Billig, billiger, Deutschland. Wie sich die Umsätze in der deutschen Fleischindustrie verdoppeln konnten und warum der Mindestlohn ein fragiler Fortschritt ist

Bis in das Jahr 2000 spielte die deutsche Fleischindustrie im Prinzip keine Rolle auf dem europäischen Markt. Seit dem Jahr 2000 ist die Branche dann umsatzmäßig explodiert. Es geht um eine  Verdoppelung des Umsatzes von knapp 20 auf 40 Milliarden Euro innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre. Wie konnte das passieren? Was hatte sich verändert? Ganz einfach: man verwandelte die Branche in eine – betriebswirtschaftlich und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gesprochen – „Effizienzmaschine“, vor allem dadurch, dass man Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Deutschland geholt hat, die dann im Rahmen von Werkverträgen zu billigsten Löhnen ausgebeutet werden konnten. Mittlerweile wird bis zu 90% der Arbeit in den Schlachtbetrieben nach Angaben der Gewerkschaft NGG über Werkverträge organisiert. In der Vergangenheit wurde von Dumpinglöhnen zwischen drei bis sieben Euro berichtet, aber seit dem August dieses Jahres gibt es einen branchenweiten Mindestlohn von 7,75 Euro, der auch grundsätzlich für die Werkvertragsarbeitnehmer gilt. Also wird jetzt am Ende alles gut? »Mindestens 7,75 müssen die Arbeiter seither in der Stunde bekommen. Außerdem hat die Branche einen Verhaltenskodex für den Umgang mit ihren Beschäftigten verabschiedet. Darin finden sich vor allem Selbstverständlichkeiten: Die Löhne dürfen nicht mehr in bar ausgezahlt werden, Arbeitswerkzeuge – wie Messer – müssen zur Verfügung gestellt werden, die Kosten für Miete und Transport zum Arbeitsplatz sollen „angemessen“ sein. Unternehmen, die den Kodex unterschreiben, verpflichten sich, nur noch Subunternehmer zu beauftragen, die den Kodex einhalten«, berichtet Jakob Epler in seinem Artikel Zweifel am Billiglohnmodell. Dass es überhaupt dazu kommen konnte, ist nicht nur eine Folge der immer kritischer werdenden Berichterstattung über die Situation in der Fleischindustrie in den vergangenen Jahren, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass Nachbarländer von Deutschland Beschwerden gegen das Billiglohnland Deutschland vorgetragen und öffentlich gemacht haben: »Frankreich und zuletzt Belgien haben sich deswegen bereits bei der EU-Kommission beschwert. Die schmale Bezahlung würde den Wettbewerb verzerren. Im Beschwerdebrief Belgiens war auch die Rede von „Sozialdumping“. Die Arbeiter aus Osteuropa würden in Deutschland nicht nur systematisch schlechter bezahlt als ihre deutschen Kollegen. Sie hätten auch keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und profitierten nicht von entsprechenden Sozialleistungen«, so Epler.

Was sagen die Konzerne zu diesen Vorwürfen – also Danish CrownTönnies, Vion und Westfleisch, um nur mal die ganz Großen der Branche zu nennen? Denn durchaus plausibel ist ja der Gedanke, dass sie es sind, die von den niedrigen Löhnen in Deutschland profitieren können. In dem Artikel von Epler wird der Pressesprecher von Danish Crown, Jens Hansen, zitiert, der das – natürlich – bestreitet und auf ein anderes Motiv zu verweisen versucht:

»Sein Unternehmen ist einer der größten Schlachter und Fleischverarbeiter weltweit und mit vier Niederlassungen in Norddeutschland vertreten. Hansen sagt, die Lohnkosten seien nicht maßgeblich für die Wahl des Standortes. Zwar sei Deutschland auch wegen der Lohnkosten interessant. Das Land sei aber vor allem ein großer Markt: „Hier gibt es einfach viele Leute und die essen viel Fleisch.“ Ein Unternehmen wie Danish Crown müsse hier vertreten sein.«

Aber ein nur grober Blick auf die Zahlen verdeutlicht die Unterschiede bei den Arbeitskosten – und den dadurch induzierten realen Auswirkungen:

»In Dänemark liegen die tariflich gesicherten Stundenlöhne in der Fleischindustrie bei 20 Euro. Immer wieder entlässt der Konzern deswegen Mitarbeiter im Stammland … Weil Deutschland so ein Dumpingparadies ist, sollen aber allein in Dänemark zwischen 2008 und 2013 rund 15.000 Arbeitsplätze in der gesamten Fleischbranche verloren gegangen sein, schreibt die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in einem Bericht.«

Die Gewerkschaft NGG sieht in der Ausbeutung der osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmer den entscheidenden Schlüssel für ein Verständnis der Umsatzexplosion in der deutschen Fleischindustrie. Hierzu das Interview „Die Leute werden unter Druck gesetzt“ mit Matthias Brümmer, dem Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in der Region Oldenburg-Ostfriesland. Dass Länder wie Frankreich, Schweden, Belgien und die Niederlande unter Druck geraten sind und Kapazitäten abbauen mussten, hängt für ihn ursächlich zusammen mit der Umsetzung des Billiglohnmodells über Werkverträge in Deutschland nach dem Jahr 2000. Er beschreibt die Wirkung dieses Modells:

»Die Werkverträge haben dazu geführt, dass alle Schlachthof-Betreiber sich bis zu 90 Prozent ihrer Belegschaften entledigt haben und nur noch einen ganz kleinen eigenen Stamm besitzen. Sie sind für 90 Prozent der Beschäftigten gar nicht mehr zuständig. Um die kümmern sich jetzt die Subunternehmer. Die vereinbaren festgelegte Quoten für bestimmte Tätigkeiten wie das Abtrennen von mehreren tausend Schinken. Für jede Einheit gibt es nur minimale Geldbeträge. Damit kommen die Subunternehmer wahrscheinlich gerade so über die Runden. Deswegen führt das in der Konsequenz immer zu Lohndumping.«

Und wie ist es nun mit dem seit August dieses Jahres geltenden branchenweiten Mindestlohn in Höhe von 7,75 Euro pro Stunde? Dieser sei, so Matthias Brümmer, für viele Arbeitskräfte »beispielsweise in der Geflügelwirtschaft und in den anderen Zerlegebereichen eine erhebliche Aufwertung ihres Einkommens« und deshalb »der erste Schritt, um wenigstens mal ein Minimum an Gerechtigkeit in diesem Land zu bekommen.«

Aber sie skeptischen Zeitgenossen werden es schon ahnen: Die Wirklichkeit ist immer komplizierter und gerade beim Mindestlohn gibt es in Branchen, in denen die Einführung dieser Lohnuntergrenze tatsächlich einen teilweise erheblichen Kostenschub darstellt, große Anreize, mit Umgehungsstrategien zu versuchen, den Mindestlohn wieder partiell auszuhebeln.
Der Gewerkschafter Brümmer berichtet dazu aus den Tiefen bzw. Untiefen der Praxis:

»Wir haben bereits die ersten Entwicklungen. Es ist so, dass Kollegen 173 Stunden bezahlt bekommen, also die 40-Stunden-Woche. Tatsächlich arbeiten die aber bis zu 260 Stunden. Das drückt natürlich den Lohn. Dann wird natürlich versteckt auch nach Akkord gearbeitet … Das heißt, wenn ich auf meinen Mindestlohn kommen will, muss ich schon mal länger arbeiten … über sogenannte Netto-Abzüge wird tatsächlich versucht, eine ganze Menge Geld zu generieren. Wir reden über Transport von der Arbeit zum Wohnheim. Wir reden über Messerpfandgeld. Beschäftigte müssen 80 bis 90 Euro jeden Monat abdrücken, weil sie zum Schlachten ein Messer des Subunternehmers benutzen. Dann müssen Sie die Arbeitskleidung bezahlen, selbst die Reinigung. Da laufen die größten Sauereien, nach wie vor. Außerdem zahlen die Kollegen und Kolleginnen hohe Mieten für Betten in Massenunterkünften, 200 bis 300 Euro im Monat.«

Den letzten von Brümmer genannten Aspekt beleuchtet Jakob Epler in einem eigenen Artikel: Arbeiter in Bruchbuden: »Die Werkarbeiter der Fleischindustrie werden oft von denselben Subunternehmern untergebracht, die sie angeheuert haben. Das rentiert sich.« Dem Beitrag kann man am Beispiel der Situation in Essen (Oldenburg) entnehmen:
»Bis zu 64.000 Schweine werden allein bei dem dänischen Schlachter Danish Crown in Essen jede Woche von 1.300 Mitarbeitern zerlegt. 900 davon sind laut Konzernangaben Werkarbeiter. Und die müssen irgendwo wohnen. In Essen allein waren es vor zwei Jahren 60 Wohnungen, die mit 513 Personen belegt waren – ein Riesengeschäft.«

Wir wären nicht in Deutschland, wenn es nicht auch für dieses Thema (mittlerweile, nach den vielen Berichten) eine Regelung gibt:

»Seit Anfang dieses Jahres ist ein Erlass der niedersächsischen Landesregierung in Kraft. Er regelt, wie Werkarbeiter wohnen sollen. Demnach braucht ein Mensch mindestens sechs Quadratmeter zum Leben. In einem Mehrbettzimmer dürfen höchstens acht Menschen schlafen, für die es wiederum mindestens eine Toilette, zwei Waschbecken und eine Dusche geben muss.«

Aber die, die sich vor Ort um das Thema kümmern, sind mehr als skeptisch und verweisen auf ein Problem, das wir generell bekommen werden, wenn man an die Umsetzung des Mindestlohnes ab dem kommenden Jahr in vielen anderen Branchen denkt: „Es wird sich nichts ändern“. Mit diese Worten wird in dem Artikel Detlef Kolde zitiert, der für die SPD im Cloppenburger Kreistag sitzt. Warum das? Es gebe zu wenig Kontrollen (vgl. dazu meinen Beitrag „Zwei Beamte mehr, das ist ein schlechter Witz“).

Epler berichtet in seinem Artikel auch von einem ehemaligen Stall, jetzt wohnen auch hier Osteuropäer, die in umliegenden Schlachthöfen arbeiten. Ein zynisches Beispiel für „Folgenutzung“.

»Die Buden sind für die Subunternehmer Teil der Geschäftsstrategie. Oft sind die Häuser direkt von ihnen angemietet oder gehören ihnen sogar. Das Geld, dass sie den Arbeitern mit der einen Hand geben, nehmen sie ihnen mit der anderen wieder weg. So wird Lohndumping durch die Hintertür organisiert.«

Die betroffenen Hungerlöhner aus Osteuropa wehren sich kaum – ist doch für sie die aus unserer Sicht skandalös niedrige Bezahlung aus der Perspektive ihrer Herkunftsländer immer noch relativ gutes Geld und offensichtlich gibt es aufgrund der Not zu Hause genügend potenzielle Konkurrenz in den eigenen Reihen. Aber man nutzt nicht nur diese Akzeptanz aufgrund des gewaltigen Wohlstandsgefälles aus, sondern verunmöglicht nicht selten, dass die Betroffenen wenigstens die Regelungen in ihren Verträgen überhaupt verstehen können: »Oft sind die Verträge in einer Sprache formuliert, die die Arbeiter nicht verstehen. Das muss nicht immer Deutsch sein. Mancher Rumäne hat einen in Polnisch verfassten Vertrag, mancher Pole einen Vertrag auf Rumänisch, je nachdem wo der Subunternehmer herkommt, bei dem sie unterschreiben.«

Wieder einmal sehen wir, welche Konsequenzen die gewaltige Machtasymmetrie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben kann:

»Werkarbeiter werden immer befristet beschäftigt. Meistens sechs Monate. „Dann fahren sie drei Wochen nach Hause, um ihre Familien zu sehen und kommen schließlich für weitere sechs Monate wieder“ … Weil die Verträge immer befristet sind, wehrt sich fast niemand gegen Zumutungen am Arbeitsplatz, gegen Vertragsverstöße und miese Unterkünfte. Wer das tut oder auch nur länger krank ist, bekommt eben keinen Nachfolgevertrag.«

Und wie angedeutet – sogar noch in dieser Not kann es eine (scheinbare) „win-win-Situation“ geben: „Für viele ist das sogar okay“, wird Daniela Reim von der Oldenburger „Beratungsstelle für mobile Beschäftigte“ zitiert. Schließlich verdienen sie hier vier- bis sechsmal so viel wie in ihren Heimatländern.

Was kann man angesichts dieser Widrigkeiten tun? Zum einen muss man sich klar sein, dass aufgrund der mittlerweile gewachsenen Strukturen in der Branche große Anreize bestehen, den an sich nun wirklich nicht üppigen Branchen-Mindestlohn für diese schwere Arbeit sogar noch auszuhebeln, was natürlich eine eigentlich notwendige tarifliche Vergütung weiterhin schwierig bis unmöglich macht. Wenn man keine allgemeinverbindlichen Tarifstrukturen einziehen kann oder will, dann müsste aber die Umsetzung des kargen Mindestlohns unbedingt und in aller Härte kontrolliert werden. Offensichtlich aber ist es derzeit – rein objektiv – so, dass der Staat hinsichtlich seiner eigenen Mindestlohngesetzgebung zum Unterlaufen einlädt, in dem er sich davor drückt, die notwendigen Kontrollen und die Verfolgung der nicht wenigen schwarzen Schafe effektiv zu organisieren. Das ist auch eine Form des Staatsversagens. Ganz unten.