Zustimmung zum „Arbeitslosengeld Q“ und noch eine Portion mehr. Der DGB Bundesvorstand fordert „umfassenderes Konzept“

Der Kanzlerkandidat und neue Vorsitzende der SPD hat in den vergangenen Wochen neben emotionalen Wellen einige Steinchen in den großen Teich der Arbeitsmarktpolitik geworfen, die sogleich als „fundamentale Infragestellung der Agenda 2010“ eingeordnet wurden, was sie aber nicht sind. Dabei ging und geht es neben der geforderten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung um eine in Aussicht gestellte Verlängerung der maximalen Bezugsdauersdauer von Arbeitslosengeld I in der Arbeitslosenversicherung für ältere Arbeitslose (vgl. dazu Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017) und die dann nachgeschobene Konkretisierung in Form einer Verbindung der Verlängerung der Bezugsdauer mit einer Weiterbildungsmaßnahme und der Einführung eines „Rechtsanspruchs auf Weiterbildung“ für die Arbeitslosen (vg. dazu den Beitrag Schon wieder alter Wein? „Arbeitslosengeld Q“ für einen längeren Arbeitslosengeld-Bezug. Ein Rechtsanspruch – auf was? – und eine Behörde für Qualifizierung werden in Aussicht gestellt vom 5. März 2017). Nun hat sich der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zu Wort gemeldet und Forderungen nach einem „umfassenderen Konzept“ veröffentlicht.

Der DGB hält die Idee eines „Arbeitslosengeld Q“ für einen „wichtigen Schritt“. Aber für die Herausforderungen, „vor denen wir stehen, bedarf es eines umfassenderen Konzeptes“, heißt es in einem Beschluss des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstands.

DGB Bundesvorstand: Neue Perspektiven für den Arbeitsmarkt: Prävention, Förderung, Unterstützung, Berlin, 13.03.2017

Der DGB schlägt ein mehrstufiges System vor. Es beinhaltet zum einen mehr und bessere Qualifizierung von Arbeitslosen. Zum anderen sollen auch die Bezugsseiten des Arbeitslosengeldes ausgeweitet werden, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt dennoch nicht erfolgreich ist.

Hinsichtlich der maximal möglichen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I plädiert der DGB dafür, den Anspruch auf Arbeitslosengeld gezielt zu erhöhen. Die Laufzeit des Arbeitslosengeldes verlängert sich parallel mit der Beschäftigungsdauer. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an Weiterbildung nicht mehr auf das Arbeitslosengeld angerechnet wird. Wie das konkret aussehen könnte, verdeutlicht die Tabelle.

Ältere, denen während der Arbeitslosigkeit keine wirkungsvollen Maßnahmen zur Unterstützung der Integration angeboten werden können, erhalten eine weitere Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um sechs Monate. Damit sind gleichzeitig Anreize verbunden, sich aktiv um die Gruppe der Älteren zu kümmern und aktiv mit ihnen zu arbeiten. Und noch eine Komponente findet man in dem DGB-Konzept:

»Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes wird gleichzeitig verbunden mit der Wiedereinführung der Erstattungspflicht des Arbeitslosengeldes, wenn Arbeitgeber ältere Beschäftigte ohne zwingenden Grund entlassen. Bis zum Jahre 2003 sah die gesetzliche Regelung vor, dass der Arbeitgeber bei der Entlassung älterer Arbeitnehmer ab Vollendung des 56. Lebensjahres unter bestimmten Voraussetzungen das Arbeitslosengeld nach dem 58. Lebensjahr erstatten musste. Die Erstattungspflicht bestand vor allem dann, wenn der Arbeitgeber für die Arbeitslosigkeit des älteren Arbeitnehmers verantwortlich war. Dies schützt einerseits die Beschäftigten und beteiligt den Arbeitgeber an den Folgekosten der sozialen Sicherung. Die Erstattungspflicht ist das Gegenstück zu den Eingliederungszuschüssen an Arbeitgeber. Mit den Einnahmen können gezielt zusätzliche Maßnahmen für ältere Beschäftigte und Arbeitslose finanziert werden.« (DGB 2017: 4f.)

Aber was ist mit der in vielen Medien gerade von Arbeitgeber-Seite vorgetragenen Kritik, eine Verlängerung der Bezugsdauer von ALG I wäre ein neues Frühverrentungsprogramm? Dazu der DGB: »Durch den Vorschlag wird keine Rückkehr zur vormaligen Politik einer Frühverrentung begünstigt. So wären für 55- oder 59-Jährige die maximalen Bezugszeiten von 2 bzw. 2 1⁄2 Jahren viel zu kurz, um anschließend in Rente – auch mit Abschlägen – gehen zu können.« (DGB 2017: 5)

Der DGB will auch die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung wieder stärken. Hierzu trägt er zwei Forderungen vor:

1.) Ca. 20 Prozent der neu eintretenden Arbeitslosen rutschen direkt in Hartz IV, weil sie keinen oder einen zu geringen Anspruch aus der Arbeitslosenversicherung erlangen konnten. Die Rahmenfrist muss deswegen wieder von zwei auf drei Jahre erweitert werden. Hierdurch würden auch Leiharbeiter und Personen, die oft nur befristet beschäftigt werden, in die Absicherung der Arbeitslosenversicherung kommen.

2.) Bezieher von Arbeitslosengeld I erhalten bei nicht bedarfsdeckender Leistung von der Bundesagentur ein Mindestarbeitslosengeld in Höhe des individuellen Hartz-IV-Anspruchs. Nach der letzten Gesetzesänderung erfolgt die Arbeitsmarktintegration von sogenannten Aufstockern bereits durch die Agenturen für Arbeit. Durch das Mindestarbeitslosengeld werden Doppelstrukturen vermieden und die Arbeitslosenversicherung in ihrer Funktion gegenüber den Versicherten gestärkt. Die Kosten für das zusätzliche Mindestarbeitslosengeld werden der Arbeitslosenversicherung durch den Bund erstattet.

Die Vorschläge des DGB gehen aber noch weiter, neben der Ebene der passiven Leistungen werden auch die Maßnahmen angesprochen:

So soll durch präventive Maßnahmen unter anderem dafür gesorgt werden, dass Beschäftigte über ihr gesamtes Arbeitsleben hinweg qualifiziert bleiben. „Beschäftigten sollte über ihr ganzes Erwerbsleben hinweg eine Qualifizierungsberatung zur Verfügung stehen, in der sie neutral und individuell beraten werden“, fordert der DGB. Die Bundesagentur für Arbeit führe dazu derzeit Modellversuche durch. Diese „Qualifizierungsberatung muss zügig ausgebaut werden“.

Man muss an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, dass die „Qualifizierungsberatung“ der BA zum einen mit großen Fragezeichen zu versehen wäre, was die Frage angeht, ob die das überhaupt können. Zum anderen probiert die BA das selbst erst einmal aus in einem Modellversuch, so dass man zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht davon ausgehen kann, dass die BA schon soweit wäre, das umzusetzen, obgleich Schulz und Nahles schon eine Umbenennung der BA in „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ in den Forderungsraum gestellt haben. Hier würde der wenn überhaupt zehnte vor dem ersten Schritt gemacht. Zu dem angesprochenen Pilotprojekt der BA vgl. auch diesen Forschungsbericht des IAB: Philipp Fuchs et al. (2017): Pilotierung der Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit. Implementationsstudie und quantitative Begleitforschung. (IAB-Forschungsbericht, 01/2017), Nürnberg 2017.

Der DGB stellt sich das alles so vor: Beschäftigte und Arbeitslose sollen einen Rechtsanspruch auf Beratung zur Weiterbildung erhalten. Wenn diese Beratung bei Arbeitslosen zu dem Ergebnis kommt, dass eine Weiterbildung für die stabile berufliche Integration notwendig ist, muss sie gewährt werden. Arbeitslosen wird die Teilnahme an Weiterbildung nicht mehr auf den Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld angerechnet. Bisher wird für zwei Tage Weiterbildung ein Tag Arbeitslosengeldbezug angerechnet. Und dann kommt eine an sich wichtige, allerdings sehr zahm ausgestaltete Forderung:

»Um auch längere Weiterbildungsmaßnahmen attraktiv zu machen, erhalten die Teilnehmer einen Zuschlag auf das Arbeitslosengeld bei Weiterbildung in Höhe von zehn Prozent des Arbeitslosengeldes, mindestens aber 100 Euro pro Monat. Der Sockelbetrag begünstigt gezielt Personen mit geringen Unterstützungsleistungen. Der Zuschlag soll es den Teilnehmern ermöglichen, auch längerfristige Weiterbildungen anzunehmen und dem Abbruch von Maßnahmen entgegenwirken. Das hilft auch jungen Menschen, die mit 25, 30 oder 35 Jahren bereits mitten im Leben stehen, eine abschlussbezogene Weiterbildung durchzuhalten. Die Regelung muss analog auf das Arbeitslosengeld II übertragen werden.« (DGB 2017: 3)

Man darf und muss den DGB an dieser Stelle erinnern – warum nur 10 Prozent, mindestens 100 Euro? Wie wäre es denn mit einer Reaktivierung eines Instruments, dass es bis Mitte der 1970er Jahre im AFG gegeben hat, wo bei abschlussbezogenen Maßnahmen bis zu 90 Prozent des letzten Nettoentgelts der Arbeitnehmer gezahlt wurden? Das wäre ein Anreiz.

Natürlich kommt die Frage nach den Kosten. Hierzu schreibt der DGB:

»Die Vorschläge des DGB können aus den laufenden Einnahmen der Arbeitslosenversicherung finanziert werden.
Die Ausweitung der Rahmenfrist kostet etwa 600 Mio. Die Kosten der Weiterbildung 600 bis 700 Mio. und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere ca. 1 Mrd. Euro. Dem gegenüber stehen die Einnahmen aus den Erstattungen der Arbeitgeber bei ungerechtfertigter Entlassung Älterer.
Zusammen rechnen wir mit einer Belastung von gut 2 Mrd. Euro.«

Schon wieder alter Wein? „Arbeitslosengeld Q“ für einen längeren Arbeitslosengeld-Bezug. Ein Rechtsanspruch – auf was? – und eine Behörde für Qualifizierung werden in Aussicht gestellt

In den zurückliegenden zwei Wochen hat der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, einen Teil der öffentlichen Debatte beherrschen können mit der erst einmal nur vagen Andeutung, dass es eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I geben soll, wenn er was zu sagen hätte (vgl. dazu u.a. den Beitrag Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017). Sofort wurde eine (angebliche) Infragestellung der „Agenda 2010“ hin und her diskutiert, dabei wäre eine (nochmalige) Verlängerung der maximalen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I, die ja schon vor einigen Jahren für die über 50-jährigen Arbeitslosen (wieder) ausgeweitet worden ist, lediglich eine Korrektur an dem, was mit der „Agenda 2010“ über uns gekommen ist.

Die Systemfrage würde erst dann gestellt werden, wenn es um das Hartz IV-System gehen würde, in dem sich mittlerweile gut 70 Prozent der Arbeitslosen befinden, denn nur noch eine kleine Minderheit ist für einige Zeit überhaupt in der Arbeitslosenversicherung abgesichert. Nun aber hat Martin Schulz bzw. die von ihm mit der Konzepterstellung beauftragte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) einige weitere Umrisse erkennen lassen, was konkret verändert werden soll. 

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Wenn vulgärökonomistisch deformiertes Denken von Wirtschaftsfunktionären korinthenkackerhaft in den Bundestag getragen wird: Wirtschaftsverbände warnen vor den (angeblichen) Folgen einer (kleinen) Weiterbildungsprämie

Es gibt Momente im sozialpolitischen Leben, da möchte man nur noch den Kopf immer wieder auf den Tisch schlagen, wovor einen lediglich das Wissen über die Folgewirkungen bewahrt. Aber der Reihe nach: Derzeit sind wieder gesetzgeberische Aktivitäten in den beiden Rechtskreisen SGB III und II zu verzeichnen. Im Mittelpunkt der (kritischen) Diskussion steht dabei das mehr als euphemistisch „Rechtsvereinfachungsgesetz“ genannte Bestreben der Bundesregierung, mit einem Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Gesetzentwurf vom 06.04.2016, BT- Drucksache18/8041) zu einer Entbürokratisierung der Arbeit in den Jobcentern beizutragen. Ein wohlfeiles Anliegen, dass aber nicht mal in molekularen Maßstäben mit dem vorliegenden Entwurf auch erreicht werden kann. Das ist hier bereits auseinandergenommen worden, vgl. dazu beispielsweise Entbürokratisierungdes SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungenund einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016. Ende Mai wird es dazu eine Anhörung geben und die vielstimmige Kritik an dieser Mogelpackung reicht nicht nur von den üblichen Verdächtigen, sondern selbst die Personalräte der Jobcenter haben ihren Ärger öffentlich gemacht (vgl. dazu den Blog-Beitrag Ein zornigerBrief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin sowie Hinweiseaus den Jobcentern zum Umgang mit denen, die zu ihnen kommen werden vom 15. Februar 2016).

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Die Chancen einer wirklichen Reform des Vergaberechts nutzen, um das Qualitäts- und Lohndumping bei Arbeitsmarktdienstleistungen aufzuhalten und umzukehren

Ein sperriges, aber wichtiges Thema: Die anstehende Reform des Vergaberechts und die Chance, bei den Ausschreibungen und Vergaben endlich die Qualität stärker als nur oder überwiegend den Preis zu berücksichtigen.

Gerade im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen wäre es eine große Verbesserung, wenn sich die Politik durchringen würde, die Möglichkeiten eines eigenen Vergabesystems für soziale Dienstleistungen, die von der EU eröffnet wurde, auch offensiv zu nutzen, damit das in den vergangenen Jahren beobachtbare Qualitäts- und Lohndumping aufgehalten und umgekehrt werden kann. Hierzu haben sich die Gewerkschaften GEW und ver.di sowie auch der DGB zu Wort gemeldet und die Expertise „Vorschläge zu Qualitätskriterien als Kernbestandteil der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen“ veröffentlicht.

Dazu die Pressemitteilung der GEW: „Entschiedene Wende bei der Vergabe von Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen notwendig“. Bildungsgewerkschaft veröffentlicht Expertise zu Qualitätskriterien für Arbeitsmarktdienstleistungen – Anhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie:

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verlangt eine „entschiedene Wende“ der Vergabepraxis bei Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen – im Interesse der Beschäftigten, der Lernenden und der Träger. „Gute Aus- und Weiterbildung braucht gute rechtliche Rahmenbedingungen. Bei der Vergabe sozialer Dienstleistungen müssen Kriterien der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität die entscheidende Rolle spielen. Sie sichern eine hohe Qualität der Maßnahmen“, sagte Ansgar Klinger, für Berufliche Bildung und Weiterbildung verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied am Montag in Frankfurt a.M. Das sei das Ergebnis der Expertise „Vorschläge zu Qualitätskriterien als Kernbestandteil der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen“, die DGB, ver.di und GEW heute mit Blick auf die Anhörung des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie veröffentlicht haben.

„Wir brauchen ein kohärentes Fördersystem, Kontinuität in der Zusammenarbeit und pädagogische Qualität. Dafür müssen langfristige Partnerschaften mit qualifizierten und verlässlichen Anbietern von Bildungsmaßnahmen abgeschlossen und die Finanzierung der Angebote sichergestellt werden. Dabei sind die nach Tarifvertragsgesetz geltenden Vereinbarungen einzuhalten“, betonte das GEW-Vorstandsmitglied. „Der Preis einer Maßnahme darf nicht länger entscheidend für den Zuschlag sein.“ Klinger machte deutlich, dass der Bundestag und die Ministerien für Wirtschaft und Energie sowie Arbeit und Soziales die Gesetze für die Vergabe von Bildungsmaßnahmen grundlegend korrigieren müssten. Grund sei die reformierte EU-Vergaberichtlinie, die für öffentliche Aufträge gilt. Dabei solle die Gewerkschaftsstudie berücksichtigt werden.

Kaum ein Bereich des Bildungswesens sei in der Vergangenheit so stark dereguliert worden wie die öffentlich finanzierte Weiterbildung, sagte Klinger. Die oft unzumutbaren Bedingungen, unter denen Lehrkräfte und Träger in Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung arbeiten müssen, die die Bundesagentur für Arbeit vergeben hat, seien Folge politisch gewollter Weichenstellungen von 2004. Damals sei festgelegt worden, dass alle Ausschreibungen von Maßnahmen bundesweit einheitlich sein sollten. Das sei bei sozialen Dienstleistungen jedoch der falsche Weg. Der Grund: Auftraggeber erteilten dem günstigsten Anbieter den Zuschlag. „Prekäre Arbeitsbedingungen, ein Verdienst hochqualifizierter pädagogischer Arbeit auf Hartz-IV-Niveau, ruinöser Wettbewerb und Überlebenskampf der Träger sowie ein schleichender Qualitätsverfall sind die Konsequenz dieser politischen Fehlentscheidung“, unterstrich der GEW-Experte.

Info: Die GEW hatte die Expertise „Vorschläge zu Qualitätskriterien als Kernbestandteil der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen“ bei dem renommierten Arbeitsmarkt- und Bildungsforscher Prof. Stefan Sell in Auftrag gegeben. Sie ist heute als Broschüre gemeinsam von den Gewerkschaften DGB, GEW und ver.di veröffentlicht worden. Zu dem Gutachten haben die Gewerkschaften ihre Schlussfolgerungen formuliert.«

Das Gutachten im Original als PDF-Datei:

Sell, S. (2015): Qualitätskriterien als Kernbestandteil der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen auf der Grundlage der reformierten EU-Vergaberichtlinie 2014/24/EU für öffentliche Aufträge (Vergaberichtlinie) und ihrer anstehenden Umsetzung in nationales Recht in Deutschland. Frankfurt: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Aber wie sieht der aktuelle Stand des Gesetzgebungsverfahrens aus und die Chancen auf substanzielle Verbesserungen? Tendenziell nicht gut, um das vorsichtig auszudrücken – und auch ein Grund, warum die Gewerkschaften jetzt deutlich Position beziehen.
»Eine neue EU-Richtlinie bietet der Bundesregierung die Möglichkeit, das Vergabeverfahren bei sozialen Dienstleistungen wie arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen maßgeblich zu verbessern. Doch statt diese Chance zu nutzen, soll im Wesentlichen alles beim Alten bleiben. Auf eine kleine Anfrage der Linken zu den Hintergründen antwortet das zuständige Wirtschaftsministerium ausweichend«, berichtet O-Ton Arbeitsmarkt in dem Artikel Soziale Dienstleistungen: Vergibt Bundesregierung Chance auf Verbesserung des Vergaberechts?

»Keine Transparenz der Preise, keine durchgängige Berücksichtigung von Qualitätskriterien, keine Relevanz von Integrationsfortschritten bei der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen. Das sind die wichtigsten Antworten, die die Fraktion der Linken im Bundestag auf ihre kleine Anfrage zur Vergaberechtsreform anlässlich einer neuen EU-Richtlinie erhalten hat.«
Hinsichtlich der Antworten aus dem Bundeswirtschaftsministerium auf die Anfrage werden in dem Artikel drei zentrale Punkte herausgearbeitet:


1. Qualitätskriterien ja, aber nur, wie und wenn die BA will»Der Einkäufer, in den allermeisten Fällen die Bundesagentur für Arbeit, kann in jedem einzelnen Fall Qualitätskriterien entwickeln, berücksichtigen und stärker gewichten, muss aber nicht. Ausweichend verweist das Wirtschaftsministerium in diesem Zusammenhang auf die noch zu erlassende Vergabeverordnung, in der Qualitätskriterien weiter konkretisiert werden sollen. Zu erwarten ist daher, dass die Durchführungsqualität, zum Beispiel die Qualität des Personals, das Betreuungskonzept, die Bezahlung der Beschäftigten oder auch die Zufriedenheit der Teilnehmer keine Berücksichtigung finden wird.«


2. Weiterhin Fixierung auf Vermittlung in Arbeit, Integrationsfortschritte bleiben unberücksichtigt»Fortschritte auf dem Weg hin zu einer Integration in Arbeit sind laut Wirtschaftsministerium nicht messbar und können daher nicht als objektive Vergabekriterien herangezogen werden. So scheinen die Integration in den Arbeitsmarkt und eine geringe Abbrecherquote alleinige Kriterien für den Erfolg einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zu bleiben, auch wenn diese sich an besonders arbeitsmarktferne Menschen richtet, bei denen der erste Arbeitsmarkt nur ein Fernziel sein kann.

„Leider versteht die BA aber unter Integration auch aufstockende Arbeitsverhältnisse, kürzeste Arbeitsverhältnisse, Minijobs mit Verbleib im Leistungsbezug und ähnliche prekäre Arbeitsverhältnisse. Die Notwendigkeit mit niedrigschwelligen Maßnahmen eine Vielzahl von Langzeitarbeitslosen strukturiert an den Arbeitsmarkt heranzuführen, Teilerfolge zu verschaffen und Alltagstauglichkeit herzustellen gehört nicht zu den messbaren Zielen der BA.“, kritisiert die Linke die Haltung der Bundesregierung.«


3. Keine Transparenz der Angebotspreise durch den Einkäufer Bundesagentur für Arbeit
Die Bundesagentur veröffentlicht weder die von ihr im Vorfeld der Ausschreibung geschätzten Preise für die entsprechende Dienstleistung, noch einen potentiellen Preiskorridor. Das wäre jedoch sinnvoll, um Angebotsdumping zu vermeiden und Billiganbieter auszuschließen, die mit extrem niedrig kalkulierten Angeboten qualitativ hochwertige Bieter ausstechen. Die Bundesregierung sieht jedoch keine Notwendigkeit das zu ändern, heißt es von Seiten des Wirtschaftsministeriums, denn die Träger sollen ihre Preisgestaltung nicht taktisch an diesen Werten ausrichten.
Ich werde mit dieser ersten Bewertung in dem O-Ton Arbeitsmarkt-Artikel zitiert: „In der zusammenfassenden Betrachtung der Antwort der Bundesregierung muss man zu dem Ergebnis kommen, dass möglicherweise eine historische Chance, die durch die EU-Richtlinie eröffnet wird, nämlich die Besonderheiten der sozialen und damit der Arbeitsmarktdienstleistungen in einem eigenen Vergabesystem besser als in der Vergangenheit abzubilden, nicht genutzt wird. Es scheint, dass man die Freiheitsgrade, die Brüssel hier den Nationalstaaten eröffnet hat, verstreichen lässt und letztendlich auf dem Stand des bisherigen Vergabesystems mit geringfügigen Veränderungen stehen bleibt.“

Es bleibt zu hoffen, dass die Realität meine Einschätzung widerlegt.

Foto: © Arnfried Gläser