Ein Sub-Mindestlohn für Zeitungszusteller reicht einigen offensichtlich nicht. „Kreative“ Umgehungsversuche auf der Unternehmensseite

Bereits im Juli 2014 wurde auf dieser Seite in einem Beitrag über den „verdünnten Mindestlohn“ für die Zeitungszusteller berichtet. Die Verleger hatten eine Sonderregelung angesichts des damals „drohenden“, mittlerweile Realität gewordenen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes von 8,50 Euro pro Stunde durchsetzen können. 2015 gilt für die Zeitungszusteller ein abgesenkter Mindestlohn von 6,38 Euro (also 75% des „eigentlichen“ Mindestlohns) und 2016 sollen es dann 7,22 Euro (85%) werden. Erst ab 2017 muss dann auch für die Zeitungszusteller der heutige Mindestlohn von 8,50 Euro gezahlt werden. Das Politikmagazin „Report Mainz“ hatte die Tatsache, dass es den Verlegern gelungen ist, bei der Politik – teilweise mit subkutanen bis offenen Drohungen garniert – eine Sonderregelung durchzusetzen, in dem Beitrag Ausnahmen beim Mindestlohn: Der Sieg der Lobby völlig zu Recht kritisch aufgegriffen. Aber die Übergangsregelung mit dem abgesenkten Mindestlohn hat das Gesetzgebungsverfahren passiert und ist nun in der Welt. Wer aber aber auf den Gedanke kommen sollte, dass die begünstigten Zeitungsunternehmen nunmehr mal Ruhe geben, der muss jetzt zur Kenntnis nehmen, welche „phantasievollen Tricks“ hinsichtlich des Unterlaufens des Sub-Mindestlohns bei manchen Unternehmen freigesetzt werden.

Von einigen dieser Umgehungsversuche berichtet Jörg Reichel, Gewerkschaftssekretär des ver.di-Fachbereichs Medien, Druck und Papier in Berlin-Brandenburg in dem Interview »Es gibt überhaupt keinen Anlass, neue Arbeitsverträge auszugeben«:

Um den Lohn zu drücken, »bieten Unternehmen den Zeitungsausträgern neue, schlechtere, Arbeitsverträge an, in denen beispielsweise Nachtzuschläge von 25 auf zehn Prozent gekürzt oder sogar komplett gestrichen werden.«

Ein weiteres Beispiel; Man muss wissen, dass für so genannte „Hybridzusteller“, die eine gemischte Zustellung von Zeitungen, Briefen sowie Anzeigenblättern erledigen – teils ohne redaktionellen Inhalt –, ab 1. Januar 8,50 Euro Mindestlohn fällig werden, der abgesenkte Mindestlohn von 6,38 Euro gilt nur für die Zusteller, die ausschließlich Zeitungen austragen. Auch hier setzt eine versuchte Trickserei der Arbeitgeber an: »Um den neuen Mindestlohn zu umgehen, rechnen sie beim „gemischten Austragen“ das Zustellen der Tageszeitungen – als Zeitanteil – einfach heraus. Sie betreiben also eine sekundengenaue Abrechnung der Tätigkeit und vergüten dann unterhalb des Mindestlohns.«

Viele Arbeitgeber führen derzeit »neue sekundengenaue Abrechnungsmodelle ein: Dabei rechnen sie mit Zustellzeiten in Sekunden mit bis zu drei Stellen hinter dem Komma, die komplett an der Realität vorbeigehen – und das, um auf keinen Fall 8,50 Euro zu zahlen. Sie sagen: Du erhältst zwar den Mindestlohn für deine Tätigkeit, musst aber in einem Zeitraum von wenigen Sekunden die Zeitungen in den Briefkasten geworfen haben. Ergo: Wer zuvor drei Stunden gebraucht hat, erhält plötzlich nur noch eine bezahlt. Arbeitgeber machen unrealistische Vorgaben, in welcher Zeit das erledigt sein muss.« Das ARD Morgenmagazin hatte in diesem Zusammenhang auf ein drastisches Beispiel hingewiesen: Das »Pressezustellservice-Unternehmen PZB soll einem Austräger in Neuenhagen bei Berlin einen Vertrag angeboten haben, in dem die Zustellzeit für eine Tageszeitung in einen Briefkasten auf 6,5 Sekunden verknappt wurde, tatsächlich brauche er dafür mehr als 23 Sekunden. Der Betroffene beklagte, nun statt 20 Euro pro Tag und Tour nur noch 4,07 Euro zu erhalten.« Aber: »Zusteller können rechtlich gegen Sekundenrechnungen vorgehen, die nur dazu da sind, den Mindestlohn zu umgehen«, so wird der Gewerkschaftssekretär zitiert.

Eines scheint sicher: Die Gerichte werden in den kommenden Monaten mit einer Vielzahl an Verfahren und einer beeindruckenden Heterogenität der Umgehungsversuche konfrontiert werden.

Paketdienste segeln auf der Sonnenseite der „Amazon-Gesellschaft“. Aber das hat seinen Preis, dessen Bezahlung wieder mal ungleich verteilt ist

Jetzt ist wieder Hochsaison für die Paketdienste. Unmengen werden in diesen und den kommenden Tagen verschickt und müssen zugestellt werden. Aber auch unabhängig vom Weihnachtsgeschäft boomt die Branche. Denn unsere Gesellschaft mutiert immer mehr zu einer „Amazon-Gesellschaft“. Online bestellen und real an- und beliefern lassen setzt sich immer mehr durch. Laut einer Studie des Bundesverbandes Internationaler Express- und Kurierdienste (BIEK) wurden im Jahr 2013 knapp 2,7 Milliarden Sendungen verschickt. Das sind 57 % mehr als im Jahr 2000. Immer mehr gelbe, braune oder weiße Laster quälen sich im Schneckentempo durch die überfüllten Straßen – und dass sie in vielen Städten schon heute ein veritables Verkehrschaos anrichten, wie Michael Haberland in seinem Artikel Sie parken mitten auf der Straße: Wie Paket-Dienste Städte verstopfen beklagt, ist die eine durchaus problematische Auswirkung dieser Erfolgsstory. Besonders problematisch ist aber die Tatsache, dass die Expansion der Branche in vielen Fällen auf Kosten der dort arbeitenden Menschen vorangetrieben wird. Die teilweise skandalösen Arbeitsbedingungen sind schon oft und von vielen beleuchtet worden (vgl. beispielsweise den Blog-Beitrag Da schreit jemand – nicht – vor Glück. Die (noch) Zwei-Klassen-Gesellschaft bei den Paket- und Kurierdiensten und Wildwest bei den Arbeitsbedingungen oder auch Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst).

Die Abbildung verdeutlicht einen trockenen, für die Betroffenen aber teilweise im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaften Aspekt: In den vergangenen Jahren hat es bei den Paketdiensten eine enorme Produktivitätssteigerung gegeben, gemessen an der Zahl der zugestellten Sendungen je Beschäftigten. Fast 22% mehr innerhalb der vergangenen zehn Jahre. Nun ist sicher jedem klar, dass man in diesem Bereich kaum durch technische Innovationen einen solchen Produktivitätssprung hinbekommen hat, sondern hier spiegelt sich u.a. eine massive Arbeitsverdichtung und eine Ausweitung der Zustellbezirke. Frank-Thomas Wenzel hat das, was hier angesprochen wird, schon in der Überschrift zu seinem Artikel auf den Punkt gebracht: Lange Tage, wenig Geld: »Unter den Paketdiensten herrscht ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Leidtragende sind die Zusteller. Sie müssen oft unter massivem Zeitdruck und für einen Hungerlohn die Sendungen zum Kunden bringen.«

Da kann es dann nicht überraschen, wenn man beispielsweise in der Deutschen Verkehrs-Zeitung lesen muss: Paketdienste suchen Fahrer. „Gegenüber Branchen, die schrumpfen, ist das Schöne bei uns, dass der Paketmarkt wächst“, so wird Rico Back, Chief Executive Officer (CEO) der GLS-Gruppe, in dem Artikel zitiert. Doch die steigenden Mengen bescheren den Dienstleistern ein ganz praktisches Problem: Ihnen könnten eines Tages die Zustellfahrer ausgehen.

»Derzeit sind schätzungsweise rund 110.000 Fahrer für die Kurier-, Express- und Paketdienste in Deutschland unterwegs sind. Allein die Deutsche Post setzt aktuell rund 60.000 Mitarbeiter in der Paket- und Verbundzustellung ein. Knapp 15.000 davon sind Paketzusteller. Die vor allem auf dem Land tätigen sogenannten Verbundzusteller liefern Briefe und Pakete zusammen aus. Sie sind in der Regel mit dem Auto unterwegs.
Zu ihren jetzigen 50.000 Fahrern brauchen die Wettbewerber des Bonner Logistikkonzerns angesichts der erwarteten Zuwächse an Paketen pro Jahr sechs bis sieben Prozent mehr Fahrer, schätzt Back. Allein für GLS sind derzeit 5000 Fahrer im Einsatz. „Bis Ende dieses Jahrzehnts werden 20.000 weitere Fahrer benötigt“, ergänzt Boris Winkelmann, CEO beim DPD.«

Und was bedeutet das für die Branche? »Um diesen Bedarf zu decken, schaut sich der Paketdienst auch jenseits der Grenzen um. „Wir sind im Gespräch mit unserem spanischen Partner Seur, um Fahrer bei uns zu beschäftigen“, erläutert Winkelmann«, der CEO beim DPD. Das nun aber kann sich dann mit einer anderen Klage seitens der Unternehmen überschneiden: »Hermes-Geschäftsführer Thomas Horst weist auf einen anderen Aspekt hin: „Es wird immer schwieriger, Zusteller zu finden, die die qualitativen Anforderungen der Kunden auch tatsächlich erfüllen können. In Berlin ist es beispielsweise schwierig, überhaupt noch deutschsprachige Zusteller zu gewinnen.“« Ob das nun durch Fahrer aus Spanien besser werden würde?

Man könnte ja an dieser Stelle durchaus auch auf die Idee kommen, die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern und dadurch die Attraktivität zu steigern. Davon findet man nichts. Lediglich einen Hinweis, dass das durchaus ein wichtiger Punkt sein kann, um genügend geeignetes Personal finden zu können: »Die Deutsche Post geht davon aus, durch die steigenden Paketvolumina bis 2020 weitere 12.000 Arbeitsplätze in der Paket- und Verbundzustellung zu schaffen. Zugleich verweist eine Pressesprecherin des Logistikkonzerns auf die tarifgebundenen und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die das Unternehmen biete. Deshalb, so die Schlussfolgerung, „sehen wir derzeit keinen echten Mangel an Kräften in der Paketzustellung“.« Man achte auf die Formulierungskunst der Pressesprecherin: „derzeit keinen echten Mangel“.

Ach, die Deutsche Post. Ist sie im Vergleich mit den rabenschwarzen Konkurrenten vielleicht so etwas wie eine ziemlich graue Lichtgestalt, so transformiert sie sich derzeit eher in Richtung auf die Dunkelheit, um in der bildlichen Sprache zu bleiben. Diese Tage erst war sie wieder in der öffentlichen Diskussion angesichts der Klagen der Gewerkschaft ver.di über die vielen Befristungen: »Von den bundesweit insgesamt rund 127 000 Beschäftigten in den 49 Niederlassungen Brief arbeiten gut 21 000 Beschäftigte dauerhaft oder als Aushilfe mit einem befristeten Arbeitsvertrag. Das sind 17 Prozent aller Beschäftigten«, so ver.di in einer Pressemitteilung bereits im August dieses Jahres.

Und man kann es auch so aufrufen, wie das bereits in einem früheren Beitrag zum Thema formuliert wurde: »Inzwischen hat sich in der Branche eine Zwei-Klassengesellschaft entwickelt. Viele große Paketdienste haben Tarifverträge, die halbwegs akzeptable Konditionen bieten. Allerdings hat Postchef Frank Appel gerade angekündigt, dass neu Eingestellte künftig mit niedrigeren Löhnen rechnen müssen. Zugleich lagern die Konzerne einen großen Teil ihrer Aufträge aus. Daraus entsteht ein System von Sub-Sub-Unternehmen. Am Ende der Kette stehen Zusteller, die als Selbstständige arbeiten und mit Privatwagen die Pakete ausfahren. Als Lohn bleiben dann nach Recherchen des WDR  nicht selten gerade einmal 1000 Euro brutto im Monat übrig. Diese „Selbstständigen“ müssen dann ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken, um über die Runden zu kommen« (vgl. Frank-Thomas Wenzel: „Sklavenähnliche“ Arbeitsbedingungen).

Wie bekannt, jede Medaille hat zwei Seiten und die eine kann manchmal ganz schön hässlich sein.

1974 reloaded? Die Gewerkschaft ver.di will im Schnitt zehn Prozent mehr (nicht nur) für Erzieher/innen. Dagegen wären GDL & Co. fast schon tarifpolitische Softies

Das ist mal eine tarifpolitische Nachricht: Ver.di fordert im Schnitt zehn Prozent mehr Geld für Erzieher: Die Gewerkschaft »will die Berufe von Erziehern und Sozialarbeitern deutlich aufwerten, indem sie tariflich höher eingestuft und deutlich besser bezahlt werden. Die Verhandlungen dürften schwierig werden.« Das kann man wohl plausibel annehmen. Die üppig daherkommende Steigerung von 10% soll nicht in einer allgemeinen Lohnrunde über eine Anhebung der bestehenden Vergütungen erreicht werden, sondern es geht um eine Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste, in dem die Beschäftigten in eine höhere Tarifgruppe eingruppiert werden sollen. »Ver.di hat die Eingruppierungsregeln zum Ende dieses Jahres gekündigt. Die Tarifkommission soll die Forderungen am 18. Dezember beschließen.« Dann sollen Verhandlungen mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) aufgenommen werden. Es geht unter anderem um Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen, Heilpädagogen und Sozialarbeiter in kommunalen Kindertagesstätten und Sozialeinrichtungen. 2009 hatte es während der Tarifverhandlungen wochenlang Streikaktionen von ver.di und der Gewerkschaft GEW gegeben und auch jetzt wird sofort wieder ein Streikszenario in den Medien diskutiert (eine »Vorstellung, die bei berufstätigen Eltern große Unruhe auslöst«, wie Spiegel Online anzumerken meint). Ein solches Szenario würde aber – wenn überhaupt – erst im Frühjahr des kommenden Jahres relevant werden. Aus Sicht der Arbeitgeber übrigens gibt es hier gar keinen Verhandlungs- oder gar Änderungsbedarf: So wird Katja Christ, die Pressesprecherin des Arbeitgeberverbandes VKA, von Johannes Supe mit den Worten zitiert, dass der Verband »gar keine Notwendigkeit sieht, neu zu verhandeln«. Die Frauen im Sozial- und Bildungsbereich seien bereits »angemessen bezahlt«. Das ist mal eine Ansage, die schon beim ersten Hinschauen auf die Realität in diesem Feld mehr als wagemutig daherkommt.

Die Gewerkschaft ver.di hat ihre Mitteilung über das, was sie zu fordern gedenkt, unter die Überschrift „Mehr Wertschätzung für die Beschäftigten“ gestellt. Und es gibt tatsächlich eine ganze Reihe an guten Argumenten, die Fachkräfte in den Einrichtungen – an dieser Stelle sollen die Kindertageseinrichtungen in den Blick genommen werden – besser zu vergüten. Dies nicht nur grundsätzlich, sondern selbst aus einer rein betriebswirtschaftlichen Sicht spricht viel für eine andere Eingruppierung, denn die Kita-Landschaft hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert:

Die Kindertageseinrichtungen standen nicht nur in den vergangenen Jahren im Zentrum eines gewaltigen quantitativen Ausbaus, was die Betreuungsangebote angeht, sondern zugleich sind die bildungspolitischen Erwartungen an die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas erheblich nach oben geschraubt worden – sowohl von Seiten der Politik wie auch von einem immer größer werdenden Teil der Eltern. Hinzu kommt, dass die Öffnungszeiten der Einrichtungen in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich ausgeweitet worden sind, mit der Folge, dass sich die Öffnungszeiten der Kitas von den Betreuungszeiten der einzelnen Kinder immer stärker entkoppelt haben. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, das gleichzeitig der Anteil der Teilzeitbeschäftigten unter den pädagogischen Fachkräften deutlich angestiegen ist, was zu einer erhöhten Fluktuation während eines Arbeitstages beiträgt. Zugleich – man denke hier an die Einführung des Rechtsanspruchs ab dem vollendeten ersten Lebensjahr – sind die Kinder immer jünger geworden, die heute in die Kindertageseinrichtungen kommen und zugleich bleiben sie tendenziell immer länger. Und natürlich kann man auch nicht leugnen, dass es viele Kinder gibt, die aus „schwierigen“ Familienverhältnissen kommen und die einer besonderen Sorge bedürfen, zugleich aber auch die Fachkräfte teilweise vor erhebliche Herausforderungen stellen, wenn man beispielsweise an die zunehmende Zahl von Kindern aus anderen Nationen, mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen denkt, die mittlerweile in den Kindertageseinrichtungen angekommen sind. Parallel zu diesen Veränderungen hat es eine enorme inhaltliche Aufwertung des frühpädagogischen Handelns gegeben, was sich weniger in der Tatsache manifestiert, dass es seit einigen Jahren an Hochschulen in Deutschland auch entsprechende Studiengänge der Kindheitspädagogik gibt, sondern das Wissen und die Forschungslage sind in den vergangenen Jahren deutlich erweitert worden und das soll alles aufgenommen und reflektiert werden von den pädagogischen Fachkräften. Man könnte die Aufzählung durchaus noch erheblich erweitern, aber die bislang skizzierten Entwicklungslinien sollten reichen, um eine entsprechende Aufwertungsforderung substantiell zu unterfüttern.

Aus einer fachpolitischen Sicht besteht überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass eine bessere Vergütung in diesem so wichtigen Bereich gut begründet und wünschenswert ist.

Allerdings muss man eben auch die restriktiven Rahmenbedingungen sehen und zur Kenntnis nehmen, die das Handlungsfeld bestimmen. Ein besonderes Problem ist die spezifische Finanzierungsstruktur, in die die Kindertageseinrichtungen eingebettet sind.  Kurz gesagt: Die Finanzierung ist dergestalt deformiert, dass die Kommunen die Hauptlast der Kosten zu tragen haben, während hingegen die Bundesländer und vor allem der Bund sowie die auf der Ebene des Bundes angesiedelten Sozialversicherungen am meisten von der Kindertagesbetreuung profitieren in Form höherer Steuern und Beitragseinnahmen. Die Kommunen wiederum – als letztes Glied in der Verwertungskette – stehen vor dem Problem, dass sie in den vergangenen Jahren einen vom Bundesgesetzgeber eingeführten Rechtsanspruch auf (irgendeinen) Betreuungsplatz umsetzen mussten, gleichzeitig aber haushaltsmäßig oftmals in einer desaströsen Verfassung sind. An die Kommunen aber richtet sich nunmehr die Forderung von ver.di. Angesichts der haushaltspolitischen Lage, in der sich viele Kommunen befinden, erscheint die Durchsetzung eines Steigerungsbetrags von 10 % völlig unrealistisch.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht unrealistisch, wenn man davon ausgeht, dass die Gewerkschaft im kommenden Frühjahr zum Mittel des Arbeitskampfes greifen muss. Hierbei sollte allerdings berücksichtigt werden – und die Erfahrungen, die während der Streikaktionen im Jahr 2009 gesammelt wurden, belegen das eindrücklich –, dass die Erzieherinnen (zu über 95 % haben wir es in den Kindertageseinrichtungen mit Frauen zu tun) keinesfalls hinsichtlich einer notwendigen Streikbereitschaft die Rolle übernehmen können, die früher im öffentlichen Dienst die Müllwerker oder die Busfahrer gehabt haben, bevor sie in vielen Städten privatisiert worden sind. Zumindestens 2009 haben sich sehr viele Erzieherinnen sehr schwer damit getan, ihre Einrichtung länger als einen oder zwei Tage zu bestreiken, denn viele zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl gegenüber den Kindern und deren Eltern aus, so dass ihnen ein Arbeitskampf schon grundsätzlich nicht leicht fällt. Und während am Anfang eines Arbeitskampfes und vor allem bei einer Begrenzung auf kurze Zeiten noch davon auszugehen ist, dass es eine große bzw. zumindestens spürbare Sympathie auf Seiten der betroffenen Eltern und in der allgemeinen Öffentlichkeit geben wird, muss und wird sich das ändern, je länger gestreikt wird bzw. werden muss. Anders ausgedrückt: Wir können bei den Erzieherinnen eben nicht davon ausgehen, dass wir es mit streikerprobten oder gar streikfreudigen Personen zu tun haben. Nun hat sich allerdings die Situation seit 2009 verhindert. Der Organisationsgrad der Erzieherinnen in den Gewerkschaften Verdi und GEW hat sich nach oben entwickelt und seit dem quantitativen Ausbau vor allem der Kleinkindbetreuung wird zunehmend von einer aggressiveren Stimmung unter vielen Fachkräften berichtet, was die konkreten Arbeitsbedingungen angeht. Insofern könnte man annehmen, dass die Bereitschaft, sich nunmehr wenn es nicht anders geht auch mit Arbeitskampfmaßnahmen zu wehren, in den vergangenen Jahren angestiegen ist.

Dabei muss aber eine weitere Besonderheit des Feldes berücksichtigt werden: Von den mehr als 52.000 Kindertageseinrichtung, die es derzeit in Deutschland gibt, befinden sich nur ein Drittel in kommunaler Trägerschaft, zwei Drittel der Einrichtung werden von freien Trägern betrieben. Genau so sieht es aus bei den Beschäftigten, denn von den insgesamt 472.000 pädagogisch tätigen Fachkräften arbeiten 33,5 % bei einem öffentlichen Träger, der Rest entfällt auf die freien Träger. Unter diesen stellen Einrichtungen in evangelischer oder katholischer Trägerschaft die größte Gruppe dar, allein hier arbeiten mit über 163.000 pädagogischen Fachkräften mehr Menschen als in allen kommunalen Kindertageseinrichtungen zusammen. Hier nun aber besteht die Besonderheit darin, dass in diesen Einrichtungen aufgrund der tradierten Sonderrechte der Kirchen im Arbeitsrecht schlichtweg gar nicht gestreikt werden darf, auch wenn die Betroffenen das wollten. Die einzigen, die also bei einem Arbeitskampf spürbar und überhaupt tätig werden können, sind die Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen. Wenn man sehenden Auges in diese Richtung marschieren will, dann sollte man die Leute gut vorbereiten, ganz besonders gut, sonst endet das in einem Desaster.

Auch wenn es den Betroffenen absolut zu wünschen wäre, eine deutliche Verbesserung ihrer Vergütungssituation zu erfahren – die 10% sind „eine steile Forderung“, so zitiert die Gewerkschaft ver.di selbst eine Betroffene. Die Forderung kommt in die Nähe dessen, was in den 1970er Jahren sogar am Ende eines Arbeitskampfes erreicht worden ist: Anfang 1974 streikt der öffentliche Dienst und der damalige ÖTV-Chef Heinz Kluncker erzwang eine Lohnerhöhung von elf Prozent. An dieser Stelle könnte man skeptisch fragen, warum man sich auf eine so hoch daherkommende Forderung verständigt hat – was, wenn da deutlich weniger bei raus kommt? Die Gefahr von teilweise massiven Enttäuschungen am Ende eines solchen Prozesses auf Seiten der Erzieher/innen sollte nicht unterschätzt werden.

Man darf gespannt sein, wie sich diese Runde entwickeln wird. Eine mutige Forderung, die Zeichen setzt. Verdient hätten es die betroffenen Fachkräfte auf alle Fälle, aber zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt es ja oft eine zuweilen sehr große Diskrepanz. Und auch auf die muss man vorbereitet sein. Gerade in diesem Bereich.

Foto: © Stefan Sell