dass die Jobcenter im gegebenen System unterausgestattet sind mit Personal, mithin Personalmehrbedarf herauskommen wird. Da wir diesen aber nicht decken können bzw. wollen, verzichten wir lieber gleich auf die Analyse und um das nicht zugeben zu müssen, verkleistern wir das mit dem „Argument“, dass man über diesen Weg nicht die Rationalisierungs- und Produktivitätssteigerungseffekte (wie man die auch immer erreichen will) abbilden kann. Ja, stimmt, weil das zwei unterschiedliche Dinge sind, wie man im ersten Semester Personalwirtschaft lernen sollte.

Aber wieder zurück zu den aktuellen Ausführungen der Jobcenter-Personalräte mit Blick auf das doch so hoffnungsversprechend gestartete Projekt Rechtsvereinfachung und Bürokratieabbau, das nun in das 9. SGB II-Änderungsgesetz gegossen worden ist.
Kristiana Ludwig zitiert in Anknüpfung an die erwähnte Personalbedarfsanalyse von Bearing Point aus dem Jahr 2013 ein Beispiel:

»Als das Beratungsunternehmen 2013 die Mitarbeiter danach fragte, was ihnen die meiste Zeit raube, nannten fast 80 Prozent von ihnen die sogenannten Rückforderungen. Denn vor allem Geringverdiener, die mit Hartz IV ihren schmalen Lohn aufstocken, müssen regelmäßig Beträge an das Jobcenter zurückzahlen: Wenn ihr Einkommen schwankt und die Behörde mehr zugeschossen hat, als sie müsste, bekommen sie zum Teil Monate später eine Rechnung. Selbst Kleinstbeträge von wenigen Euro fordern die Ämter zurück. Wer nicht zahlt, der bekommt Mahnungen. Denn auch bei Cent-Beträgen kennt die Arbeitsagentur keine Kulanz.
Während der Beratungen für das neue Gesetz hatten viele Experten gefordert, Arbeitslosen und Jobcentern das Leben zu erleichtern, indem auf die Eintreibung von Kleinstbeträgen verzichtet wird. Doch Nahles blieb bei der aufwendigen Praxis.«

Werfen wir einen Blick in das Original, also in die Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand der Jobcenterpersonalräte, die Harald Thomé dankenswerterweise auf seiner Seite eingestellt hat und schauen uns einige ausgewählte Kritikpunkte der Personalräte einmal genauer an:

Da wird beispielsweise unter der sperrigen Überschrift „Erbringung von Eingliederungsleistungen in Arbeit an Anspruchsberechtigte von Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld durch die Agenturen für Arbeit (§ 5 Abs. 4 SGB II)“, was als ein Beispiel für die „Entlastung“ der Jobcenter durch die gesetzliche Neuregelung angeführt wird, da nun die Arbeitsagenturen die Arbeit abnehmen sollen, auf folgende Relativierung hingewiesen:

»Mit Stand März 2016 gab es 91.000 sogenannte Aufstocker, die zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld auch Grundsicherungsleistungen bezogen haben. Bei insgesamt 4.328.093 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die durch die Arbeitsvermittlung der Jobcenter zu betreuen waren, reduziert sich der Erfüllungsaufwand in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter um rund 2,1%. Dies ist also bereits kein riesiger Schritt zur Entlastung in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.«

Und auch diese minimale „Entlastung“ zerbröselt in der Wirklichkeit, denn die Personalräte der Jobcenter weisen darauf hin, »dass im SGB II der Ansatz der ganzheitlichen Beratung der Bedarfsgemeinschaft verankert ist und Bedarfsgemeinschaften häufig aus mehr als nur einer Person bestehen. In diesen Fällen wird eine weitere Schnittstelle zwischen Jobcentern und Agenturen für Arbeit geschaffen und der Ansatz der ganzheitlichen Beratung zumindest erheblich erschwert. Es wird ja nur der eigentliche Aufstocker durch die Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit betreut, der Rest der Bedarfsgemeinschaft verbleibt in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.« Am Ende kann als Ergebnis der geplanten Entlastung herauskommen: Für die Jobcenter ändert sich nichts, aber die Agenturen für Arbeit werden stärker belastet.

Ein weiterer kritischer Punkt aus Sicht der Beschäftigtenvertreter ist die – ebenfalls sicher gut gemeinte und als Verbesserung für die „Kunden“ daherkommende – „Ausdehnung der Beratungspflicht der Jobcenter (§ 14 Abs. 2 SGB II)“. Im neuen § 14 Abs. 2 S. 3 SGB II wird nun festgeschrieben: „Art und Umfang der Beratung richten sich nach dem Beratungsbedarf der leistungsberechtigten Person.“ Dazu wird angemerkt:

»Im Bereich der Massenverwaltung geht die Rechtsprechung bisher davon aus, dass der Sozialleistungsträger lediglich zu einer Beratung verpflichtet ist, die sich aufgrund von konkreten Fallgestaltungen unschwer ergibt (Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Juli 2003, B 4 RA 13/03 R). Es bleibt abzuwarten, welche Anforderungen die Sozialgerichte an die neue Beratungspflicht innerhalb des SGB II knüpfen werden. Dem Wortlaut der Gesetzesbegründung zu folge ist jedoch bereits jetzt klar, dass es sich bei dieser Regelung um keine Entbürokratisierung handelt. Diese Norm wird selbstverständlich zu einem Mehraufwand in den Jobcentern führen.«

Das nächste Beispiel aus dem Brandbrief der Jobcenterpersonalräte bezieht sich auf einen Sachverhalt, der vor kurzem in den Medien kritisch aufgegriffen wurde und zu solchen Schlagzeilen geführt hat: Hartz-IV-Empfänger sollen stärker kontrolliert werden: »Die Jobcenter sollen die Einkünfte von Hartz-IV-Haushalten künftig häufiger kontrollieren. Der Datenabgleich soll nun einmal monatlich erfolgen – statt wie bisher einmal im Quartal«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.  Die Neuregelung besteht aus zwei Komponenten: Zum einen die Verkürzung des zeitlichen Abstands der Überprüfungen auf einen monatlichen Rhythmus und in den Datenabgleich werden auch Personen einbezogen, die in einem Haushalt mit einem Hartz IV-Bezieher leben, aber selbst keine Leistungen beziehen. Dazu die Jobcenterpersonalräte unter der Überschrift „Die Erhöhung der Frequenz des automatisierten Datenabgleichs (§ 52 Abs. 1 S. 3 SGB II)“:

»Es wäre erforderlich, hier eine technische Lösung einzuführen, im Zuge derer die Überschneidungsmitteilungen direkt mit den Angaben aus dem Leistungsfachverfahren Allegro abgeglichen werden und bereits bekannte Meldungen automatisiert aussortiert werden. Dies wäre eine echte Verfahrensvereinfachung. Durch die Erhöhung der Frequenz des händisch durchzuführenden Datenabgleichs fürchten wir jedenfalls erhebliche Mehrbelastungen.«

Jeder, der schon mal in einer Massenverwaltung gearbeitet hat, kennt die furchterregende Bedeutung der Begrifflichkeit „händisch durchzuführender Datenabgleich“.

Und der letzte in diesem Beitrag zu erwähnende Kritikpunkt aus den Reihen der Jobcenter-Beschäftigten wird sich jedem sofort erschließen, der Verwaltungserfahrung hat – für die anderen klingt das nach böhmischen Dörfern:

»Zu guter Letzt ist auch der Mehraufwand zu erwähnen, den die Belegschaften der Jobcenter schlichtweg damit haben, sich in die neuen Regelungen einzuarbeiten und sich diese anzueignen. Auch die IT-Verfahren sind auf die neue Gesetzeslage hin anzupassen und ihre diesbezügliche Handhabung muss von den Belegschaften ebenfalls erlernt werden. Es ist vorgesehen, dass die technische Umsetzung erst im März 2017 mit einer neuen Programmversion beginnen wird und voraussichtlich im November 2017 abgeschlossen sein wird. Bis dahin erfordert das 9. SGB II-Änderungsgesetz insgesamt 9 Übergangsregelungen und 3 Verfahrenshinweise. Diese Umgehungslösungen sind in der Regel sehr umständlich, arbeits- und zeitintensiv und schwer nachvollziehbar.«

Ja, so ist das. Da macht man in Berlin eine umfangreiche, kleinteilige Gesetzesänderung, setzt das in Kraft und denkt: jetzt läuft’s. Aber dass das umgesetzt werden muss in den technischen Systemen, dass die Leute geschult werden müssen, dass sie übergangsweise Krücken-Lösungen praktizieren müssen, weil die neue Rechtslage noch nicht abgebildet sind in den IT-Systemen, daran denken die Praktiker, nicht aber die Theoretiker.

Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht gesprochen von den zusätzlichen Arbeiten, die sich ergeben werden aus der Tatsache, dass das 9. SGB II-Änderungsgesetz zahlreiche Regelungen enthält zuungunsten der Hartz IV-Empfänger, die zu neuen Klageverfahren vor den überlasteten Sozialgerichten führen werden – bereits in meiner schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung im Deutschen Bundestag habe ich dazu geschrieben, »dass im Ergebnis aus einem „Rechtsvereinfachungsgesetz“ mit Blick auf Teile der Betroffenen ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ geworden ist, da über einzelne, teilweise höchst diffizile Regelungen reale Verschlechterungen für die Leistungsberechtigten zu erwarten sind« (Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 128).

Und das alles findet statt im Kontext einer ganz erheblichen Zunahme der zusätzlichen Arbeitsbelastung der Jobcenter, die sich dadurch ergibt, dass nunmehr und spürbar immer mehr Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung in das Grundsicherungssystem wechseln, das in vielen Fällen für viele Jahre für sie zuständig sein wird, selbst wenn der eine oder andere eine Beschäftigung finden wird, denn oftmals bleiben die dann als Aufstocker mit ihrer Bedarfsgemeinschaft den Jobcentern erhalten, weil sie zu wenig verdienen (können), um aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen. Man darf an dieser Stelle zugleich daran erinnern, dass die vielen geflüchteten Menschen, die nun von den Jobcentern betreut werden müssen, nicht nur eine quantitative Zunahme der Hilfeempfänger darstellen, sondern das eine Vielzahl weiterer Aufgaben damit einhergehen, man denke hier nur an die Frage der Sprachfähigkeit. Um nur ein Beispiel zu nennen.

Im Zusammenspiel aller genannten Entwicklungen wird das Jobcenter-System in den kommenden Monaten weiter heiß laufen. Das hat natürlich auch Auswirkungen für diejenigen, die vor dem Schreibtisch der Jobcenter-Mitarbeiter sitzen. Dazu Kristiana Ludwig in ihrem Artikel: »Harald Thomé vom Erwerbslosenverein Tacheles in Wuppertal sagt, die überlasteten Mitarbeiter führten bei den Arbeitslosen zu viel Frustration. Oft bleibe nicht genug Zeit für den einzelnen Fall: Die Zuständigen wechselten häufig, Fehler passierten.« Das werden einige, vor allem oben, als einen eben unvermeidbaren „Kollateralschaden“ bezeichnen.

Für andere hingegen stellt sich das alles als ein sozialpolitisch nicht akzeptables Systemversagen dar. Und keiner kann sagen, man sei „überrascht“ worden von der wirklichen Wirklichkeit oder „überrollt“ von den Ereignissen, die man nicht habe vorhersehen können. Hier ist die Beweislage ziemlich eindeutig. Diese Ausreden gelten nicht.

Frustrierte digitale Tagelöhner? Zufriedene Zuverdiener am heimischen Rechner? Eine Studie über Crowd Worker

So vieles ist heute im Fluß und auf kaum noch was Verlass. Da ist es irgendwie beruhigend, wenn wenigstens die Rezeptionsreflexe in den Medien je nach ihrer politischen Grundausrichtung funktionieren. Beispielsweise wenn die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung (HBS) eine Studie veröffentlicht, in der es um eine empirische Auseinandersetzung mit den „Crowd Workern“ geht, die ihre Dienste im Internet anbieten.

Stefan Sauer hat seinen Artikel über die neue Studie in der „Frankfurter Rundschau“ überschrieben mit Maximal flexibel, minimal sicher. Das hört sich genau so ungleichgewichtig an, wie es gemeint ist – irgendwie problematisch. Über die gleiche Studie berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hingegen unter der ebenfalls eigentlich unmissverständlichen Botschaft Klickarbeiter fühlen sich selten ausgebeutet. Eine solche nicht nur in Nuancen abweichende Wahrnehmung der gleichen Studie zwingt förmlich dazu, einen Blick in das Original zu werfen.

»Sie sind jederzeit verfügbar. Jeder kann sie anheuern. Sie arbeiten mal hier, mal dort, meistens aber am heimischen Computer. Feste Arbeitszeiten kennen sie nicht, schon gar nicht Kündigungsschutz oder Urlaubsanspruch. Die Rede ist von „Crowd Workern“, die ihre Dienste über das Internet anbieten. Wer sind die digitalen Tagelöhner und was denken sie selbst über ihre Arbeit?« So beginnt die Vorstellung der Studie unter der Überschrift Crowd Worker: Gut ausgebildet, teilweise nicht abgesichert, im Hauptjob nur rund 1.500 Euro Durchschnittseinkommen.

Die Studie von Wissenschaftlern um den Informatikprofessor Jan Marco Leimeister von der Universität Kassel versucht auf qualitativer Basis über eine Befragung von 434 Crowd Workern in Deutschland vertiefende Erkenntnisse zu Tage zu fördern, wie die Klickarbeiter arbeiten:

Jan Marco Leimeister, David Durward, Shkodran Zogaj: Crowd Worker in Deutschland. Eine empirische Studie zum Arbeitsumfeld auf externen Crowdsourcing-Plattformen. HBS Study Nr. 323, Düsseldorf, Juli 2016

Einige Befunde aus der Studie: Crowd Worker sind häufig gut ausgebildet. Viele nutzen die Jobs im Internet als Zuverdienst, doch gut ein Fünftel der Befragten verdient damit den Lebensunterhalt – zum Beispiel als Programmierer oder Designer.

Marktplätze im Internet spielen eine zentrale Rolle beim Zusammenführen von Angebot und Nachfrage und an denen hat man sich in der Studie auch abgearbeitet:

»Einen Hinweis darauf, wie viele Klickarbeiter in Deutschland existieren, liefern die Nutzerzahlen einzelner Marktplätze. Eine der größten und ältesten Plattformen ist „Clickworker“, ein Viertel der mehr als 700.000 Mitglieder stammt nach Angaben des Anbieters aus Deutschland. Auch auf internationalen Marktplätzen wie „Freelancer“, „Upwork“ oder „99Designs“ sind mehrere Tausend Mitglieder aus dem deutschsprachigen Raum registriert. Bislang nutzen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen die Dienste von Crowd Workern, aber auch Konzerne wie die Telekom.«

Was hat die Studie herausgefunden über diese „Crowd Worker“? »Der überwiegende Teil der Crowd Worker ist laut der Studie gut ausgebildet – knapp die Hälfte hat einen Hochschulabschluss. Der Anteil der Männer ist geringfügig höher als der der Frauen. Die Mehrheit ist ledig … Gut die Hälfte der Befragten gibt an, dass sie zu unterschiedlichen Tageszeiten arbeiten, häufig abends oder nachts. Nur vier Prozent sind regelmäßig morgens aktiv. Die durchschnittliche Arbeitszeit beträgt knapp 14 Stunden pro Woche. Die Bandbreite der Jobs im Internet reicht von einfachsten Tätigkeiten zum schnellen Nebenverdienst bis hin zu komplexen Projekten. Bei den einfachen Arbeiten kann es zum Beispiel um die Recherche von Adressen oder die Verschlagwortung von Texten und Bildern gehen. Etwas anspruchsvoller wird es beim Testen von Produkten und Apps. Sehr hoch sind die Anforderungen in der Regel in den Bereichen Design und Programmierung.«

Bereits angedeutet wurde eine Zweiteilung der „Crowd Worker“ bei einer in beiden Gruppen ausgeprägten Heterogenität: Zum einen die Mehrheit der „Nebenberufler“ und zum anderen eine deutlich kleinere Gruppe an Klickarbeitern, die versuchen, damit hautberuflich über die Runden zu kommen. Das kann man an den erhobenen Einkommensdaten verdeutlichen:

»Etwa 70 Prozent verdienen weniger als 500 Euro im Monat – als „effektives Einkommen“ nach Abzug der Gebühren der Plattformen, aber vor Steuern. Dabei handelt es sich häufig um Nebenverdienste. Insgesamt liegt das mittlere Einkommen derjenigen, die nebenberuflich als Crowd Worker tätig sind, bei 326 Euro pro Monat. Bei den Crowd Workern im Hauptberuf – dies sind rund 20 Prozent der Befragten – beträgt das mittlere „effektive“ Einkommen rund 1.500 Euro. Etwas mehr als die Hälfte derjenigen, die ihr Haupteinkommen aus der digitalen Erwerbsarbeit erzielen, sorgt der Studie zufolge nicht für das Alter vor.«

Hier setzt dann auch die eher kritische Rezeption an. Kristiana Ludwig liefert in ihrem Artikel Crowdworking: Zum Leben reicht es kaum ein Fallbeispiel:

»Ihr Abschluss als Fleischfachverkäuferin war sehr gut, der Job hinter der Wursttheke schien sicher. Aber manchmal kommt im Leben alles auf einmal, und bei Diana Rönisch kamen ein Kind und die Geschäftspleite zugleich. So werde sie nichts mehr finden, sagte ihr das Arbeitsamt. Da setzte sich Rönisch in ihrer Wohnung im sächsischen Waldheim an den Computer und begann, im Internet ihr Geld zu verdienen. Sie ist eine von vielen, einer crowd, die für das Netz Arbeit erledigt.
Seit sieben Jahren leben Rönisch, 38, und ihre zwei Kinder von Crowdwork. Das Netz benötigt Inhalte, also schreibt Rönisch Gebrauchstexte für Onlineshops, Ratgeber oder Blogs. Mittlerweile liefert sie die ganze Bandbreite: Mode- und Kosmetiktipps, Texte über Möbel, Gärtnern oder Reisen. Zu ihren Auftraggebern gehört der Händler eines Serums, das Wimpern länger wachsen lässt genauso wie ein spanischer Spezialitätenverkäufer. Im Durchschnitt kommt Rönisch im Monat auf 800 Euro, die Künstlersozialkasse bezahlt das Nötigste. „Man kommt über die Runden und liegt dem Staat nicht auf der Tasche“, sagt Rönisch. Das ist ihr wichtig.«

Ein Fall von vielen unterschiedlichen. Ludwig fasst die Befunde aus der Studie zu der Frage, wer ist das eigentlich, so zusammen: »Der typische Crowdworker ist demnach Mitte 30, ledig und hat Abitur. 38 Prozent der befragten 434 deutschen Crowdworker sind Freiberufler oder Selbständige, 19 Prozent Studenten, 20 Prozent haben einen anderen Vollzeitjob – denn für den überwiegenden Teil der Befragten ist die Arbeit in der Crowd ein Nebenverdienst.«

Üblicherweise müssen Texter und Grafiker zunächst mit Kleinstarbeiten ihr Können unter Beweis stellen, um dann besser bezahlte Jobs zu erhalten. Umgekehrt gebe es für sie kaum Möglichkeiten, die Arbeitgeber zu bewerten, kritisieren die Wissenschaftler in ihrer Studie.

Stefan Sauer schreibt in seinem Artikel Maximal flexibel, minimal sicher: »Zwar fühlen sich die Crowdworker laut Befragung mehrheitlich „nicht ausgebeutet“. Bezüglich der Bezahlung und Anleitung erhalten die Auftraggeber überwiegend befriedigende Noten, eher negativ werden Zeitdruck und Arbeitspensum bewertet. Besonders mit den Bedingungen des Crowdworking unzufrieden sind Designer, die im Wettbewerb mit anderen Entwürfe einreichen – und leer ausgehen, wenn sie den Auftrag nicht erhalten. Entsprechend ausgeprägt ist in dieser Berufsgruppe der Wunsch nach Mitbestimmung: Mehr als zwei Drittel fordern eine wirksame Interessensvertretung, von allen Crowdworkern verlangen dies immerhin 51 Prozent.« Er resümiert am Ende: »Fazit: Crowdworking ist nicht per se des Teufels. Aber es bedarf dringend zumindest minimaler Standards für die Entlohnung, soziale Absicherung und Mitsprache der Erwerbstätigen.« Und spiegelt damit sicher die Intention der fördernden Institution, also der Hans-Böckler-Stiftung.

Die FAZ beginnt ihren Bericht Klickarbeiter fühlen sich selten ausgebeutet mit diesem Satz: »Die Klickarbeiter im Internet verdienen zwar vergleichsweise wenig, machen ihre Arbeit aber oft nebenberuflich und fühlen sich auch deshalb mehrheitlich nicht ausgebeutet.« Und um ganz auf sicher zu gehen, heißt es am Ende des Artikel: »Die Mehrheit der Crowd Worker fühlt sich „nicht ausgebeutet“, wie sogar die gewerkschaftsnahe Hans Böckler Stiftung feststellen muss.«

Soweit die naturgemäß sehr verkürzte und interessengeleitete Interpretation der Studienergebnisse. Schaut man in die Studie selbst hinein, erfahren wir natürlich weitaus mehr. Beispielsweise zum „Crowdsourcing-Markt“: Als grundlegende Ausprägungsformen von Crowdsourcing identifizieren die Wissenschaftler Microtask-Plattformen, Marktplatz-Plattformen, Design-Plattformen, Testing- Plattformen und Innovationsplattformen.

»Auf den Microtask-, Testing und Marktplatz-Plattformen herrscht ein zeitbasierter Wettbewerb. Problematisch ist, dass Crowd Worker fortwährend auf aktuelle Ausschreibungen achten müssen, um die Aufgaben, die ihnen zusagen, auch tatsächlich zu erhalten. Dieser Druck steigt insbesondere dadurch, dass deutsche Crowd Worker in einem Wettbewerb mit Crowd Workern aus anderen Ländern stehen.«

»Bei ergebnisorientierten Wettbewerben wird hingegen nur ein einzelner Gewinner entlohnt (in einigen Fällen auch einige wenige Gewinner), was wiederum bedeutet, dass alle restlichen Teilnehmer ohne Vergütung aus den Wettbewerben herausgehen. Zudem ist der Eigentumsübergang nicht einheitlich geregelt, sodass auf einigen Plattformen neben den Gewinnern auch die Verlierer ihre Rechte an den Entwürfen abtreten. Dies ist insofern als kritisch zu betrachten, als erbrachter Arbeitsaufwand nicht finanziell entschädigt wird. Ergebnisorientierte Crowd Work ist vor allem auf Design- und Innovationsplattformen zu beobachten.«

In Deutschland lebende Crowd Worker sind im Schnitt auf zwei Plattformen aktiv. Selbstständige und Freiberufler arbeiten überwiegend auf Marktplatz- und Design-Plattformen, während relativ viele Studierende auf Microtask-Plattformen unterwegs sind. Dies kann darin begründet liegen, dass Studierende (noch) keine speziellen bzw. berufsspezi sch ausgebildeten Fähigkeiten haben und Microtask-Plattformen zum „schnellen“ Nebenverdienst verwenden.

Bei der Diskussion der Ergebnisse ihrer Arbeit resümieren die Wissenschaftler am Ende: »Crowd Work (wird) sehr kontrovers diskutiert und zuweilen auch mit „unfairen“ Arbeitsverhältnissen in Zusammenhang gebracht. Entsprechend wäre zu vermuten, dass die Idee einer Interessenvertretung von Crowd Workern eindeutig befürwortet wird: Dies ist bei einer knappen Mehrheit (51 Prozent) auch der Fall, die Ergebnisse sind aber nicht so eindeutig wie erwartet. Die Tatsache, dass die meisten Crowd Worker aus der Arbeit in der Crowd nur einen Nebenverdienst erzielen, könnte der wesentliche Grund für dieses Ergebnis sein. Lediglich im Design-Cluster wird eine Interessenvertretung mit deutlicher Mehrheit (69 Prozent) befürwortet. Diese und weitere Ergebnisse zum Design-Cluster könnten dem ergebnisorientierten Wettbewerb geschuldet sein.« (Leimeister et al. 2016: 74 f.). Die Ausführungen zeigen – bei aller Begrenzung durch die Nicht-Repräsentativität der Studie -, dass es gewerkschaftliche Kollektivierungsprozesse in diesem überaus heterogenen Feld mehr als schwer haben werden – auch, weil der „Gegner“ weitaus weniger fassbar ist als bei „normalen Unternehmen“.

Und schlussendlich sollte angemerkt werden: Auch wenn man derzeit ganze Leben ausfüllen kann mit dem Forschen, Schreiben und Reden über das, was als „Digitalisierung“ verhandelt wird, so zeigt auch die vorliegende Studie, dass wir es bei den Klickarbeitern  mit einer arbeitsmarktlicht gesehen sehr kleinen Gruppe zu tun haben. Zuweilen bekommt man ja nach dem Konsum der üblichen Presseberichterstattung den Eindruck, dass demnächst die Mehrheit der Arbeitnehmer in der Wolke arbeiten muss/wird. Dem ist bei weitem nicht so. Natürlich ist das Thema „modern“ und möglicherweise fallen viele darauf rein, dass derzeit Angesagte auf alle zu erweitern. Wir bewegen uns hier an den Rändern der Arbeitsgesellschaft, ziemlich weit weg von den Kernbereichen, in denen immer noch und absehbar die große Mehrheit unterwegs ist. Diese Relativierung ist angezeigt, ohne dass mit ihr ein Impuls gesetzt werden soll, sich gar keine Gedanken mehr zu machen, was da passiert und wie man wenigstens eine minimale Ordnungsstruktur hier reinbekommen kann. Wobei das ein ganz langer Marsch werden muss.

Gratwanderung zwischen Freiheit und Zwang. Das Bundesverfassungsgericht erleichtert die medizinische Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) genießt in weiten Teilen der Bevölkerung einen exzellenten Ruf. Das hängt nicht nur, aber auch mit den Themen zusammen, die hier aufschlagen sowie der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts dazu. Immer wieder geht es um fundamentale Freiheitsfragen und den Schutz der individuellen Freiheitsrechte gegenüber staatlichen Anmaßungen und Zumutungen.

Als eine solche fundamentale Freiheitsfrage kann und muss man sicherlich die Möglichkeit des Staates, Menschen auch gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung zu unterziehen, einordnen. Jeder wird erwarten, dass man diese letzte Option so restriktiv wie möglich ausgestaltet, um Missbrauch und übergriffiges Verhalten zu verhindern. Und man wird prima facie erwarten dürfen, dass das BVerfG diesen Schutz im Auge hat und verteidigt. Vor diesem Hintergrund wird der eine oder andere vielleicht mehr als überrascht gewesen sein, als aus Karlsruhe diese Entscheidung bekannt gegeben wurde: Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar, so hat das Gericht eine Pressemitteilung überschrieben. »Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen«, so das Gericht mit Bezug auf den Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15. Also das Recht des Staates, sich gegen den Willen der Menschen eine Behandlung durchzuführen, wurde nicht begrenzt, sondern die Pflicht des Staates, das zu machen, wurde ausgeweitet. 

mehr