Wenn die Sonde sozialpolitisches Terrain sondiert. Eine Zwischenmeldung zu den Sondierungsgesprächen einer möglich-wahrscheinlichen Jamaika-Koalition

Kurz vor dem evangelischen Reformationstag ging es im Kontext der derzeit laufenden Sondierungsgespräche der möglichen und wahrscheinlichen Koalitionspartner eines Jamaika-Bündnisses aus Union, FDP und Grünen  um sozialpolitische Reformen – wobei „Reformen“ hier wie generell seit einigen Jahren nicht mehr in dem Sinne zu verstehen sind, wie das früher mal der Fall war, also etwas, das tradierte Mechanismen und Institutionen weiterentwickelt in einem positiven Sinne, sondern nicht selten wird der Terminus Reform ge-, manche würde sagen missbraucht für die Verkleisterung von Kürzungs- und Abbaumaßnahmen (vgl. zur Umdeutung von Begriffen im sozialpolitischen Kontext auch diesen Beitrag von Nicholas Timmins: The ‘welfare state’ should be something we’re proud of. Not a term of abuse). Nun ist im Vorfeld der Sondierungsgespräche – wohlgemerkt: das ist die Phase vor den offiziellen Koalitionsgesprächen, an deren Ende dann der Koalitionsvertrag stehen wird – immer wieder auf die große Differenz in sozialpolitischen Fragen vor allem zwischen der FDP und den Grünen hingewiesen worden.

Dazu als ein Beispiel der Beitrag „Jamaika“ ante portas nach der Bundestagswahl – und was das für die Sozialpolitik bedeuten kann. Am Beispiel der Leiharbeit vom 25. September 2017.  Und in diesen Tagen wurden wir Zeugen einer weiteren sozialpolitischen Baustelle, auf der sich die Uneinigkeit und die Bauchschmerzen mancher Beteiligter besichtigen lassen: die „Rente mit 63“. Vgl. dazu und vor dem Hintergrund der Äußerungen von Jens Spahn (CDU) den Beitrag Schaumschläger jenseits einer diskussionswürdigen Kritik an der bereits auf dem absteigenden Ast befindlichen „Rente mit 63“ vom  31. Oktober 2017.

Die BILD-Zeitung hat mal wieder als erste mit dem Toten gesprochen: »Reform der Reform bei der Rente: Nach BILD-Informationen haben sich Union, FDP und Grüne bei ihren Koalitionsgesprächen darauf verständigt, die erst 2014 von der Großen Koalition eingeführte Rente mit 63 (nach 45 Beitragsjahren) teilweise wieder abzuschaffen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Schafft Jamaika Rente mit 63 wieder ab? Die Replik lies nicht lange auf sich warten: Grüne dementieren Änderungen an Rente mit 63:

„Die Behauptung, dass Union, Grüne und FDP sich auf die Einschränkung der Rente mit 63 verständigt hätten, ist frei erfunden“, teilte das Mitglied im grünen Sondiererteam, Markus Kurth, am Mittwoch mit. Richtig sei, dass man in den Gesprächen mit CDU, CSU und FDP flexible Übergänge in den Ruhestand als wichtiges Zukunftsthema identifiziert habe … Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und FDP-Vize Wolfgang Kubicki widersprachen dem Eindruck, dass das Thema entschieden worden sei. In Verhandlungskreisen hieß es lediglich, man habe darüber bei der Sondierung am Montag im Zusammenhang mit der Erwerbsminderungsrente gesprochen.
Was aber sondieren die überhaupt auf dem sozialpolitischen Planeten? Einen ersten Eindruck vermittelt Rainer Woratschka mit seinem Artikel Jamaika-Sondierung zur Sozialpolitik: Von Altersarmut bis Cannabis: »Die erste Jamaika-Sondierung zur Sozialpolitik war nur ein Abtasten. Allerdings deuten sich Gemeinsamkeiten an – bei der Bekämpfung von Altersarmut, Pflegenotstand und Langzeitarbeitslosigkeit.«

Die Grünen haben den Sondierungsstand Arbeit, Rente, Gesundheit, Pflege, Soziales vom 30.10.2017 ins Netz gestellt. Darin findet man einige interessante Themen, mit denen sich die womöglich demnächst Regierenden so beschäftigen (wollen). Im Grunde ist das nicht mehr als eine Stichwortliste, was man angesprochen hat oder anzusprechen gedenkt. Schauen wir uns einige wenige Punkt etwas genauer an:

»Wir wollen Selbständigkeit fördern und unterstützen, unter anderem durch Bürokratieabbau, insbesondere bei der Statusfeststellung, und einer Reduzierung der Mindest-Krankenversicherungsbeiträge. In Verbindung damit diskutieren wir auch über die Frage der weiteren sozialen Absicherung von Selbständigen (Pflicht zur Altersvorsorge, möglicher Einbezug in die gesetzliche Rentenversicherung).«

Das ist verständlich und notwendig. Gerade die Mindest-Versicherungsbeiträge waren und sind Gegenstand intensiver Diskussionen und auch zahlreicher Medienberichte, vgl. dazu den Beitrag Wie lange noch warten? Überforderte Solo-Selbständige und die Diskussion über eine Absenkung des Mindestbeitrags an die Krankenkassen vom 24. Oktober 2017. An dieser Stelle kann man sich nach den Positionierungen gerade von Grünen und FDP am ehesten eine partielle Verbesserung vorstellen, was den Bereich der Krankenversicherung angeht, weitaus schwieriger wird das beim Thema Rentenversicherung werden.

Und dann kommen auf den ersten Blick unscheinbar daherkommende Stichpunkte, die es aber arbeitsmarktpolitisch in sich haben:

»Darüber hinaus sprechen wir im Rahmen der Sondierungen weiter über die folgenden Themen … Die Frage der Entwicklung des Arbeitszeitgesetzes … Die Frage von befristeten Arbeitsverhältnissen. Die Frage der Regulierung von Zeitarbeit (Höchstüberlassungsdauer etc) … Der Mindestlohn gilt. Im Rahmen des geltenden Mindestlohns sind die Fragen von Bürokratie, Dokumentationspflichten, Praktika und Ehrenamt zu prüfen.«

Was besonders elektrisiert sind die Andeutungen zum Thema Mindestlohn und Arbeitszeitgesetz. Und manche durchaus verständlich alarmiert. Zum Thema Mindestlohn vgl. schon den Beitrag Ein Vorstoß zur „Entlastung“ der Arbeitgeber beim Mindestlohn – ein Vorgeschmack auf das, was von einer Jamaika-Koalition sozialpolitisch zu erwarten ist? vom 17. Oktober 2017. Wenn nun „Fragen von Bürokratie, Dokumentationspflichten, Praktika und Ehrenamt“ zu prüfen seien, dann verheißt das nichts Gutes aus Sicht der Mindestlohnbefürworter, geht es hier doch offensichtlich um die Möglichkeit, Sonderregelungen zu schaffen. In diesem Kontext muss auch die lapidare Formulierung „Die Frage der Entwicklung des Arbeitszeitgesetzes“ sei Gegenstand der Sondierungen gesehen werden. In diesem Blog wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass weniger die Höhe des Mindestlohns an sich das Problem ist, sondern das bestimmte Branchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe darauf drängen, bei der Arbeitszeitkontrolle (gleichsam ein „Kollateralschaden“ der Mindestlohngesetzgebung) entlastet zu werden.

Dass beim Arbeitszeitthema einiges in Bewegung ist, kann man auch solchen Wortmeldungen entnehmen: Schäuble, Strobl und die DEHOGA: Arbeitszeitgesetz unter Beschuss, so beispielsweise der DGB: »Nach der Bundestagswahl werde er dafür kämpfen, „dass wir das Arbeitszeitgesetz so ändern, dass Sie den nötigen Spielraum haben“, versprach im April der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble dem Gastronomie-Arbeitgeberverband DEHOGA … Jetzt macht Schäubles Parteikollege Thomas Strobl den ersten Vorstoß.« Nun ist es also offensichtlich an der Zeit, Versprechen einzulösen. »Einen entsprechenden Vorstoß machte jetzt Thomas Strobl, der zweite CDU-Ehrengast des DEHOGA-Frühlingsfestes – und fordert die Abschaffung des Arbeitszeitgesetzes«, so der DGB.

Rainer Woratschka berichtet in seinem Artikel Von Altersarmut bis Cannabis zu diesem Punkt:

»So sah sich Grünen-Chefin Simone Peter am Tag danach zu der Klarstellung bemüßigt, dass ihre Partei einer „Aushöhlung“ des Mindestlohns, etwa durch eine Einschränkung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, ebenso wenig zustimmen könne wie einer „Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes“, das tägliche Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten regelt.

In der FDP wiederum ärgern sie sich über diese Replik. Man merke leider, dass Peter bei den Gesprächen über Arbeit und Soziales nicht dabei gewesen sei, gibt der Arbeitsmarktexperte der Liberalen, Johannes Vogel, zurück. Natürlich müsse man „Regeln im Zeitalter der Digitalisierung anpassen, wenn sie wie etwa bei der Arbeitszeit den Bedürfnissen von Millionen Beschäftigten nach Selbstbestimmung und flexibler Einteilung nicht mehr entsprechen“, beharrt er. Und bei der Sondierung habe man „zu Recht“ auch darüber gesprochen, „wie wir die Misstrauensbürokratie gegen Handwerk und Mittelstand reduzieren können“.«

Und wie sieht es bei der Rentenpolitik aus, wenn wir von den Schaumschlägereien eines Jens Spahn einmal absehen? Darüber wird sondiert – wobei einige Punkte sehr wohl im Zusammenhang stehen könnten mit einer schlussendlich dann doch aufgerufenen Abschaffung der „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“, wie die angebliche „Rente mit 63“ richtig heißt:

»Ein flexibler Renteneintritt und gleitende Übergänge von Erwerbstätigkeit in den Ruhestand (Teilrenten etc.) … Das Rentenniveau und die Beitragssatzentwicklung unter der Berücksichtigung der Generationengerechtigkeit und der angemessenen Absicherung im Alter … Verbesserungen bei der Erwerbsminderungs-Rente … Unser gemeinsames Ziel ist die Verbesserung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge … Die Frage weiterer Verbesserungen bei der Mütterrente.«

Hier tun sich eine Menge Fragezeichen auf. Vor allem der Hinweis darauf, dass die „Verbesserung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge“ offensichtlich Ziel aller Gesprächsparteien ist, lässt aufhorchen und man kann das auch kritisch sehen (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Vom theoretischen Irrweg einer Kapitaldeckung der Renten über die praktizierte Stärkung der Teilkapitaldeckung bis hin zu der Tatsache, dass wir alle Gefangene unserer Kohorte sind vom 29. Oktober 2017).

Und noch einmal zurück zum Thema Arbeitsmarkt – da ist doch noch die Gruppe der Langzeitarbeitslosen und der vielen Hartz IV-Empfänger, die es aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht gelingen will, an der aufsteigenden Beschäftigungsentwicklung zu partizipieren.

»Gemeinsames Ziel ist es, mehr Langzeitarbeitslosen den Einstieg auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Im Zuge dessen wollen wir unter anderem dafür sorgen, dass erheblich weniger Menschen das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen, nachholende Qualifikationen ausbauen sowie uns um die spezielle Zielgruppe von Alleinerziehenden intensiver kümmern.«

Und etwas genauer erfahren wir:

»Überprüfung und Weiterentwicklung der Fördermaßnahmen der Jobcenter, deren Struktur und die Stärkung dezentraler Entscheidungen, sowie der Vergleichbarkeit der Integrationserfolge. Die Zuverdienstregeln im Arbeitslosengeld II, mit Blick auf deren Anreize, durch Ausdehnung der Arbeitszeit auch mehr Verdienst zu behalten … Den Möglichkeiten für Personen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen sowie die Frage deren dauerhafter Förderung (z. B. Passiv-Aktiv-Transfer, Frage eines sozialen Arbeitsmarktes, etc.). Entbürokratisierungen, Pauschalierungen und Vereinfachungen im SGB II. Die Frage der Rechtsstellung der SGBII-Bezieher (Sanktionen).«

Das sind Themen, die sicherlich vor allem von den Grünen in den Sondierungsgesprächen platziert wurden. Ob es diesmal hilft, wenigstens teilweise dringend erforderliche Verbesserungen wenigstens anzustreben? Man darf gespannt sein.

Offensichtlich versuchen gerade die Grünen, einige Spuren bereits in dieser ersten Phase, vor dem Beginn offizieller Koalitionsverhandlungen, zu hinterlassen. Der Sache wegen sei gehofft, dass es ihnen gelingt, das auch bis zu einem Koalitionsvertrag durchzuhalten.

Die Hoffnung darauf ist zu diesem Zeitpunkt nur eine Hoffnung. Und man wünscht sich, dass diese Inaussichtstellung des Kommenden nicht eintreten wird:

»Was aber, wenn die Grünen trotz allem Widerstand leisten gegen das Schleifen ihrer linken Restposten? Man wird sie daran erinnern, dass Kompromisse dazugehören, vor allem, wenn man der kleinste Partner in einer Koalition ist. Konkret: Wenn den Grünen Entgegenkommen bei den für sie so wichtigen Themen Umwelt und Klima in Aussicht gestellt wird, dann müssen sie eben in den sozialpolitisch ziemlich sauren Apfel beißen. Und man wird das auch mit den entsprechenden ministeriellen Spielwiesen abzubilden versuchen. Sollen die Grünen das Umweltministerium bekommen. Und das Familienministerium und, wenn es denn sein muss, gerne auch ein Integrationsministerium, in dem sich die „Gutmenschen“ austoben können, ohne wirkliche Budgetrelevanz. Man schaue nur in die Bundesländer, in denen die Grünen als dritter und kleinster Partner in einer Regierungskoalition mitmischen. Selbst wenn es sich wie in Rheinland-Pfalz um eine Ampel und nicht um Jamaika handelt – genau das ist der Zuschnitt, den man den Grünen zugesteht. Wo sie am wenigsten stören, aber beschäftigt sind.« (Stefan Sell: Mit Semantik gegen die Rente).

Schaumschläger jenseits einer diskussionswürdigen Kritik an der bereits auf dem absteigenden Ast befindlichen „Rente mit 63“

Ach, die „Rente mit 63“. Wir erinnern uns – neben der „Mütterrente“ (für die tatsächlichen oder angeblichen) Unionswähler war die abschlagsfreie Rente mit 63 mit Blick auf die (tatsächlichen oder angeblichen) SPD-Wähler ein Herzensanliegen der Sozialdemokratie in der nunmehr beendeten Großen Koalition. Sie wurde durch die großen Industriegewerkschaften in den Koalitionsvertrag transportiert und von der sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles exekutiert. Nun wurde das immer schon mit einer gehörigen Portion Kritik garniert, meistens mit dem Vorwurf, hier würde eine Art „billige“ Klientelpolitik betrieben, die anderen teuer zu stehen kommt.

Neben einer grundsätzlichen Ablehnung gab und gibt es auch eine eher systematisch angelegte Kritik, die darauf abstellt, dass das deshalb kritisch zu sehen sei, weil es sich nur um eine temporäre Besserstellung einiger weniger Jahrgänge handelt und das eigentliche Problem, also die schrittweise Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für alle, keineswegs rückgängig gemacht wurde, sondern weiter läuft, was dazu führt, dass auch das vorübergehend und unter bestimmten Bedingungen abgesenkte Eintrittsalter in die abschlagsfreie Rentenbezugsmöglichkeit von 63 schrittweise (wieder) auf 65 Jahre ansteigt. Man entlastet also einige (überschaubare) Rentenjahrgänge vom Damoklesschwert der Abschläge, aber für die danach geht es weiter so wie vorher. Und es erfolgt keine systematische Differenzierung der an das gesetzliche Renteneintrittsalter gekoppelten Abschläge nach der im Einzelfall vorliegenden Zeit der Einzahlung in die Gesetzliche Rentenversicherung.

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Wer macht das warum? Neue Erkenntnisse über die Menschen in der boomenden Welt der Nebenjobber

Erst vor kurzem wurde berichtet, dass 3,2 Millionen Menschen einen Nebenjob haben. Oder sogar mehrere. Die neuen Zahlen wurden in diesem Beitrag vom 13. Oktober 2017 diskutiert: Der Trend geht zum Zweitjob. Für die einen aus der Not heraus, für einige andere hingegen ganz im Gegenteil. Darin findet man auch Hinweise auf die Debatte, wofür diese Entwicklung denn nun steht: Die eine Seite argumentiert so – in den Worten von Sabine Zimmermann, Bundestagsabgeordnete der Linken: „Für immer mehr Beschäftigte reicht das Einkommen aus einem Job nicht mehr aus. Der überwiegende Teil dürfte aus purer finanzieller Not mehr als einen Job haben und nicht freiwillig.“ Und die andere Seite hat sich in Gestalt des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zu Wort gemeldet und sieht das ganz anders: »3,2 Millionen Menschen in Deutschland gehen zusätzlich zu ihrem Hauptjob einer Nebenbeschäftigung nach – rund eine Million mehr als vor zehn Jahren … Ein Grund zur Aufregung ist das aber nicht: Nebenjobber sind sogar oft sozial besser gestellt als andere Beschäftigte.« Diese Position wurde in dem Blog-Beitrag kritisch hinterfragt. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, »dass wir derzeit schlichtweg nicht halbwegs gesichert wissen, wie sich die ganz unterschiedlichen Motive bei den Nebenjobbern darstellen« – sehr wohl aber kennen wir den ökonomisch wirkkräftigen Mechanismus der Subventionierung der Minijobs, über den die Mehrzahl der Nebenjobs abgewickelt werden, in Verbindung mit einer „win-win-Situation“ für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Nun kann zumindest hinsichtlich der Motivfrage berichtet werden, dass einige neue empirische Befunde veröffentlicht wurden, die mehr Klarheit bringen und die zugleich die sonnige Perspektive des IW verdunkeln.

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Ein Vorstoß zur „Entlastung“ der Arbeitgeber beim Mindestlohn – ein Vorgeschmack auf das, was von einer Jamaika-Koalition sozialpolitisch zu erwarten ist?

Es sind bereits drei Wochen vergangen seit der Bundestagswahl 2017 – und nach dem Ergebnis war und ist klar, dass es wenn, dann eine „Jamaika“-Koalition aus Union, FDP und Grünen geben muss. Aber die Sondierungsgespräche, also die Phase vor der Aufnahme offizieller Koalitionsverhandlungen, haben immer noch nicht begonnen. Zum einen musste sich die Union sammeln und interne Streitigkeiten um die unnennbare Obergrenze für Flüchtlinge semantisch befrieden, zum anderen wollte die Bundeskanzlerin offensichtlich erst einmal in aller Ruhe die Landtagswahlen in Niedersachsen abwarten, die nun am 15. Oktober stattgefunden und der Union ein weitere Problem verschafft haben, da die für klinisch tot erklärte SPD dort überraschend hat gewinnen können. Vor diesem Hintergrund muss der aufmerksame Beobachter weiter warten, was denn nun sozialpolitisch auf uns zu kommen könnte, wenn die mal richtig anfangen zu verhandeln.
In der Not gibt man sich auch mit Brosamen zufrieden und sammelt alles auf, was als Hinweis gewertet werden könnte, wohin die Reise einer „Jamaika“-Koalition gehen wird. Und da erweist es sich als hilfreich, dass es diese Koalitionsformation bereits gibt, in Schleswig-Holstein. Und von dort werden „interessante“ Aktivitäten vermeldet. Die vielleicht einen Vorgeschmack liefern können.

Dabei geht es um den gesetzlichen Mindestlohn. Was war das für eine Schlacht vor und bei seiner Einführung. Mit harten Bandagen wurde gekämpft. Und neben dem Spiel mit den angeblichen, mittlerweile bekanntlich widerlegten Jobkiller-Ängsten wurde auch heftig auf die Tränendrüse des „Bürokratiemonsters“ gedrückt. Und eigentlich müsste man im Oktober 2017 zu dem Ergebnis kommen, dass der „Schock“ des Mindestlohns und die mit ihm verbundenen Auflagen irgendwie Geschichte ist, hört man doch von „normalen“ Unternehmen diesbezüglich keine massive Kritik mehr, außer vielleicht, dass man generell beklagt, dass Löhne immer Kosten sind und stören. Also könnte man sich anderen Themen widmen, aber nein – offensichtlich wird die Kritik an bestimmten Bestandteilen des Mindestlohns bzw. seiner Umsetzung weiter vorangetrieben und sie stößt bei dem einen oder anderen Politiker auf einen entsprechenden Resonanzboden.

Dabei stand und steht nicht etwa die Lohnauszahlung an sich unter Beschuss, selbst die Höhe des Mindestlohns nicht (mehr), sondern neben den Kontrollen seitens des Zolls war und ist es die Arbeitszeitdokumentation, die von einigen als schmerzender Stachel im betrieblichen Fleisch empfunden wird. Und die seit Anbeginn des Mindestlohns Sturm laufen, um eine „Entlastung“ von diesem bürokratischen „Aufwand“ zu erreichen. Und das hat bei den meisten gar nichts mit dem Mindestlohn an sich zu tun, sondern mit der Arbeitszeit, die nun nachgehalten und für eventuelle Kontrollen vorgehalten werden muss.

Dazu bereits die Hinweise in dem Beitrag (Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt vom 22. April 2015, in den turbulenten Wochen nach dem Inkraftreten der gesetzlichen Lohnuntergrenze. In diesem Beitrag wurde von einer Demonstration „gegen Bürokratismus und Dokumentationswahn“ des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands in München berichtet. Dort wurde beklagt, „das Gastgewerbe drohe unter der Last der Bürokratie zu zerbrechen“. „Gastfreundschaft statt Doku-Wahn“ und „Wirtsstube statt Schreibstube“ lauteten die Parolen, oder auch „Ich will jeden Sonntag arbeiten“ und „Ich will kochen statt dokumentieren“. Dann wurde in dem Beitrag der Finger auf die echte Wunde gelegt, denn wenn man genau hinschaut, »dann öffnet sich eine ganz andere Sichtweise auf den eigentlichen Gegenstand des Protestes. Denn der ist weniger bis gar nicht das Mindestlohngesetz und die damit verbundene Auflage, mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen, sondern das Arbeitszeitgesetz, wobei die Verstöße gegen dieses Gesetz in der Vergangenheit oftmals und in der Regel kaschiert werden konnten, nunmehr aber durch die Stundendokumentation der beschäftigten Arbeitnehmer offensichtlich werden, wenn es denn mal eine Kontrolle geben sollte.« Und weiter: »Es geht den Hoteliers und Wirten … um die Pflicht, die geleistete Arbeitszeit minutiös Woche für Woche aufzulisten und gleichzeitig um die Arbeitszeitgrenzen nach dem schon viel länger geltenden Arbeitszeitgesetz, das maximal zehn Stunden Arbeit pro Tag festschreibt.«

Wie das mit der Arbeitszeitdokumentation geregelt ist, verdeutlicht die Abbildung am Anfang dieses Beitrags. Eine Dokumentationspflicht gibt es branchenübergreifend, also für alle Arbeitgeber (außer den Privathaushalten) nur für die geringfügig Beschäftigten, den Minijobbern. Und dann für Arbeitnehmer/innen in zehn Branchen, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz explizit genannt werden als Branchen, in denen man es überdurchschnittlich oft mit Schwarzarbeit zu tun habe, in denen also ein Teil der Unternehmen anfällig ist für Missbrauch zuungunsten der Beschäftigten. Und für die hat man auch eine Dokumentation der Arbeitszeit vorgeschrieben.

Also eigentlich, denn zugleich hat man dem zuständigen Bundesarbeitsministerium (BMAS) gesetzlich die Möglichkeit eröffnet, durch eine Rechtsverordnung ohne Zustimmungspflicht des Bundesrates die Dokumentationspflicht zu erweitern – oder einzuschränken. Von der letzteren Variante hat das BMAS dann auch mit der Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung (MiLoDokV)vom 29. Juli 2015 Gebrauch gemacht – um die damaligen Kritiker etwas zu beruhigen. Das wurde damals in diesem Beitrag vom 30. Juni 2015 analysiert und kommentiert: Der Mindestlohn mal wieder. Er wirkt vor sich hin und Andrea Nahles korrigiert ein paar Stellschrauben im Getriebe. Das zentrale Entgegenkommen der Ministerin Andrea Nahles (SPD) damals an die Kritiker am Mindestlohn gerade auch in den Reihen der Großen Koalition: Sie hat die Dokumentationspflicht bei der Arbeitszeit bei bestimmten Personen verkleinert. Aufzeichnungspflichten bei der Beschäftigung von Ehepartnern, Kindern und Eltern des Arbeitgebers sind mit der neuen Verordnung entfallen. Sie ist aber noch einen Schritt weiter gegangen und man hat die Schwellenwerte von brutto 2.000 (wenn die kontinuierlich während der letzten zwölf Monate geflossen sind) bzw. 2.598 Euro pro Monat eingeführt, bei deren Überschreiten man die Arbeitszeit nicht mehr dokumentieren muss. Diese Beträge sind natürlich schon auf den ersten Blick etwas willkürlich gesetzt. Zur Kritik kann man in dem damaligen Beitrag finden:

»Da fragt sich auch der dem Mindestlohn sehr zugeneigte Leser vielleicht: Warum jetzt 2.000 Euro? Ist das empirisch ermittelt worden oder hat man gewürfelt? Oder hat man die Zahl genommen, weil sie so schön rund ist? Und wenn man das irgendwie erklärt bekommt, bleibt eine weitere Frage mit Ratlosigkeitspotenzial, denn die Absenkung gilt ja nur, »wenn das Arbeitsverhältnis schon länger besteht und der Lohn in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig bezahlt wurde.« Ja wie? Was genau ist denn „schon länger besteht“? Geht’s noch präziser? Oder ist das dann aus dem zweiten Teil abzuleiten, wo von den vergangenen zwölf Monaten die Rede ist. Also zwölf Monate. Warum nicht 11 oder 10 oder 9? Hat man da gewürfelt?

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Karl Schiewerling (CDU), wird mit der kritischen Anmerkung zitiert, durch die Einführung einer weiteren Gehaltsschwelle werde das Gesetz für Arbeitgeber und Kontrollbehörden noch komplizierter. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt erscheint das nicht wirklich durchdacht, offensichtlich will Andrea Nahles den Mindestlohnkritikern in der Union und in den Wirtschaftsverbänden irgendwie entgegenkommen.«
Zwischenfazit: Bereits mit den Ausnahmeregelungen aus dem Juli 2015 wurde das Mindestlohnregime komplizierter ausgestaltet.

Aber offensichtlich ist der Phantasie hier keine Grenzen gesetzt. Denn  nun meldet sich die real existierende „Jamaika“-Koalition zu Wort, also die aus Schleswig-Holstein. Die hat den Bundesrat am 10. Oktober 2017 aufgefordert, mit einem Gesetzentwurf die Arbeitszeiterfassung beim Mindestlohn für Teilzeitkräfte „handhabbarer und praxisnäher“ zu gestalten.
Das hört sich erst einmal ganz unverdächtig an. Was genau wollen die Nordmänner und -frauen hier erreichen?

Dazu muss man einen Blick werfen in den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mindestlohngesetzes, ein Antrag des Landes Schleswig-Holstein an den Bundesrat. Der soll in der 961. Sitzung des Bundesrates am 3. November 2017 behandelt werden.
Dort wird erst einmal behauptet: »Die Dokumentationspflicht stellt insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen einen Mehraufwand dar.«

Und weiter: »Um den Bürokratieaufwand zu reduzieren, sollen mit dem Gesetzentwurf die Dokumentationspflichten nach dem MiLoG handhabbarer und praxisnäher gestaltet werden.«

Und wie will man das erreichen?

»Die Verordnungsermächtigung des § 17 Absatz 3 MiLoG wird um eine Verpflichtung zur Abgrenzung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten ergänzt.«

In der Begründung wird ausgeführt: »So treffen die festgelegten Entgeltgrenzen keine Unterscheidung zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten. Dabei haben Teilzeitbeschäftigte aufgrund ihrer stundenreduzierten Arbeitszeit ein niedrigeres Monatseinkommen. Dadurch erreichen sie selbst bei einem Stundenlohn, der deutlich über dem derzeitigen Mindestlohn von 8,84 Euro liegt, in der Regel nicht die Schwellenwerte.«

Das ist richtig erkannt. Aber wie soll dem Abhilfe geschaffen werden? »Bei der Festlegung der Schwellenwerte ist daher die stundenreduzierte Arbeitszeit der Teilzeitbeschäftigten zu berücksichtigen, beispielsweise indem anstelle eines Monatseinkommens eine stundenbezogene Entgeltgrenze festgelegt wird.« Das war’s. Alles andere müsse das Ministerium erledigen.

Wir müssen uns das so vorstellen: Wenn die Teilzeitkräfte (angeblich) einen Stundenlohn von 10 Euro bekommen (oder – erneut angeblich – mehr), dann muss man die Arbeitszeiten in den eingangs genannten Branchen nicht mehr dokumentieren. Mit der logischen Folge, dass das dann auch nicht mehr vom Zoll geprüft werden kann, denn wo keine Stunden dokumentiert werden, da kann man auch nicht nachweisen, dass ein gesetzlich vorgeschriebener Stundenlohn vorenthalten wurde.

Dazu schreibt der DGB in der Pressemitteilung Kein Mindestlohn mehr für Teilzeitkräfte? DGB protestiert gegen Vorstoß der Jamaika-Koalition in Kiel:

»Die Jamaika-Koalition in Kiel will nichts anderes als den Mindestlohn aufweichen. Wer arbeitet, hat einen Rechtsanspruch auf einen anständigen Lohn – ob Vollzeit oder Teilzeit. Das heißt seit 2015: mindestens den Mindestlohn. Dafür muss die Arbeitszeit erfasst werden. Es gibt keinen Spielraum, wie das „handhabbarer und praxisnäher“ gemacht werden kann. Wer die Arbeitszeit nicht dokumentieren will, will nicht weniger Bürokratie, sondern mehr Ausbeutung. Diese Pläne würden Millionen Beschäftigten in Gastronomie, Handel, Logistik treffen – und vor allem Frauen, denn sie arbeiten öfter Teilzeit.«

Letztendlich geht es auch hier wieder um das ungeliebte Kind Arbeitszeitdokumentation und den darüber verstellbaren Beweis, dass ein Arbeitgeber möglicherweise gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen hat.

Aber ist das wirklich so ein bürokratisches Monstrum? Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schreibt in der hauseigenen Broschüre Der Mindestlohn. Fragen & Antworten:

»Wenn Arbeitgeber zur Dokumentation nach dem MiLoG verpflichtet sind …, müssen sie Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeits­zeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erfassen. Diese Dokumentation erfordert keine spezielle Form, sondern kann z. B. handschriftlich auf einem einfachen Stundenzettel vermerkt werden. Auch die konkrete Dauer und Lage der Arbeitspausen muss nicht gesondert ausgewiesen werden. Bei Beschäftigten, die ausschließlich mobil tätig sind und ihre Arbeitszeit flexibel und eigenverantwortlich einteilen können, genügt es, die Dauer der Arbeitszeit festzuhalten.«

Das hört sich nicht wirklich monströs an. Zudem kann man sich sogar kostenlose Apps zur Erfassung der Arbeitszeit seitens der Mitarbeiter herunterladen.

Nein, hier geht es um etwas ganz anderes. Gerade die Teilzeitbeschäftigten (zu denen natürlich auch die Minijobber gehören) sind bekanntlich diejenigen, die am ehesten ausgenutzt und überdurchschnittlich stark in Anspruch genommen werden können. Vor allem in den Branchen, die man nunmehr entlasten will.

Der ganze Vorgang verweist auf eine hoch konfliktäre Baustelle, die auf uns zukommen wird, wenn es eine „Jamaika“-Koalition geben wird. Denn Union und FDP wollen an das Arbeitszeitgesetz und die dort normierten Schutzvorschriften heran. Das mit dem Mindestlohn ist da nur ein ganz leichtes Lüftchen, das man platziert hat, um den Boden zu bereiten.

Der Trend geht zum Zweitjob. Für die einen aus der Not heraus, für einige andere hingegen ganz im Gegenteil

Immer mehr Beschäftigte in Deutschland gehen mehreren Jobs nach. In den vergangenen zehn Jahren nahm die Zahl der Mehrfachbeschäftigten nahezu kontinuierlich um rund eine Million zu. 3,2 Millionen Deutsche hatten im vergangenen März mehrere Jobs. Das berichtet beispielsweise dieser Artikel: „Arm trotz Arbeit“ – mehr als drei Millionen haben mehrere Jobs. Die Zahlen stammen von der Bundesagentur für Arbeit. Hintergrund ist eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag. „Mehrere Jobs“ zu haben kann nun in ganz unterschiedlichen Fallkonstellationen stattfinden – beispielsweise hat jemand zwei sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen (das betrifft mehr als 310.000 Arbeitnehmer). Für die Variante der Ausübung einer ausschließlichen geringfügigen Beschäftigung und mindestens einer weiteren geringfügigen Beschäftigung (die aber insgesamt die 450 Euro-Schwelle nicht überschreiten dürfen), werden 260.000 Personen ausgewiesen. Die Gruppe der Mehrfachjobber wird dominiert von der Kombination einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einer geringfügig entlohnten Beschäftigung, also einem Minijob. Das betrifft mehr als 2,6 Mio. Menschen. Ganz offensichtlich spielen die Minijobs hier eine ganz zentrale Rolle.Und bei den Minijobs muss man zwei große Lager unterscheiden – zum einen die Menschen, die ausschließlich geringfügig, also bis zur 450 Euro-Schwelle beschäftigt sind und zum anderen die, bei denen neben einer anderen, „normalen“ Beschäftigung zusätzlich ein Minijob ausgeübt wird.

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