Das wird aber teuer mit den Verbesserungen beispielsweise in der Pflege. Und was das mit dem Solidaritätszuschlag zu tun haben könnte. Die Rechnung bitte

Wer kennt das nicht aus dem großen weiten Feld der Sozialpolitik – da wird über fehlendes Personal und/oder deren zu schlechte Bezahlung diskutiert, über zu wenig Angebote und „Versorgungslücken“ gerade für die verletzlichsten Menschen in unserer Gesellschaft wie beispielsweise die pflegebedürftigen alten Menschen. Und die meisten nicken zustimmend und sind voll auf der Seite derjenigen, die hier „endlich“ Verbesserungen anmahnen. Da muss sich nun unbedingt was ändern und man habe das auf der To-Do-Liste.

Besonders beliebt ist das vor Wahlen, wo man a) eine generelle Betroffenheit und b) Problemlösungsabsichten signalisieren meint zu müssen. Das konnte bzw. musste man auch im Endspurt der letzten Bundestagswahl zur Kenntnis nehmen, also die Situation in der Alten- und Krankenhauspflege (wieder einmal) von der seit geraumer Zeit regierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wahrgenommen werden musste und auch ihre Herausforderer Martin Schulz von der SPD auf den Zug aufgesprungen ist und eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte aufs Tablett gehoben hat. Und zu diesen Arbeitsbedingungen gehören ganz zentral die Vergütungsfragen in der Pflege. Erneut wurde auf die Tränendrüse gedrückt, dass doch gerade in der so wichtigen Altenpflege die Gehälter viel zu niedrig seien und man da unbedingt was machen müsse.

Das wurde aufgegriffen in diesem Blog-Beitrag vom 20. September 2017, also wenige Tage vor dem Wahlsonntag: Jenseits der Schaumschlägereien: Die Entlohnung in „der“ Pflege. Die ist gerade nicht ein Thema für die letzten Wahlkampfmeter. Und in diesem Beitrag wurde hinsichtlich der möglichen und erforderlichen Verbesserungen Butte bei die Fische gegeben, also eine konkrete Maßnahme nicht nur in den Raum gestellt, sondern diese auch mit einem konkreten Euro-Betrag beziffert.

Und genau dann fängt die eingangs bereits aufgerufene frustrierende Erfahrungen vieler in der Sozialpolitik an, sich zu entfalten: Wenn man konkrete Geldbeträge einfordert, um das auch zu realisieren, dann kommt die ziemlich breite Phalanx an haushalterischen Bedenkenträgern – das sei leider nicht finanzierbar, man reduziert die notwendigen Ausgaben auf eine reine Kostendimension (also das altbekannte Brutto-Netto-Problem in der Sozialpolitik) und kommt zu dem zwangsläufigen Todesurteil für das eigentliche Anliegen: das Vorhaben ist leider nicht finanzierbar oder die „Mehrkosten seien nicht darstellbar“ und wie die Formulierungen auch immer heißen.

Machen wir das alles konkret an dem deutlich, was in dem bereits erwähnten Beitrag zur Entlohnung in „der“ Pflege hinsichtlich der prioritär anzugehenden Maßnahmen vorgeschlagen wurde:

Es gibt deutliche Ost-West-Differenzen in der Entlohnung der Beschäftigten in den Pflegeberufen, die  jeweiligen Entgelte in der Krankenpflege liegen deutlich über denen in der Altenpflege und Fachkräfte in der Altenpflege verdienen dabei nur geringfügig mehr als Helfer in der Krankenpflege. Wenn man nun  in einem ersten Schritt eine Angleichung der niedrigeren Gehälter in der Altenpflege an die der Krankenpflege ins Visier nehmen will, dann resultieren daraus Mehrausgaben. Die sind in dem Beitrag auch beziffert worden: Die Angleichung der Vergütung der Altenpflegekräfte an die in der Krankenhauspflege würde überschlägig einen Mehrbedarf von knapp 6 Mrd. Euro pro Jahr generieren.

Genau an der Stelle geht das Heulen und Zähneklappern los. Woher sollen diese zusätzlichen 6 Mrd. Euro kommen, um die mit einer solchen Angleichung verbundenen deutlichen Attraktivitätssteigerung der Altenpflege zu finanzieren?

Man könnte sich jetzt auf einer sehr abstrakten und nebulösen Ebene darauf zurückziehen, dass doch genug Geld da ist, wenn man denn wirklich wollten wollte. Oder dass die EZB doch auch jeden Monat an die Druckerpresse geht und 60 Mrd. Euro „neues Geld“ schafft und in die tradierten Kreisläufe pumpt. Aber damit macht man sich es genau so einfach die die Bedenkenträger, die dafür keinen Spielraum sehen in ihrer Welt der Haushaltsansätze.

An dieser Stelle passt es wie die Faust aufs Auge, dass wir im Kontext der immer noch sich sondierenden Sondierungsgespräche der potenziellen Jamaika-Koalitionäre erfahren durften, dass vor allem die FDP eine ersatzlose Streichung des „Solidaritätszuschlags“ fordert, um „die Bürger“ finanziell zu entlasten.

Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf dieses ganz eigene Gewächs im deutschen Steuer-Kosmos. Der Solidaritätszuschlag („Soli“) ist eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer in Deutschland. Interessant ist die Geschichte dieser zusätzlichen Abgabe:

Deutschland hatte im Zweiten Golfkrieg (Januar bis März 1991) etwa 15–20 % der Kosten, 16,9 Milliarden DM, übernommen, die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hatte sich wieder einmal mit Geld aus einer unmittelbaren Beteiligung an kriegerischen Handlungen freikaufen wollen. Aus dem ursprünglich auf ein Jahr (vom 1. Juli 1991 bis 30. Juni 1992) befristeten Solidaritätszuschlag sollten 22 Mrd. DM generiert werden. Anfangs lag er bei 7,5 Prozent. 1993 und 1994 wurde der Solidaritätszuschlag ausgesetzt und 1995 wieder eingeführt. Bei den Verlängerungen ab 1995 wurden die Kosten der deutschen Einheit zur Begründung in den Vordergrund gestellt. Von 1995 bis 1997 betrug der Zuschlag 7,5 Prozent, seit 1998 beträgt er 5,5 Prozent.

Aber wir leben im Jahr 2017 und vielen Menschen ist der „Soli“ nur als eine Steuer zur Finanzierung der deutschen Einheit im Kopf und die ist nun doch eigentlich insoweit geregelt, dass man keine generelle Unterstützungsleistung „für den Osten“ mehr legitimieren kann. Von dieser Perspektive macht es durchaus Sinn, den Soli abzuschaffen, denn die mit ihm verbundenen Aufgaben und Projekte sind doch nun schon abgearbeitet und damit schmilzt die Sinnhaftigkeit dieser Zusatzbelastung wie Butter in der Sonne. In diesem Kontext wird dann oftmals ergänzend argumentiert, dass es heute in Westdeutschland Regionen gibt, die weitaus förderbedürftiger sind als Teile von Ostdeutschland. Also wenn der eigentliche Zweck weggefallen ist, dann muss man die Steuer eben wieder abschaffen, sonst geht es uns irgendwann so wie mit der „Schaumweinsteuer“, von den unteren und mittleren Schichten auch als Sektsteuer bezeichnet. Die Schaumweinsteuer wurde 1902 vom Reichstag zur Finanzierung der kaiserlichen Kriegsflotte eingeführt. Die Flotte ist bekanntlich untergegangen, die Steuer aber bis heute als Verbrauchssteuer zur Freude des allgemeinen Staatshaushaltes geblieben.

Nun muss man an dieser Stelle auf den Charakter des Solidaritätszuschlags hinweisen: Der Solidaritätszuschlag wird als prozentualer Zuschlag von 5,5 % auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer erhoben. Für 2018 wird das Gesamtvolumen auf 18,2 Mrd. Euro geschätzt, die bis zum Jahr 2021 auf knapp 21 Mrd. Euro aufwachsen sollen. Der entscheidende Punkt (und der große Unterschied zu irgendwelchen Verbrauchssteuern):

»Da der Solidaritätszuschlag auf die sehr progressive Einkommensteuer erhoben wird und auf Gewinneinkommen und Kapitalerträge, die vor allem den sehr hohen Einkommensklassen zufließen, stellt der Solidaritätszuschlag eine sehr progressive Steuer dar.« (Rietzler/Truger 2017: 15)

Daraus folgt logischerweise, dass eine ersatzlose Streichung des Solidaritätszuschlags vor allem bis ausschließlich die oberen Einkommensgruppen entlasten würde – eine Maßnahme, die sich durchaus einbetten läßt, was wir beispielsweise für die Jahre 1998 bis 2015 gesehen haben, wo es ausgehend von den damaligen rot-grünen Steuerreformen und nachfolgenden Maßnahmen zu einer eben nicht „klassischen“ Umverteilung von oben nach unten, sondern ganz im Gegenteil zu einem Mehr an steuerlicher Belastung unten und einem Weniger ganz oben gekommen ist. Die Abbildung verdeutlicht das.

Die verteilungspolitischen Konsequenzen einer ersatzlosen Streichung des „Soli“ werden ausführlich beschrieben in dieser Studie:

Katja Rietzler, Achim Truger (2017): Ein gerechterer Einkommenssteuertarif ohne Soli: Spielräume und Handlungsoptionen für eine Reform der Einkommensbesteuerung. IMK Policy Brief 24.10.2017, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, 2017

Man muss sich eigentlich nur diesen Befund verdeutlichen:

»Als besonders problematisch erweist sich die prominent vom FDP-Vorsitzenden Christian Lindner propagierte ersatzlose Streichung des Solidaritätszuschlags. Neben den hohen fiskalischen Kosten von mittelfristig über 20 Mrd. Euro jährlich wäre das Verteilungsprofil der Entlastung extrem ungünstig: Annähernd 80 % der Entlastung würden von den Haushalten im oberen Fünftel der Einkommensverteilung vereinnahmt; das reichste Hundertstel der Haushalte könnte 28 % der Gesamtentlastung oder fast 5 Mrd. Euro für sich verbuchen.« (Rietzler/Truger 2017: 2)

Die Verfasser beziehen sich an dieser Stelle auf Berechnungsergebnisse von Stefan Bach vom DIW. Rietzler und Truger haben ihre Argumentation in diesem Beitrag zusammengefasst: Warum der Soli auf keinen Fall ersatzlos gestrichen werden sollte: Eine schnelle Absenkung des Soli wäre fiskalisch hoch riskant. Sie würde den Bundeshaushalt stark belasten und dürfte selbst bei weiterhin guter Konjunktur zu Ausgabenkürzungen führen (müssen), vor allem, wenn man die umstrittene, aber derzeit gesetzte Ausrichtung an einer Politik der „schwarzen Null“ berücksichtigt und gleichzeitig den enormen Investitionsstau in Rechnung stellt, der mittlerweile aufgelaufen ist. Hinzu käme, wie bereits ausgeführt: »Eine ersatzlose Streichung des Soli hätte gravierende negative Verteilungswirkungen.«

Die beiden Autoren illustrieren die systematisch bedingte schiefe Verteilung der Entlastung an diesen Beispielen:

»Demnach würden Bäckereifachverkäufer/innen als Repräsentant/innen eines Berufszweigs mit unterdurchschnittlichem Jahreseinkommen (25.242 Euro) je nach Haushaltskontext gar nicht oder kaum von einer Abschaffung des Soli profitieren – selbst Finanzbuchhalter/innen (50.248 Euro) würden je nach Haushaltskontext gar nicht bis kaum spürbar entlastet werden. Erst für Besserverdienende wie Maschinenbauingenieur/innen (80.530 Euro), Expert/innen im technischer Forschung und Entwicklung (126.776 Euro) oder Pilot/innen (177.073 Euro) ergäben sich Entlastungen von teilweise mehreren tausend Euro.«

Fazit: Die ersatzlose Streichung des Soli entpuppt sich damit als massives Steuergeschenk für die reichsten Haushalte.

Aber Rietzler und Truger kritisieren nicht nur die verteilungspolitischen Effekte einer möglichen ersatzlosen Streichung, sondern sie diskutieren auch Alternativen: Neben einer Neubegründung des Soli etwa mit der Förderung strukturschwacher Regionen in Deutschland (deren Notwendigkeit von vielen angesichts der gerade dort gewachsenen und nicht gedeckten Investitionsbedarfe geteilt werden würde) diskutieren sie auch eine Variante, wie sich bei einem mittelfristig anvisierten Wegfall des Soli eine Integration in den Einkommenssteuertarif gestalten ließe, mit der man ungefähr dasselbe Aufkommen wie mit dem ursprünglichen Soli und eine ähnliche tarifliche Verteilungswirkung erzielen könnte.

Auch andere haben die „Potenziale“ des Soli erkannt, was das Steueraufkommen betrifft. »Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags wäre wirtschaftlicher Unsinn. Das Geld sollte stattdessen in alle strukturschwachen Regionen fließen – egal ob in Ost oder West«, meint beispielsweise der DIW-Chef Marcel Fratzscher in seiner Kolumne auf „Zeit Online“ unter der aufmerksamkeitsheischenden Überschrift Entlastet die Armen!.

Der bereits zitierte Ökonom und Steuerexperte Stefan Bach hat sich zu diesem Thema auch zu Wort gemeldet. Er sieht durchaus den Bedarf, an den Soli ranzugehen, denn: »Damit kommt der Soli auch verfassungsrechtlich unter Druck. Denn als Ergänzungsabgabe soll er einen besonderen und vorübergehenden Finanzierungsbedarf des Bundes decken. Bisher war das Bundesverfassungsgericht hier generös und nahm Vorlagen gegen den Soli erst gar nicht an. Das kann sich aber schnell ändern.«
Und offensichtlich folgt er nicht dem Vorschlag von Fratzscher und anderen, den Soli einfach umzuwidmen: »Man könnte den Soli auf aktuelle Herausforderungen umwidmen, für die er auch schon reklamiert wurde: von der Gesundheit über die Infrastruktur und die Energiewende bis zu den Flüchtlingen. Finanzpolitisch ist das aber heikel. Denn das Erfinden von dringenden und vermeintlich vorübergehenden Finanzierungsbedarfen ist das Kerngeschäft der Lobbyisten. Den Steuerzahlern werden die Belastungen dann mit phantasievollen euphemistischen Titeln nahe gebracht – man denke etwa an das „Reichsnotopfer“, den „Lastenausgleich“ oder das „Notopfer Berlin“ … Hier haben die (Neo-)Liberalen nicht ganz Unrecht: Sie wollen solche Finanzinstrumente auf echte finanzpolitische Notlagen wie die Wiedervereinigung beschränken, und sie bestehen darauf, sie abzuschaffen, wenn die Krise vorbei und die Kassen wieder gut gefüllt sind«, meint Stefan Bach. Also den Soli abschaffen – zugleich aber nicht auf das Geld verzichten, so kann man seine Stoßrichtung zusammenfassen. Es geht immerhin, das nochmals zur Erinnerung, um ein Mittelaufkommen in Höhe von 18 Mrd. Euro.

Er präferiert offensichtlich einen Umbau des Steuersystems im Sinne einer Integration des Zuschlags in den „normalen“ Tarif – allerdings mit einer ganz eigenen Unwucht: Nur Gutverdiener sollten den Soli zahlen, so ist sein Beitrag überschrieben. Für ihn wäre es ein pragmatischer Einstieg in den Ausstieg, Einstieg in den Ausstieg, »wenn man den Soli nur für die Bezieher steuerpflichtiger Einkommen bis zu 30.000 Euro abschaffte. Das würde auch gut zu den allseits geforderten Entlastungen beim „Mittelstandsbauch“ der Einkommensteuer passen. Wer hingegen 30.000 Euro oder mehr verdient, sollte den Soli weiter zahlen … Längerfristig könnte man dann den verbliebenen Reichen-Soli in den Einkommensteuertarif einbauen, sprich: die Spitzensteuersätze entsprechend anheben.«

Für was man dann die damit verbundenen Steuereinnahmen verwendet, das ist eine politische Entscheidung. Man muss nicht, aber man könnte einen Teil der Milliarden, die hier eingezogen werden, selbstverständlich für einen nationalen Pflege-Plan verwenden, in dem die Anhebung der Vergütung der Altenpflegekräfte ein wichtiger und wie wir gesehen haben milliardenschwerer Baustein wäre. Wie gesagt, das kostet Geld, aber keiner möge behaupten, dass man das nicht finanzieren könnte, wenn man denn wollte.

Wenn natürlich die Absicht ist, denen, die schon viel haben, noch mehr zu geben (und das wäre – wie gezeigt – ein unvermeidlicher Effekt einer ersatzlosen Streichung des Soli), dann stören solche Überlegungen natürlich, aber man sollte offen benennen, um was es hier geht: um eine massive Umverteilung von unten nach oben. Das kann man wollen, dann sollte man es aber auch so sagen und nicht den Eindruck vermitteln, von einer Abschaffung des heutigen Soli würden irgendwie alle Steuerzahler, auch die unten und in der Mitte, profitieren und deshalb sitzen die doch mit den Reichen in einem Boot. Tun sie nicht. Quod erat demonstrandum.

Wenn die Sonde sozialpolitisches Terrain sondiert. Eine Zwischenmeldung zu den Sondierungsgesprächen einer möglich-wahrscheinlichen Jamaika-Koalition

Kurz vor dem evangelischen Reformationstag ging es im Kontext der derzeit laufenden Sondierungsgespräche der möglichen und wahrscheinlichen Koalitionspartner eines Jamaika-Bündnisses aus Union, FDP und Grünen  um sozialpolitische Reformen – wobei „Reformen“ hier wie generell seit einigen Jahren nicht mehr in dem Sinne zu verstehen sind, wie das früher mal der Fall war, also etwas, das tradierte Mechanismen und Institutionen weiterentwickelt in einem positiven Sinne, sondern nicht selten wird der Terminus Reform ge-, manche würde sagen missbraucht für die Verkleisterung von Kürzungs- und Abbaumaßnahmen (vgl. zur Umdeutung von Begriffen im sozialpolitischen Kontext auch diesen Beitrag von Nicholas Timmins: The ‘welfare state’ should be something we’re proud of. Not a term of abuse). Nun ist im Vorfeld der Sondierungsgespräche – wohlgemerkt: das ist die Phase vor den offiziellen Koalitionsgesprächen, an deren Ende dann der Koalitionsvertrag stehen wird – immer wieder auf die große Differenz in sozialpolitischen Fragen vor allem zwischen der FDP und den Grünen hingewiesen worden.

Dazu als ein Beispiel der Beitrag „Jamaika“ ante portas nach der Bundestagswahl – und was das für die Sozialpolitik bedeuten kann. Am Beispiel der Leiharbeit vom 25. September 2017.  Und in diesen Tagen wurden wir Zeugen einer weiteren sozialpolitischen Baustelle, auf der sich die Uneinigkeit und die Bauchschmerzen mancher Beteiligter besichtigen lassen: die „Rente mit 63“. Vgl. dazu und vor dem Hintergrund der Äußerungen von Jens Spahn (CDU) den Beitrag Schaumschläger jenseits einer diskussionswürdigen Kritik an der bereits auf dem absteigenden Ast befindlichen „Rente mit 63“ vom  31. Oktober 2017.

Die BILD-Zeitung hat mal wieder als erste mit dem Toten gesprochen: »Reform der Reform bei der Rente: Nach BILD-Informationen haben sich Union, FDP und Grüne bei ihren Koalitionsgesprächen darauf verständigt, die erst 2014 von der Großen Koalition eingeführte Rente mit 63 (nach 45 Beitragsjahren) teilweise wieder abzuschaffen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Schafft Jamaika Rente mit 63 wieder ab? Die Replik lies nicht lange auf sich warten: Grüne dementieren Änderungen an Rente mit 63:

„Die Behauptung, dass Union, Grüne und FDP sich auf die Einschränkung der Rente mit 63 verständigt hätten, ist frei erfunden“, teilte das Mitglied im grünen Sondiererteam, Markus Kurth, am Mittwoch mit. Richtig sei, dass man in den Gesprächen mit CDU, CSU und FDP flexible Übergänge in den Ruhestand als wichtiges Zukunftsthema identifiziert habe … Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und FDP-Vize Wolfgang Kubicki widersprachen dem Eindruck, dass das Thema entschieden worden sei. In Verhandlungskreisen hieß es lediglich, man habe darüber bei der Sondierung am Montag im Zusammenhang mit der Erwerbsminderungsrente gesprochen.
Was aber sondieren die überhaupt auf dem sozialpolitischen Planeten? Einen ersten Eindruck vermittelt Rainer Woratschka mit seinem Artikel Jamaika-Sondierung zur Sozialpolitik: Von Altersarmut bis Cannabis: »Die erste Jamaika-Sondierung zur Sozialpolitik war nur ein Abtasten. Allerdings deuten sich Gemeinsamkeiten an – bei der Bekämpfung von Altersarmut, Pflegenotstand und Langzeitarbeitslosigkeit.«

Die Grünen haben den Sondierungsstand Arbeit, Rente, Gesundheit, Pflege, Soziales vom 30.10.2017 ins Netz gestellt. Darin findet man einige interessante Themen, mit denen sich die womöglich demnächst Regierenden so beschäftigen (wollen). Im Grunde ist das nicht mehr als eine Stichwortliste, was man angesprochen hat oder anzusprechen gedenkt. Schauen wir uns einige wenige Punkt etwas genauer an:

»Wir wollen Selbständigkeit fördern und unterstützen, unter anderem durch Bürokratieabbau, insbesondere bei der Statusfeststellung, und einer Reduzierung der Mindest-Krankenversicherungsbeiträge. In Verbindung damit diskutieren wir auch über die Frage der weiteren sozialen Absicherung von Selbständigen (Pflicht zur Altersvorsorge, möglicher Einbezug in die gesetzliche Rentenversicherung).«

Das ist verständlich und notwendig. Gerade die Mindest-Versicherungsbeiträge waren und sind Gegenstand intensiver Diskussionen und auch zahlreicher Medienberichte, vgl. dazu den Beitrag Wie lange noch warten? Überforderte Solo-Selbständige und die Diskussion über eine Absenkung des Mindestbeitrags an die Krankenkassen vom 24. Oktober 2017. An dieser Stelle kann man sich nach den Positionierungen gerade von Grünen und FDP am ehesten eine partielle Verbesserung vorstellen, was den Bereich der Krankenversicherung angeht, weitaus schwieriger wird das beim Thema Rentenversicherung werden.

Und dann kommen auf den ersten Blick unscheinbar daherkommende Stichpunkte, die es aber arbeitsmarktpolitisch in sich haben:

»Darüber hinaus sprechen wir im Rahmen der Sondierungen weiter über die folgenden Themen … Die Frage der Entwicklung des Arbeitszeitgesetzes … Die Frage von befristeten Arbeitsverhältnissen. Die Frage der Regulierung von Zeitarbeit (Höchstüberlassungsdauer etc) … Der Mindestlohn gilt. Im Rahmen des geltenden Mindestlohns sind die Fragen von Bürokratie, Dokumentationspflichten, Praktika und Ehrenamt zu prüfen.«

Was besonders elektrisiert sind die Andeutungen zum Thema Mindestlohn und Arbeitszeitgesetz. Und manche durchaus verständlich alarmiert. Zum Thema Mindestlohn vgl. schon den Beitrag Ein Vorstoß zur „Entlastung“ der Arbeitgeber beim Mindestlohn – ein Vorgeschmack auf das, was von einer Jamaika-Koalition sozialpolitisch zu erwarten ist? vom 17. Oktober 2017. Wenn nun „Fragen von Bürokratie, Dokumentationspflichten, Praktika und Ehrenamt“ zu prüfen seien, dann verheißt das nichts Gutes aus Sicht der Mindestlohnbefürworter, geht es hier doch offensichtlich um die Möglichkeit, Sonderregelungen zu schaffen. In diesem Kontext muss auch die lapidare Formulierung „Die Frage der Entwicklung des Arbeitszeitgesetzes“ sei Gegenstand der Sondierungen gesehen werden. In diesem Blog wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass weniger die Höhe des Mindestlohns an sich das Problem ist, sondern das bestimmte Branchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe darauf drängen, bei der Arbeitszeitkontrolle (gleichsam ein „Kollateralschaden“ der Mindestlohngesetzgebung) entlastet zu werden.

Dass beim Arbeitszeitthema einiges in Bewegung ist, kann man auch solchen Wortmeldungen entnehmen: Schäuble, Strobl und die DEHOGA: Arbeitszeitgesetz unter Beschuss, so beispielsweise der DGB: »Nach der Bundestagswahl werde er dafür kämpfen, „dass wir das Arbeitszeitgesetz so ändern, dass Sie den nötigen Spielraum haben“, versprach im April der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble dem Gastronomie-Arbeitgeberverband DEHOGA … Jetzt macht Schäubles Parteikollege Thomas Strobl den ersten Vorstoß.« Nun ist es also offensichtlich an der Zeit, Versprechen einzulösen. »Einen entsprechenden Vorstoß machte jetzt Thomas Strobl, der zweite CDU-Ehrengast des DEHOGA-Frühlingsfestes – und fordert die Abschaffung des Arbeitszeitgesetzes«, so der DGB.

Rainer Woratschka berichtet in seinem Artikel Von Altersarmut bis Cannabis zu diesem Punkt:

»So sah sich Grünen-Chefin Simone Peter am Tag danach zu der Klarstellung bemüßigt, dass ihre Partei einer „Aushöhlung“ des Mindestlohns, etwa durch eine Einschränkung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, ebenso wenig zustimmen könne wie einer „Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes“, das tägliche Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten regelt.

In der FDP wiederum ärgern sie sich über diese Replik. Man merke leider, dass Peter bei den Gesprächen über Arbeit und Soziales nicht dabei gewesen sei, gibt der Arbeitsmarktexperte der Liberalen, Johannes Vogel, zurück. Natürlich müsse man „Regeln im Zeitalter der Digitalisierung anpassen, wenn sie wie etwa bei der Arbeitszeit den Bedürfnissen von Millionen Beschäftigten nach Selbstbestimmung und flexibler Einteilung nicht mehr entsprechen“, beharrt er. Und bei der Sondierung habe man „zu Recht“ auch darüber gesprochen, „wie wir die Misstrauensbürokratie gegen Handwerk und Mittelstand reduzieren können“.«

Und wie sieht es bei der Rentenpolitik aus, wenn wir von den Schaumschlägereien eines Jens Spahn einmal absehen? Darüber wird sondiert – wobei einige Punkte sehr wohl im Zusammenhang stehen könnten mit einer schlussendlich dann doch aufgerufenen Abschaffung der „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“, wie die angebliche „Rente mit 63“ richtig heißt:

»Ein flexibler Renteneintritt und gleitende Übergänge von Erwerbstätigkeit in den Ruhestand (Teilrenten etc.) … Das Rentenniveau und die Beitragssatzentwicklung unter der Berücksichtigung der Generationengerechtigkeit und der angemessenen Absicherung im Alter … Verbesserungen bei der Erwerbsminderungs-Rente … Unser gemeinsames Ziel ist die Verbesserung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge … Die Frage weiterer Verbesserungen bei der Mütterrente.«

Hier tun sich eine Menge Fragezeichen auf. Vor allem der Hinweis darauf, dass die „Verbesserung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge“ offensichtlich Ziel aller Gesprächsparteien ist, lässt aufhorchen und man kann das auch kritisch sehen (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Vom theoretischen Irrweg einer Kapitaldeckung der Renten über die praktizierte Stärkung der Teilkapitaldeckung bis hin zu der Tatsache, dass wir alle Gefangene unserer Kohorte sind vom 29. Oktober 2017).

Und noch einmal zurück zum Thema Arbeitsmarkt – da ist doch noch die Gruppe der Langzeitarbeitslosen und der vielen Hartz IV-Empfänger, die es aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht gelingen will, an der aufsteigenden Beschäftigungsentwicklung zu partizipieren.

»Gemeinsames Ziel ist es, mehr Langzeitarbeitslosen den Einstieg auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Im Zuge dessen wollen wir unter anderem dafür sorgen, dass erheblich weniger Menschen das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen, nachholende Qualifikationen ausbauen sowie uns um die spezielle Zielgruppe von Alleinerziehenden intensiver kümmern.«

Und etwas genauer erfahren wir:

»Überprüfung und Weiterentwicklung der Fördermaßnahmen der Jobcenter, deren Struktur und die Stärkung dezentraler Entscheidungen, sowie der Vergleichbarkeit der Integrationserfolge. Die Zuverdienstregeln im Arbeitslosengeld II, mit Blick auf deren Anreize, durch Ausdehnung der Arbeitszeit auch mehr Verdienst zu behalten … Den Möglichkeiten für Personen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen sowie die Frage deren dauerhafter Förderung (z. B. Passiv-Aktiv-Transfer, Frage eines sozialen Arbeitsmarktes, etc.). Entbürokratisierungen, Pauschalierungen und Vereinfachungen im SGB II. Die Frage der Rechtsstellung der SGBII-Bezieher (Sanktionen).«

Das sind Themen, die sicherlich vor allem von den Grünen in den Sondierungsgesprächen platziert wurden. Ob es diesmal hilft, wenigstens teilweise dringend erforderliche Verbesserungen wenigstens anzustreben? Man darf gespannt sein.

Offensichtlich versuchen gerade die Grünen, einige Spuren bereits in dieser ersten Phase, vor dem Beginn offizieller Koalitionsverhandlungen, zu hinterlassen. Der Sache wegen sei gehofft, dass es ihnen gelingt, das auch bis zu einem Koalitionsvertrag durchzuhalten.

Die Hoffnung darauf ist zu diesem Zeitpunkt nur eine Hoffnung. Und man wünscht sich, dass diese Inaussichtstellung des Kommenden nicht eintreten wird:

»Was aber, wenn die Grünen trotz allem Widerstand leisten gegen das Schleifen ihrer linken Restposten? Man wird sie daran erinnern, dass Kompromisse dazugehören, vor allem, wenn man der kleinste Partner in einer Koalition ist. Konkret: Wenn den Grünen Entgegenkommen bei den für sie so wichtigen Themen Umwelt und Klima in Aussicht gestellt wird, dann müssen sie eben in den sozialpolitisch ziemlich sauren Apfel beißen. Und man wird das auch mit den entsprechenden ministeriellen Spielwiesen abzubilden versuchen. Sollen die Grünen das Umweltministerium bekommen. Und das Familienministerium und, wenn es denn sein muss, gerne auch ein Integrationsministerium, in dem sich die „Gutmenschen“ austoben können, ohne wirkliche Budgetrelevanz. Man schaue nur in die Bundesländer, in denen die Grünen als dritter und kleinster Partner in einer Regierungskoalition mitmischen. Selbst wenn es sich wie in Rheinland-Pfalz um eine Ampel und nicht um Jamaika handelt – genau das ist der Zuschnitt, den man den Grünen zugesteht. Wo sie am wenigsten stören, aber beschäftigt sind.« (Stefan Sell: Mit Semantik gegen die Rente).

Vom theoretischen Irrweg einer Kapitaldeckung der Renten über die praktizierte Stärkung der Teilkapitaldeckung bis hin zu der Tatsache, dass wir alle Gefangene unserer Kohorte sind

Es ist ein ewiges (und immer wieder falsch formuliertes) Thema der Alterssicherungspolitik: Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren? Besonnen daherkommende Stimmen plädieren für ein Sowohl-als-auch und verweisen auf die intuitiv plausibel daherkommende Lebensweisheit, dass man erfahrungsgemäß nicht alle Eier in einen Korb legen sollte. In der gerade zu Ende gegangenen Legislaturperiode hat die Große Koalition aus Union und Sozialdemokratie versucht, die Teilkapitaldeckung im deutschen Alterssicherungssystem am Ende noch durch einen groß angelegten Wurf der Reform der Betriebsrenten zu stärken – und als man schon dabei war, die Anreize für „Betriebsrenten“ (die faktisch über den Mechanismus der Entgeltumwandlung in der Regel von den Arbeitnehmern selbst finanzierte „Betriebsrenten“ sind) zu erhöhen, hat man gleich auch noch den kränkelnden Riester-Renten einen Schuss gesetzt (vgl. dazu Die halbierte Betriebsrentenreform, eine „kommunikative Herausforderung“ gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt vom 3. Juni 2017 sowie Private Altersvorsorge: Von einem toten Pferd, das man weiter pampert bis zu unattraktiven Riester-Sparern, denen gekündigt wird vom 27. Oktober 2017).

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass bei den nun anstehenden Beratungen über den Themenkomplex Rente im Rahmen der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grüne auch das Thema weitere Förderung und Ausbau der Kapitaldeckung in der Alterssicherung aufgerufen wird. Dafür spricht, dass die in Hessen seit längerem gemeinsam miteinander regierenden Christdemokraten und Grüne mit dem Konzept der „Deutschland-Rente“ (vgl. dazu bereits den Beitrag Riester in Rente und endlich eine „faire private Altersvorsorge“? Die „Deutschland-Rente“ schafft es immerhin schon in den Bundestag vom 29. Januar 2016) einen gemeinsamen Vorstoß gemacht haben, den man nun aufgreifen kann und der sicher im Grundsatz auch auf Resonanz bei der FDP stoßen wird (der es im Zweifelsfall dann eher um eine angemessene Beteiligung der privaten Versicherungswirtschaft gehen wird bei der konkreten Ausgestaltung.

Das sind Momente, wo es sich immer wieder lohnt, einmal grundsätzlicher auf das Thema zu schauen und sich nicht sofort in die Tiefen respektive Untiefen der aktuellen Diskussion bestimmter Modelle runterziehen zu lassen.

Das versuchen auch David Mum und Erik Türk in ihrer Veröffentlichung „Kapitaldeckung“ der Rente – ein Irrweg?, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben wurde. Sie stoßen sich gleich am Anfang an der Semantik. „Kapitaldeckungsverfahren“ suggeriere eine vermeintliche Sicherheit, die so nicht existiert. Nach Auffassung der beiden Autoren sei es »viel passender, von  finanzmarktabhängigen als von „kapitalgedeckten“ Systemen zu sprechen.«

An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass das keine rein  akademische Wortklauberei ist. Denn viele Menschen (und darunter selbst Ökonomen) verbinden mit der Begrifflichkeit Kapitaldeckungsverfahren, dass die Ansprüche der Rentner mit (realem) Kapital gedeckt sind und man eben nicht wie im Umlageverfahren darauf angewiesen ist, dass die Jüngeren später einmal die Rentenansprüche, die man in einem Umlagesystem erworben hat, auch einzulösen bereit sind. Dahinter steckt – überaus wirkkräftig – das, was ich das „Sparbuch-Modell“ nenne, also den Transfer des individuellen Sparens auf die Rente. Man legt heute Geld zurück (auf einem Sparbuch), das man dann einlösen kann, wenn man es im Alter braucht. Dieses Geld ist auf einem konkreten, der Einzelperson zurechenbaren Konto und wächst nicht nur durch die Einzahlungen im Laufe der Zeit, sondern auch durch den Zins und Zinseszins. Das ist eine „Erzählung“, die gerade bei den vielen risikoaversen und dem Sparen gleichsam genetisch zugewandten Deutschen auf einen besonders fruchtbaren Boden fällt. Der zugleich allerdings etwas verseucht wurde durch die Erfahrungen, die aus und nach der großen Finanzkrise 2007/08 berichtet wurden. Trotzdem suggeriert die Story von der Kapitaldeckung ein angenehmes Gefühl, nicht mehr einem unüberschaubaren Kollektiv ausgeliefert zu sein, dass dann für mic sorgen muss, wenn ich alt und auf das Geld angewiesen bin. Aber die Betroffenen können es drehen und wenden wie sie wollen – auch in der Kapitaldeckung sind sie der Tatsache ausgeliefert, dass alles eine Frage von Angebot und Nachfrage ist. Anders ausgedrückt: Wenn nur einige oder eine überschaubare Zahl spart, dann können die durchaus ansehnliche Renditen aus ihrem individuellen Sparkapital erwirtschaften. Was aber, wenn das Millionen Arbeitnehmer machen (müssen)? Was, wen die auch noch wie die Baby Boomer in großer Zahl in die Rente gehen und dann alle gemeinsam darauf angewiesen sind, dass ihre Sparbeträge, die in den Jahren davor angelegt worden sind, nunmehr von den Investments wieder gelöst werden müssen, um das Geld auszahlen zu können? Denn auch hier zeigt sich der theoretische Irrweg der Apologeten einer Kapitaldeckung, die suggerieren, es handele sich hier um Kapital, dass man ja individuell angespart hat und dass auch nicht für andere, sondern nur für die einzelnen Sparer verwendet werden kann. Wenn nun viele einzelne Sparer gemeinsam in den Ruhestand gehen und die Anlagen aufgelöst bzw. kapitalisiert werden müssen, das aber gleichzeitig auf wenige Aktive trifft, die sich ja auch hier beteiligen müssen, in dem sie kaufen und darüber das Geld zur Verfügung stellen, dann kann man sich vorstellen, was passiert: Der Preis sinkt und die Sparer werden sehr verdutzt in die Landschaft schauen, denn sie werden nicht das bekommen (können), was sie sich erhofft oder was ihnen in Aussicht gestellt worden ist.

Mum und Türk schreiben dazu passend: »Entscheidend für die (künftige) „Leistbarkeit“ ist vor allem die Höhe der (künftigen) Wertschöpfung (BIP).« Und sie machen einen weiteren Punkt bei der Kritik der scheinbaren Gegenüberstellung von Umlage- versus Kapitaldeckung:

»Die Tatsache, dass in einem Umlagesystem die Beiträge nicht auf Finanzmärkten veranlagt werden, impliziert keineswegs, dass sich die Finanzierung auf die Lohnsumme oder die Erwerbseinkommen beschränken muss. Öffentliche Rentensysteme können auch andere Einkommensquellen heranziehen, wozu es lediglich eines ausreichend hohen steuerfinanzierten Beitrags bedarf. Die Besteuerung von Vermögen und Kapitaleinkommen erschließt diese Finanzierungsquellen, ohne dass deswegen selbst Kapital veranlagt werden müsste.«

Die (potenzielle) Finanzierungsbasis eines umlagefinanzierten Rentensystems ist das BIP – aber diese »breite Finanzierungsbasis lässt sich nicht dadurch erweitern, dass man die Rentenauszahlung organisatorisch auf mehrere Säulen aufteilt.«

Und dann kommt ein Hauptargument von Mum/Türk:

»Mit zunehmender Gewichtung „kapitalgedeckter“ Renten steigt jedoch die Abhängigkeit von Finanzmarktentwicklungen und damit auch die Unsicherheit künftiger Rentenhöhen. Denn während sich die nominelle Wertschöpfung relativ stetig entwickelt, unterliegen Finanzmarkterträge extremen Schwankungen.«

An dieser Stelle kann man an meinen Beitrag vom 2. April 2016 erinnern: Die letzten Zuckungen der Riester-Rente und die Zerstörung der Illusion eines schönen kapitalgedeckten Lebens im Alter, wenn es viele machen (wollen/sollen/müssen) und nicht nur einige. Dort findet man diesen Hinweis:
Das hier angesprochene Problem ist keine neue Erkenntnis, sondern wird seit vielen Jahren in der Fachdiskussion aufgeworfen. Man schaue sich dazu nur diese Veröffentlichung an, die aus dem Jahr 2001 stammt:

Andreas Heigl und Martin Katheder: Age Wave – Zur Demographieanfälligkeit von Aktienmärkten. Policy Brief 4/2001, München: Hypovereinsbank, 2001

Ihre Argumentation damals, im Jahr 2001 (also in der Zeit, in der die damaligen Schröder-Regierung das Loblied der kapitalgedeckten Altersvorsorge gesungen hat), ging so: Insbesondere die Generation der heute 30- bis 50-jährigen muss mit niedrigeren Renditen für ihre Geldanlage in die Aktienmärkte rechnen. Denn auch die Kapitaldeckung ist im Zuge der demografischen Alterung ähnlichen Risiken ausgesetzt wie die umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme. Ursächlich hierfür ist das sich künftig deutlich verschlechternde Verhältnis von Sparern zu Entsparern („Age Wave“).

Man kann das auch so ausdrücken: Wir sind alle Gefangene unserer Kohorte. Wenn also größere Summen von den Vorsorgenden eingesammelt werden, um diese rentierlich anzulegen und dann, wenn das Alter gekommen ist, die vereinbarten und die in Aussicht gestellten Beträge auch auszahlen zu können, dann braucht man Abnehmer für die Sachen, in die man Geld angelegt hat, beispielsweise in Immobilien oder in Aktien. Und was, wenn es zu diesem Zeitpunkt gar nicht genug Abnehmer gibt oder geben kann, weil deren Zahl deutlich niedriger ist als es in der Vergangenheit noch war.
Die bedingungslosen Befürworter dieses Modells würden an dieser Stelle darauf verweisen, dass das alles kein Problem sei, weil man ja bei der Anlage des Kapitals nicht auf Europa oder nur Deutschland angewiesen sei, sondern das Kapital sehr bereit streuen könnte.

Das ist ein zentraler Punkt. Hier kann man die berühmte „Mackenroth-These“ in den Raum stellen, also die oft zitierte Formulierung des Ökonomen, Soziologen und Bevölkerungswissenschaftlers Gerhard Mackenroth, der 1952 – im Vorfeld der „großen Rentenreform“ von 1957 – geschrieben hat: »Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein „Sparen“ im privatwirtschaftlichen Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand.« Das gilt aber eben auch für die angebliche Kapitaldeckung. Das hat bei den Apologeten einer stärkeren Kapitaldeckung schon immer für Missmut gesorgt und sie haben versucht, diese volkswirtschaftliche Grundtatsache zu desavouieren.

Ein Beispiel dafür ist Bert Rürup, der frühere „Super-Berater“ der rot-grünen Ära, dessen Einfluss so weit ging, dass eine kapitalgedeckte Variante nach ihm benannt wurde („Rürup-Rente“). Der hat 2016 diesen Text veröffentlicht: „Mackenroths Theorem“: Ein Zombie der Rentenpolitik – und disqualifiziert sich schon selbst mit der Überschrift. Natürlich kann auch Rürup die Selbstverständlichkeit nicht leugnen, versucht sich aber sogleich zu verkleinern, wenn er schreibt: »Der Satz, dass „aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss“, ist so zutreffend wie banal … Insoweit hatte Mackenroth zweifellos Recht.« Banal ist das gerade heute eben nicht. Dann aber kommt Rürup mit seinem eigentlichen Argument: »Die Aussage, dass Kapitaldeckung und Umlageverfahren nicht wesentlich verschieden seien und es volkswirtschaftlich immer nur ein Umlageverfahren gäbe, ist jedoch unzutreffend.« Und wir verortet er den entscheidenden Unterschied? Seine Argumentation wird von vielen Ökonomen sicher gerne kopiert und geteilt werden: »Die von den Versicherungen, Fonds oder Banken erzielten Vermögenseinkommen stammen dagegen aus der Anlage der Versicherungsprämien in deutsche und ausländische Staatsanleihen sowie aus Gewinnausschüttungen nicht nur in Deutschland tätiger Unternehmen, sondern zu einem beachtlichen Teil auch von Investitionen in anderen Ländern – in Anleihen, Beteiligungen an Unternehmen oder an Fonds. Kurzum, die mit Prämien an ein kapitalgedecktes System erworbenen Ansprüche werden aus völlig anderen Quellen und von einem anderen Personenkreis bedient als die aus den Beiträgen an eine umlagefinanzierte Rentenversicherung gezahlten Ansprüche.«

An dieser Stelle komme ich zurück zu der Arbeit von Heigl/Katheder (2001). Schon damals wurde mit Blick auf deren Studie darauf hingewiesen:

»Als möglicher Ausweg wird oft ein verstärkter Kapitaltransfer in demographisch junge Länder mit hohem Wachstumspotenzial ins Feld geführt. Sie sollen mit den späteren Erträgen die Ruheständler der westlichen Industrienationen versorgen („demographische Arbitrage“). Hier sind die Autoren aber skeptisch: Zum einen sind die Schwellenländer kaum in der Lage, das riesige Kapitalvolumen auch zu absorbieren. Wenn sich für die zufließenden Summen keine rentablen Investitionsmöglichkeiten mehr finden, kann die makroökonomische Stabilität sogar gefährdet sein.«

Man kann es auch so ausdrücken: Wenn ein enormes Angebot an Anlagen in der Auszahlungsphase auf eine aus welchen Gründen auch immer deutlich niedrigere Nachfrage stößt, dann muss nach allen Regeln der Ökonomie der Preis sinken.

Und wem das alles zu „alt“ und „abgehangen“ daherkommt, der kann einen Blick in die aktuelle Wirtschaftspresse werfen. Empfohlen sei hier exemplarisch der Beitrag Retiring baby boomers are going to have a huge impact on the economy von Stephen McBride, der am 14. September 2017 auf den Seiten es World Economic Forum veröffentlicht wurde. Der Beitrag bezieht sich auf die USA, wie die Generation der Baby Boomer der in Deutschland um einige Jahre voraus ist: »The first Baby Boomers turned 70 last year. At the same time, the US fertility rate is at its lowest point since records began in 1909. This disastrous combination means by 2030, those aged 65 and older will make up over 20% of the population.«

Die hier besonders relevante Argumentation in dem Artikel geht so:

»According to BlackRock, the average Boomer has only $136,000 saved for retirement. Even assuming 7% returns—when they’re more like 2%—it’s a yearly income of only $9,000. That’s $36,000 shy of the ideal retirement income.

This huge funding gap in pensions means Boomers will be forced to look for income elsewhere. Historically, that has come from bonds.«

Und hier kommen wir dann wieder zurück zu Angebot und Nachfrage, denn McBride weist darauf hin, dass es »trouble for the stock market as Boomers have 70% of their portfolios in equities« bedeutet. 2016 waren 37% der US-amerikanischen Aktien gebunden in der privaten Altersvorsorge. Und dann kommt der Schlüsselsatz, den man an Heigl/Katheder (2001) problemlos andocken kann:

»Therefore, this wave of forced selling will flood the market with billions of dollars’ worth of equities and bonds, which will push down prices.«

Und der Verfasser gibt den Investoren noch einen guten Ratschlag mit auf den Weg: »With millions of retirees forced to divest their portfolios over the next decade, and markets sitting at all-time highs, investors should start thinking about exit strategies.«

Das hört sich wahrlich nicht nach einem sicheren Hafen für die Altersvorsorge von Millionen Menschen an.

Am Anfang des Beitrags wurde die Idee der „Deutschland-Rente“ angesprochen, einem „schwarz-grünen“ Projekt sozusagen. Was soll das sein? Vorgeschlagen wird eine einfache, sichere und günstige zusätzliche Altersvorsorge, ein Standardprodukt für jedermann.  Sie wird zum Selbstkostenpreis von einem zentralen Rentenfonds verwaltet, damit das Geld, das Bürger für ihre zusätzliche Altersvorsorge beiseite legen, sicher vor überteuerten Angeboten ist. Sie sorgt für Orientierung in einem unübersichtlichen Markt, schafft Vertrauen und hilft vor allem, der Altersarmut vorzubeugen. Der Staat organisiert sie und steht dafür mit seinem guten Namen – deshalb der Name „Deutschland-Rente“. Die Anlage der eingezahlten Beiträge obliegt dem Deutschlandfonds, einem eigenständigen zentralen Rentenfonds, der ohne eigenes Gewinninteresse auf Selbstkostenbasis arbeitet und geschützt vor politischem Zugriff ist.

Das hört sich doch vernünftig an – und immer wieder wird in diesem Kontext darauf verwiesen, dass es doch so etwas in anderen Ländern geben würde. Norwegen, Schweden und Dänemark – also wieder einmal die skandinavischen Länder – werden hier gerne genannt.

Wie immer lohnt es sich, auch hier genauer hinzuschauen. Das hat Christoph Freudenberg gemacht, mit seinem Aufsatz „Staatliche Fonds und Alterssicherung: Erfahrungen anderer Länder“, der in der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung“, Heft 3/2017, S. 292 ff. veröffentlicht worden ist.
Der Zusammenfassung kann man entnehmen:

»In den jüngsten Jahren forderten unterschiedliche rentenpolitische Akteure die Einrichtung eines staatlichen Fonds zur Anlage individueller Altersersparnisse. Dabei verwiesen die Befürworter auf die guten Erfahrungen in anderen Ländern. Der vorliegende Beitrag wirft daher einen Blick auf die Ausgestaltung von staatlichen Fonds im internationalen Vergleich. Ein besonderer Fokus wird auf den norwegischen Staatsfonds, den schwedischen AP7-Fonds sowie den dänischen, sozialpartnerschaftlich geprägten ATP-Fonds gelegt. Dabei zeigt sich, wie unterschiedlich diese Fonds ausgestaltet sind, insbesondere im Hinblick auf ihre Zielsetzung und Anlagestrategie. Ein Augenmerk verdient das schwedische und dänische Modell. Beide überzeugen durch ihre geringe Kostenstruktur. Nichtsdestotrotz kommt der Autor zu dem Schluss, dass eine Übertragbarkeit dieser Modelle auf Deutschland nicht ohne Weiteres möglich ist.«

Freudenberg hat in seiner Untersuchung festgestellt, dass viele Staatsfonds gar keinen Rentenbezug aufweisen und für andere Ziele wie beispielsweise der Stabilisierung der heimischen Wirtschaft genutzt werden. Und beschränkt man den Blick auf öffentliche Fonds mit einem Rentenbezug, dann zeigt sich

»dass auch diese überwiegend nicht zur Anlage individueller Altersvorsorgeersparnisse (Rentenanlagefonds) genutzt werden. Vielmehr dienst das Gros dieser Fonds zur mittel- beziehungsweise langfristigen Finanzierung der öffentlichen umlagefinanzierten Rentensysteme (Rentenreservefonds).« (Freudenberg 2017: 308 f.)

Hier nur einige wenige Aspekte aus der Analyse von Freudenberg: Der vielzitierte norwegische Staatsfonds kann kaum als Vorbild für die jüngere deutsche Diskussion dienen, denn der ähnelt eher einem Rentenreservefonds, der die absehbaren demografischen Lasten abfedern soll.

Ein mögliches Referenzmodell findet man hingegen in Schweden. Seit 1999 gibt es dort mit dem staatlich verwalteten AP7-Fonds ein Standardprodukt als Alternative zu privatwirtschaftlichen Sparverträgen. Rund die Hälfte der schwedischen Erwerbspersonen sorgt über diesen Fonds kapitalgedeckt für das Alter vor. Dieser Fonds hat interessanterweise in den letzten Jahren besser abgeschnitten als der Durchschnitt der privaten Anbieter, was Renditen und Kosten angeht. Man muss allerdings darauf hinweisen, dass der Fonds eine eher riskante Anlagestrategie verfolgt. Es gibt keine Ertragsgarantien, bis zum Alter von 50 Jahren wird das Sparvermögen ausschließlich in Aktien investiert und es werden Finanzhebel eingesetzt.

Der ebenfalls untersuchte ATP-Fonds in Dänemark umfasst nahezu die gesamte Bevölkerung inklusive der Sozialleistungsempfänger. Anders als in Schweden gehen die Dänen deutlich sicherheitsorientierter vor. Interessant sind auch die Entscheidungsstrukturen in diesem Fonds, werden doch fast alle wesentlichen Entscheidungen von den Sozialpartnern, also Gewerkschaften und Arbeitgebern, getroffen.

Beachtlich sind die sehr geringen Anlage- und Verwaltungskosten der Fonds. Aber das bedeutet nicht, dass staatliche Fonds per se effizienter arbeiten als private Anbieter. Dazu Freudenberg (2017: 310):

»Es ist anzunehmen, dass die quasi verpflichtende Teilnahme aller Beschäftigten in diesen Fonds entscheidend für die beobachtete Kosteneffizienz ist. Im Umkehrschluss ist es fraglich, ob die Einführung eines staatlichen Rentenanlagefonds in  Deutschland ohne eine solche (quasi) verpflichtende Teilnahme ähnlich gute Ergebnisse im Hinblick auf Kosteneffizienz liefern würde.«

Und dann bleibt noch ein weiterer Aspekt offen: Norwegen, Schweden und Dänemark sind überschaubare Volkswirtschaften mit einer zahlenmäßig begrenzten Grundgesamtheit. Was aber, wenn in Deutschland genau so gespart und Kapital angelegt werden soll wie in diesen kleinen Ländern? Wir hätten es in Deutschland  mit einer ganz anderen Zahl und damit runden auch einem ganz anderen Volumen an Anlage und Rendite suchenden Kapital zu tun.

Man kann es drehen und wenden wie man will. Es wäre besser, wenn die zukünftige Bundesregierung ihr Augenmerk auf die Stärkung der Gesetzlichen Rentenversicherung und dabei auf die Beantwortung der Frage, wie man die Finanzierungsbasis der GRV endlich wegverlagern kann von der Belastung des Faktors sozialversicherungspflichtige Arbeit (und die auch noch begrenzt bis zur Beitragsbemessungsgrenze) hin zu einer Abbildung der tatsächlichen (und wachsenden) Wertschöpfung in der Finanzierungsarchitektur.

Private Altersvorsorge: Von einem toten Pferd, das man weiter pampert bis zu unattraktiven Riester-Sparern, denen gekündigt wird

Die Riester-Rente ist eine vom Staat durch Zulagen sowie Möglichkeiten des Sonderausgabenabzugs in Höhe von mehreren Milliarden Euro jährlich aus Steuermitteln geförderte, privat finanzierte Rente in Deutschland. Sie wurde im Zuge des rentenpolitischen Paradigmenwechsels der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends  eingeführt und soll (auf freiwilliger Basis) die (zwangsweise für alle) durch Kürzung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung gerissenen Sicherungslücken kompensieren. In den vergangenen Jahren sind durch immer wiederkehrende kritische Berichterstattung über Sinn und Unsinn der Riester-Rente die Akzeptanz und Resonanzboden geschrumpft worden. Und seit der Finanzkrise und der seitdem anhaltenden Niedrig-, Null- und Negativzinspolitik der EZB wird zunehmend deutlicher erkennbar, dass das kein besonders attraktives Geschäft mehr ist – selbst für viele Versicherer und Banken, die bislang und immer noch an der staatlichen Subventionierung ihrer Produkte über Abschluss- und Vertriebskosten ordentlich verdient haben. Und das bei überschaubaren Sicherheiten für die Riester-Kunden. So verlangt beispielsweise das  Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz, dessen Anforderungen die Riester-Verträge erfüllen müssen, dass zu Beginn der Auszahlungsphase mindestens die Summe der eingezahlten Beiträge (Eigenleistung + staatliche Zulage) garantiert werden muss. Nun wird das Geld zu einem späteren Zeitpunkt, der bei jüngeren Sparern Jahrzehnte später sein kann, auch weniger wert sein, so dass die Kaufkraft der garantierten Leistungen unterhalb der zuvor entrichteten Beiträge liegen wird.

Das Geschäft der Finanzindustrie mit dieser aus Steuermitteln gepamperten Altersvorsorge-Variante ist merklich eingebrochen und bei vielen Menschen ist angekommen, dass das hochproblematische Produkte sind. Man erkennt das nicht nur, wenn man einen Blick wirft auf die Statistik der Zahl der Riester-Verträge insgesamt, die offensichtlich den Sättigungspunkt erreicht hat und zum Sinkflug ansetzt, sondern auch bei Berücksichtigung der Tatsache, dass selbst nach offiziellen Schätzungen des BMAS (mindestens) ein Fünftel aller Riester-Verträge „ruhend“ gestellt, also die Sparer zahlen keine Beiträge mehr ein.

Man kann der Politik wahrlich nicht vorwerfen, dass sie keine Anstrengungen unternimmt, um den schleichenden Tod der Riester-Rente zu stoppen: Man dopt das totgesagte Pferd, natürlich wieder mit Steuermitteln und weiteren Anreizen zur Aufhübschung des Produkts, zuletzt geschehen durch das „Betriebsrentenstärkungsgesetz“ der sozialdemokratischen Arbeitsministerin Andrea Nahles (vgl. dazu den Beitrag Die halbierte Betriebsrentenreform, eine „kommunikative Herausforderung“ gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt vom 3. Juni 2017):

  • Die staatliche Förderung für die  Riester-Rente steigt. Die Grundzulage wurde von 154  Euro im Jahr  auf 175 Euro angehoben.
  • Von weitreichender Bedeutung ist diese Komponente: Betriebliche und private Riester-Renten werden künftig nicht mehr voll auf die Grundsicherung im Alter (Mindestrente auf Niveau von Hartz-IV) und bei Erwerbsminderung angerechnet.  Künftig können die Betroffenen aus diesen Renten bis zu 202 Euro monatlich anrechnungsfrei behalten. Der Betrag wird mit den Regelsätzen dynamisiert. Das ist ein massiver Eingriff in die bisherige Architektur mit einer expliziten Besserstellung (nur) der Riester-Renten gegenüber allen anderen Einkommensarten (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Solche und andere Rentner. Zur partikularen Privilegierung der kapitalgedeckten Altersvorsorge in der Grundsicherung und den damit verbundenen offenen Fragen vom 10. Juni 2017).

Aber allen staatlichen Wiederbelebungsversuchen zum Trotz – nicht nur auf der Nachfrageseite gibt es Ernüchterung, Enttäuschung und Rückzug, das gleiche wird auch von der Angebotsseite berichtet: Mehrere Versicherer stellen Riester-Neugeschäft ein, so ist beispielsweise ein Artikel das überschrieben: »Sieben Versicherer nahmen demnach zum 1. Januar 2017 Riester-Verträge ganz oder teilweise aus dem Programm. Anderen Gesellschaften haben ihr maximales Eintrittsalter herabgesetzt, so dass ältere Sparer keinen Vertrag mehr erhalten.«

Aber auch hier gibt es offensichtlich noch Steigerungspotenzial: Privatbank kündigt Riester-Verträge, berichtet das Wirtschaftsmagazin Capital. Man kann das durchaus als Tabubruch und Vorstoßversuch in eine neue Dimension der Abwicklung schlecht gewordener Risiken verstehen: »Eigentlich sind Riester-Verträge unkündbar. Die Hamburger Privatbank Donner & Reuschel kündigt trotzdem. Zwei Bundesministerien wollen notfalls dagegen vorgehen.«

Sowohl das Bundesarbeitsministerium wie auch das Bundesfinanzministerium erklärten, »Versicherungen und Banken dürften Riester-Policen nur unter äußerst strengen Bedingungen kündigen. Notfalls müsse der Gesetzgeber einschreiten.« Wie stellt sich der Sachverhalt dar?

Die »Hamburger Privatbank Donner & Reuschel, eine Tochter des Versicherungskonzerns Signal Iduna, (hat) in den vergangenen Monaten gut 130 Kunden mit einem Riester-Sparplan nahegelegt, in eine andere Riester-Versicherung des Iduna-Konzerns zu wechseln. Kunden, die dieses Angebot ablehnten, kündigte die Bank außerordentlich. Es dürfte das erste Mal überhaupt sein, dass ein Riester-Anbieter versucht, solche Verträge zu beenden. Wegen der hohen staatlichen Zuschüsse und der besonderen Vorsorgefunktion von Riester-Renten hatte der Gesetzgeber solche Kündigungen komplett ausschließen wollen.«

Und wie begründet der Anbieter seinen eigentlich nicht zulässigen Schritt? Er hat offensichtlich in das BGB geschaut und meint, mit dem § 313 BGB einen Hebel gefunden zu haben, um die offensichtlich unliebsam gewordenen Kunden loswerden zu können. Im Absatz 1 dieses Paragrafen findet man diesen Hinweis:

»Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.«

Absatz 3 ermöglicht dann den Rücktritt bzw. die Kündigung, wenn eine Anpassung nicht möglich ist.

Und was sind im Fall der Signal Iduna-Tochter die geforderten „schwerwiegend veränderten Umstände“? Man glaubt es nicht: Donner & Reuschel konnte die alten Verträge nach eigenen Angaben nicht weiterführen, weil die IT des Geldhauses umgestellt worden ist. Bei den Kündigungen beruft sich die Bank deshalb auf eine „Störung der Geschäftsgrundlage“, kann man dem Capital-Artikel entnehmen.

Diese „Begründung“ muss man als putzig bezeichnen. „Wenn Donner & Reuschel damit durchkommt, könnten andere Riester-Anbieter das Vorgehen kopieren und sich einfach auf eine neue IT berufen, um Kunden zu kündigen“, wird Benjamin Wick vom Marktwächter Finanzen der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg in dem Artikel zitiert. Und was sagen die Ministerien?

»Arbeits- und Finanzministerium erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme, für eine außerordentliche Kündigung reiche es nicht, sich auf eine IT-Umstellung zu berufen. „Sollte dies von der Rechtsprechung anders gesehen werden, müssten die entsprechenden gesetzlichen Regelungen gegebenenfalls ergänzt werden“, teilen die Ministerien mit.«

In dem Artikel gibt es aber den Hinweis auf die eigentliche „Störung der Geschäftsgrundlage“ aus Sicht der Bank: »Wegen der anhaltend niedrigen Zinsen sind Riester-Verträge für Finanzhäuser derzeit besonders unattraktiv.«

So ist das. Denn eine schwerwiegende Veränderung der Umstände, unter denen die Verträge geschlossen wurden, kann man aus Sicht der Anbieter wenn, dann beim Zins erkennen. Die Problemgemengelage äußerst niedriger Marktzinsen für die erforderlichen sicheren Anlagen, den anfallenden Kosten und das verbunden mit der Beitragsgarantie besteht für alle Anbieter und das (zunehmend) seit Jahren. Bislang hat das nicht dazu geführt, dass die Anbieter Verträge kündigen, aber das kann sich ändern, wenn die Dammbruch-Aktion der Privatbank erfolgreich wäre.

Dabei werden die Sparer bereits seit längerem schon massiv getroffen von einseitigen Anpassungsmaßnahmen der Anbieter an die veränderte Zinslandschaft. Dazu beispielsweise der Beitrag Die Renten sind nicht sicher von Herbert Fromme: »Anbieter kürzen immer öfter ihre Zusagen oder sogar laufende Renten. An die hohen Vertriebskosten gehen die Versicherer dagegen nur zögernd heran.«
Er illustriert das am Beispiel des Frank G. aus München, Kunde bei der Allianz Lebensversicherung. Man müsse den Rentenfaktor senken, teilt ihm sein Versicherungsunternehmen mit.

Der Rentenfaktor »bestimmt, wie hoch die Privatrente von Frank G. einst ausfallen wird. Pro 10.000 Euro angespartem Geld zu Beginn der Rentenauszahlung sind das künftig 38 Euro, nicht mehr 44 Euro im Monat. Wenn G. insgesamt 100.000 Euro angespart hat, bis er in Rente geht, zahlt die Allianz ihm garantiert 380 Euro im Monat. Bis Ende 2016 gingen Versicherer und Kunde noch von 440 Euro aus. Dazu kommt möglicherweise noch eine Überschussbeteiligung, die aber nicht garantiert ist und immer seltener wird.«

Seine zukünftige Privatrente wird um fast 14 Prozent gekürzt – und dass das überhaupt möglich ist, sei ihm bei Vertragsabschluss nicht klar gewesen. So geht es vielen anderen sicher auch. Und wenn jetzt der eine oder andere einwenden möchte, dass das eben ein bedauerlicher Einzelfall sei, dann lohnt es sich, weiterzulesen:

»Hunderttausende von Kunden der Lebensversicherer erhalten solche und ähnliche Schreiben. Meistens geht es dabei um die Absenkung künftiger Privatrentenansprüche. Die Generali geht noch einen Schritt weiter. Sie kürzt ab dem 2. Halbjahr 2017 bei 27 000 Kunden die laufenden Renten.«

Die Lebensversicherer argumentieren mit den niedrigen Zinsen und das kann man durchaus nachvollziehen. Fromme schaut weiter und kritisiert: »Aber sie wären glaubwürdiger, wenn sie auch ihr Geschäftsgebaren anpassen würden. Immer noch tun viele Versicherer so, als ob die niedrigen Zinsen nur dann wichtig sind, wenn es um die Ansprüche der Kunden geht. Beim eigenen Vertriebsaufwand tun sie wenig.« 2016 gaben die Gesellschaften sieben Milliarden Euro für Vertriebskosten aus, das meiste davon für Provisionen. Aufgebracht werden diese Mittel allein von den Kunden.

»Die private Lebens- und Rentenversicherung ist für die Altersvorsorge gerade angesichts niedriger Zinsen viel zu teuer. 2016 haben die Kunden 86,6 Milliarden Euro an Beiträgen gezahlt. Davon gehen acht Prozent für die Vertriebskosten drauf, stehen also nicht für die Altersversorgung zur Verfügung.«

In der Gesamtschau wird das ganze Gebäude der privaten Altersvorsorge immer löchriger – vor allem für die Kunden und der Grad der Unkalkulierbarkeit nimmt stetig zu. Keine wirklich überzeugenden Argumente für eine Stärkung der Bedeutung der privaten Altersvorsorge im Konzert der unterschiedlichen Alterssicherungskomponenten. Natürlich ist es naheliegend, hier ein Systemproblem zu identifizieren, das im Kontext der politisch bewusst gerissenen Sicherungslücken in der tragenden Säule der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung zu diskutieren wäre. Aber selbst in der Großen Koalition mit einer sozialdemokratischen Bundesrentenministerin, die zwischenzeitlich zur Oppositionsführerin im neuen Bundestag mutiert ist, wurde die Kapitaldeckung im Alterssicherungssystem beispielsweise mit der Reform der betrieblichen Altersvorsorge und der Infusionen in das Gefäßsystem der Riester-Rente weiter vorangetrieben – nicht nur, aber auch, um den Versicherungen, Banken und anderen Finanzakteuren neue Einnahmequellen zu erschließen. Das gehört dann eben auch systematisch diskutiert und kritisiert.

Und an die Adresse derjenigen, die sich mit Blick auf die Null- und Negativzinsen baldige Erlösung erhoffen von der EZB, sei hier aus der Pressemitteilung vom 26.10.2017 der Herren des Geldes über die weitere Ausgestaltung der Geldpolitik der Zentralbank im noch laufenden und im kommenden Jahr zitiert:

»The interest rate on the main refinancing operations and the interest rates on the marginal lending facility and the deposit facility will remain unchanged at 0.00%, 0.25% and -0.40% respectively. The Governing Council continues to expect the key ECB interest rates to remain at their present levels for an extended period of time.«

Eine „extended period of time“ kann in diesem Kontext sehr lange dauern.

Wie lange noch warten? Überforderte Solo-Selbständige und die Diskussion über eine Absenkung des Mindestbeitrags an die Krankenkassen

Immer wieder wird man konfrontiert mit der Problematik, dass viele Solo-Selbständige mit enormen Krankenkassen-Beiträgen in Relation zu dem, was sie verdienen, belastet sind. Teilweise frisst das sie Hälfte des Einkommens auf. Mit Folgen: Teilweise sind die Betroffenen ohne Versicherungsschutz (vgl. Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz vom 18. Januar 2017) und auf die Notversorgung angewiesen. Und die Beitragsschulden bei den Krankenkassen steigen kontinuierlich an. »Weil man früher davon ausgegangen ist, dass Selbstständige in der Regel gut verdienende Unternehmer mit Angestellten sind, wurde ein Mindestbeitrag festgelegt. Er soll verhindern, dass sich der Selbstständige arm rechnet. Derzeit wird bei der Beitragsberechnung so getan, als verdiene der Betroffene brutto mindestens 2231 Euro. Da die Selbstständigen auch den Arbeitgeberanteil selbst zahlen müssen, sind für den Versicherungsschutz (inklusive Krankengeldanspruch und Pflegeversicherung) im Schnitt mindestens knapp über 400 Euro im Monat fällig. Nur in besonderen Härtefallen lässt sich der Beitrag auf rund 270 Euro drücken … Inzwischen sind etwa 71 Prozent der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Selbstständigen sogenannte Solo-Selbstständige; sie haben also keine Angestellten … Das Jahresdurchschnittseinkommen dieser Personengruppe liegt bei brutto 9444 Euro, also lediglich 787 Euro im Monat. Daran gemessen ist ihr Beitragsanteil für die Krankenversicherung deutlich zu hoch. Er kann fast 50 Prozent betragen, während Arbeitnehmer derzeit im Schnitt 8,4 Prozent zahlen«, so beispielsweise Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Warum die Schulden der gesetzlichen Krankenversicherung explodieren.

Über die ganze Problematik und die kontrovers diskutierten Lösungsansätze wurde in diesem Blog bereits ausführlich berichtet. Vgl. dazu den Beitrag Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist vom 11. Februar 2017.

Der Reformbedarf an dieser Stelle wird – eigentlich – von so gut wie allen Beteiligten eingeräumt (außer von den bislang politisch Verantwortlichen, die hier den toten Mann gespielt haben bzw. noch spielen und die offensichtlich hoffen, dass der Kelch irgendwie an ihnen vorbei geht, dabe immer die angeblichen finanziellen Auswirkungen im Blick: Eine Absenkung der Mindestbeitragsgrenze hätte „erhebliche Mindereinnahmen“ in der GKV zur Folge, ihre Abschaffung stünde „im Widerspruch zum Solidarprinzip der GKV“, erklärte die Regierung im September 2016 auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag).

Selbst aus dem Krankenkassenlager kommt der Hinweis auf den dringenden Handlungsbedarf, aber auch die Anmerkung, dass wir es hier mit einem nur kompromisslerisch zu lösenden Problem zu tun haben:

»… auch in der GKV werden die weithin auf Typisierungen basierenden Beitragsregelungen der konkreten Situation vieler Selbstständiger nicht mehr gerecht, wie nicht zuletzt die hohe Zahl von Nichtzahlern unterstreicht. Allerdings prallen hier zwei Schutzinteressen aufeinander: einerseits die Schutzbedürftigkeit kleiner Selbstständiger in prekären Einkommenslagen, aber andererseits auch die Notwendigkeit, die Solidargemeinschaft der GKV vor Überforderung zu schützen. An der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes müssen sich deshalb alle Bürger beteiligen, nicht zuletzt auch die nach wie vor vielen Selbstständigen mit hohen und sehr hohen Einkommen.« So Dietmar Haun und Klaus Jacobs in ihrer 2016 veröffentlichten Studie Die Krankenversicherung von Selbstständigen: Reformbedarf unübersehbar.

Wir haben es hier mit einer höchst ambivalenten Gemengelage zu tun. Man kann an dieser Stelle natürlich die grundsätzliche Frage aufrufen – bis wohin runter soll es denn gehen? Und ist es Aufgabe der Solidargemeinschaft, auch Geschäftsmodelle von Selbständigen zu subventionieren, bei denen die weniger als 900 Euro im Monat verdienen? Eine Frage, daran sei hier nur erinnert, die sich auch im Bereich der Grundsicherung nach SGB II stellt, bei den selbständigen Aufstockern im Hartz IV-System also. Leistet man, anders gefragt, nicht einen Beitrag zur Stabilisierung von Kümmerexistenzen, wenn man denen die Absicherung auch noch erleichtert?

Auf der anderen Seite kann man argumentieren: Wenn sich die Leute selbständig engagieren, wenn sie versuchen, über die Runden zu kommen mit ihrer eigenen Arbeit, auch wenn die nicht viel einbringt – ist das nicht allemal besser, als wenn sie vollständig von Leistungen der Grundsicherung abhängig sind? Muss man dann nicht auch Beitragsgerechtigkeit im Sinne der offensichtlich schutzbedürftigen Personen herstellen? Wenn die Menschen vollständig arbeitslos wären, dann zahlt das Jobcenter einen Beitrag an die Gesetzliche Krankenversicherung. Wenn die Leute nur einem 450 Euro-Job nachgehen, können sie weiterhin beitragsfrei familienmitversichert sein. Warum soll man den Selbständigen mit sehr kleinen Einkommen davon ausschließen?

Die aufgeworfenen Fragen sollen und können hier nicht abschließend beantwortet werden, sie zeigen aber das Spannungsfeld auf, in dem wir uns hier bewegen.

Was gibt es nun an konkreten Vorschlägen, die bestehende Situation zugunsten der betroffenen Selbständigen zu verändern? Die sind in der Abbildung am Anfang des Beitrags aufgeführt.

Ausgangspunkt ist die derzeitige Regelung, dass ein Mindesteinkommen in Höhe von derzeit 2.231,25 Euro unterstellt wird, aus dem ein vom Selbständigen vollständig zu tragender Beitrag von mehr als 412 Euro resultiert. Im bestehenden Recht gibt es noch für Ausnahmefälle eine sogenannte „Härtefallregelung“. Darüber kann man die Bemessungsgrenze bis auf die Hälfte der monatlichen Bezugsgröße (1.487,50 Euro) senken – aber nur unter bestimmten restriktiven Voraussetzungen. Die Härtefallregelung ist nach Informationen des GKV-Spitzenverbandes im Erhebungszeitraum Juni 2016 bei rd. 204.000 Personen zum Tragen gekommen (vgl. dazu Bundestags-Drucksache 18/10762 vom 22.12.2016).

In der aktuellen Debatte über eine Reform der Beitragsbemessung beziehen sich beispielsweise der GKV-Spitzenverband, der IKK-Verband sowie im Sinne einer Mindestforderung der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) auf diese Mindestbeitragsrenze, die man öffnen müsste .
Der Bundesverband der AOK, die Ersatzkassen (vdek) sowie die Grünen fordern eine Absenkung der Mindestbeitragsbemessungsgrenze auf 991 Euro im Monat. Das haben die sich nicht ausgedacht, sondern diese Grenze haben wir heute schon bei den „Sonstigen Personen ohne Einkommen“ (z.B. pflegende Angehörige oder nebenberuflich Selbständige).

Und dann gibt es noch den Verband der Gründer und Selbständigen (VGSD) – und der hat sich sogar mit einer eigenen Studie präpariert, in der die unterschiedlichen Vorschläge für eine Absenkung der Mindestbeitragsbemessungsgrenze untersucht werden:

Günter Neubauer et al. (2017): Wege zur Überwindung von Einstiegshürden für Teilzeit-Selbständige und Gründer: Belastungen durch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, München 2017

Ver VGSD verweist auf die niedrigste Variante: Von SPD, FDP und Linken, aber auch dem DGB, von Verbraucher- und Sozialverbänden und vom VGSD und deren Partnerverbänden wird eine Absenkung der Mindestbemessung auf 450 Euro und damit eine Angleichung an die für Angestellte geltende Regelung gefordert. Das entspricht einem Mindestbeitrag von 83,25 Euro und wäre eine Absenkung um 80 Prozent. Eine Absenkung auf 650 Euro als potenzielle Kompromisslösung wäre mit Mindestbeiträgen von 120,25 Euro verbunden, das wäre eine Absenkung um 70 Prozent.

Mit Bezug auf die Neubauer-Studie argumentiert der VGSD: Natürlich wären die Beitragsmindereinnahmen im Fall einer Absenkung der Mindestbemessungsgrundlage auf 450 Euro am höchsten. Die Folge wären jährliche Mindereinnahmen von 737 Millionen Euro. Bei Kompromisslösungen – etwa der Absenkung auf 991,66 oder 1.487,50 Euro – fallen die Beitragsmindereinnahmen niedriger aus: Sie würden laut der Studie 534 bzw. 376 Millionen Euro betragen.

Bei einer Gesamtbetrachtung sind jedoch auch die Beitragsmehreinnahmen zu berücksichtigen, die durch Mehrarbeit der Selbstständigen entstehen. Diese fallen bei einer vollständigen Angleichung der Mindestbeiträge mit 820 Millionen Euro mit Abstand am höchsten aus.

Der Grund dafür: Viele bisher Familienversicherte erhalten durch eine abgesenkte Beitragsberechnung einen Anreiz, mehr zu arbeiten und zu verdienen. Auf das höhere Einkommen zahlen sie dann erstmals Beiträge, während sie bisher kostenlos versichert sind.

Unter dem Strich ergibt sich bei der vollständigen Angleichung deshalb ein positiver Nettoeffekt für die Kranken- und Pflegeversicherungen in Höhe von 83 Millionen Euro. Auch bei einer Absenkung auf 650 Euro wäre der Nettoeffekt noch positiv.

Der Vorschlag mit der Mindestbeitragsbemessung von 450 Euro hatte es zwischenzeitlich auch in den Bundestag geschafft: Anträge zu Kranken­kassenbeiträgen freiwillig Versicherter abgelehnt: Der Bundestag »hat am Donnerstag, 30. März 2017, gegen zwei Anträge (18/9711, 18/9712) der Fraktion Die Linke votiert, die „gerechte“ Versicherungsbeiträge von freiwillig Versicherten und freiwillig versicherten Selbständigen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fordern.«

Man kann es in diesem Kontext auch so sehen wie Andreas Müller, der auf change.org diese Petition gestartet hat: Gerechte Krankenkassenbeiträge für geringverdienende Selbständige. Der 48-Järige beschreibt seine eigene Situation so:

»Aufgrund von Arbeitslosigkeit hatte ich vor ca. acht Jahren den Schritt in die Selbständigkeit gewagt … Als Händler mit Pflanzen und Schnittblumen hatte ich mich auf dem Wochenmarkt nach einiger Zeit etabliert und mir einen Kundenstamm aufgebaut. Allerdings ist die Gewinnspanne bei einem solchen Produkt nicht sehr hoch und somit das monatliche Einkommen entsprechend gering.

Trotz meines niedrigen monatlichen Einkommens von nur 1200,–€ brutto (im Jahr 2015), zahle ich jeden Monat einen Beitrag von  410,– € an die Krankenkasse für die Kranken- und Pflegeversicherung (34% meines Einkommens). Dieser Mindestbeitrag für freiwillig gesetzlich Versicherte wird von einem fiktiven Einkommen, der Mindestbeitragsbemessungsgrenze von zurzeit 2231,25 € berechnet … Bei einem Antrag auf eine Beitragsermäßigung bei der Krankenkasse, besteht eine Auskunftspflicht in Bezug auf das Vermögen (dazu zählen Auto, Schmuck, Sparvermögen usw.) sowie auf das Gesamteinkommen der Bedarfs- bzw. der Lebensgemeinschaft, in der ein(e) Selbständige(r) lebt  – hier besteht eine Analogie zur Antragstellung bei Hartz IV.«

Und was genau will er mit seiner Petition erreichen?

»Daher fordere ich, dass der Krankenkassenbeitrag an die gesetzlichen Krankenkassen für Selbstständige unter Wegfall der Mindestbeitragsbemessungsgrenze nach dem tatsächlichen Gewinn ermittelt wird, wobei zukünftig die Frage nach der Bedarfsgemeinschaft und dem Vermögen entfällt. Nur wenn das tatsächliche Einkommen zugrunde gelegt wird, gibt es gerechte Beiträge.«

Auch wenn in der Forderung offensichtlich nicht genau differenziert wird zwischen „Gewinn“ und „tatsächlichen Einkommen“ – es bleibt auch hier zum einen der kritische Einwand, was die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Höhe dieser Posten angeht, die Selbständige mehr oder weniger haben und auch die ganz praktische Frage, wie man mit Fällen umgeht, bei denen die Einnahmen von Monat zu Monat eine große Varianz aufweisen, muss beantwortet werden.

Was bleibt am Ende? Zum einen besteht wirklich Handlungsbedarf bei den Selbständigen, die so wenig verdienen, dass sie ihre Beiträge schlichtweg nicht oder nur eingeschränkt zahlen können. Wenn man vom Prinzip der sozialen Schutzbedürftkeit ausgeht, dann spricht alles für eine deutliche Absenkung der Mindestbeitragsgrenze. Die Gesetzliche Krankenversicherung würde dann die ihr innewohnende Umverteilungsfunktionalität zugunsten von Menschen mit niedrigen Einkommen erfüllen, was den Kernbereich einer Sozialversicherung berührt.

Allerdings könnte man diesen Tatbestand weitaus entspannter und offensiver vertreten, wenn gleichzeitig die „guten“ Risiken, also die Selbständigen mit ordentlichen und sehr guten Einkommen, ebenfalls in die Sozialversicherung integriert wären, denn Umverteilung innerhalb einer Solidargemeinschaft setzt eben neben denen, wo eine offensichtliche Schutzbedürftigkeit festgestellt wird, auch diejenigen voraus, die ihrerseits zur Umverteilung beitragen, in dem sie ihre finanzielle Leistungsfähigkeit zur Verfügung stellen. So bleibt der schale Beigeschmack, dass die Selbständigen, die einer solidarischen Absicherung bedürfen, von der ansonsten oftmals geschmähten Sozialversicherung aufgefangen und unterstützt werden sollen, während sich die anderen, die es auch gibt, aus der Solidargemeinschaft verabschieden können und in die private Krankenversicherung gehen bzw. dort verbleiben.

Nachtrag: Am 25.10.2017 berichtet die Online-Ausgabe des Handelsblatts unter der Überschrift: Zahl der Solo-Selbstständigen auf 2,31 Millionen gestiegen: »Die Zahl der Solo-Selbstständigen ist seit dem Jahr 2000 deutlich auf 2,31 Millionen im vergangenen Jahr gestiegen. Damals gab es noch 1,84 Millionen Selbstständige ohne eigene Beschäftigte … Solo-Selbstständige haben dabei ein vergleichsweise niedriges Einkommen. Im vergangenen Jahr lag ihr monatliches Nettoeinkommen im Schnitt bei 1.567 Euro … Bis 2012 war die Zahl der Solo-Selbstständigen fast kontinuierlich bis auf 2,46 Millionen in die Höhe gegangen. Dann sank sie wieder auf 2,30 Millionen im Jahr 2015, um nun wieder leicht anzusteigen … 2016 bezogen etwas mehr als 105 000 Selbstständige ergänzende Hartz-IV-Leistungen.«