Und tschüss!? Zur Inanspruchnahme der „Rente ab 63“ und ihren Arbeitsmarktauswirkungen

Die „Rente ab 63“ hat im Vorfeld ihrer gesetzgeberischen Einführung polarisiert und sie polarisiert auch nach ihrer Inkraftsetzung. Vor allem in der Wirtschaft läuft man weiter Sturm gegen diesen gerade für die SPD neben dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn so zentralen sozialpolitischen Baustein der Regierungsarbeit, während man sich im Gewerkschaftslager natürlich eher freut, allerdings zugleich den vorübergehenden Charakter dieser Möglichkeit, früher als bislang ohne Abschläge aus dem Erwerbsleben zu scheiden, beklagt. Im Mittelpunkt der kritisch-ablehnenden Bewertung der „Rente ab 63“ stehen zwei Aspekte: Zum einen wird darauf hingewiesen, dass die langjährige Entwicklung in Richtung auf ein späteres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Sinne einer Annäherung des tatsächlichen Übergangs in die Altersrente an die (frühere) Regelaltersgrenze von 65 durch Maßnahmen wie Abbau der Frühverrentungsmöglichkeiten und die Verschärfung der Abschlagsregelungen bei vorzeitigem Renteneintritt durch die schrittweise Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters („Rente mit 67“) durch die – temporäre, weil auf nur einige wenige Jahrgänge begrenzte – Sonderregelung der „Rente ab 63“ durchbrochen wird und damit die trendmäßige Anpassung des tatsächlichen Renteneintrittsalters nach oben aufgehalten und je nach Inanspruchnahme wieder umgekehrt wird (vgl. zum Austritt aus dem Erwerbsleben in den Altersrentenbezug Martin Brussig und Mirko Ribbat (2014): Entwicklung des Erwerbsaustrittsalters: Anstieg und Differenzierung. Der Unterschied zwischen Erwerbsaustrittsalter und Renteneintrittsalter ist nicht trivial, denn: »Nur in etwa einem Drittel der Rentenzugänge eines Jahres erfolgt der Rentenbeginn aus einer unmittelbar vorhergehenden stabilen versicherungspflichtigen Beschäftigung; Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Nichterwerbstätigkeit vor Rentenbeginn sind weit verbreitet.« Und mit dem hier interessierenden Blick auf die Arbeitsmarktauswirkungen ist das Erwerbsaustrittsalter besonders relevant).

Zum anderen wird beklagt, dass der arbeitsmarktliche „Aderlass“ durch die Inanspruchnahme der abschlagsfreien „Rente ab 63“ nicht gleichverteilt, sondern aufgrund der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, teilweise hoch konzentriert ist auf bestimmte Branchen und Berufe, die – so die Stimmen aus der Wirtschaft – bereits heute angeblich durch einen spezifischen und zunehmenden Fachkräftemangel gekennzeichnet seien. Hier führt die befristete Öffnung eines vorzeitigen Austritts aufgrund der Anreizwirkungen zu einer starken Inanspruchnahme, die viele Betriebe vorzeitig ihrer erfahrenen Fachkräfte berauben würde. Insofern ist es vor diesem Hintergrund natürlich interessant, nicht nur die allgemeine Inanspruchnahme der „Rente ab 63“ zu betrachten, sondern einen genaueren Blick auf die spezifische Nutzung vor allem hinsichtlich der Branchen und Berufe zu werfen.

Genau das versucht die Bundesagentur für Arbeit (BA) und aus deren neuesten Daten resultieren dann solche Artikel: Maurer und Fliesenleger nutzen Rente ab 63 am häufigsten, so die FAZ: »Vor allem Berufstätige auf dem Bau nutzen die im vergangenen Sommer eingeführte Rente ab 63.«
Datengrundlage sind die Auswertungen der BA:

Bundesagentur für Arbeit: Hintergrundinformation Auswirkungen der Rente ab 63 Jahren nach langjährigen Beitragszeiten auf den Arbeitsmarkt. Berichtsmonat: Juli 2015, Nürnberg, Juli 2015

Zum 1. Juli 2014 trat das Gesetz über Leistungsverbesserung in der Rentenversicherung in Kraft. Das Gesetz ermöglicht langjährig Versicherten, die das 63. Lebensjahr vollendet haben und mindestens 45 Beitragsjahre vorweisen können, abschlagsfrei in Altersrente zu gehen. Bei der deutschen Rentenversicherung sind bis Ende April etwa 320.000 Anträge eingegangen – wobei man darauf hinweisen muss, dass das eine „Brutto-Zahl“ ist, also man nicht argumentieren kann, die 320.000 hätten ansonsten weitergearbeitet bzw. wären im Erwerbsleben geblieben. Für den „Netto-Effekt“ müsste man diejenigen abziehen, die von der möglichen, allerdings mit Abschlägen versehenen, vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente Gebrauch gemacht hätten. Außerdem – der Vollständigkeit halber sei das hier auch erwähnt – handelt es sich um gestellte Anträge, die zuerst hinsichtlich der Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen geprüft und bewilligt werden müssen, so dass die tatsächliche Zahl der „Rente ab 63“-Fälle niedriger ausfallen kann (und wird).

Zuerst zu den allgemeinen Auswirkungen der „Rente ab 63“ auf die Beschäftigung von älteren Arbeitnehmern, hier gemessen an der wichtigen Zahl der „sozialversicherungspflichtig Beschäftigten“ in der Altersgruppe 61 bis 65. Die am Anfang des Beitrags stehende Abbildung der BA zeigt deren Entwicklung von Anfang 2009 bis an den aktuellen Rand. Man erkennt die deutliche Zunahme der Beschäftigtenzahlen in dieser Altersgruppe bis zum Juni 2014, dem letzten Monat vor Einführung der abschlagsfreien Rente ab dem 63. Lebensjahr.

»Seit 2009 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten über 63 Jahren kontinuierlich gestiegen … Nach der Einführung der Rente ab 63 Jahren im Juli 2014 hat sich die Beschäftigtenzahl verringert, und zwar von Juni 2014 bis Mai 2015 um 31.300 oder 7 Prozent auf 439.400. m Vorjahr hatte die Beschäftigung in dieser Altersgruppe von Juni 2013 bis Mai 2014 um 53.600 oder 13 Prozent zugenommen.«

Man erkennt den – nennen wir das mal so – „Nahles-Einbruch“ ja auch in der Abbildung.

Interessant ist natürlich wie bereits angesprochen ein differenzierter Blick auf die unterschiedliche Inanspruchnahme nach Branchen und Berufen vor dem Hintergrund der Ausgangsthese, dass das hoch konzentriert und nicht gleichverteilt abläuft. Auch dazu liefern die Hintergrundinformationen der BA einige interessante Daten, vor allem, was die Berufsgruppen angeht, bei denen man einen überdurchschnittlichen Rückgang der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter ab 63 Jahren feststellen kann bzw. muss. In der zweiten Abbildung habe ich die Berufsgruppen herausgegriffen, bei denen sechs Monate nach dem Inkrafttreten der „Rente ab 63“ im Juli 2014 überdurchschnittlich starke Rückgänge bei der relevanten, also sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ab 63 Jahren zu beobachten sind. Man lasse die aufgeführten Berufsgruppen einen Moment auf sich wirken.

Unschwer zu erkennen: Eine besonders intensive Inanspruchnahme gibt es tatsächlich in bestimmten Berufsgruppen. Dazu der FAZ-Artikel:

»Handwerker wie Maurer, Estrich- und Fliesenleger nutzen die im vergangenen Sommer eingeführte Rente ab 63 offenbar am intensivsten. In diesen sogenannten Innenausbauberufen sank die Zahl der Beschäftigten ab 63 Jahren bis Ende 2014 um 25,9 Prozent …  auch die Zahl der ab 63-Jährigen im Hoch-und Tiefbau (ging) bei einem Minus von 18,7 Prozent deutlich zurück.«

Auch die anderen Berufe zeichnen sich in einer Gesamtschau dadurch aus, dass es sich im Regelfall um körperlich durchaus belastende und vernutzende Tätigkeiten handelt.

Anders ausgedrückt: In vielen dieser Berufe ist die Inanspruchnahme der abschlagsfreien Rente ab 63 durchaus verständlich und nachvollziehbar – und genau diese Differenzierung wird bzw. wurde viel zu wenig gemacht bei der generalisierenden Debatte über „die“ Rente mit 63 und vor allem der Kritik an dieser Regelung, denn ob bewusst oder unbewusst haben viele Beteiligte oftmals Berufe vor Augen, die heute im Bewusstsein eher dominant sind, also Schreibtischjobs beispielsweise. Doch bei denen, das zeigen die detaillierten Auswertungen der BA ebenfalls, ist die Inanspruchnahme der „Rente ab 63“ unterdurchschnittlich.

Fazit: Wir müssen unterscheiden zwischen den (vor allem den nach Branchen und Berufen differenzierten) Arbeitsmarktauswirkungen  und den rentenversicherungssystematischen Fragen einer „Rente ab 63“.

Zuerst zu den Arbeitsmarktauswirkungen: Eine ausgeprägte Nachfrage nach der Rente ab 63 gibt es bei (überwiegend bis ausschließlich männlichen) Handwerkern und Industriefacharbeitern, die diese Option ziehen und auch oftmals gute Gründe haben, so schnell wir möglich aus dem heutigen Erwerbsleben auszuscheiden, so lange es keine Kultur und zugleich keine adäquate finanzielle Ausgestaltung eines realisierbaren flexiblen, schrittweisen Rückzugs aus dem Erwerbsleben gibt. Das hat natürlich in diesen Branchen gewichtige negative Auswirkungen, die auch dadurch zustande kommen, dass man gerade in den hier relevanten Berufsgruppen heute die Folgen der in der Vergangenheit immer beklagten Ausbildungsdefizite, dass also zu wenig Nachwuchskräfte ausgebildet wurden, als es noch eine ausreichende Zahl an jungen Ausbildungslatzsuchenden gab.

Das ist ein generelles und den tatsächlich gerade bei Handwerkern und Industriefacharbeitern derzeit entstehenden und deutlich zunehmenden allgemeinen Fachkräftemangel beförderndes Problem, das jetzt übergangsweise durch den „Sonderausstieg“ eines Teils der älteren Fachkräfte gleichsam „verdoppelt“ wird. Insofern ist es verständlich und auch begründet, wenn das in diesen Bereichen als echtes Problem wahrgenommen wird, wenngleich auch das Inanspruchnahmeverhalten der älteren Beschäftigten in diesen Berufen nachvollziehbar ist.

Etwas anders gelagert ist die rentenversicherungssystematische Einordnung zu behandeln. Oftmals eine mehr oder weniger subtile Botschaft transportierend sind die Formulierungen, die man wählt. In dem bereits zitierten FAZ-Artikel Maurer und Fliesenleger nutzen Rente ab 63 am häufigsten heißt es in der Unterüberschrift gleich am Anfang: »Die abschlagsfreie Frührente ist gefragt.«

Wieso „Frührente“? Es handelt sich um eine abschlagsfreie Inanspruchnahme der Altersrente ab dem 63 (statt bisher 65), wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Und die wichtigste, an der dann auch viele Beschäftigten, vor allem Frauen, scheitern müssen, lautet: 45 Beitragsjahre (dazu und was darauf – nicht – angerechnet werden kann, vgl. die Informationen der DRV).

Man muss sich klar machen, um welchen Normalfall es hier geht: Es handelt sich um Arbeitnehmer, der sehr früh in ihrem Leben eine Ausbildung als Handwerker oder Facharbeiter gemacht haben und seitdem im Grunde ununterbrochen über Jahrzehnte gearbeitet haben – nicht selten, wie ja auch die jetzt vorliegende Inanspruchnahmestatistik aufzeigen kann – in Berufen, die körperlich durchaus mit erheblichen Belastungen verbunden sind. Ist der Bezug einer Altersrente nach 45 Beitragsjahren eine „Frührente“? Genau darüber kann man begründet diskutieren und hier sind wir auch an einer systematischen Unwucht der „Rente ab 63“ angelangt, denn man muss bei der ganzen Diskussion berücksichtigen: Entgegen der darüber transportierten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ist die derzeitige und so kontrovers diskutierte Regelung eine Art „Ausrutscher“ in einem ansonsten in eine andere Richtung angelegten Trend. Denn die „Rente ab 63“ schließt aufgrund der 45 Jahre-Anforderung nicht nur zahlreiche, vor allem weibliche Beschäftigte aus, sie wird ja auch mit ihrer Einführung gleich wieder sukzessive abgeschafft und dünnt sich aus, denn die generelle Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die dann erstmals vollständig erreicht wird für den Jahrgang 1964, nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland, wurde ja nicht aufgehoben, sondern läuft weiter. Für die Rente ab 63 bedeutet das konkret: Ab Jahrgang 1953 steigt diese Altersgrenze für die abschlagsfreie Rente wieder schrittweise an. Für alle 1964 oder später Geborenen liegt sie wieder wie bislang bei 65 Jahren.

Hier offenbart sich ein zentrales Problem: Offensichtlich hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen eine zeitlich sehr begrenzte Öffnung des Renteneintrittsalters nach unten für ganz bestimmte Arbeitnehmer, die man zu dem Kernklientel der Industriegewerkschaften zählen kann und muss, durchsetzen können, ohne den allgemeinen Pfad einer Anhebung des Renteneintrittsalter damit aufgeben zu müssen. Das lässt das dann ja auch so unsystematisch wirken.

Auf der anderen Seite ist es eben gerade nicht gelungen, eine systematische Regelung zu finden, die einen „flexiblen“ Übertritt in den Ruhestand in Abhängigkeit von den individuell erbrachten Beitragsjahren zu ermöglichen, denn eine solche Regelung würde nicht nach einem kalendarischen Lebensalter fragen, sondern nach der Leistungszeit des Arbeitnehmers in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Und wenn man in der Logik des bestehenden Rentenversicherungssystems bleibt, das ja auch differenziert bei der Rentenhöhe nach der Höhe der vorher eingezahlten Beiträge, dann wäre es durchaus gerechtfertigt, jemanden auch (vom Lebensalter her gesehen) „früher“ in Rente gehen zu lassen, wenn er oder sie beispielsweise 45 Beitragsjahre auf dem Buckel hat. Andere, beispielsweise Akademiker, die erst wesentlich später ins Erwerbsleben eingetreten sind, müssten dann eben „länger“ erwerbsarbeiten. Dafür kann man gute Argumente finden, man kann das natürlich auch kritisieren. Aber diese systematische Diskussion wurde und wird gar nicht geführt. Insofern bleibt der Befund: Die heutige „Rente ab 63“ ist ein Fremdkörper, der aufgrund seiner unterschiedlichen Auswirkungen in den einzelnen Wirtschaftszweigen durchaus als Problem wahrgenommen und erlebt wird, sie ist aber auch insofern ein rentenrechtlicher Fremdkörper, als das ihre Auflösung bereits mit dem Inkrafttreten begonnen hat und die Menschen eher verwirrt, die fälschlicherweise glauben, so was wie eine abschlagsfreie „Rente mit 63“ wird es auf Dauer geben.

Syndikusanwälte: Flucht auf die doppelte Sonnenseite. Raus aus der Rentenversicherung für das niedere Volk, aber auch aus der Haftung der richtigen Freiberufler

Was war das für eine Aufregung: Rund 40.000 Anwälte sollen wie gewöhnliche Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einzahlen. Das war die Botschaft einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, über die hier im April in dem Beitrag Wie „gewöhnliche“ Arbeitnehmer in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen? Von der Sonnenseite berufsständischer Versorgungswerke in das Schattenreich der „Staatsrente“? berichtet worden ist. Damals war die Aufregung groß, denn: »Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass sich Syndikus-Anwälte trotz Zulassung als Rechtsanwalt nicht mehr von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen können, um sich in einem berufsständischem Versorgungswerk zu versichern. Durch die Entscheidung des BSG droht im schlimmsten Fall auch vielen anderen Angestellten der Wegfall des Versorgungswerks«, so Christian Rolf und Jochen Riechwald in ihrem Artikel Wegfall des Versorgungswerks droht. Die Deutsche Rentenversicherung hatte argumentiert, dass die Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis mit einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber generell keine befreiungsfähige Rechtsanwaltstätigkeit sei. Dem hat sich das BSG nun angeschlossen, denn »nach gefestigter verfassungsrechtlicher und berufsrechtlicher Rechtsprechung zum Tätigkeitsbild des Rechtsanwalts … wird derjenige, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis zu einem bestimmten Arbeitgeber steht (Syndikus), in dieser Eigenschaft nicht als Rechtsanwalt tätig … Unabhängiges Organ der Rechtspflege und damit Rechtsanwalt ist der Syndikus nur in seiner freiberuflichen, versicherungsfreien Tätigkeit außerhalb seines Dienstverhältnisses (sog Doppel- oder Zweiberufe-Theorie).«, so die Richter des BSG in ihrer Entscheidung. Aber bekanntlich kann man alles korrigieren, wenn man über die entsprechenden Mittel, Wege und Unterstützer verfügt. Und flugs wurde der parlamentarische Raum aktiviert, die möglichen Folgen des Urteils zu verhindern.

Und die Parlamentarier ließen sich nicht lange bitten, wer will es sich schon mit zehntausenden Juristen verscherzen, die zudem noch für viele Unternehmen arbeiten. Und so kann berichtet werden, dass sich der Bundestag in erster Lesung zu einem Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bekannt hat, nach dem sich diese Juristen künftig wieder von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Rentenkasse befreien lassen können. Alles andere wäre ja auch noch schöner. Immerhin geht es hier um die nicht triviale Frage eines Zugangs zu einem Sonder-Alterssicherungssystem in Deutschland, den berufsständischen Versorgungswerken, die es für viele Freiberufler gibt, beispielsweise Ärzte und Zahnärzte, Architekten, Steuerberater oder eben Rechtsanwälte, wenn sie denn als freiberufliche Anwälte arbeiten. Bei Anwälten ist die Mitgliedschaft im Versorgungswerk durch die Zulassung als Rechtsanwalt bedingt. Das Versorgungswerk verspricht eine deutlich höhere Rente als die gesetzliche Rentenversicherung und ist daher attraktiv. Unternehmen können damit ihren Syndikus-Anwälten eine gute Altersversorgung anbieten, indem sie die Anwaltszulassung erlauben. Genau das wurde ja auch jetzt zu einem Problem im Gefolge der Entscheidung des Bundessozialgerichts. Aber dem will man durch die Gesetzesänderung jetzt Abhilfe verschaffen. Das ging schnell.

Aber wie immer liegen die Tücken im Detail. Oder sagen wir: In der Logik der Sache. Also mal ganz einfach formuliert: Wenn die Syndikusanwälte, die angestellt sind bei Unternehmen oder Organisationen und von denen auch als Arbeitnehmer bezahlt werden, aus der Gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden, weil die Argumentation so geht, dass sie ja wie ein „normaler“ Anwalt vor Gericht tätig werden (können) und man sie deshalb bei der Frage der Zuordnung Gesetzliche Rentenversicherung versus berufsständisches Versorgungswerk den freiberuflich, also selbständig tätigen Anwälten gleichstellt, dann könnte man aus logischen Überlegungen durchaus zu dem naheliegenden Ergebnis kommen, dass das dann aber auch für andere Dinge, die mit der Existenz eines freiberuflich tätigen Anwalts verbunden sind, gilt. Beispielsweise für die Haftungsanforderungen. Und genau auf diesen plausiblen Schluss sind auch noch andere gekommen, was jetzt unmittelbar eine neue Schnappatmung auf Seiten der Syndikusanwälte und der sie vertretenden Verbände geführt hat.

Darüber berichtet Jakob Jahn in seinem Artikel Syndikusanwälte fürchten strenge Haftung. Und er bringt die beeindruckende Pirouette auf den Punkt: »Bislang haben Syndikusanwälte für eine möglichst weitgehende Gleichstellung mit niedergelassen Rechtsberatern gekämpft. Nun wollen sie plötzlich doch keine „richtigen“ Anwälte sein.«

Also man muss genauer sagen: Hinsichtlich der Befreiung von der Pflicht zur Teilnahme an der plebejischen Rentenversicherung der normalen Arbeitnehmer möchte man mit den niedergelassenen Rechtsanwälten gleichgestellt werden, aber bei den aus diesem Status abgeleiteten Haftungsverpflichtungen möchte man das genaue Gegenteil, dass man also wieder als stinknormaler Arbeitnehmer behandelt wird. Alles klar?

Bei der Anhörung zu den beabsichtigten gesetzgeberischen Veränderungen zugunsten der Syndikusanwälte wurde das „Problem“ (bzw. eigentlich die logische Konsequenz) so vorgetragen:

»Allen voran hatte Solms Wittig, Chefjurist der Linde AG und Präsident des Bundesverbands der Unternehmensjuristen (BUJ), die Abgeordneten gedrängt, einen Syndikusanwalt nicht so streng haften zu lassen wie niedergelassene Anwälte gegenüber ihren Mandanten. „Seine Haftung ergibt sich allein aus dem Anstellungsvertrag“, sagte Wittig. „Der Arbeitgeber als Mandant ist nicht in vergleichbarem Maße schützenswert wie das allgemeine rechtsuchende Publikum.“«

Dazu Jakob Jahn in seinem Artikel folgerichtig und zugleich noch weitere Begünstigungswünsche der Syndikusanwälte aufzeigend:

»Eine bemerkenswerte Argumentation, weil die Syndizi sonst gerade mit der „Einheit der Anwaltschaft“ argumentieren, wenn sie die Befreiung von der Rentenpflicht fordern. Zumal sie am liebsten auch noch die Erlaubnis bekämen, für ihren eigenen Arbeitgeber vor Gericht aufzutreten, und vor einer Beschlagnahme ihrer Akten geschützt wären. Beide Rechte stehen nur externen Kanzleien zu, weil die Politik bloß diese für unabhängig genug hält.«

Auch die Unternehmensverbände trommeln jetzt für die Beibehaltung der Arbeitnehmerhaftung bei den in der Rentenversicherung allerdings wie selbständige Freiberufler zu behandelnden anwaltschaftlichen Mischwesen. Warum, das liegt auf der Hand und man macht auch hier keinen Fehler, wenn man vermutet, dass das irgendwas mit den Kosten zu tun haben könnte.

In dem Artikel von Jahn wird Cord Meyer von der Deutschen Bahn AG zitiert, wonach bei einer unbeschränkten Haftung sich Probleme bei der Gewinnung geeigneter Mitarbeiter abzeichnen. Nach vorsichtigen Schätzungen könne die erforderliche Versicherung 3000 Euro jährlich kosten: „Dies entspräche dann in vielen Fällen bereits einem Netto-Monatseinkommen.“

Hier nur am Rande – eigentlich aber im thematischen Zentrum stehend – sei die Anmerkung erlaubt, dass wir dieses ganze Durcheinander nicht hätten, wenn eines der zunehmend immer stärker an Gewicht gewinnenden Strukturprobleme der Gesetzlichen Rentenversicherung, also ihre Begrenzung auf den „klassischen“ Typus des sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten, durch eine Erweiterung der umlagefinanzierten Rentenversicherung auf alle Erwerbstätige gelöst, zumindest aber deutlich verringert worden wäre. Aber da würden dann ja die Flüchtlinge aus der großen Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Rentenversicherung in das kleine, überschaubare und mit vielen „guten Risiken“ besetzte Kollektiv der berufsständischen Versorgungswerke Abstriche machen müssen an den bislang in diesen Sondersystemen erzielbaren Renten machen müssen.

Von „heißer Liebe zum deutschen Volk“ zum „1.000 Euro Starterpaket für jedes neue Baby“. Neues Altes zur Familien- und Rentenpolitik

„Aus heißer Liebe zum deutschen Volk“ – so hieß es am 26. Juni 1945 im Berliner Gründungsaufruf der Christdemokraten. Deshalb feiert die CDU ab der kommenden Woche ihren 70. Geburtstag und in einer etwas eigenen Adaption an diese Gründungsaufforderung hat sich jetzt die Junge Union zu Wort gemeldet, die Jugendorganisation der Union, immerhin mit offiziell 117.000 Mitglieder eine ziemlich große Organisation. Passend in unsere Zeit der Individualisierung wie auch der alle Lebensbereiche durchdringenden Ökonomisierung will man jetzt offensichtlich das deutsche Volk von unten unterstützen und die „heiße Liebe zum Kinderzeugen“ anreizen. Mit einem – festhalten, jetzt wird es ganz heiß – „1.000 Euro-Starterpaket für jedes neue Baby“. Wie scharf ist das denn?

Aber die Jungunionisten erweisen der immer irgendwie mitlaufenden Vorstellung, dass junge Menschen eine Präferenz für radikale Vorstellungen haben und sich gegen „die Alten“ auflehnen wollen und müssen (was empirisch spätestens seit den Shell-Jugendstudien mehr als widerlegt ist, denn dort wurde dokumentiert, dass die meisten Jugendlichen ihre Eltern als Kumpel und nette Partner wahrnehmen, was sicher nicht die Abarbeitung an den Positionen der Eltern befördert), scheinbar, aber eben nur scheinbar ihre Referenz: Sie fordern eine – aufgepasst – „radikale Reform der Familien- und Rentenpolitik“. Robert Roßmann beschreibt diese in seinem Artikel Junge Union fordert Sonderabgabe für Kinderlose.

Der JU-Chef Paul Ziemiak hat dazu einen Forderungskatalog dazu vorgelegt, der sich – man ahnt es schon – an „der“ demografischen Entwicklung abarbeitet.

Zur Rentenpolitik: Die Junge Union fordert die sofortige Abschaffung der Rente mit 63 und der JU-Chef »fordert eine grundlegende Änderung des Rentensystems. „Es muss eine Verknüpfung zwischen Renteneintrittsalter und Lebenserwartung geben“, sagt Ziemiak. Wenn die Lebenserwartung steige, verlängere sich bisher auch die Bezugsdauer der Rente, ohne dass die Versicherten dafür höhere Beiträge eingezahlt hätten …  Die Junge Union wolle, dass zwei Drittel der zusätzlichen Lebenszeit angerechnet werden.«

Nur eine von vielen möglichen kritischen Anmerkungen zu dieser Forderung, die ja nicht wirklich von den jungen Unionisten kommt, sondern die haben copy und paste gemacht beim Institut der deutschen Wirtschaft, bei Professor Sinn und anderen bis hin zu einem Teil der „fünf Wirtschaftsweisen“, die genau so eine Regelung seit längerem einfordern. Hier an dieser Stelle nur der eine Hinweis: Die Forderung kommt für viele auf den ersten Blick so plausibel daher, denn das leuchtet doch ein: Wenn die Lebenserwartung weiter ansteigt und man länger Rente bezieht, dann kann man doch einen Teil der gewonnenen Lebenserwartung dafür einbringen, über Arbeit die Beiträge (und Steuern) zu erwirtschaften, die man braucht, um das zu finanzieren. Genau so argumentiert die Junge Union in Person ihres Vorsitzenden Paul Ziemiak: „Wenn beispielsweise die durchschnittliche Lebenswartung der Jahrgänge von 1985 bis 1990 um drei Monate steigt, muss das Renteneintrittsalter für diese Jahrgänge um zwei Monate steigen“, so wird er zitiert. Schon mal was vom Unterschied zwischen Durchschnitt und Streuung der Originalwerte gehört? Ein Durchschnittswert kann zuweilen mehr verschleiern als Information verdichten, vor allem, wenn die Ausgangswerte sehr stark streuen um den Durchschnittswert. Und genau hier haben wir ein Riesenproblem bei dem durchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung. Der geht nämlich so: Bei der oberen Hälfte ist der Anstieg nicht drei Monate, sondern vielleicht fünf oder sechs, ganz oben noch mehr. Aber in der unteren Hälfte sind es nicht drei, sondern zwei, ganz unten vielleicht nur ein Monat oder gar keiner. Wenn wir jetzt aber eine anscheinend plausibel daherkommende Regelbindung haben, nach dem Muster ausgehend vom Durchschnitt drei Monate mehr = 2 Monate mehr beim gesetzlichen Renteneintrittsalter, dann ist die relative Belastung oben viel geringer als unten und unten erweist sich aufgrund der Streuung der Werte eine solche Regelung als das, was sie wohl auch sein soll: Eine richtig harte Rentenkürzung, denn man darf nicht vergessen, dass das Erreichen der Regelaltersgrenze verbunden ist mit der Abschlagsregelung im Rentenrecht, also alle, die es nicht bis dahin schaffen, werden mit lebenslangen Abschlägen bei ihrer – dann auch noch zumeist an sich niedrigeren – Rente belastet.

Zur „Familienpolitik“: »Die JU verlangt außerdem die Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Familiensplitting. „Wir wollen nicht nur eine Erhöhung der Freibeträge, sondern ein echtes Familiensplitting“, sagt Ziemiak. Die steuerliche Entlastung durch das Splitting solle sich also – anders als bisher – mit der Zahl der Kinder erhöhen.«

Nun gibt  es diese Debatte schon lange und es handelt sich hier ebenfalls um keinen neuen Ansatz, sondern erneut haben die jungen Leute einfach nur abgeschrieben – aus dem Wahlprogramm der eigenen Mutterpartei. Die hat das 2013 bei der Bundestagswahl in ihrem Programm drin stehen gehabt. Eine „radikale“ Erweiterung besteht wohl darin, dass man ein „echtes“ Familiensplitting“ fordert und nicht „nur“ eine Anhebung der Freibeträge. Hier nur einige wenige Aspekte aus der kritischen Auseinandersetzung allein schon mit dem Modell der höheren Freibeträge, die von Richard Ochmann und Katharina Wrohlich 2013 in ihrem Aufsatz Familiensplitting der CDU/CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien vorgetragen wurden. Familien mit geringen Einkommen werden unterdurchschnittlich bis gar nicht entlastet. Je höher das (zu versteuernde) Einkommen, desto größer ist die Entlastung, was der Mechanik des Steuersystems geschuldet ist. Logischerweise und nicht vermeidbar bedeutet das, dass wenn man die Freibetragslogik mit der Zahl der Kinder koppelt, dass dann in den oberen Haushaltseinkommen richtig viel ankommt für deren Kinder, während es unten sehr viel weniger bis gar nichts wäre. Die notwendigen finanziellen Ressourcen für eine solche steuerliche Entlastung wären enorm. Und Oschmann/Wrohlich weisen darauf hin: »Generell haben alle Splittingmodelle den gravierenden Nachteil, dass sie dem familienpolitischen Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegenwirken.«

Aber die Jungunionisten fordern nicht nur, sondern wie es sich heutzutage gehört, man liefert den Hohepriestern der Religion von der „schwarzen Null“ und einem schuldenfreien Haushalt gleich auch schon das passende Opfer der Gegenfinanzierung der Geld kostenden Vorschläge. Und was schlägt die Junge Union hier vor – um das gleich scheinbar „familienpolitisch“ zu ummänteln?
»Kinderlose sollen eine Sonderabgabe in Höhe von einem Prozent des Bruttoeinkommens zahlen.«
Man hat die Stimmen schon im Ohr, die auf eine gruppenbezogene Diskriminierung hinweisen werden. Der JU-Chef hält dagegen: „Das wäre keine Benachteiligung, sondern nur ein Ausgleich“, so wird er zitiert. Ausgleich für was bitte? Die Argumentation von Ziemiak geht so: »Eltern hätten enorme Ausgaben, die Kinderlose nicht hätten. Wegen der Mehrwertsteuer auf diese höheren Ausgaben würden Eltern bisher auch steuerlich schlechter gestellt als Kinderlose.« Aber auch daran ist gar nichts Neues, denn bereits vor drei Jahren hatten Bundestagsabgeordnete aus der Union genau diese Forderung zur Diskussion gestellt: »Die Abgeordneten hatten vorgeschlagen, Kinderlose vom 25. Lebensjahr an mit einem Prozent ihres Einkommens zur Kasse zu bitten. Die Abgabe sollte nach der Anzahl der Kinder gestaffelt werden. Kinderlose müssten voll zahlen, Eltern mit einem Kind die Hälfte, Eltern mit mehreren Kindern nichts.«

Auch das hat sich nicht ohne Grund nicht durchgesetzt, der vielleicht am Anfang vorhandene Charme einer gewissen Logik, „die“ Kinderlosen zahlen mehr als die armen mit Kindern belasteten Familien schmilzt wie die Butter in der Sonne, wenn man berücksichtigt, dass „die“ Kinderlosen dann zusätzlich belastet werden sollen für den Ausgleich einer höheren Steuerbelastung der Familien, obgleich die doch in dem Modell der Union parallel massiv entlastet werden sollen über das Familiensplitting.

Abschließend sind wir wieder am Anfang angekommen, denn die Junge Union fordert »die Einführung eines „Starterpakets“ für Eltern. Sie sollen für jedes Kind, das geboren wird, 1000 Euro vom Staat als Erstausstattung erhalten.« Super. Aber mal ehrlich – unabhängig von der Tatsache, dass es viele einkommensschwache Familien gibt, für die 1.000 Euro bei der Geburt eines Kindes mehr als hilfreich sein könnte: Von einer Begrenzung des „Starterpakets“ auf die, die materiell wirklich in schwierigen Verhältnissen sind, liest man nichts. Das „Starterpakekt“ sollen alle bekommen, also auch die Haushalte, die nun wirklich nicht angewiesen sind auf diesen Betrag. Und davon gibt es Gott sei Dank immer noch sehr viele in unserem Land. Was soll das? Will man perspektivisch die Premium-Hersteller von Kinderwägen pampern über diesen Betrag, den die Eltern dann in ein noch hipperes Modell reinvestieren werden? Vielleicht ist das aber auch ein geniales Programm zur Stärkung der Binnennachfrage.

Halt – alle würden die 1.000 Euro bekommen? Es steht zu befürchten, dass das in einer Hinsicht wieder nicht gelten würde: Für die, die einen solchen Betrag am nötigsten hätten. Also die Eltern im Grundsicherungsbezug. Erinnern wir uns an dieser Stelle an das „Betreuungsgeld“, das von den Befürwortern ausdrücklich als eine Honorierung der elterlichen Erziehung- und Betreuungsleistung zu Hause herausgestellt wurde, deshalb würden auch alle in den Genuss dieser Leistung kommen, also einkommensabhängig. Und tatsächlich ist es auch so, dass auch sehr einkommensstarke Haushalte die 150 Euro überwiesen bekommen – alle, aber nicht die „Hartz IV-Eltern“, denn bei denen wird das Betreuungsgeld vollständig angerechnet auf ihren Anspruch auf SGB II-Leistungen, mithin verrechnet. Sie gehen leer aus. Es steht zu befürchten, dass der gleiche Mechanismus zuschlagen würde beim „Starterpaket“.

Ach, jede Gesellschaft hat die Jugend, die sie verdient, könnte man jetzt bilanzieren. Oder anders: Entweder mal richtig auf die Pauke hauen und was Großes fordern oder aber wenn man sich schon so klein macht, dass man passungsfähig zu werden hofft, dann muss man sich eben auch messen lassen an Sorgfältigkeit beim Denken und entsprechendem Tiefgang beim Verfassen von Forderungen. Aber vielleicht wollte man einfach auch nur mal wieder in die Medien.

Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet

Vor wenigen Tagen wurde die neueste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht (Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060). Ein mutiges Unterfangen, im Jahr 2015 bis zum Jahr 2060 den Blick zu weiten und für diesen Zeitpunkt Zahlen zu präsentieren – wobei die Statistiker immer wieder selbst darauf hinweisen, dass es sich um keine Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen auf der Grundlage ganz bestimmter Annahmen, vor allem zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos, also der Bilanzierung der Zu- und Abwanderung. Wenn die getroffenen Annahmen nicht eintreten oder sich die wirklichen Werte anders entwickeln, dann bekommen wir ganz andere Ergebnisse. Darauf und auf die kritischen Anfragen an eine Vorausschau, die einen so langen Zeitraum abzubilden versucht, gerade aus Sicht der Überprüfung dessen, was zurückliegende Vorausberechnungen in den Raum gestellt haben und was aus ihnen geworden ist, habe ich in dem Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015 hingewiesen. Dass wir tendenziell weniger und vor allem im Durchschnitt eine deutlich ältere Gesellschaft werden, diese beiden großen Schneisen lassen sich durchaus ableiten aus den drei grundlegenden Bestimmungsfaktoren der Bevölkerungsentwicklung und da braucht man auch nichts herumzudeuteln.

Sehr wohl aber muss man die von vielen Medien sofort und gerne aufgegriffenen Schreckensszenarien als Ableitungen aus den tatsächlich bzw. unterstellten Folgen der demografischen Entwicklung in die Mangel nehmen – denn hier wird erneut „die“ Demografie als eine quasi naturgesetzliche Begründung herangezogen für den Einsatz der sozialpolitischen Planierraupe, da man sich das bisherige einfach „nicht mehr leisten“ könne bzw. weil man die „Jungen“ ansonsten in die Knechtschaft der Alten treibt. Dass es genau zu solchen Reaktionen kommt, habe ich bereits am 28.04.2015 in dem Beitrag Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ aufgegriffen und kritisiert. Aber für viele ist die Kraft des scheinbar Faktischen sehr stark – und da reichen dann oft nur einige wenige Zahlen, mit denen man verdeutlicht, dass die Entwicklung im Desaster enden müsse. Allerdings nur, wenn man dann aufhört zu rechnen. Sollte man aber nicht.

Und genau das leistet Johannes Steffen in seinem instruktiven Beitrag Schreckgespenst Demografie. Rente mit 74 und Kündigung des Generationenvertrages?, den man sich genauer anschauen sollte. Dies aus mehreren Gründen, zum einen, weil er nicht bei den gängigen Schreckenswerten die Relation zwischen Alten und (mehr oder weniger) Jungen betreffend stehenbleibt, sondern weiter rechnet. Zum anderen, weil er in seinen Berechnungen als einer der wenigen überhaupt neben der wie selbstverständlich auch für die Zukunft fortgeschriebenen Grenze für „die Alten“ bei 65 auch mit der neuen Altersgrenze von 67 rechnet, man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre keineswegs abgeschafft ist, sondern Schritt für Schritt scharf gestellt und voll für den Geburtsjahrgang 1964 – nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland – gelten wird.

Johannes Steffen hat sich nun die neuen Zahlen der 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes angeschaut und mal konsequent weitergerechnet, er ist also nicht bei dem ersten Rechenschritt stehen geblieben, den man in vielen Artikeln noch finden kann Mit Blick auf das Zieljahr 2060 führt er am Anfang aus:

»Der Bevölkerungsrückgang geht einher mit einer Verschiebung des Altersaufbaus: Die Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren sinkt von 14,7 Millionen auf nur noch 10,9 Millionen, die der Älteren ab 65 Jahren [ab 67 Jahren] aufwärts steigt von 16,8 [15,1] Millionen auf 22,3 [20,6] Millionen. Und schließlich sinkt die Anzahl der Personen im mittleren Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren von 49,3 [51,0] Millionen auf 34,3 [36,1] Millionen.«

An dieser Stelle kommt dann der sogenannte „Altenquotient“ zum Vorschein, auf den sich so viele immer gerne beziehen: Der „Altenquotient“ ist das zahlenmäßige Verhältnis der Älteren ab 65 [67] Jahren zu den Menschen im Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren.  Er steigt von von 34 [30] im Jahr 2013 auf 65 [57] im Jahr 2060. In anderen Worten:

»Während heute auf 100 Personen im mittleren Alter 34 [30] Personen im Alter von 65 [67] Jahren und mehr entfallen, verschlechtert sich diese Relation bis 2060 auf 100 zu 65 [57]. Das entspricht einer Steigerung des »Altenquotienten« um 90 [92] Prozent.«

Wie sollen das die arbeitenden Jahrgänge stemmen? Eine Verschlechterung des „Altenquotienten“ um 90 Prozent in den vor uns liegenden Jahren – da ist es doch mehr als offensichtlich, dass die mittlere Generation das nicht mehr schultern kann. Folglich konnte man sofort die Stimmen wieder hören, die eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalter fordern, beispielsweise auf die besagten 74 Jahre (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser).

Aber man darf an dieser Stelle nicht stehen bleiben – und die Argumentation von Johannes Steffen geht so:
Von der mittleren Altersgruppe müssen nicht nur die Älteren, sondern auch die Jüngeren ökonomisch geschultert werden (nicht umsonst gab es ja mal den Begriff des „Drei-Generationen-Vertrags“). Also müssen wir einen Blick werfen auf den „Jugendquotienten„, der definiert ist als das Verhältnis der unter 20jährigen Menschen zu denen in der Altersgruppe 20 bis 65 [67]. Und hier muss man feststellen, sollte die Bevölkerungsvorausberechnung stimmen, dass sich auch der »Jugendquotient« leicht von 30 [29] Prozent auf 32 [30] Prozent erhöht.

An dieser Stelle bildet Steffen den ersten „Gesamtquotient (A)„, also die Summe der Altersgruppe unter 20 Jahren und der ab 65 [67] Jahren im Verhältnis zur mittleren Altersgruppe.
Dieser Gesamtquotient (A) steigt von heute 64 [59] auf 97 [87] im Jahr 2060 an. Und die guten Kopfrechner werden sofort erkennen: Der ursprüngliche Zuwachs von 90 Prozent beim Altenquotienten hat sich damit auf 51 [49] Prozent fast halbiert.

Aber Steffen hört an dieser Stelle nicht auf und argumentiert weiter: Die mittlere Altersgruppe muss nicht nur die Jüngeren und die Älteren »tragen«, sondern selbstverständlich auch sich selbst. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs bildet er den „Gesamtquotient (B)„, der das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Bevölkerung mittleren Alters abbildet. Und wie sehen hier die Werte aus? Der „Gesamtquotient (B)“ steigt von 164 [159] auf 197 [187] oder um nur noch 20 [18] Prozent. »Der rechnerische Anstieg schrumpft noch einmal um mehr als die Hälfte«, so Steffen.

Aber wir sind noch nicht am Ende. Völlig zu Recht notiert Steffen:
»Schließlich sind nicht alle Personen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig. Ökonomisch entscheidender ist daher der „Gesamtquotient (C)“ – das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Anzahl der Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe.«
Um den zu bestimmen, muss man eine Annahme machen, wie es mit der Erwerbstätigenquote im Jahr 2060 aussehen wird bzw. könnte. Er geht davon aus, dass die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe – also der Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung – bis 2060 um fünf Prozentpunkte ansteigen wird und begründet diese Annahme mit dem Hinweis, dass alleine von 2005 auf 2013 die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe laut Mikrozensus um fast sieben Prozentpunkte angestiegen ist.

Wenn man so vorgeht, dann reduziert sich der Zuwachs weiter auf 13 [9] Prozent bis zum Jahr 2060.

Fazit dieses Rechenwegs: Der vermeintlich untragbare »Belastungsanstieg« von anfänglich 90 [92] Prozent (»Altenquotient«) reduziert sich am Ende auf gerade noch 13 [9] Prozent (Gesamtquotient C).

Anders formuliert und vielleicht für viele fassbarer, was das bedeutet:

»Entfielen 2013 auf jeden Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe (einschließlich seiner selbst) 2,0 Köpfe der Gesamtbevölkerung, so wären es im Jahr 2060 2,3 [2,2] Köpfe.«

Und auch der letzte Gedankenschritt des Johannes Steffen soll hier zitiert werden. Er geht davon aus, dass ja in den vielen Jahren bis 2060 die Produktivität der Menschen nicht stehen oder gleichsam eingefroren bleibt. In den Jahren 1992 bis 2014 lag der durchschnittliche Zuwachs der Stundenproduktivität bei 1,4 Prozent, so dass er diesen fortschreibt:

Bei einem weiteren Anstieg der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde von im Durchschnitt 1,4 Prozent jährlich steigt die Leistung pro Erwerbstätigen bis 2060 um fast 100 Prozent. Davon können alle Generationen gleichermaßen profitieren – sofern die Verteilung »stimmt«.

Damit wären wir natürlich bei dem entscheidenden Punkt – wenn die Verteilung stimmen würde. Aber unabhängig von den vielen sich an dieser Stelle ergebenden Fragen kann man eines ganz gewiss sagen: Die Demografie kann nicht dazu instrumentalisiert werden, eine Zwangsläufigkeit von Renten- und anderen Kürzungen als quasi unvermeidbare Konsequenz aus der Bevölkerungsentwicklung zu behaupten.

Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“

Sie haben es wieder getan, die Bundesstatistiker. Eine neue, diesmal die 13. Bevölkerungsvorausberechnung, hat das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Die letzte, also die 12., stammt aus dem Jahr 2009, normalerweise wäre nach dem Drei-Jahres-Rhythmus 2012 die nächste fällig gewesen, aber aufgrund des „Zensus 2011“ wurde das auf 2013 verschoben und die Ergebnisse liegen jetzt der Öffentlichkeit vor. Natürlich wurde sofort darüber berichtet, um so schneller, desto besser. »Die Zahl der Deutschen wird nach Einschätzung der Statistiker langsamer abnehmen als bisher berechnet. 2060 werde die Bevölkerungszahl etwa 67,6 bis 73,1 Millionen betragen, sagte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler, am Dienstag. 2009 war seine Behörde bei der Vorausberechnung noch von 65 bis 70 Millionen Menschen ausgegangen«, kann man beispielsweise dem Artikel Deutschland schrumpft dank Zuwanderern langsamer entnehmen. Bereits an dieser Stelle wird der interessierte Zeitgenosse im derzeit laufenden Jahr 2015 nachdenklich verweilen und sich fragen, wie man glaubt, die Bevölkerung im Jahr 2060 – also in schlappen 45 Jahren – so genau prognostizieren zu können, denn bis dahin kann und wird sicher eine Menge passieren, vom dem man sich noch in vielerlei Hinsicht gar nicht vorstellen kann, dass man es sich vorstellen muss.

Womit wir aber schon beim ersten hervorzuhebenden Fehler sind – denn um eine „Prognose“ handelt es sich gerade nicht, sondern – das betonen die Bundesstatistiker, ordentlich, wie sie nun mal sind, auch besonders – wir haben es mit „Bevölkerungsvorausberechnungen“ (der Plural ist hier wichtig) zu tun, die auf einem ganzen Set an notwendigerweise zu treffenden Annahmen basieren, so dass die vorausberechneten Werte dann eintreten, wenn … Eben, wenn die zugrundeliegenden Annahmen zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos eintreten würden. Was sie natürlich nicht müssen. Dann müsste man sich korrigieren, wie beispielsweise jetzt gegenüber der Vorhersage aus dem Jahr 2009, die hinsichtlich der Bevölkerungszahl nach oben angehoben werden muss. Weil man die Zuwanderung unterschätzt hat. Die damit verbundenen Probleme sowie eine daraus ableitbare grundsätzlich kritische – was nicht bedeutet alles ablehnende – Haltung ergibt sich allein aus der Betrachtung der Erfahrungswerte aus der Vergangenheit (vgl. dazu den Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015). In diesem Beitrag finden sich bereits zahlreiche kritische Anfragen an die Vorhersagen – ohne diese, das sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben – grundsätzlich für nutzlos zu erklären, denn sie können schon wichtige Erkenntnisschneisen schlagen, man muss nur aufpassen, dass man nicht von der Modellierung mehr oder weniger plausibler demografischer Entwicklungspfade auf die abschüssige Bahn einer „Demografisierung“ sozialer Probleme gerät.

Aber genau das kann und muss man leider derzeit wieder erleben. Ein Beispiel dafür wäre der Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser. Er rezipiert einige der zentralen Aussagen aus der neuen Bevölkerungsvorausberechnung und kommt am Ende seines Artikels zu dem Ergebnis:

»Um die Erwerbstätigkeit deshalb auf dem heutigen Niveau zu halten, genügt mehr Zuwanderung nicht. Die Statistiker gehen davon aus, dass das Renteneintrittsalter bis 2060 auf 74 Jahre steigen müsste, damit die Erwerbstätigkeit konstant bleibt. Und auch damit wäre das Problem nur halb gelöst: Wegen der steigenden Zahl älterer Menschen wäre das Verhältnis von Erwerbstätigen und Senioren immer noch schlechter als heute.«

Kaiser kommt zu dieser Schlussfolgerung u.a. auf der Grundlage dieser Ausführungen:

»Bis 2060 soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren stark schrumpfen: Je nach der Stärke der Zuwanderung würde die Zahl um 23 Prozent bis 30 Prozent sinken. Für die Sozialsysteme ist dieser Wandel eine erhebliche Belastung: Kommen heute auf 100 Menschen im Erwerbsalter noch 34 Seniorinnen und Senioren, würden es 2060 bereits 60 und damit beinahe doppelt so viele sein.«

Dem aufmerksamen Leser wird sich an dieser Stelle die Frage stellen, warum wird hier – bezogen auf die Menschen im „erwerbsfähigen Alter“ – eigentlich immer der Schnitt bei 64 Jahren gesetzt? Haben wir nicht die gesetzlich fixierte Heraufsetzung des Renteneintrittsalters sukzessive auf 67 Jahre, die dann für den Geburtsjahrgang 1964, gerade nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland, vollständig Anwendung finden wird, es sei denn, diese Regelung würde wieder abgeschafft, was kaum zu erwarten ist? Bereits das ist eine grobe Verzerrung der Daten.

Und was „Demografisierung“ sozialer Probleme konkret bedeutet, kann man gerade an diesem Punkt erläutern: Die heutige Verhältnisse innerhalb des gegebenen Systems der Alterssicherung werden einfach fortgeschrieben in eine weit weg liegende Zukunft. Aber das ist keineswegs zwingend, denn natürlich gibt es die politische Option, unser Alterssicherungssystem umzubauen bzw. vom Kopf auf die Füße zu stellen, in dem wir es ablösen von seiner Begrenzung auf den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und die dann auch noch gedeckelt durch eine Beitragsbemessungsgrenze. Würde man also eine andere Finanzierungsgrundlage einziehen und würde es im Idealfall gelingen, die steigende Wertschöpfung besser an der Finanzierung zu beteiligen, dann bräuchte man sich weitaus weniger Sorgen machen über die Finanzierung des Alterssicherungssystems.

Vor diesem Hintergrund verblassen dann die vielen weiteren, ärgerlichen Fehlinterpretationen dessen, was die Bundesstatistiker heute veröffentlicht haben. Nicht nur Kaiser behauptet in seinem Artikel, dass es um eine „Prognose … für die Entwicklung der Bevölkerung bis 2060“ geht, die jetzt vorgelegt worden ist. Auch die Online-Ausgabe der BILD-Zeitung hat das in den Raum gestellt in ihrem Artikel mit der wie immer reißerischen Überschrift Der Schrumpf-Schock. Deutschland vergreist. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass es sich eben nicht um Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen unter der Bedingung, dass ganz bestimmte Annahmen eintreten, die wichtigsten kann man der Tabelle des Statistischen Bundesamtes entnehmen.

Und beide, Kaiser wie auch die BILD-Zeitung, sprechen von der „letzten Volkszählung im Jahr 2011“, die neben anderen Dingen zutage gefördert hat, dass »Deutschland rund 1,5 Millionen Einwohner weniger hatte als zuvor angenommen«, so Kaiser in seinem Artikel. Aber auch diese Differenz sei mittlerweile ausgeglichen durch die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre. Auch die BILD-Zeitung erwähnt, dass »2011 die Bevölkerung neu gezählt worden (sei) (Zensus 2011).«

Damit wird – wie an vielen anderen Stellen auch – behauptet, dass es 2011 eine „echte“ Volkszählung gegeben hätte. Genau das ist aber nicht der Fall, denn es handelte sich um einen typisch deutschen Kompromiss. Da man sich zum einen nicht getraut hat, eine wirkliche Volkszählung durchzuführen und zugleich die damit verbundenen Kosten gescheut hat, griff man zu Stichprobenerhebungen und Registerabgleiche vorhandener Daten. Das war und ist aber eben keine Vollerhebung, die man in regelmäßigen Abständen durchaus braucht, um den Nullpunkt der Weiter- und Hochrechnungen bestimmen zu können. Was war anders 2011 als beispielsweise 1984?
Dazu Andreas Berg in seinem Aufsatz Das Hochrechnungsverfahren zur Ermittlung der Einwohner- zahl im Zensus 2011 aus dem Jahr 2014:

»Mit dem zum Erhebungsstichtag 9. Mai 2011 durchgeführten Zensus 2011 hat die amtliche Statistik in Deutschland die Abkehr von einer Vollerhebung aller Personen und Haushalte vollzogen und methodisches Neuland betreten. Beim sogenannten registergestützten Zensus bilden die Melderegister die wesentliche Grundlage zur Ermittlung der Bevölkerungsergebnisse.
Eine zusätzliche Stichprobenerhebung – die sogenannte Haushaltsstichprobe – diente in Gemeinden ab 10.000 Einwohnern der Sicherung der Datenqualität der Einwohnerzahl und der nach demografischen Merkmalen untergliederten Bevölkerungszahlen. Die Stichprobe wurde genutzt, um Unter- und Übererfassungen der Melderegister zu quantifizieren und die Melderegister statistisch um diese Über- und Untererfassungen zu korrigieren.«

Fazit: Es sind wichtige Daten, die das Statistische Bundesamt heute veröffentlicht hat. Selbst das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat seinen Artikel über die neuen Zahlen mit der Überschrift versehen: Nichts Genaues weiß man nicht. Auf der Basis sollte man nun wirklich nicht derart weltfremde Schlussfolgerungen ziehen wie die Unabwendbarkeit einer Rente mit 74.