Die einen bekommen mehr, die anderen weniger: Besserstellung der tarifgebundenen Pflegedienste in der häuslichen Krankenpflege

Zuweilen sind es die kurzen Meldungen, hinter denen gewichtige Aspekte stehen, die man wahrnehmen sollte, gerade auch deshalb, weil sie neue und notwendige Wege aufzeigen. Ein Beispiel dafür wäre die Situation in der Pflege und die Vergütung der Pflegekräfte. Darüber wird seit langem geklagt. Und immer wieder hat man in der Vergangenheit seitens der Träger der ambulanten Pflegedienste und der Pflegeheime das Argument hören müssen, man würde ja gerne das Personal besser, beispielsweise nach Tarif bezahlen – aber man stehe in einem harten Wettbewerb mit anderen Anbietern und wenn sich die daran nicht halten, dann zieht man eine ganz schlechte Karte. Kurzum, man würde ja gerne, aber die Rahmenbedingungen der Finanzierung erlauben das leider nicht.
Nun hatte dass Bundessozialgericht mit Blick auf die Pflegesätze in der stationären Altenpflege schon vor Jahren entschieden, dass die Einhaltung einer Tarifbindung nicht dazu führen darf, einen solchen Anbieter wegen „Unwirtschaftlichkeit“ gleichsam zu bestrafen.

Zum Hintergrund sei an dieser Stelle nur auf die Ausführungen zum „externen Vergleich“ und dem richtungweisenden Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Januar 2009 hingewiesen, die man in dieser Veröffentlichung nachlesen kann:

Stefan Sell (2009): Das Kreuz mit der Pflege. Konfessionelle Träger von Pflegeheimen als Getriebene und Treiber in Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Pflegesektors. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 06-2009, Remagen, 2009

Von besonderer Rolle ist dabei der „externe Vergleich“ und die Orientierung der zugestandenen Pflegesätze an den in Rahmen dieses Vergleichs gewonnenen durchschnittlichen Beträgen bzw. Steigerungsraten. Als Hintergrund für die Anwendung dieses speziellen und mit Blick auf Träger, die eine z.B. tarifinduzierte höhere Personalkostenstruktur haben, nicht unproblematischen Verfahrens, muss die (alte) Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2000 gesehen werden.

In zwei Urteilen hatte das BSG richtungweisend dargelegt, wie die Vergütung der vollstationären Pflegeheime zu ermitteln ist. Die Höhe der leistungsgerechten Vergütung ist nach den Vorschriften des Gesetzgebers auf der Grundlage einer marktorientierten Pflegeversorgung in erster Linie durch Marktpreise zu bestimmen. In der Entscheidung vom 14. Dezember 2000 (BSGE 87, 199 = SozR 3 3300 § 85 Nr 1) hatte der erkennende Senat ausgeführt, dass sich die leistungsgerechte Vergütung von Pflegeleistungen der Pflegeheime in erster Linie am jeweiligen Marktpreis orientiere; um diesen zu ermitteln, seien Angebot und Vergütung der Leistungen anderer Pflegeheime ähnlicher Art und Größe zum Vergleich heranzuziehen (externer Vergleich).

In der Bilanz hat die praktische Anwendung des externen Vergleichs eine (nach unten) nivellierende Wirkung auf die Preise ausgeübt. Der externe Vergleich wirkte tendenziell wie ein Treiber zugunsten der billigen Anbieter und als permanentes Kostenunterdeckungs-Damoklesschwert für die „teuren“ Anbieter.

In dieser Gemengelage war die im Januar 2009 vom BSG vorgenommene Neuausrichtung der bisherigen Vorgaben zur Berechnung der leistungsgerechten Vergütung von Pflegeeinrichtungen in den Schiedsstellenverfahren besonders hervorzuheben – und für alle Vertreter einer Aufrechterhaltung der Tarifbindung und einer ordentlichen Bezahlung war dieser Kurswechsel der Bundessozialrichter von zentraler Bedeutung.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hatte entschieden, dass die Pflegevergütungen für Pflegeheime auf einer neuen Basis zu berechnen sind, um einerseits den Pflegeheimen eine leistungsgerechte, ein wirtschaftliches Handeln ermöglichende Vergütung zu gewähren (§ 84 Abs. 1 und 2 SGB XI), ohne dabei zu dem vom Gesetzgeber abgeschafften „Selbstkostendeckungsprinzip“ hinsichtlich der Gestehungskosten zurückzukehren. Nach den Vorgaben des BSG sind die Pflegesätze in einem zweistufigen Verfahren zu berechnen:

In einer 1. Stufe erfolgt eine Plausibilitätsprüfung der vom Heimträger für den bevorstehenden Pflegesatzzeitraum prognostisch geltend gemachten einzelnen Kostenansätze. Dabei hat der Heimträger die Abweichung der Kostenansätze zu den Vorjahreskosten (interner Vergleich) plausibel zu erklären (z. B. „normale“ Lohnsteigerungen, verbesserter Pflegepersonalschlüssel). Die Pflegekassen haben die Plausibilität zu überprüfen.

Sind die Kostenansätze plausibel, erfolgt in einer 2. Stufe ein externer Vergleich der geforderten Pflegesätze mit den Pflegesätzen vergleichbarer Pflegeheime aus der Region, um die Wirtschaftlichkeit zu überprüfen. Dabei ist nicht nach tarifgebundenen und nicht-tarifgebundenen Pflegeheimen zu unterscheiden. Liegt der geforderte Pflegesatz im unteren Drittel der zum Vergleich herangezogenen Pflegesätze, ist regelmäßig ohne weitere Prüfung von der Wirtschaftlichkeit auszugehen. Liegt er darüber, sind die vom Heimträger dafür geltend gemachten Gründe auf ihre wirtschaftliche Angemessenheit zu prüfen. Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.

Der letzte Satz ist hier natürlich von entscheidender Bedeutung: „Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.“ Das ist der Schlüsselsatz für alle Vertreter einer Tariforientierung bei der Ausgestaltung der Pflegesätze.

Nun gibt es eine ganz neue Bewegung im Bereich der ambulanten Pflegedienste, bei der es explizit auch um die Frage der Tarifbindung (und der daraus resultierenden Kosten) geht. Es geht hier – das sei deutlich hervorgehoben – um den Bereich der häuslichen Krankenpflege, also um den SGB V-Bereich, nicht um die ambulanten Altenpflegedienste nach dem SGB XI, also der Pflegeversicherung. Kassen belohnen faire Pflegedienste, so die eindeutige Überschrift einer der Meldungen dazu. Oder dieser Artikel hier: Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten in Hamburg mehr Geld. Was ist passiert?
In Hamburg bieten rund 360 Pflegedienste häusliche Krankenpflege als vorübergehende Unterstützung nach Krankheit oder einem Unfall an. Die Arbeitsgemein­schaft der freien Wohlfahrtspflege Hamburg (AGFW), in der überwiegend tarifgebundene Dienste organisiert sind, hat mit dem Verband der Ersatzkassen (vdek) Hamburg einen neuen Vertrag zur häuslichen Krankenpflege vereinbart, nach der Pflegedienste von den Ersatzkassen dann mehr Geld bekommen, wenn sie ihren Beschäftigten Tariflohn zahlen. 
Konkret hat man ein interessantes 3-Stufen-Modell vereinbart, das so aussieht:

1. Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten ab dem 1. Juli 2017 eine um 2,5 Prozent erhöhte Vergütung.
Für Anbieter, die keinen Tariflohn bezahlen, verein­barten die Vertragspartner ein abgestuftes Verfahren.
2. Dienste ohne Tarifbindung erhalten ein Vergütungsplus von 2,2 Prozent, wenn sie belegen, dass sie die Löhne ihrer Beschäftigten durchschnittlich im gleichen Umfang erhöhen.
3. Unternehmen, die weder Tariflohn bezahlen noch die Weitergabe des Vergütungsplus an ihre Mitarbeiter nachweisen, erhalten eine Steigerung von lediglich 1,2 Prozent.

„Der Vertrag soll ein Signal an die Pflegedienste sein, noch stärker als bisher auf eine vernünftige Bezahlung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu achten.“ Mit diesen Worten zitiert der Verband der Ersatzkassen Claudia Straub, Referatsleiterin Pflege, in der Pressemitteilung Pflegekräfte sollen besser bezahlt werden. Ersatzkassen steigern Vergütung in der häuslichen Krankenpflege
Hier wird über eine abgestufte finanzielle Anreizregelung tatsächlich ein Signal in Richtung auf mehr Tarifbindung gesetzt. Man kann nur hoffen, dass diese Regelung viele Nachahmer findet und das Segment der häuslichen Krankenpflege überschreiten kann.

Sich krank pflegen. Alarmierende Zahlen zur Arbeitsunfähigkeit bei Pflegekräften

Wir reden von dem großen Jobmotor des Landes: Mehr als jeder zehnte Arbeitnehmer in Deutschland ist in einen Gesundheitsberuf beschäftigt, insgesamt 3,2 Millionen – fast die Hälfte davon in der Pflege.
Er habe gewusst, dass es schlimm ist. „Aber dass Pflegekräfte in Deutschland so viel öfter als die Beschäftigten anderer Branche im Job arbeitsunfähig werden, habe ich mir nicht vorstellen können“ sagt Franz Knieps, Vorstandschef des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen. „Das Ausmaß ist erschreckend.“
Mit diesen Worten beginnt ein Artikel von Peter Thelen, in dem über den BKK Gesundheitsatlas 2017 berichtet wird. Die dort präsentierten Zahlen sind alarmierend: Beschäftigte in der Pflege weisen inzwischen mit den höchsten Krankenstand auf. »Zu wenig Personal, zu viele Überstunden, geringe Bezahlung, viele Teilzeitjobs und befristete Arbeitsverträge: Der Gesundheitssektor ist nicht nur ein wichtiger Jobmotor für Deutschland, sondern für viele Beschäftigte auch eine wahre Knochenmühle«, so Julia Frisch in ihrem Bericht Krank schuften für Pflege und Gesundheit. Die AU-Tage im Gesundheitswesen, also die krankheitsbedingten Ausfalltage, liegen weit über dem Durchschnitt aller Beschäftigter.

Die Zahlen sind mehr als eindeutig:

»Während 2015 für alle beschäftigten BKK-Mitglieder im Schnitt 16,1 AU-Tage anfielen, kamen Mitarbeiter in Pflege- und Altenheimen laut Gesundheitsatlas auf 23,8 beziehungsweise 23,5 AU-Tage. In der sozialen Betreuung waren es 20,8 Tage, in Kliniken 18,2 AU-Tage. Überdurchschnittlich oft sind psychische Störungen der Grund für die Erkrankungen: 4,5 Tage waren etwa Beschäftigte in der Altenpflege deswegen krankgeschrieben. Bei allen arbeitenden BKK-Mitgliedern waren es dagegen nur 2,3 AU-Tage.«

Das und generell die Arbeitsbedingungen in der Pflege spiegeln sich auch in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Auf der Basis einer Umfrage unter 2.000 Beschäftigten ergibt sich dieser Befund:

»Knapp acht Prozent der Arbeitnehmer in der Kranken- und Gesundheitspflege und sogar 21 Prozent in der Altenpflege sehen ihre psychische und physische Gesundheit durch die Arbeit mindestens als stark gefährdet an. Betrachtet man alle Beschäftigten zusammen, äußerten nur 4,4 Prozent diese Befürchtung.«

Der differenzierte Blick auf den Krankenstand verdeutlicht neben der überdurchschnittlich hohen Belastung der Pflegeberufe auch die Spaltung innerhalb der Pflege zwischen der Gesundheits- und Krankenpflege auf der einen und der Altenpflege auf der anderen Seite. Hier sieht man, dass die Altenpflege nochmals stärker betroffen ist von den krankmachenden Effekten der Arbeit. Die angesprochene und in Deutschland besonders ausgeprägte Spaltung zwischen der Pflege in den Krankenhäusern und der Altenpflege wurde jüngst wieder mehr als deutlich bei der beabsichtigten und dann schlussendlich mit einem keinen wirklich befriedigenden Kompromiss (vorläufig) abgeschlossenen Reform der Pflegeausbildungen (vgl. dazu den Beitrag Reform der Pflegeausbildung: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Von der Dreigliedrigkeit zum 1.+2. (+3.) Generalistik- bzw. (ab 3.) Y-Optionsmodell vom 24. Juni 2017).

ie Altenpflege ist in mehrfacher Hinsicht besonders unter Druck – und zugleich die große „Boombranche“, was die Zuwachsraten bei der Beschäftigung angeht. »Während über alle Branchen seit 2013 die Beschäftigtenzahlen um 5,9 Prozent gestiegen sind, gab es bei den Fachkräften in der Altenpflege  einen Zuwachs von 14,2 Prozent und bei den Pflegehelfern sogar von 16,8 Prozent. In der Krankenpflege lagen die Zuwachsraten mit sieben Prozent für die Krankenhelfer und 4,7 Prozent für die Krankenpfleger deutlich niedriger. Das hat auch damit zu tun, dass die Krankenhäuser aus Kostengründen die Personaldecke straff halten, weiß Sylvia Bühler, Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Verdi«, so Peter Thelen in seinem Artikel. Damit das hier nicht falsch verstanden wird: Eine Differenzierung zwischen Krankenpflege auf der einen und Altenpflege auf der anderen Seite ist eine zwischen schlecht und noch schlechter. Zur Pflege in den Krankenhäusern: »In Deutschland sei eine Pflegefachkraft pro Schicht für durchschnittlich 13 Patienten zuständig, in den Niederlanden für sieben. In der Nachtschicht sind es durchschnittlich 26. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern machen notgedrungen Überstunden ohne Ende: Nach einer Erhebung von Verdi im vergangenen Jahr schieben die Beschäftigen in den Kliniken einen Berg von 35,7 Millionen Überstunden vor sich her, 32,5 pro Kopf.«

Zur Altenpflege: »Mit 1.945 Euro brutto im Osten und 2.548 Euro brutto im Westen legen die Einkommen für eine Vollzeitstelle im Durchschnitt um 21 Prozent unter dem Niveau in der Krankenpflege. Auch bei Vollzeitarbeit drohe daher vielen Altenpflegekräften Armut im Alter. Zum Vergleich: Das Durchschnittsgehalt über alle Branchen liegt bei 3.462 Euro brutto. Bis zu 70 Prozent der Pflegekräfte arbeiten aber in Teilzeit.«

Die Arbeitsbedingungen haben messbare Folgen: Die meisten Fehltage pro Beschäftigten gibt es bei den Beschäftigten in Pflegeheimen und Altenheimen mit rund 24 Tagen, in Krankenhäusern mit 18 Tagen und in der sozialen Betreuung mit 20 Tagen. In der gesamten Wirtschaft fallen pro Jahr und Kopf 16,1 Arbeitsunfähigkeitstage an.

Es sind vor allem psychische Störungen, die in der Pflegebranche weit häufiger vorkommen als in der übrigen Wirtschaft.

Bei der Präsentation der neuen Daten seitens der BKK wurde natürlich auch über mögliche Konsequenzen debattiert. Sylvia Bühler von der Gewerkschaft Verdi sieht hier eindeutig den Gesetzgeber gefordert. Er muss schneller und durch strengere Vorgaben als bisher dafür sorgen, dass in Kliniken und Pflegeeinrichtungen deutlich mehr Pflegepersonal eingestellt wird. Nötig, so Bühler, sei auch ein Sofortprogramm, das gewährleiste, dass keine Schicht mehr von einer Person allein bestritten wird.

»Bei den Krankenkassen stößt die Forderung nach starren Personalvorgaben grundsätzlich auf Kritik. So hat sich der GKV-Spitzenverband nur sehr unwillig vom Gesetzgeber zwingen lassen, in den kommenden Jahren mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft zumindest Personaluntergrenzen auszuhandeln. BKK-Chef Franz Knieps teilt noch aus seiner Zeit als Chef der zuständigen Abteilung im Gesundheitsministerium diese Bedenken gegen starre Vorgaben. Trotzdem, so sagt er  heute, sehe er inzwischen keinen anderen Weg, das Problem der chronischen Arbeitsüberlastung in der Pflege anzugehen. „Am Ende sind es ja auch die Kranken- und Pflegebedürftigen, die das ausbaden müssen“, sagt Knieps.«

Immer wieder geht es um die desaströse Personalausstattung in der Altenpflege, aber auch in vielen Krankenhäusern, was die Pflege angeht. Während sich im Krankenhausbereich – wenn auch nur im embryonalen Umfang – etwas bewegt und die Debatte über verbindliche Personalvorgaben Fahrt aufgenommen hat (vgl. beispielsweise Viel Zustimmung für Personalvorgaben in Kliniken), ist die Lage in der Altenpflege mehr als prekär, in vielen Fällen ist sie unerträglich. Nicht ohne Grund wird man bei einer Suche unter dem Stichwort „Pflegenotstand“ in vielen Fällen auf den Bereich der stationären Altenpflege stoßen. Aber Hilfe für diesen Bereich ist schwer zu bekommen – selbst das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang erfolgreich Verfassungsbeschwerden gegen den Pflegenotstand vom richterlichen Körper halten können. Zu diesem Thema sei an dieser Stelle auf eine neue Publikation verwiesen, die in diesen Tagen im Nomos-Verlag erschienen ist: Christian Helmrich (Hrsg.) (2017): Die Verfassungsbeschwerden gegen den Pflegenotstand. Dokumentation und interdisziplinäre Analysen, Baden-Baden 2017: »Der Pflegenotstand ist in der politischen Landschaft ein seit langem bekanntes Problem. Systemische Mängel wie unzureichende Personalausstattung und Unterfinanzierung führen zur Verletzung von Grundrechten stationär Gepflegter. Im Jahr 2014 erhoben sieben Beschwerdeführende mit Unterstützung des Sozialverbands VdK Verfassungsbeschwerden: Der Gesetzgeber habe trotz der Reformbestrebungen keine Abhilfe geschaffen und damit seine sich aus dem Grundgesetz ergebenden Schutzpflichten verletzt. Den Bestrebungen um Besserung in der stationären Pflege fügt diese Argumentation eine neue Perspektive hinzu. Erstmals steht nicht das politisch Gewollte, sondern das grundrechtlich Geforderte im Mittelpunkt. Juristisch war dem Verfahren kein Erfolg beschieden – das Gericht nahm die Beschwerden nicht zur Entscheidung an.«
Der Sammelband dokumentiert und analysiert das Verfahren in der Rückschau. Er bezieht dabei neben verschiedenen rechtlichen auch sozialpolitische und pflegewissenschaftliche Aspekte ein.

Sowohl im Krankenhausbereich wie auch in der Altenpflege wird noch eine lange Wegstrecke zurückzulegen sein, um die Verhältnisse endlich zum Besseren zu wenden. Was passiert, wenn man das nicht tut oder zu lange wartet, das kann man auch in den Zahlen zur Entwicklung der Arbeitsunfähigkeit in den Pflegeberufen ablesen. Und damit potenziert sich das Grundproblem in vielen Pflegebereichen, dass es schlichtweg zu wenig Personal gibt. Wenn man dann auch noch die, die da sind, im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst krank pflegen lässt, dann darf man sich nicht wundern, wenn das kranke System kollabiert.

Die „Pflegemafia“ … und ihre Verarbeitung durch die Rechtsprechung am Beispiel von tatbeteiligten Pflegebedürftigen

Im Frühjahr 2016 rauschte das ein paar Tage durch die Medienlandschaft – „Pflegemafia“ konnte man da lesen, sogar von einer „russischen“ Pflegemafia auf deutschem Boden war die Rede. Auslöser der damaligen Beschäftigung mit einer besonderen Ausprägung des Abrechnungsbetrugs im Bereich der ambulanten Pflege war der Beitrag So funktioniert der Milliarden-Betrug der Pflege-Mafia von Dirk Banse und Anette Dowideit. Das wurde auch in diesem Blog aufgegriffen: Eine russische Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe, so ist der Beitrag vom 18. April 2016 überschrieben. »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind«, so hatten das Banse und Dowideit formuliert. Ute Krogull hat das kurze Zeit später in ihrem Artikel Die schmutzigen Geschäfte der Pflegemafia aufgegriffen: »Es gibt ein System des organisierten Betrugs, in das angeblich sogar Ärzte verwickelt sind. Viele wissen davon. Doch keiner kommt dagegen an, wie das Beispiel Augsburg zeigt.«

Branchenkenner sprechen von einem „riesigen grauen Markt in einem abgeschotteten System“. Wie funktioniert das? Krugall beschreibt das in ihrem Artikel so:

»Dienste kreuzen – teilweise in Absprache mit Pflegebedürftigen bzw. deren Angehörigen – Leistungen auf den Abrechnungsbögen an, die nie erbracht wurden. Menschen werden instruiert, sich gegenüber dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen, der die Pflegestufe vergibt, hinfälliger zu stellen, als sie sind. Hilfskräfte übernehmen Aufgaben von Fachkräften. Überschüsse aus dem Betrugsgeschäft teilt man sich, macht Gegengeschäfte oder stellt Angehörige pro forma als Pfleger an – ohne dass sie einen Finger rühren.«

Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch in Augsburg gegen einen Pflegedienst. Dieser soll in über 600 Fällen betrügerische Abrechnungen erstellt und so in vier Jahren über 200.000 Euro ergaunert haben. Krugall hat natürlich die naheliegende Frage gestellt: Warum fällt das – wenn es denn so weit verbreitet sei – so selten auf?

»Eckard Rasehorn, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt Augsburg-Stadt, sagt: „Kassen und Sozialhilfeträger können nichts beweisen.“ Was passiert, ist offensichtlich hochprofessionell organisiert und spielt sich hinter verschlossenen Türen ab. Und das in einer regelrechten Parallelgesellschaft, die gegen „den Staat“ zusammenhält. Klaus Kneißl, Sozialplaner beim Augsburger Sozialreferat, sagt: „Der Nachweis ist wahnsinnig schwer zu führen.“ Möglich sei es nur bei besonders dreisten Fällen. Wenn zum Beispiel das Sozialamt, das für Patienten ohne Versicherung die Kosten übernimmt, eine Rechnung aus dem Krakenhaus erhält – und parallel die Forderung eines Dienstes, der den Menschen angeblich zur selben Zeit zu Hause gepflegt hat.«

Und immer wieder wurde damals von einer „russischen“ Pflegemafia gesprochen, eine etwas ungenaue Formulierung, aber auch in Augsburg war (ist?) das relevant, was man diesen Erläuterungen entnehmen kann:

»Die russische Parallelgesellschaft ist in Augsburg immer wieder Thema. 25.000 der 284.000 Bürger haben Wurzeln in postsowjetischen Staaten. Es gibt ein ganzes System von Geschäften, Dienstleistungsunternehmen, Pflegediensten und Ärzten. Kneißl schätzt, dass mindestens zehn der 50 Augsburger Sozialstationen in russischer Hand sind. Teilweise sind sie erkennbar an typischen Namen aus dem Sprachraum, gerne Frauenvornamen oder mythologische Figuren. Großteils sind sie auf russischsprachige Klienten spezialisiert, das Personal ist oft schlecht bezahlt und spricht teilweise kaum Deutsch.«

Man muss allerdings anmerken, dass die betrügerischen Aktivitäten im vergangenen Jahr kein wirklich neues Phänomen waren, bereits 2011 gab es Diskussionen darüber anlässlich von Vorgängen in Berlin. Dort ging es um „normale“ Pflege im häuslichen Kontext, Im vergangenen Jahr hingegen wurde vor allem die Expansion des betrügerischen Pflegemodells auf „lukrative“ Beatmungspatienten beklagt.

Es ging also um einen Betrug der Sozialsysteme mit Schwerstkranken, die rund um die Uhr Betreuung brauchen und aus Sicht der Kriminellen deutlich lukrativer sind. Mit ihnen lassen sich pro Monat bis zu 15.000 Euro illegal abzweigen.

Aber auch hier wieder stoßen wir auf das gleiche Muster wie bei der „normalen“ häuslichen Pflege. So wurde im vergangenen Jahr berichtet und beklagt: „Patienten und Angehörige wirken häufig an den Betrugshandlungen mit“, so ein Ermittler aus Nordrhein-Westfalen. „Dafür erhalten sie einen Teil der Beute.“

Das stellt sich nicht nur dem einen oder anderen die Frage, was eigentlich mit diesen Beteiligten des betrügerischen Handelns passiert, wenn denn Fälle tatsächlich ans Tageslicht gezogen werden können. Dazu konnte man beispielsweise am 2. November 2016 lesen: »Kooperieren Pflegemafia und Patienten, kommt das dem Staat teuer zu stehen. Das Sozialgericht Berlin hat nun entschieden: Ein Amt darf betrügerischen Sozialhilfeempfängern die Leistung kürzen«, berichtete Matthias Wallenfels in seinem Artikel Amt darf Rentnerin Sozialhilfe kürzen: Das Sozialamt darf die Sozialhilfe einer Pflegebedürftigen rückwirkend um Geldbeträge kürzen, die diese von einem kriminellen Pflegedienst als Kick-Back für ihr Mitwirken beim Abrechnungsbetrug erhalten hat, so das Sozialgericht Berlin. Und die daraus folgenden Rückforderungen darf das Sozialamt durch Anrechnung auf die laufende Grundsicherung sofort durchsetzen.

Was genau ist passiert und auf welcher Grundlage hat das Sozialgericht seine Entscheidung (S 145 SO 1411/16 ER) getroffen? Schauen wir uns den geschilderten Sachverhalt genauer an:

»Im konkreten Fall stand ein Berliner Pflegedienst im Fokus der Staatsanwaltschaft. Sichergestellte Kassenbücher und Dienstpläne begründen laut SG den Verdacht, dass hier rund 300 Patienten in den Abrechnungsbetrug verwickelt waren.
Die 1949 geborene Klägerin beziehe vom Sozialamt Steglitz-Zehlendorf, seit Jahren Grundsicherung im Alter. Zugleich sei sie Patientin des beanstandeten Pflegedienstes.
Mit Bescheid vom 11. August 2016 habe das Sozialamt sämtliche Bescheide zurückgenommen, mit denen der Antragstellerin Sozialleistungen für den Zeitraum November 2014 bis Februar 2015 bewilligt worden waren.
Die Antragstellerin habe in diesem Zeitraum für ihre Mitwirkung am Abrechnungsbetrug des Pflegedienstes ein Einkommen aus Kick-Back-Zahlungen zwischen 245 und 336 Euro monatlich erzielt. Dadurch sei ihre Hilfebedürftigkeit entsprechend verringert worden.«

1.125 Euro zu viel gezahlte Sozialhilfe seien zurückzuzahlen. Zur Begleichung der Erstattungsforderung werde die laufende Grundsicherung ab sofort um monatlich 73 Euro gekürzt, so das zuständige Sozialamt – und dagegen hatte die Betroffene Klage beim Sozialgericht eingelegt, die von diesem zurückgewiesen wurde (vgl. dazu auch Sozialgericht Berlin: Leistungskürzungen wegen Pflegebetrugs – Sozialgericht bestätigt Linie der Sozialämter, 02.11.2016). Darin erfahren wir zu den Gründen für die Ablehnung der Klage seitens des Berliner Sozialgerichts:

»Die Anrechnung der „Kick-Back-Zahlungen“ als Einkommen und die darauf gestützte Rückforderung von Sozialleistungen seien nicht zu beanstanden. Laut den von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten Kassenbüchern habe die Antragstellerin über die Jahre von dem Pflegedienst insgesamt sogar Zahlungen in Höhe von 12.064 Euro erhalten. An der Richtigkeit der Kassenbücher habe das Gericht keine Zweifel. Offensichtlich habe der Pflegedienst derartige Unterlagen führen müssen, um angesichts von rund 300 am Betrugssystem beteiligten Patienten den Überblick über seine „Wirtschaftlichkeit“ zu behalten. Die Kassenbücher würden durch die ebenfalls beschlagnahmten Dienstpläne bestätigt.
Die Einwände der Antragstellerin seien in keiner Weise nachvollziehbar. Die Antragstellerin habe nämlich Nachweise über tägliche Pflege unterschrieben, obwohl sie laut Abschlussbericht des Landeskriminalamtes überhaupt nicht gepflegt worden sei. Die Unzuverlässigkeit des Pflegedienstes sei dem Gericht im übrigen aufgrund einer Vielzahl weiterer Verfahren bereits bekannt.«

Das Sozialgericht betonte auch das Vorliegen ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Rückforderung, u.a. mit Hinweis darauf, angesichts »des Ausmaßes des Leistungsbetrugs mit einem Schaden in Höhe von mehreren Millionen Euro sei auch aus generalpräventiven Gründen eine sofortige Reaktion des Sozialhilfeträgers erforderlich.«
Das Vorgehen diene dem Schutze des Sozialversicherungssystems und der Gesamtheit der Steuerzahler.

Eigentlich nachvollziehbar. Aber dann stoßen wir bereits in der Pressemitteilung des Sozialgerichts am Ende nach dem Hinweis, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei, weil Beschwerdemöglichkeit beim Landessozialgericht bestehen würde, auf diesen Passus, bei dem der Nicht-Jurist zwei- oder mehrmals hinschauen muss:

»Der Beschluss gibt die überwiegende Rechtsauffassung am Sozialgericht wieder. Eine abweichende Auffassung hat die 146. Kammer vertreten (Beschluss vom 21. Oktober 2016 – S 146 SO 1487/16 ER). Die 146. Kammer hält den vom Sozialamt gewählten Weg, Einkommen aus Straftaten auf erhaltene Sozialhilfe anzurechnen, aus dogmatischen Gründen für falsch. Es sei inkonsequent, Gewinne aus kriminellen Handlungen auf die Sozialhilfe anzurechnen, denn Hilfeempfänger dürften grundsätzlich nicht auf Einnahmequellen verwiesen werden, die von der Rechtsordnung missbilligt werden.«

Offensichtlich muss diese Unstimmigkeit auf der nächst höheren Instanzenebene geklärt werden. Genau das ist mittlerweile passiert, mit diesem Ergebnis: Keine Sozialhilfekürzung wegen Pflegebetrugs: »Pflegebedürftigen, die sich am Pflegebetrug beteiligt haben, darf die Sozialhilfe dennoch nicht die Leistungen für den täglichen Lebensunterhalt kürzen. Sogenannte Kick-back-Zahlungen, die Pflegebedürftige für ihre Unterschrift unter nicht erbrachte Leistungen erhalten haben, sind kein „Einkommen“ das auf die Sozialhilfeleistungen angerechnet werden kann, entschieden zwei Senate des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg in Potsdam. Sie hoben damit gegenteilige Eilentscheidungen des Sozialgerichts Berlin auf. Das Sozialamt könne nicht verlangen, Einkünfte aus strafbaren Handlungen zum Bestreiten des Lebensunterhalts einzusetzen.«

Die Pressemitteilung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 2. Februar 2017 ist so überschrieben: Leistungskürzungen wegen Pflegebetrugs – Landessozialgericht bremst Sozialämter. Auch beim LSG haben sich gleich zwei Senate mit der Materie parallel beschäftigt, denn dort sind zwei Senate (bestehend aus jeweils drei Berufsrichtern) mit der Sparte der Sozialhilfe befasst. Beide Senate haben übereinstimmend entschieden, dass die Sozialämter die „sofortige Vollziehung“ ihrer Bescheide nicht anordnen durften. Unterschiede gab es nur in der Begründung:

  1. Der 15. Senat hat die Rechtsfrage, ob Kick-Back-Zahlungen Einkommen im Rechtssinne seien, ausdrücklich offen gelassen (Beschluss vom 21. Dezember 2016, L 15 SO 301/16 B ER, rechtskräftig). Allerdings sei der Erhalt von Kick-Back-Zahlungen nicht hinreichend belegt, denn hierfür spreche einzig ein Eintrag in einem Kassenbuch des Pflegedienstes. Umgekehrt sei z.B. nicht erwiesen, dass die Antragstellerin Pflegeleistungen in einem geringeren als mit der Pflegekasse abgerechneten Umfange erhalten habe.
  2. Der 23. Senat hat offen gelassen, ob der Erhalt von Kick-Back-Zahlungen erwiesen sei und entschieden (z.B. Beschluss vom 9. Januar 2017, L 23 SO 327/16 B ER, rechtskräftig), dass Kick-Back-Zahlungen als Gewinne aus begangenen Straftaten kein „Einkommen“ im Sinne des Sozialhilferechts darstellten. Ein solcher Zufluss an Geld stamme aus einem gemeinschaftlich begangenen Betrug und sei von vornherein mit einer Rückzahlungspflicht belastet. Eine Behörde könne nicht verlangen, Einkünfte aus strafbaren Handlungen zum Bestreiten des Lebensunterhalts einzusetzen, um so den Anspruch auf staatliche Sozialleistungen zu mindern.

Der entscheidende Punkt ist natürlich die Argumentation des 23. Senats hinsichtlich einer Nich-Anrechenbarkeit des gemeinsam erwirtschafteten Profits durch das betrügerische Handeln, da es „kein Einkommen“ sei. Sollte sich diese Linie im Hauptsacheverfahren durchsetzen, dann wird damit ein – nun ja – irritierendes Signal ausgesendet, denn dass man das Mitwirken der Betroffenen bzw. ihrer Angehörigen braucht, um richtig abzuzocken, ist wohl mehr als offensichtlich.

Zugleich lehrt uns dieser Ausflug in die Tiefen und Untiefen der Sozialrechtsprechung, dass das Aufdecken von Missbrauch das eine ist, das andere hingegen die sich über sehr lange Zeit hinziehende juristische Aufarbeitung mit teilweise mehr als bedenkenswerten Ergebnissen. In der Zwischenzeit könnte der Rubel weiter gerollt sein, was man natürlich nur vermuten kann.