Arbeitswelten: In der Fleischindustrie ist alles besser geworden! Wirklich? Und beim Daimler sprudeln die Gewinne – und die Fremdvergabe boomt

Viele werden sich erinnern an die Reportagen, Dokumentationen und Artikel, in denen die Verhältnisse im „Billigschlachthaus“ Deutschland angeprangert wurden, vor allem die Ausbeutung osteuropäischer Werkvertragsarbeiter, nicht nur hinsichtlich einer extrem niedrigen Bezahlung, sondern auch angesichts teilweise nur noch als kriminell zu bezeichnender Unterbringungsverhältnisse. Und keiner möge behaupten, dass mediale Berichterstattung nichts verändern kann – sie kann Druck aufbauen, Politiker zum Jagen tragen, Verbesserungen auslösen. Das war gerade in dieser Schmuddel-Branche der Fall (vgl. dazu auch den Beitrag Billig, billiger, Deutschland. Wie sich die Umsätze in der deutschen Fleischindustrie verdoppeln konnten und warum der Mindestlohn ein fragiler Fortschritt ist vom 15.11.2014). Zugleich lehrt die Erfahrung, dass man immer wieder die Dinge auf Wiedervorlage legen muss, um nachzuschauen, ob die Veränderungen nur angekündigt oder temporärer Natur waren und sich zwischenzeitlich eventuell die alten Verhältnisse wieder eingestellt haben. »Etwa ein Jahr ist es her, dass die Fleischbranche feierlich Besserung gelobte: Die Ausbeutung osteuropäischer Billiglöhner, von Subunternehmen in die Schlachthöfe geschickt, sollte ein Ende haben, ebenso die Unterbringung der Menschen in Schrottimmobilien zu Wuchermieten.« So beginnt ein Artikel von Karl Doeleke, mit der allerdings die Hoffnungen relativierenden Überschrift Zweifel an Reformen in der Fleischindustrie. Damals wurde ein Verhaltenskodex der Fleischwirtschaft ins Leben gerufen, der auch Mindestlohn und soziale Standards für Wohnungen regelt. Überwacht werden soll der von unabhängigen Wirtschaftsprüfern. Hört sich gut an. Nun aber hat die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ das gemacht, was bereits angedeutet wurde – den Sachverhalt nicht nur auf Wiedervorlage legen, sondern ihn auch mit Leben füllen, in dem einige scheinbar einfache Fragen gestellt werden: Werden die Regeln im Kodex alle umgesetzt? Welche Schlachtkonzerne verpflichten ihre Subunternehmer dazu? Wie wird die Einhaltung überwacht? Die Antworten darauf fielen sparsam aus.

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Das große Durcheinander auf dem Arbeitsmarkt – und die vielen Baustellen jenseits des Gewohnten. Von Crowdworkern, Pauschalisten, der ominösen Industrie 4.0 und dem Kampf um feste Strukturen in Zeiten zunehmender Verflüssigung von Arbeit

Früher war ganz sicher nicht alles besser – aber es war irgendwie einfacher und geordneter und verlässlicher, wenn das auch nicht selten auf Kosten der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ging. Eine Vielzahl an vorgezeichneten Bahnen lenkten die Lebens- und damit auch Berufswege der Menschen. Man konnte sich nur schwer aus den Leitplanken seiner Herkunft, seiner Familie befreien und musste Dinge tun, die einem auferlegt wurden, ohne dass man überhaupt gefragt wurde. Nun könnten Berufsskeptiker bereits an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bei aller Unübersichtlichkeit auch und gerade heute solche Dinge wie der familiale Hintergrund und die Schichtzugehörigkeit eine mindestens genau so bedeutsame, wenn nicht sogar stärkere Rolle spielen, aber das ist hier nicht der Punkt.

Es geht um die schlichte, allerdings nicht triviale Feststellung, dass wir uns mit Blick auf die Arbeitsmärkte an einer dieser Zeitenwenden befinden, die allerdings nicht als ein klares Entweder-Oder, ein Hier-und-Drüben, ein Weiß und Schwarz daherkommen, sondern die wie alle hochkomplexen sozialen Veränderungen in den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Systemen eher ruckelnd, auf leisen Sohlen, mit völlig unterschiedlichen Tempi und garniert mit scheinbaren Rückwärtsbewegungen hier und da ablaufen und angesichts der anschwellenden Unübersichtlichkeit und der daraus resultierenden zahlreichen Gegenbeispiele eher zu einer Sedierung der Beobachter und Akteure führt hinsichtlich der langsam, aber sicher an Fahrt aufnehmenden grundlegenden Veränderungen der Arbeitswelt.

Um es an dieser Stelle zuzuspitzen: So notwendig und kräftezehrend beispielsweise der Kampf um den gesetzlichen Mindestlohn war, so wichtig das Streiten für betriebliche Mitbestimmung und tarifliche Ordnungsstrukturen ist, was die tägliche Arbeit – und auch die Berichterstattung in diesem Blog – prägt, so notwendig bleibt doch die Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit diesem noch sehr ungenauen Gefühl, dass in Zeiten, die man mit Chiffren belegt wie Crowdworking, Industrie 4.0 usw., die gewachsenen Ordnungselemente brüchiger werden oder sich gar aufzulösen beginnen, an die man aber die zumeist als Verteidigungskämpfe ausgerichteten sozialpolitischen Kämpfe bindet und auch binden muss, wenn man die gewachsenen, oftmals in der Vergangenheit hart erkämpften Strukturen und Prozesse gegen Übergriffe und Abbauversuche zu verteidigen versucht.

Nehmen wir nur als ein Beispiel die Arbeitszeit. Gerade die jüngste große Schlacht um den gesetzlichen Mindestlohn hat gezeigt, welche Bedeutung eine Normierung und Abgrenzung von Arbeitszeit in einem „klassischen“ Sinne hat. Der Mindestlohn ist als ein Stundenlohn konzeptualisiert worden und mithin ist die Dokumentation sowie daraus abgeleitet die Kontrolle der Einhaltung sowie die Verfolgung einer Abweichung von den mit einem Euro-Betrag belegten Arbeitsstunden unauflösbar verbunden mit der konkreten Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes. Man kann zeigen, dass von Ausnahmen abgesehen weniger die Höhe des Lohnes pro Stunde das wirkliche Problem vieler Unternehmen darstellt, sondern der durch eine ehrliche Dokumentation sichtbar werdende Konflikt mit den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes. Man denke hier nur an die Probleme der Gastronomie.

Auch hier kann man zuspitzen: Der gesetzliche Mindestlohn folgt der Logik des „Kettenhemdes“ der tariflich geregelten Arbeitszeit der „alten Welt“ (wobei hier gleich angemerkt werden soll, dass der Terminus „alte Welt“ hier nicht negativ konnotiert ist, also keine abwertende Bedeutung hat, denn diese alte Welt hat eine ganze Reihe an handfesten Vorteilen für die große Masse der Bevölkerung). Also eine klare, eindeutige – im industriellen Arbeitszeitregime durch die Stech- oder Stempeluhr symbolisierte – Abgrenzung von Arbeitszeit (in aller Regel in einer Fabrik, einem Büro, einem vom eigenen anderen Leben irgendwie abgegrenzten Raum) zur „Freizeit“. Nicht umsonst gibt es ausgehend vom Normalfall einer derart normierten Arbeitszeit (in der Regel von 8 bis 16 Uhr als Kernbereich) für alle abweichenden Fallkonstellationen, man denke hier an Nachtarbeit, Wochenendarbeit, Schichtarbeit, monetäre Zuschläge im Sinne eines Nachteilsausgleichs. Und man muss der Ehrlichkeit halber an dieser Stelle darauf hinweisen, allem Gerede über angebliche „neue Welten“ zum Trotz arbeiten immer noch viele Menschen in diesem strukturierten und gerade in der Industrie wohlgeordneten Gehäuse. Aber verweilen wir einen Moment beim Beispiel Industrie, die ja gerade in der deutschen Volkswirtschaft eine bedeutsame Rolle spielt: Neben der relativ gesehen wohlgeordneten Arbeitszeitwelt der Stammbelegschaft hat sich seit vielen Jahren darum herum eine wachsende Schicht der Randbelegschaften aufgebaut, für die oftmals gilt, dass deren Arbeitszeiten länger, oftmals unregelmäßiger sind und vor allem zu den ungünstigeren Zeiträumen platziert werden.

Und wenn man dann den Blick weitet, dann fallen einem sofort und in aller Deutlichkeit die Ausfaserungen des Normalmodells auf. Wie wäre es beispielsweise mit der „Mindestlohn-Arbeitszeit“ in ihrer offiziellen Ausprägung und der vielerorts beklagten Schattenwelt der unbezahlten Mehrarbeit als eine der wichtigsten Versuche des Unterlaufens des Mindestlohnes? Wobei – das kann hier nicht vertieft, sondern nur angerissen werden – auch diese Schattenwelt zahlreiche Farbtöne enthält, die vom klassischen Missbrauch eines kostensenkungsfixierten Arbeitgebers reicht bis hin zu durchaus lebenspraktischen win-win-Arrangements zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die man beispielsweise in vielen kleineren Unternehmen der Gastronomie finden kann.

Oder wie wäre es mit den – betriebswirtschaftlich erst einmal absolut rationalen, für die Betroffenen allerdings hoch problematischen – Entwicklungen im Einzelhandel, „Arbeitszeitpakete“ zu schnüren unterhalb der Vollzeitgrenze, die aber nicht mehr an eine vorgegebene Lage, geschweige denn an den Korridor der alten Normalarbeitszeit gekoppelt sind, korrespondierend mit der gewaltigen Verlängerung der Ladenöffnungszeiten in den zurückliegenden Jahren. Oder an dieser Stelle mehr als passend: Wie wäre es mit der „Amazon-induzierten Sonntagsarbeit in den Innenstädten“? Hierbei handelt es sich derzeit (noch) um eine Forderung, in Zukunft die regelmäßige Öffnung der Geschäfte am Sonntag zu ermöglichen, damit die Kunden dort einkaufen können, was sie ansonsten schon tun können 24 Stunden pro Tag an sieben Tagen in der Woche – allerdings im Internet.

Oder noch schlimmer und ganz weit weg von den konzeptionellen Grundlagen des gesetzlichen Mindestlohnes: Wie wäre es mit dem „Arbeitszeit-Irrlicht“ bei den Selbständigen? Hier tut sich ein eigenes Universum auf, das von der undokumentierten Selbstausbeutung innerhalb des Familienunternehmens aus dem migrantischen Gemüsehändlermilieu bis hin zu den langen, aber in Teilbereichen selbstbestimmt fragmentierten Arbeitszeiten in der Kreativwirtschaft reicht.

Man könnte das jetzt erheblich erweitern und ausdifferenzieren – der Punkt an dieser Stelle ist: Viele Regelwerke, die wir in der Sozialpolitik haben, orientieren sich an Arbeitszeitformen, die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben bzw. die von der Gewerkschaftsbewegung erkämpft worden sind. Und die stoßen nun zwangsläufig und in aller Regel unter heftigen Schmerzen auf neue arbeitsweltliche Konstellationen. Die vielbeschriebenen, im Vergleich dazu empirisch allerdings eher noch in embryonaler Größenordnung befindlichen Crowdworker mögen hier als Beispiel genannt werden, Vgl. dazu den Artikel Flexibel, selbstbestimmt, von Zuhause aus – schöne neue Arbeitswelt? In diesem Artikel wird Carolin Kresse porträtiert. Sie ist eine Click- oder auch Crowdworkerin. Sie schreibt Texte für Auftraggeber, die sie nicht kennt. Ihre Jobs bekommt sie über ein Onlineportal (in diesem Fall Textbroker, es gibt aber auch zahlreiche andere Portale, die sich in diesem Segment tummeln).

»Nach dem Soziologie- und Journalismus-Studium hatte sich die 24-Jährige auf zwei, drei Stellen beworben, aber sie bekam keine Rückmeldung. Also baute sie das Texten im Internet zur Freiberuflichkeit aus. 20 Stunden in der Woche reichen ihr – damit verdient sie etwa 1.000 Euro netto. Genug, findet sie: „Am meisten reizt mich, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann … Beim Texten habe ich den Vorteil, dass ich zu Hause sein und mir meine Arbeit so einteilen kann, wie es mir am besten passt.«

Natürlich müssen an dieser Stelle auch die kritischen Töne kommen, vor allem aus dem gewerkschaftlichen Lager:

»… bislang hätten viele Freiberufler, die bei Portalen angemeldet sind, oft nur wenig Rechte, sagt Vanessa Barth vom IG-Metall-Vorstand: „Im Vergleich zum Arbeitsverhältnis haben sie als Crowdarbeiter keine Absicherung, keine Entgeltfortzahlung bei Krankheit, keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Verdienste sind aber bei den meisten nicht so hoch, dass sie sich selbst ausreichend absichern könnten.“ Auch Carolin Kresse weiß das. Deswegen sieht sie sich eher als Einzelkämpferin und weniger als Teil der Crowd – also der Gruppe von anderen Netzarbeitern.«

Das Ziel der IG Metall ist es, die Arbeitsbedingungen dieser Netzarbeiter zu verbessern. Man kann sich ohne große Verrenkungen vorstellen, was für eine herkulische Aufgabe das darstellt.

Bleiben wir bei den Gewerkschaften, die ja auch als ein zentraler Bausteine der „alten Welt“ bezeichnet werden können – wie auch die Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite. Und beide arbeiten sich gerade ab am Thema „Industrie 4.0“.

Digitalisierung zur Deregulierung nutzen – das scheint die Strategie der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) zu sein. Durch Technikeinsatz verändern sich Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen radikal. Die Mitbestimmung müsse sich dem Tempo der Digitalisierung anpassen, so die BDA. Das ist deshalb besonders bemerkenswert, weil ansonsten der industrielle Kernbereich in Deutschland angesichts des hohen Organisationsgrades der Gewerkschaften in der Vergangenheit eher ein Lehrbuchbeispiel für konfliktvermeidende Sozialpartnerschaft war und sicher in vielen Bereichen heute auch noch ist. Aber- so Marcus Schwarzbach in seinem Artikel Gewünschte Deregulierung:

»Die Hoffnung der Gewerkschaften, sich durch Qualifizierungstarifverträge speziell für digitale Arbeit profilieren zu können, wird von den Unternehmen zerstört. Beschäftigte durch Weiterbildung auf die neue Arbeitswelt vorbereiten zu können, sieht die BDA zwar als »Königsweg zur Anpassung an die Digitalisierung«. Dabei sollen die Kosten aber nicht zu hoch sein. Da die Mitarbeiter von Weiterbildung ebenso profitierten wie der Betrieb, will die BDA, »dass die Beschäftigten mehr Freizeit für die eigene Weiterbildung einbringen«.

Und besonders schmerzhaft für die Gewerkschaften:

»Durch Digitalisierung sollen Werk- und Dienstverträge »an Bedeutung« zunehmen, deshalb dürfe ihr »Einsatz nicht in Frage gestellt werden«, spitzt die BDA ihre Position zu. Während sie von den Angestellten volle Flexibilität fordert, die für diese auch immer eine Einschränkung etwa bei der Lebensplanung bedeutet, weist sie Regeln für sich selbst von sich: »Zeitarbeit und insbesondere die sachgrundlose Befristung müssen auch künftig für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ohne neue Beschränkungen zur Verfügung stehen.«

Das ist starker Tobak, vor allem angesichts der Tatsache, dass sich gerade die Industriegewerkschaften auf eine andere Schiene gesetzt haben (oder wurden?): So arbeitet Constanze Kurz, Gewerkschaftssekretärin beim IG-Metall-Vorstand gemeinsam mit Unternehmensvertretern an der Kampagne »Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0«, berichtet Marcus Schwarzbach in seinem Artikel.

An anderen Frontabschnitten sieht die Lage noch weitaus düsterer aus. Beispielsweise im Hotel- und Gaststättenwesen. Hier haben die Gewerkschaften ein doppeltes Problem. Zum einen ist der Organisationsgrad der Beschäftigten erheblich niedriger als in den klassischen Industriebranchen (übrigens verbunden mit einem analogen Problem auf der „anderen Seite“ in Form einer Tarifflucht vieler Arbeitgeber) und zudem bekommt man hier die Folgen der Ausweitung des Niedriglohnsektors seit Mitte der 1990er Jahre voll zu spüren. Hier werden dann auch zahlreiche Umgehungsstrategien den Mindestlohn betreffend ausprobiert und praktiziert. In diesem Kontext wäre eine Stabilisierung und darauf aufbauend eine Stärkung des Tarifsystems von entscheidender Bedeutung – und ein Instrumentarium, um das gleichsam „von hinten“ zu erreichen, wäre die stärkere Nutzung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, denn das würde mittel- und langfristig die Tarifflucht der Arbeitgeber umkehren können. Aber auch hier bewegt sich – trotz einer Absichtserklärung im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD hinsichtlich einer Vereinfachung und stärkeren Nutzung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und einer gesetzlichen Neuregelung zum 1. Januar 2015 – bislang so gut wie nichts.

Ein aktuelles Beispiel für die fortbestehende Blockade kommt aus dem Saarland: Heftiger Streit um Löhne in der Saar-Gastronomie, so hat Joachim Wollschläger seinen Artikel überschrieben.
Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) Saarland wirft der Vereinigung der saarländischen Unternehmensverbände (VSU) vor, auskömmliche Gehälter zu verhindern. Was ist passiert? Die NGG im Saarland wirft der VSU vor, sie »habe durch ihr Veto verhindert, dass die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel- und Gastgewerbe nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien … Und das nicht aus sachlichen Gründen, sondern nur aus Prinzip, um nicht im Saarland Vorreiter zu werden, so der Vorwurf.«

Der Pressemitteilung der NGG (VSU betreibt rückwärtsgewandte Blockadepolitik) kann man entnehmen:

»Die Tarifvertragsparteien hatten unter anderem das Ziel, mit einem allgemeinverbindlichem Einstiegsentgelt für Fachkräfte in Höhe von 9,40 €/h, die Attraktivität einer Ausbildung im Gastgewerbe zu steigern und sicherzustellen, dass Fachkräfte flächendeckend mehr Entgelt erhalten als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 €/h. Mit dem ersten Einstieg in die AVE sollte außerdem ein fairer Wettbewerb gewährleistet werden und dem öffentlichen Interesse nach einem zukunftsfähigen Gastgewerbe Rechnung getragen werden. Die AVE der unteren 2 Entgeltgruppen sollte zudem eine Mindestentlohnung für Mitarbeiter im Gastgewerbe ohne Ausbildung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns festschreiben.«

Man muss an dieser Stelle besonders hervorheben: Im Vorfeld des Antrags auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) – wohlgemerkt nicht des gesamten Tarifvertrags, sondern der drei unteren Entgeltgruppen – hatte die Gewerkschaft NGG gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Saar einen Tarifvertrag ausgehandelt und gleichzeitig beschlossen, diesen für die untersten drei Entgeltgruppen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Mit dem Ziel, dass Fachkräfte deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden. Es handelt sich also um eine konzertierte Aktion der beiden Tarifvertragsparteien, nicht nur der Gewerkschaft.

Aber hier wird ein systematisches Problem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offensichtlich. Zwar hat man eine Hemmschwelle beseitigt, aber eben nur eine. Konkret am Beispiel dessen, was im Saarland abläuft:

»Der Gesetzgeber hat zur Erleichterung einer AVE zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2015 die starre Quotenregelung, wo nach 50 % der Beschäftigten einer Branche im antragsstellenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen, zu Gunsten des öffentlichen Interesses aufgegeben.
Leider wurde branchenfremden Verbänden weiterhin eine Veto-Möglichkeit im Gesetz eingeräumt, wie sie die Vereinigung saarländischer Arbeitgeberverbände (VSU) in der Anhörung zur AVE am 9. Juli 2015 im saarl. Wirtschaftsministerium, auch genutzt hat. DEHOGA- Saarland und NGG haben im Rahmen der Anhörung ausführlich Stellung zum Antrag bezogen. Beide Tarifvertragsparteien sind allerdings nicht stimmberechtigt, was aus Sicht der NGG eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellt«, so die NGG Saarland in ihrer Pressemitteilung.

Aber wieder zurück mit Blick auf die „neue“ Arbeitswelt. Gleichsam als Scharnier zwischen den „alten“ und „neuen“ Welt fungieren bereits heute viele, die von einem Tarifvertrag nur träumen können und die zugleich als Experimentierfeld dienen, um zum einen seitens der Unternehmen Personalkosten zu senken und die Risiken aus einem klassischen Arbeitsverhältnis zu verlagern auf die Schultern der „Arbeitnehmer“, die dann immer häufiger unter der Hülle der Selbständigkeit segeln  müssen. Die Medien und hier vor allem die Journalisten sind ein Beispiel dafür. Die Leiharbeiter des Journalismus, so haben Anne Fromm, Jürn Kruse und Anja Krüger ihren Artikel über das Problem Scheinselbständigkeit in den Redaktionsstuben überschrieben. Sie berichten über das System der „Pauschalisten“ oder „feste Freie“, ohne die kaum etwas bei Tageszeitungen und News-Seiten gehen würde. »Pauschalisten erledigen in vielen Zeitungen die tägliche Arbeit, die notwendig ist, damit ihre Zeitung, ihre Nachrichtenseite Tag für Tag in der gewohnten Qualität erscheint. Sie schreiben und recherchieren, redigieren Texte anderer Autoren, planen und bestücken die Seiten, sind blattmacherisch tätig, bestimmen die Themen, über die berichtet wird und betreuen Praktikanten. Festangestellte Mitarbeiter, für die der Verlag ganz regulär Sozialversicherungsbeiträge abführt, Redakteure genannt, sind sie trotzdem nicht.«

Die Vorteile – für den Arbeitgeber – liegen auf der Hand und werden von Fromm und Kruse so beschrieben:

»Indem die Verlage sie als freie Mitarbeiter beschäftigen, sparen sie Buchhaltungsaufwand und eine Menge Geld: Bei einem Bruttogehalt von 3.000 Euro monatlich pro Redakteur sind das etwa 580 Euro an Sozialabgaben. Aufs Jahr gerechnet spart das Unternehmen so fast 7.000 Euro für jeden scheinselbstständigen Mitarbeiter. Darüber hinaus umgehen die Verlage den Arbeitnehmerschutz: Urlaubs- und Krankengeld sind nicht vertraglich geregelt, Kündigungsfristen oft ebenso wenig.«

Und jetzt wird es sozialpolitisch hoch relevant:

»Das System funktioniert, weil die Künstlersozialkasse (KSK) einspringt. Sie übernimmt für freischaffende Künstler und Publizisten den Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungsbeiträge. Für die Betroffenen selbst besteht also zunächst kein finanzieller Nachteil. Das ist einer der Gründe, warum sich kaum jemand öffentlich beklagt. Die Krux aber ist: Die KSK wird zwar zum Teil über pauschale Abgaben von den Verlagen finanziert, aber auch zu 20 Prozent aus Bundesmitteln. Im Jahr 2015 werden das laut KSK-Prognose 186,89 Millionen Euro sein. Wenn man so will, holen sich die Verlage mithilfe dieses Tricks staatliche Subventionen ab, die ihnen so nicht zustehen. Es geht bei dem rechtswidrigen Pauschalistenmodell also nicht nur um Knebelverträge für Mitarbeiter, es geht vor allem um groß angelegten Sozialbetrug.«

Aufgrund der derzeit laufenden Ermittlungen und Verfahren wegen möglicher Scheinselbständigkeit mit erheblichen Rechtsfolgen für die Unternehmen reagieren einige Verlage damit, dass sie sich von den „festen Freien“ trennen, die schon geraume Zeit bei ihnen tätig sind. »Dass das Problem auch zugunsten statt zulasten der freien Mitarbeiter gelöst werden kann, zeigen Tagesspiegel und Zeit Online. Als beim Tagesspiegel im vergangenen Winter eine Buchprüfung anstand, wurden viele Pauschalisten als feste Redakteure angestellt. Auch Zeit Online wandelt derzeit Pauschalisten-Stellen in feste Beschäftigungsverhältnisse um«, schreiben Fromm und Kruse in ihrem Artikel. Sie beschreiben in ihrem Artikel aber auch, dass sich die Betroffenen bislang kaum wehren gegen das System und thematisieren damit an einem konkreten Beispiel eine generelle Unwucht in der „schönen neuen Arbeitswelt“: Immer dann, wenn die Beschäftigung- bzw. Vertragsverhältnisse individualisiert werden, entsteht ein Machtgefälle zuungunsten der „Arbeitnehmer“, dem sich die meisten geschlagen geben müssen. Das ist immer auch eine Frage von Angebot und Nachfrage und nur diejenigen Arbeitnehmer, die zu Berufen mit einer Flaschenhalsfunktion gehören, werden mit einer für sie guten Lösung abgefunden werden, wenn nicht kollektive Strukturen dafür sorgen, das für die anderen zu übernehmen.

Auch in der vieldiskutierten Welt der vor uns liegenden „Industrie 4.0“ bzw. allgemeiner gesprochen der Digitalisierung zahlreicher Arbeitsprozesse, um das mal von der Industrie im engeren Sinne zu lösen, werden wir wieder mit dem Phänomen der „Arbeitszeit“ und dem arbeite- wie auch sozialrechtlichen Umgangs mit ihr konfrontiert. Als ein Beispiel sei hier auf den Artikel Wir brauchen ein neues Arbeitsrecht der beiden Rechtsanwälte Oliver Simon und Maximilian Koschker hingewiesen, die erkennen lassen, welche offenen rechtlichen Baustellen wir hier vorfinden. Daraus nur ein Passus, der die Probleme mit der „Arbeitszeit“ skizziert:

»Anschaulich wird dies etwa beim Thema „Mobiles Arbeiten“. Denn das vereint gleich eine ganze Reihe regelungsbedürftiger Fragestellungen. Und das Arbeiten jenseits des Büros wird nach Experteneinschätzung bis 2025 bei rund einem Drittel aller Beschäftigten die typische Arbeitsform sein.
Sobald Mitarbeiter von unterwegs (zum Beispiel auf Zugfahrten) oder von zu Hause aus Arbeitsaufträgen nachgehen oder auch nur außerhalb der regelmäßigen Bürozeiten erreichbar sind, stellt sich die Frage, ob sie im herkömmlichen Sinne „arbeiten“. Sollte etwa die bloße Erreichbarkeit Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes darstellen, so wäre die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeit zwischen zwei Arbeitseinsätzen faktisch kaum noch möglich. Sollte diese dauerhafte Erreichbarkeit dann auch als Arbeitszeit zu vergüten sein, könnte das die Unternehmen teuer zu stehen kommen.
Hier gelten die folgenden Grundsätze: Erreichbarkeitszeiten, in denen es zu keinem Arbeitseinsatz des Mitarbeiters kommt, sind weder arbeitszeit-, noch vergütungsrechtlich relevant. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber die Erreichbarkeit außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit ausdrücklich eingefordert hat. Demgegenüber sind solche Zeiten für die Einhaltung der gesetzlichen Höchstarbeits- und Ruhezeiten zu berücksichtigen, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich mit Kunden telefoniert oder berufliche E-Mails beantwortet hat – diese Zeiten sind auch vergütungspflichtig.«

Erneut wird erkennbar, die Referenzpunkte der bisherigen tarif- und sozialrechtlichen Ausgestaltung wie die „Arbeitsstunden“ werden nicht nur immer wackeliger, sie verlieren auch teilweise ihre Aussagekraft.

Und auch die grundsätzliche Frage, wie man sozialpolitisch mit diesen Fragen umgehen kann, stellt sich immer dringlicher. Aus einer fundamentalen sozialpolitischen Perspektive wird dies beispielsweise angesprochen von Nicolas Colin und Bruno Paliers in ihrem Beitrag „Flexicurity“ ist die Antwort. Die Frage: Wie kann eine adäquate Sozialpolitik im digitalen Zeitalter aussehen?

Bayern legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“

Nicht nur der Bundesrat hat dem Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition zugestimmt, auch der Bundespräsident Joachim Gauck hat entgegen der von durchaus gewichtiger Seite vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken das Gesetz unterschrieben. Damit ist es in Kraft – und wird in Karlsruhe das Bundesverfassungsgericht beschäftigen, den neben anderen hat auch die Lokführergewerkschaft GDL angekündigt, gegen das Gesetz zu klagen. Also die Gewerkschaft, aus deren Streikaktivitäten sich ein erheblicher Teil der Zustimmung bei den Parlamentariern zu diesem Gesetz erklären lässt. Nicht umsonst sprach man ja auch vom „Lex GDL“.

Ironie der Geschichte: Ein Ergebnis der Schlichtung bei der Deutschen Bahn ist, dass der Konzern die GDL auf alle Fälle bis 2020 als eigenständigen Tarifpartner anerkennt. Und es darf und muss an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen werden, dass es sich rückblickend als ein gleichsam historisches Moment erweisen wird, dass mit dem Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt worden ist – und das von einer sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin. Nun könnte man naiv meinen, erst einmal ist jetzt Ruhe im Schacht. Aber wie zu erwarten bzw. zu befürchten war, hat sich der Apparat in Bewegung gesetzt und man will nach der zumindest gesetzgeberisch erfolgreichen „Bearbeitung“ der Berufs- und Spartengewerkschaften ein größeres Fass aufmachen. Und das läuft wieder – natürlich – unter einer Legitimationsdecke der Betroffenheit des „normalen Bürgers“, der Bahn fahren muss, um zur Arbeit zu kommen, der den Flieger braucht, um das Business am Laufen zu halten oder der seine Kinder in der Kita zwischenlagert, um überhaupt arbeiten gehen zu können. Es geht um die „Daseinsvorsorge“.

Natürlich gehört die Bahn dazu – aber auch viele andere Bereiche werden unter diesem heutzutage fast schon antiquiert klingenden Begriff subsumiert, dessen Relevanz immer dann besonders spürbar wird, wenn die Daseinsvorsorge nicht funktioniert, wenn beispielsweise der Strom ausfällt oder die Müllabfuhr nicht mehr kommt. Hinter dem Begriff steckt allerdings eine heute sicher vielen nicht mehr geläufige Begriffsgeschichte. Untrennbar verbunden ist die „Daseinsvorsorge“ als Terminus mit dem höchst umstrittenen Staatsrechtler Ernst Forsthoff (1902-1974), der 1933 – wie passend – die Schrift „Der totale Staat“ veröffentlicht hat. Neben Carl Schmitt oder Theodor Maunz gehörte auch Forsthoff zu den Juristen, die versucht haben, dem Nationalsozialismus staatsrechtliche Legitimität zu verschaffen. In seinem 1938 erschienenen Werk „Die Verwaltung als Leistungsträger“ entwickelte er den bis heute verwendeten Begriff der Daseinsvorsorge. Das ursprüngliche Verwaltungsrecht kannte nur die Eingriffsverwaltung, Forsthoff führte das Konzept der Leistungsverwaltung ein. Die in Erfüllung der sozialen Verantwortung erfolgende leistungsgewährende Betätigung des Staates bezeichnete er als Daseinsvorsorge.

Aber zurück in die Gegenwart und in die bayerischen Höhen und Tiefen, denn aus diesem Bundesland kommt jetzt ein Vorstoß, der expressis verbis den Terminus von der Daseinsvorsorge aufgreift (obgleich – das kann hier aber nicht weiter vertieft, sondern nur angerissen werden – mittlerweile die ursprünglich ausschließlich staatsbezogene Zuordnung abgeschüttelt worden ist, nachdem man sich jahrzehntelang der Privatisierung öffentlicher Unternehmen gewidmet hat). Denn die bayerische Landesregierung fordert für diesen sehr weit ausdehnbaren Bereich (immerhin handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff), dass das Streikrecht in Bereichen der Daseinsvorsorge mit „besonderen Spielregeln“ ausgestaltet werden soll.

Dazu hat Bayern einen Entschließungsantrag in den Bundesrat eingebracht (BR-Drs. 294/15 vom 16.06.2015). Daraus einige Auszüge, um die Argumentation der Bayern nachvollziehbar zu machen:

»Der Bundesrat stellt … fest, dass in Wirtschaftsbereichen wie insbesondere der Energie- und Wasserversorgung, der Entsorgung, des Gesundheitswesens, der Feuerwehr, der inneren Sicherheit oder des Verkehrs, auf deren Leistungen die Bevölkerung elementar angewiesen ist (insoweit Bereiche der Daseinsvorsorge) Streiks sich in ihren Auswirkungen von Streiks in anderen Wirtschaftsbereichen deutlich unterscheiden: Denn Streiks in Bereichen der Daseinsvorsorge treffen nicht nur den Arbeitgeber, sondern vor allem die Allgemeinheit, die auf diese Leistungen im täglichen Leben angewiesen ist. Ein Ausweichen auf andere Anbieter ist oft nicht bzw. nicht in der erforderlichen Schnelligkeit möglich. Die seit Monaten andauernden Tarifkonflikte im Schienenverkehr und im Luftverkehr zeigen, welche beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schäden Streiks in Bereichen der Daseinsvorsorge haben können.

Der Bundesrat stellt weiter fest, dass der Staat verpflichtet ist, bestimmte Leistungen der Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Dieser Verpflichtung wird mit einer Reihe von Sicherstellungsgesetzen … nachgekommen. Im Streikrecht hingegen besteht eine Lücke.

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb auf, das Streikrecht in Bereichen der Daseinsvorsorge so zu regeln, dass die Versorgung der Bevölkerung durch Streiks nicht gefährdet wird.«

Da wären wir schon bei einer ersten zentralen Fragestellung angekommen. Wie will man denn sicherstellen, dass die Versorgung der Bevölkerung durch Streiks „nicht gefährdet wird“, ohne dem Streikrecht der Gewerkschaften in diesem Bereich die Zähne zu ziehen?

Denn natürlich – wir haben das sich gerade erst erlebt beispielsweise beim Kita-Streik – ist es in vielen Dienstleistungsbereichen so, dass primär nicht der Arbeitgeber (also z.B. die Kommunen) getroffen wird wie der Inhaber einer Fabrik, dessen Produktion eingestellt wird durch einen Arbeitskampf, sondern die Inanspruchnehmer, neudeutsch auch oft als „Kunden“ bezeichnet, sind diejenigen, die die unmittelbaren Folgen eines Streiks zu spüren bekommen. Das liegt in der Natur der Sache bei diesen zumeist personenbezogenen Dienstleistungen. Würde man also das Petitum der Bayern für bare Münze nehmen, dann wären allenfalls symbolische Arbeitsniederlegungen möglich, nicht aber mehr echte, veritable Streiks.

Natürlich formuliert man das im vorliegenden Entschließungsantrag der Bayern (noch) in einer Soft-Variante, denn es geht jetzt erst einmal darum, den Fuß in diese Tür zu bekommen. Richtig auftreten kann man sie später immer noch.

Folgende gesetzliche Vorgaben werden vorgeschlagen: Ein obligatorisches Schlichtungsverfahren, eine Ankündigungsfrist von vier Werktagen und eine Pflicht zur Vereinbarung zur Mindestversorgung.

Der entscheidende Einstiegspunkt für eine sukzessive Aushöhlung des Streikrechts ist das „obligatorische Schlichtungsverfahren“, das man natürlich, wenn man es denn mal hat, weiter ausbauen kann zu dem, was die grüne Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke in einer Pressemitteilung so charakterisiert: Bayerns Ruf nach Zwangsschlichtung völlig überzogen.

»Mit dem Gesetz zur Tarifeinheit hat Andrea Nahles die Büchse der Pandora geöffnet und Einschränkungen in das Streikrecht salonfähig gemacht. Jetzt nutzt Bayern die Gunst der Stunde und fordert im Bundesrat verbindliche Zwangsschlichtungen in der Daseinsvorsorge. Mit diesem Vorschlag nimmt die CSU das Streikrecht aller Gewerkschaften ins Visier … Bei Arbeitskampfmaßnahmen gibt es ausreichend gerichtliche Kontrollinstanzen, die unverhältnismäßige Streiks unterbinden können. Dies kommt aber selten vor, da die Gewerkschaften in der Regel verantwortungsvoll agieren. Die Hysterie aus Bayern entbehrt also jeglicher Grundlage.«

Nicht nur die Gewerkschaften, auch die Arbeitgeber sollten diesen Vorstoß entschieden zurückweisen. Dazu ein Blick zurück in eine Zeit, in der man in Deutschland Erfahrungen hat machen müssen mit staatlichen Zwangsschlichtungen. Interessanterweise kommt die folgende Rückschau unter der Überschrift Lehren aus der Weimarer Republik vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW):

Im Jahr 1923 wurde eine Schlichtungsverordnung verabschiedet,

»die beim Scheitern der autonomen Schlichtungsversuche die Einsetzung eines paritätischen Schlichtungsausschusses unter Vorsitz eines vom Reichsarbeitsminister bestellten, unabhängigen Schlichters vorsah. Wurde im Rahmen dieses Schlichtungsausschusses der zunächst unverbindliche Schiedsspruch von den Tarifparteien nicht angenommen, wurde dieser auf Antrag einer Partei oder bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses von Amts wegen verbindlich. Diese Schlichtungsverordnung räumte dem Staat demnach eine fast unbegrenzte Interventionsmöglichkeit ein, da sowohl die Einberufung des Schlichtungsausschusses, die Besetzung des Schlichters, und die Entscheidung über die Anwendung der Verbindlichkeitserklärung im Ermessen des Reichsarbeitsministeriums lagen. Diese Zwangsschlichtung wurde in den darauffolgenden Jahren in einem großen Umfang genutzt. So gab es 1924 mehr als 18.000 Schlichtungsverfahren. Von 1923 bis 1932 endeten dabei 4 bis 6,5 Prozent aller Schlichtungsverfahren mit einer Verbindlichkeitserklärung. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass bis zu 30 Prozent aller Arbeiternehmer der Weimarer Republik von solchen Zwangsschlichtungen betroffen waren.«

Die Wirkung im Sinne eines enormen Rückgangs der Streikaktivitäten und -folgen war enorm: »Während von 1919 bis 1924 noch jahresdurchschnittlich 23 Millionen Arbeitstage durch Streik oder Aussperrung verloren gingen, waren dies zwischen 1925 und 1932 (ohne 1928) nur noch 3 Millionen pro Jahr.«

Interessant auch das Umkippen des Instrumentariums zuungunsten der Arbeitnehmerseite:

»Bis 1930 wurde die überwiegende Mehrheit der Verbindlichkeitserklärungen von den Gewerkschaften beantragt, was eine arbeitnehmerfreundliche Tendenz der Schiedssprüche andeutet. Diese Tendenz änderte sich seit dem Ruhreisenstreik von 1928/1929, spätestens aber nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise … In der … Weltwirtschaftskrise schlug die Tendenz der Schiedssprüche dann in Richtung Arbeitgeber aus. Erneut war es die Eisen- und Stahlindustrie, in der die Arbeitgeber – dem politischen Ziel der Regierung Brüning folgend, die Weltwirtschaftskrise durch Preis- und Lohnsenkungen abzufedern – erstmals eine Absenkung der Tariflöhne beschlossen und dies anschließend per Zwangsschlichtung auch durchsetzten. Diesem Schiedsspruch folgten weitere Lohnreduktionen in anderen Industrien. Die Tarifpolitik wurde zum Spielball politischer Interessen.«

Zwangsschlichtungen höhlen die Tarifautonomie, die sowieso schon unter erheblichen Druck ist, weiter aus. Das ist die grundsätzliche Dimension. Darüber hinaus ist der aktuelle Vorstoß der Bayern, die ja nur Forderungen seitens des Wirtschaftsflügels der Union aufgegriffen haben und über den Bundesrat in die politische Maschinerie einzuspeisen versuchen (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle vom 20. April 2015), immer auch zu sehen im Kontext der fundamentalen Veränderung der Streiklandschaft. Also weg von den „klassischen“ Streikakteuren in der Industrie und hin zu den Dienstleistungen, von denen viele angesichts ihrer Bedeutung für die breite Masse der Bevölkerung als daseinsvorsorgerelevante Bereiche definiert werden können.

Ein Trauerspiel: Tarif weg, Betriebsräte weg, mindestens ein Viertel weniger Lohn. Das war mal anders. Und wenn man schon dabei ist, kann man die Minijobs gleich mitmachen

Wenn man die vergangenen Jahre zurückblickt, dann muss man für den Handel, vor allem für den Einzelhandel, immer wieder und mit zunehmender Häufigkeit wie auch Intensität Auseinandersetzungen über die Arbeitsbedingungen der dort arbeitenden Menschen, überwiegend Frauen, zur Kenntnis nehmen. Das hat auch etwas mit einer bedenklichen Entwicklung zu tun, die Alexander Hagelüken in seinem Artikel Ein Viertel weniger Lohn so umreißt: »Der Handel in Deutschland bezahlt nur noch jeden Zweiten nach Tarif – mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Sie bekommen nicht nur weniger Geld, sondern haben meist auch keinen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt.« Wenn wir über „den“ Handel sprechen, dann geht es um eine Branche, in der mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt sind.

Seit Mitte der 1990er Jahre ist zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung aussteigen, um die Lohnkosten zu senken und die Arbeitsbedingungen stärker nach ihren Wünschen zu gestalten. Inzwischen bezahlt weniger als jeder dritte Betrieb im Handel noch nach Tarifvertrag und damit ist der allgemeine Trend einer Tarifflucht in dieser Branche besonders ausgeprägt. »In der deutschen Wirtschaft arbeiten zwei von drei Beschäftigten nach Tarifvertrag … Im Handel dagegen profitiert nur noch jeder zweite von branchenweit geltenden Löhnen – im Jahr 2000 waren es dagegen fast 75 Prozent«, berichtet Hagelüken in seinem Artikel. Und man muss bereits an dieser Stelle anmerken: Im Einzelhandel waren es vor dem Jahr 2000 sogar noch mehr, denn bis zu diesem Jahr war der Tarifvertrag in diesem Bereich allgemeinverbindlich, er galt also für alle Unternehmen, egal ob tarifgebunden oder nicht.

Basis für den Artikel von Alexander Hagelüken ist eine Studie aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München:

Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte. In: ifo Schnelldienst, 11/2015, S. 33-40
Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene. Der Tendenz nach weisen sie auch eine geringere Produktivität auf und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.

Er hebt einige der Befunde aus dieser Studie hervor – wobei man davon ausgehen muss, dass sich die Zahlen und die dahinter stehenden Verhältnisse noch weiter verschlechtert haben, denn die Daten, die in der ifo-Studie verwendet wurden, stammen aus dem Jahr 2010: »Die Auswirkung auf Arbeitnehmer ist gewaltig: Wer keinen Tarifvertrag hat, verdient ein Viertel weniger. Angesichts der ohnehin überschaubaren Löhne für Verkäufer(innen) und andere in der Branche wirkt sich der Unterschied stark aus. Auch gibt es nur in zwei Prozent aller Firmen ohne Tarif einen Betriebsrat.« Da, wo noch eine Tarifbindung existiert, handelt es sich im Regelfall um größere Unternehmen mit mehreren Betrieben. 80 Prozent der Handelsfirmen ohne Tarifvertrag sind hingegen Einzelbetriebe. Das wiederum nutzen die Großen: »Konzerne wie die großen Supermarktketten gliedern Filialen aus und lassen die von einem Selbständigen als eigene Firma führen – ohne Tarifvertrag und Betriebsrat.« Edeka und Rewe sind hier besonders hervorzuheben. 
Man kann es drehen und wenden wie man will: Gerade das Beispiel des Einzelhandels verdeutlicht, was passiert, wenn eine ganze Branche nach dem – bewussten – Wegfall der flächendeckenden und alle Unternehmen betreffenden Tarifbindung über eine Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags in die „freie Wildbahn“ entlassen wird. Denn ab dem Moment des Wegfalls der Tarifbindung wurde es für einzelne Unternehmen attraktiv, sich gegenüber der Konkurrenz Kostenvorteile dadurch zu verschaffen, dass man das Personal schlechter vergütet. Denn die Personalkosten spielen eine große Rolle im Bereich vieler Dienstleistungen.

Ein möglicher Lösungsansatz liegt auf der Hand: Back to the roots, so könnte man diese Strategie bezeichnen. Also angesichts der nun wirklich empirisch belegbaren Fehlentwicklungen in der Branche muss eine Wieder-Einführung der Allgemeinverbindlichkeit in Erwägung gezogen werden. Grundsätzlich müssen das auch Vertreter der Regierungsparteien so gesehen haben, denn in dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 findet man folgende Übereinkunft zwischen Schwarz und Rot:

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses.« (S. 48).

Auf diesem Feld allerdings lassen tatkräftige Aktivitäten der Großen Koalition bisher sehr zu wünschen übrig. Gerade für den Bereich des Einzelhandels lässt sich zeigen, dass diese Branche bis 2000 durchaus als stabil und „geordnet“ bezeichnet werden kann und die seitdem zu beobachtenden Ausformungen von Lohndumping und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen korrelieren eindeutig mit dem Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit, die auf Druck der Arbeitgeber zustande gekommen ist. Und angesichts der sehr asymmetrischen Machtposition der zumeist Arbeitnehmerinnen in diesem Bereich wäre ein „öffentliches Interesse“ im wahrsten Sinne des Wortes gegeben. Man kann nur hoffen, dass hier endlich was passiert. Wir haben definitiv kein Erkenntnis-, sondern ein vertitables Umsetzungsproblem.

Und viele Beschäftigte im Handel, vor allem im Einzelhandel, sind Minijobber, also geringfügig Beschäftigte. Eine hoch problematische besondere Beschäftigungsform, vor allem hinsichtlich der negativen Anreize, die hier mit Blick auf Erwerbsbiografien vor allem von Frauen und den daraus resultierenden Sicherungslücken gesetzt werden. Vgl. hierzu nur als Beispiel die vom Bundesfamilienministerium herausgegebene Studie von Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013. Es gibt eine lange „Traditionslinie“ von Forderungen, diese Sonder-Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen oder wenigstens deutlich restriktiver auszugestalten.

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD findet sich dazu so gut wir gar nichts, keinerlei Ambitionen werden erkennbar: »Wir werden dafür sorgen, dass geringfügig Beschäftigte besser über ihre Rechte informiert werden. Zudem wollen wir die Übergänge aus geringfügiger in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erleichtern.« (S. 52 f.)

Jetzt kommt mal wieder etwas Bewegung in dieses „vergessene“ Thema. Dies zum einen vor dem Hintergrund der Mindestlohn-Debatte, denn wenn auch die im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von vielen Ökonomen in den Raum gestellten schweren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt ausgeblieben sind, konnte man am Anfang des Jahres Rückgänge bei der Zahl der geringfügig Beschäftigten beobachten, die über das übliche Muster hinausgehen. Dies wird sofort aufgegriffen als Beleg für die „zerstörerischen“ Wirkungen des Mindestlohns. Vgl. hierzu beispielsweise Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel in seinem kurzen Beitrag Mindestlohn: erste Anzeichen für Jobverluste, der in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ veröffentlicht wurde. Aber auch er muss zugeben, dass wir uns derzeit hier im Bereich der Spekulation bewegen, es fehlen nicht nur Daten, sondern auch eine Gesamtbilanzierung ist derzeit nicht möglich (so bereits in meiner im April verfassten Kurzexpertise diskutiert: Stefan Sell: 100 Tage gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015).

Zum anderen hat sich nunmehr der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium zu Wort gemeldet mit einem Gutachten unter dem Titel Potenziale nutzen – mehr Fachkräfte durch weniger Arbeitsmarkthemmnisse, in dem auch Änderungsvorschläge bei den Minijobs vorgeschlagen werden. Thomas Öchsner hat das in diesem Artikel zusammengefasst: „Steuerfreiheit von Minijobs im Nebenerwerb abschaffen“.

Er umreißt die Ausgangslage: »7,24 Millionen Menschen, meistens Frauen, haben eine Stelle auf 450-Euro-Basis, für die sie keine Steuern zahlen müssen und sich von den Sozialabgaben befreien lassen können. Allein 2,42 Millionen packen dabei auf ihren Hauptjob die geringfügige Beschäftigung als Zusatzjob oben drauf, etwa, weil das Geld sonst nicht reicht oder ein paar Hunderter im Monat zusätzlich für Extrawünsche zur Verfügung stehen sollen.«

Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi fordert nun eine „Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse“ – aber was die dann in ihrem Gutachten präsentieren, ist wenn überhaupt ein „Reförmchen“. Denn zumindest, so der Beirat, solle „die Steuerfreiheit von Minijobs für Zweitverdiener in einer Ehe“ abgeschafft werden. Die Begründung dafür:

»Die Gutachter führen aus, dass Minijobs besonders „für Verheiratete mit hoher Grenzsteuerbelastung interessant“ seien. Es sei „angesichts der hohen steuerlichen Belastung, die an der Verdienstgrenze der Minijobs einsetzt“ wenig überraschend, dass so wenige geringfügig beschäftigte Frauen auf eine sozialversicherungspflichtige Stelle wechselten.«

Das nun ist weder weitreichend, noch originell, letztendlich nur copy and paste vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den so genannten fünf „Wirtschaftsweisen“, die ebenfalls den „Fehlanreiz“ beklagt und gefordert hatten, die Steuerfreiheit der Minijobs im Nebenerwerb und für den Zweitverdiener einer Ehe abzuschaffen. Nichts neues also. Das eigentliche Anliegen des genannten Gutachtens des Beirats beim BMWi ist auch etwas ganz anderes, was Öchsner so beschreibt: »Der Beirat wünscht sich von der Bundesregierung außerdem neue flexiblere Regeln für den Eintritt in die Rente, um ältere Beschäftigte möglichst lange am Arbeitsmarkt zu halten.« Aber das ist nicht nur brisant, sondern wäre wieder eine weiteres eigenständiges Thema, dass uns noch verfolgen wird.
Fazit: Auf Seiten der megagroßen Koalition keine Anzeichen von Bewegung und es ist aus politökonomischen Gründen auch nicht erwartbar, dass sich hier was hinsichtlich der Minijobs tun wird, nachdem die Arbeitsmarktfrage aus Sicht der Union so „belastet“ ist durch die bisherigen Aktivitäten der Bundesarbeitsministerin Nahles. Grundsätzlich gilt: Man sollte schon mal immer wieder darüber nachdenken, warum Deutschland mit dieser besonderen Beschäftigungsform weltweit ziemlich solitär daherkommt.

Verteidigen, erzwingen, aufwerten. Grundlinien und Dilemmata der gegenwärtigen und zukünftigen Streikwelt

Nun rollen die Züge wieder und die große Koalition hat mit ihrer erdrückenden Mehrheit noch pünktlich vor dem Pfingstwochenende das so genannte „Tarifeinheitsgesetz“  über die parlamentarische Hürde im Bundestag gehievt. Nach dem verlängerten Wochenende wird dann erst einmal nicht mehr über Lokführer diskutiert und gestritten, sehr wohl aber über andere, sich derzeit im Arbeitskampf befindliche Berufsgruppen, allen voran die Erzieherinnen der kommunalen Kindertageseinrichtungen, die sich weiterhin im unbefristeten Ausstand befinden und deren Gewerkschaften ver.di und GEW auf irgendein substantielles Angebot von der Arbeitgeberseite warten, während die Situation für die betroffenen Eltern immer kritischer wird. Das ist genau der richtige Zeitpunkt, um von einzelnen konkreten Auseinandersetzungen ein Stück weit zurückzutreten und die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob und wenn ja welche Muster in der neuen Streikwelt zu erkennen sind. Es geht also um die großen Schneisen. Hier wird die These aufgestellt, dass sich die durchaus vielgestaltige Welt der Arbeitskämpfe, die wir derzeit und wahrscheinlich in Zukunft beobachten können, in einem mehrdimensionalen Raum entfalten lässt, in dem sich folgende Ausprägungen erkennen lassen: Verteidigung („von oben“), Erzwingung, Aufwertung, Instrumentalisierung, aber auch möglicherweise „tarifeinheitsgesetzinduzierte Streiks“ sowie – nur teilweise ironisch gemeint – „Übungsstreiks“.

Man muss am Anfang der nun folgenden Überlegungen einen ganz weiten Schritt zurück machen und in Erinnerung rufen, dass der („richtige“, also nicht Warn-)Streik eigentlich und wenn überhaupt nur als „ultima ratio“ in der Endphase eines über längere Phasen laufenden Tarifkonflikts zum Einsatz kommen sollte. Und wenn es so etwas wie einen „Normalfall“ hinsichtlich der Tarifkonflikte gibt, dann handelt es sich hierbei sicherlich um „klassische“ Auseinandersetzungen um mehr Geld bzw. andere Arbeitsbedingungen, beispielsweise eine Arbeitszeitverkürzung. Im Kern geht es dabei um eine Verbesserung aus Sicht der Arbeitnehmer nach der Logik „von unten nach oben“. Hier finden wir quasi in Reinkultur die „Fahrstuhlfunktion“ der klassischen Tarifpolitik. Dieser Kernbereich dessen, was wir als Tarifpolitik bezeichnen, hatte seine Bedeutung und wird auch weiterhin in vielen Branchen seine Bedeutung haben. Aber die Abweichungen davon spielen eine gewichtige Rolle beim Verständnis dessen, was sich derzeit im Bereich der Arbeitskämpfe verändert.

Bevor auf die bereits angesprochenen Ausprägungen der neuen Streikwelt näher eingegangen wird, sollen drei zentrale Thesen vorangestellt werden.

1.) Derzeit sind wir – und das ist ein für viele irritierendes Moment – konfrontiert mit einer Gleichzeitigkeit von mehr und weniger Streiks. Wenn auch der subjektive Eindruck vieler Menschen derzeit sicherlich gut beschrieben wird mit der Aussage, dass Deutschland sich zu einem „Streikland“ entwickelt, so zeigen doch die Daten ein mindestens differenziertes, wenn nicht sogar in der Gesamtschau diese Diagnose nicht bestätigendes Bild. Diese irritierende Gleichzeitigkeit resultiert zum einen aus der gewählten Messgröße, denn es macht schon einen großen Unterschied, ob man bei einer Streikbilanzierung ausgeht von der Zahl der Streiks, der Zahl der streikenden Arbeitnehmer oder den Ausfalltagen durch die Arbeitskämpfe. Von nicht zu unterschätzender Relevanz ist hierbei auch die Frage, auf welche Grundgesamtheit die Zahl der Arbeitskämpfe bezogen wird. Verdeutlichen kann man sich das dahinter stehende Problem am Beispiel dessen, was als „Postreform“ in den neunziger Jahren abgelaufen ist. Bis dahin gab es mit der Deutschen Bundespost ein staatsmonopolistisches Unternehmen und folglich auch eine sehr überschaubare Zahl an tarifvertraglichen Regelungen. Seitdem haben wir nicht nur die drei großen Post-Nachfolgeunternehmen, also die Deutsche Post DHL, die Telekom und die Postbank, sondern die Zahl der Tarifverträge hat sich vervielfacht und damit auch die Zahl der daraus resultierenden möglichen Tarifauseinandersetzung. Gerade in den Bereichen, in denen wir in den vergangenen Jahren eine Fragmentierung und Zersplitterung der Tariflandschaft haben sehen müssen, hat natürlich auch die Zahl der Tarifkonflikte enorm zugenommen.

2.) Betrachtet man die Bereiche, in denen (nicht) mehr gestreikt wird, dann erkennt man eine gewaltige Verschiebung: Vor unseren Augen entwickeln sich weite Bereiche der Industrie sukzessive zu streikfreien Zonen, während gleichzeitig in vielen Dienstleistungsbereichen teilweise im wahrsten Sinne des Wortes „Häuserkämpfe“ stattfinden. Mittlerweile werden mehr als neun von zehn Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich ausgetragen. Hingegen muss man zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise die IG-Metall, die in der Vergangenheit immer wieder für sehr große Arbeitskampfaktionen gesorgt hat, mittlerweile kaum noch durch größere Streiks auffällt – dies auch und gerade vor dem Hintergrund, dass sich die Industrieunternehmen in einem überaus brutalen internationalen Wettbewerb befinden und zugleich die Industrieproduktion durch die Verlagerung der Lagerhaltung auf die Straße extrem anfällig ist für eine Unterbrechung der Produktion und der Lieferungen, so dass die betroffenen Unternehmen alles versuchen, um Streikaktionen zu vermeiden bzw. von vornherein zu verhindern. Und die Industrie-Gewerkschaften wissen aufgrund ihrer Ko-Managementfunktion in vielen dieser Unternehmen sehr gut Bescheid über die wirtschaftliche Situation der Firmen.

3.) Die wohl wichtigste Veränderung findet innerhalb der Gesellschaft hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung von Streiks statt: Funktionalisierung und Neutralisierung der Arbeitskämpfe in der Gesellschaft sind hier die Stichworte, mit allen Folgeproblemen, die wir auch in anderen Bereichen beobachten können, man denke hier nur an die Freie Wohlfahrtspflege oder die Kirchen bis hin zu den Parteien. Wobei Gesellschaft hier nicht etwas Zeitloses meint, sondern die Streikaktionen, die in früheren Zeiten tatsächlich mehr oder weniger stark eingebettete waren in gesellschaftliche Subkulturen mit einem hohen Grad an kollektiven Bewusstsein, treffen heute auf eine atomisierte „Beliebigkeitsgesellschaft“, in der bei vielen Menschen keine entsprechende Fundierung mehr vorausgesetzt werden kann, was Arbeitskämpfe betrifft, und dazu führt, dass die Reaktion entsprechend heftig ausfallen können, vor allem wenn die Medien das auch noch vorantreiben.

In diesem – zugegeben überaus komplexen, hier allerdings nur schlagwortartig andeutbaren gesellschaftlichen – Kontext sind die folgenden Ausprägungen der neuen Streikwelt zu sehen:

Eine gewichtige Rolle bei den aktuellen Arbeitskämpfen spielt die Verteidigung „von oben“. Hier geht es darum, Besitzstände zu verteidigen und zu verhindern, dass teilweise erkämpfte Verteilungsansprüche zuungunsten der Arbeitnehmer umverteilt werden.

Zwei aktuelle Beispiele dafür wären zum einen der Arbeitskampf der Piloten-Gewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa sowie die derzeit höchst brisante Auseinandersetzung der Gewerkschaft Verdi mit der Deutschen Post DHL (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn der Appel den Mehdorn macht, ist Gefahr im Verzug. Oder: Wenn Streikaktionen der Gewerkschaften bei der Deutschen Post mehrere und leider auch gute Gründe haben vom 2. April 2015 sowie meinen Meinungsbeitrag bei SWR 2: Ein echtes Armutszeugnis. Die Post AG, ihr Streben nach Gewinn und der Umgang mit den streikenden Mitarbeitern). Auf der einen Seite ist es absolut nachvollziehbar, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer dagegen wehren, dass ihre Arbeitsbedingungen nicht nur nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlechtert werden sollen. Auf der anderen Seite – gleichsam die betriebswirtschaftliche Logik – ist es aus der Sicht der betroffenen Unternehmen durchaus „rational“, angesichts des teilweise brutalen Wettbewerbsdrucks „von unten“ zu versuchen, die eigenen Arbeitskosten zu reduzieren. Immer wieder mit Hinweis darauf, dass „bei den anderen“ noch deutlich schlechter bezahlt wird. Aus einer grundsätzlichen Perspektive haben diese Verteidigungskämpfe „von oben“ den „Nachteil“, dass sie letztendlich immer aus einer defensiven Position geführt werden müssen.

Hinzu kommt ein weiterer, nicht zu unterschätzender Punkt: Der Verteidigung von oben stehen zu geringe bis gar keine Aktivitäten von unten gegenüber. Dies auch deshalb, weil der Organisationsgrad der Gewerkschaften gerade in den unteren Etagen einer Branche oftmals unterdurchschnittlich schlecht ist, zum anderen aber auch, weil viele Arbeitgeber gar nicht in einem Arbeitgeberverband und damit auch nicht tarifgebunden sind. Konkret formuliert: Selbst Kritiker des immer wieder aufgelegten Piloten-Streiks bei der Lufthansa hätten möglicherweise Verständnis für Streikaktionen der Piloten am unteren Ende der Branche, also beispielsweise bei Ryanair, deren Piloten deutlich schlechter bezahlt (unbehandelt) werden als die bei der Lufthansa. Das gleiche gilt für den Bereich der Deutschen Post, auch hier könnte man sich vorstellen, dass viele applaudieren würden, wenn die, die am schlechtesten behandelt werden, also in den Paketdiensten beispielsweise bei Hermes und GLS, für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, die teilweise nur als Hund miserabel zu beschreiben sind, kämpfen würden.

Eine weitere Ausprägung in der heutigen Streikwelt kann man unter die Überschrift Erzwingung bzw. Erschließung stellen. Hier geht es darum, dass die Gewerkschaften versuchen, überhaupt einen Fuß in ein bestimmtes Unternehmen zu bekommen. Paradebeispiel für diesen Bereich sind die nunmehr seit Jahren laufenden und auch derzeit wieder aktiven Bestrebungen der Gewerkschaft Verdi bei Amazon, das Unternehmen dazu zu bewegen, nach dem Tarifvertrag für den Versandhandel zu bezahlen und nicht in Anlehnung an die Vergütungen in der Logistikbranche bei Verweigerung jeglicher tarifvertraglicher Regelung der Arbeitsbedingungen. Ein weiteres Beispiel wäre der Versuch von Verdi, beim Textildiscounter Kik Einzelhandelstarifverträge für Lagerarbeiter, die derzeit teilweise auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, durchzusetzen.

Eine ganz besonders große Baustelle lässt sich mit dem Begriff Aufwertung beschreiben. Derzeit stehen hier die Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen im Mittelpunkt, da sie sich in einem unbefristeten Ausstand befinden (aber auch die Sozialarbeiter in vielen sozialen Diensten, die ebenfalls streiken und die in der aktuellen Berichterstattung immer untergehen; vgl. dazu den Beitrag Im Schatten des Kita-Streiks und der Erzieherinnen: Die streikenden Sozialarbeiter). Hier geht es im Kern darum, das bestimmte Berufe bzw. korrekter bestimmte Tätigkeiten deutlich besser bewertet werden als in der Vergangenheit bzw. in der Gegenwart. Es ist nicht überraschend, dass wir diesen Teil der Arbeitskampf Entwicklung vor allem im Bereich der Sozial- und Gesundheitsberufe finden. Die Vergütung in diesen Berufen läuft seit geraumer Zeit der Entwicklung in weiten Teilen der „normalen“ Wirtschaft hinterher. Zusätzlich „erschwerend“ kommt hinzu, dass es sich überwiegend um frauentypische Berufe handelt.

Der in dieser Form erstmalige unbefristete Ausstand der Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen markierte insofern ein „historisches Moment“, weil er – sollte der Streik in welcher Form auch immer erfolgreich sein – enorme Ausstrahlungseffekte haben kann. Vor allem in einem Bereich, in dem die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren tatsächlich eine enorme Verschlechterung erfahren haben und wo sich bei den betroffenen Arbeitnehmern erhebliche Aggressionen aufgestaut haben – gemeint ist hier der Bereich der Pflegekräfte. Sollten die Erzieherinnen mit ihren Arbeitskampfmaßnahmen einen nennenswerten Erfolg erzielen können, dann wird das durchaus befruchten und wirken auf die Pflegekräfte, die dann möglicherweise in einer zweiten Welle folgen werden. Zugleich aber muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Gewerkschaften hier mit erheblichen Problemen konfrontiert sind, nicht nur im „klassischen“ Sinne eines teilweise desaströs niedrigen Organisationsgrades sowie nicht unerheblicher Probleme, die sich aufgrund von Sonderrechten bestimmter Arbeitgeber-Gruppen wie den Kirchen mit ihrem Streikverbot ergeben, sondern auch hinsichtlich des Gegenstands der Arbeit.

Anders ausgedrückt: Während Industriearbeiter durchaus mit einer klaren Vorstellung von dem, der durch einen Streik geschädigt werden würde, in den Arbeitskampf ziehen können, ist das bei vielen Dienstleistungen im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens ganz anders. Auch hier ist natürlich die Arbeitgeber-Seite der Hauptadressat der Arbeitskampfmaßnahmen, aber erst einmal und unmittelbar getroffen von den Streikaktionen wird nicht der Arbeitgeber, also im Fall des Kita-Streiks die Kommunen, sondern die Eltern mit ihren Kindern. Das wäre noch weitaus dramatischer, wenn man sich vorstellen würde, ein erheblicher Teil der Pflegekräfte würde in einen unbefristeten Arbeitskampf gehen. Hier einen Streik zu organisieren ist weitaus komplexer und schwieriger und letztendlich auch unwahrscheinlicher als in den „klassischen“ Wirtschaftsbereichen.

Man sollte an dieser Stelle allerdings nicht unerwähnt lassen, dass es die durchaus plausible These gibt, dass die Streikaktionen beispielsweise der Erzieherinnen in den Kitas bei einigen Funktionären in den Gewerkschaften durchaus auch „benutzt“ werden im Sinne einer Instrumentalisierung für organisationspolitische Ziele (vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015). Die Plausibilität ergibt sich daraus, dass gerade die sehr umfassende, weil breite Betroffenheit in unserer Dienstleistungsgesellschaft dazu führt, das diesen Auseinandersetzungen eine große Aufmerksamkeit gegenüber gebracht wird und angesichts der Angewiesenheit auf Dienstleistungen wie beispielsweise der Kinderbetreuung in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft ein enormes Druckpotenzial entwickelt werden kann.

Den Aspekt der „tarifeinheitsgesetzinduzierten“ Streiks habe ich bereits in dem Beitrag Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“ vom 22. Mai 2015 entfaltet. Auch ein Teil der Härte sowie der Frequenz bei den nunmehr neun Streikwellen der Lokführergewerkschaft  kann und muss ich hier so summiert werden.

Und an dieser Stelle – aber nicht wirklich – abschließend sei der Hinweis auf den Aspekt „Übungsstreik“ erlaubt. Diese Begrifflichkeit ist nur teilweise ironisch gemeint, dahinter steht ein durchaus relevantes Problem:  Man nehme beispielsweise eine Gewerkschaft wie die IG BCE. Diese Gewerkschaft hat das letzte Mal vor – tatsächlich – 44 Jahren gestreikt. Das bedeutet in praxi: Keiner der heute in dieser Gewerkschaft arbeitenden hauptamtlichen Funktionäre hat irgendwelche Erfahrungswerte mit der Organisation, Durchführung und vor allem der Abwicklung von größeren Streikaktionen sammeln können. Allein aus Übungszwecken wäre es dringlich angesagt, dass in diesem Bereich wieder einmal Streiks organisiert werden. Dahinter steht das grundsätzliche Problem, das Arbeitskämpfe nicht einfach vom Himmel fallen, sondern eine unglaubliche Organisationen, Planung und Unterstützung bedürfen, für deren Realisierung man über entsprechende Erfahrungswerte verfügen muss.

Fazit: Flapsig formuliert könnte man sagen, dass der Streik auch nicht mehr das ist, was er mal war. Er war mal ein wichtiger, allerdings überaus dosiert eingesetzter Baustein in den „normalen“ Tarifauseinandersetzung. Diese Zeiten sind – immer mehr – vorbei.  Damit wir die Lage keineswegs einfacher.