Der Dauerlauf im Hamsterrad des Unzulänglichen und Ungeklärten: Pflege und Pflegekräfte in Bewegung. Nicht zu vergessen die pflegenden Angehörigen

Über 3.000 Menschen besuchen derzeit den Deutschen Pflegetag 2015 in Berlin. Solche Kongresse sind neben vielen fachlichen Impulsen und Diskussionen natürlich immer auch ein Schaulaufen der pflegepolitisch wichtigen Größen sowie der proklamatorischen Selbstvergewisserungen einer Profession. So kann es nicht überraschen, dass den Pflegekräften im Plenum viel Lob und Anerkennung dessen, was sie tagtäglich tun, mit auf den Weg gegeben wird. Aber auch die vielen warmen Worte können – wenn man sich ehrlich macht – nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pflege als Berufs- und Tätigkeitsfeld insgesamt in einer – zuweilen irritierend daherkommenden – nebulösen Sowohl-als-auch-Debatte festzuhängen scheint.

Auf der einen Seite gibt es durchaus einige und darunter sehr gewichtige pflegepolitische Entwicklungen, die ein hohes Aktivitätsniveau anzeigen. Das Bundesgesundheitsministerium beschreibt das so: »Durch zwei Pflegestärkungsgesetze will das Bundesgesundheitsministerium in dieser Wahlperiode deutliche Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung umsetzen.« Mit dem ersten der beiden Gesetze wurden zum 1. Januar 2015 Leistungen erhöht, mehr Betreuungskräfte für stationäre Einrichtungen ermöglicht und ein – zu Recht sehr umstrittener – „Pflegevorsorgefonds“ installiert. Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz soll am Ende dieser Wahlperiode ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren eingeführt werden. Damit nicht genug: Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), hat auf dem Pflegetag angekündigt, im Sommer einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Attraktivität der Pflegeberufe gesteigert werden soll. Auf der anderen Seite leiden alle Bereiche der Pflege unter einer sich seit langem kontinuierlich zuspitzenden Personalmangelsituation, die zu enormen Frustrationen unter den Fachkräften und im Pflegealltag zu teilweise desaströsen Gefährdungssituationen führt (vgl. dazu nur am Beispiel der Nachtdienste in Krankenhäusern den Blog-Beitrag Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte vom 07.03.2015). Aber damit nicht genug: Auch hinsichtlich der Frage einer stärkeren institutionellen Verselbständigung der Pflege gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Pflege sowie auseinanderlaufende Entwicklungen zwischen den Bundesländern.

Zeitgleich steigt und steigt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen – gerade erst hat das Statistische Bundesamt die Pflegestatistik 2013 veröffentlicht. Im Dezember 2013 waren in Deutschland 2,63 Millionen Menschen formal pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. 71 Prozent (also 1,86 Millionen) von ihnen wurden zu Hause versorgt – davon 1,25 Millionen Menschen ausschließlich von ihren Angehörigen. In Pflegeheimen vollstationär betreut wurden insgesamt 764.000 Pflegebedürftige (29 Prozent). Im Vergleich mit Dezember 2011 – also innerhalb von zwei Jahren – ist die Zahl der Pflegebedürftigen um 125.000 gestiegen. Das wird in den vor uns liegenden Jahren so weiter gehen und an Dynamik noch zulegen aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung.

Und der Bedarf an und die Nachfrage nach professioneller Pflege wird deutlich zunehmen, denn die „stille Pflegeressource“, also die Angehörigen und darunter vor allem die Frauen, werden aus unterschiedlichen Gründen eher weniger zur Verfügung stehen. Dies trifft gerade in der Altenpflege auf einen bereits heute in vielen Regionen spürbaren Fachkräftemangel. Und es ist ja nicht nur die Altenpflege, wo die Knappheitsprobleme bereits an allen Ecken und Enden spürbar sind. Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, wird in dem Artikel Pfleger warnen vor Kollaps in der Altenversorgung den Bereich der Altenpflege verlassend mit den Worten zitiert: »Allein in Krankenhäusern fehlten etwa 50.000 Stellen, um den Personalabbau zwischen den Jahren 2007 und 2009 auszugleichen.«

Das „Pflegepotenzial“ der Angehörigen im Bereich der Altenpflege läuft in vielen Fällen auf vollen Touren und das ist nicht nur bei einem Auto mit erheblichen Verschleiß verbunden. Diese Tage veröffentlichte die Techniker Krankenkasse (TK) die Ergebnisse einer Befragung pflegender Angehöriger: TK-Pflegestudie zeigt: Die Mehrheit der pflegenden Angehörigen verzichtet auf professionelle Unterstützung. »Nur vier von zehn (41 Prozent) teilen sich die Aufgabe mit professionellen Pflegekräften, die ins Haus kommen. Sogar nur acht Prozent nutzen zeitweise die Unterstützung von professionellen Einrichtungen für Tages-, Nacht- oder Kurzzeitpflegeaufenthalte. Dabei sind zwei Drittel (65 Prozent) der pflegenden Angehörigen täglich im Einsatz. Eine knappe Mehrheit von 54 Prozent teilt sich die Pflegeaufgaben mit anderen Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn. Jeder Vierte pflegt ganz allein.«

Weitere Ergebnisse der Befragung kann man hier nachlesen:

Beate Bestmann, Elisabeth Wüstholz und Frank Verheyen: Pflegen: Belastung und sozialer Zusammenhalt. Eine Befragung zur Situation von pflegenden Angehörigen, Hamburg: Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG)

Die Fragilität des Themas Pflege durch Angehörige ist in der Fachdiskussion hinreichend bekannt – und immer mehr Arbeitnehmer/innen werden in Zukunft mit den Herausforderungen der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege konfrontiert sein. Guido Bohsem hat das in seinem Artikel Vereinbarkeit von Beruf und Pflege scheitert an den Firmen aufgegriffen und auf einen wunden Punkt der vor uns liegenden Entwicklung hingewiesen: »In den kommenden 15 Jahren wird die Zahl der Pflegebedürftigen um etwa 700 000 Menschen ansteigen. Immer mehr Arbeitnehmer werden sich neben dem regulären Job auch um einen Pflegefall kümmern müssen. Die Unternehmen sind auf diese Realität noch überhaupt nicht vorbereitet.« Bei den Unternehmen zwischen 50 und 249 Mitarbeitern sind nur 13 Prozent für den Fall gerüstet, dass ein Mitarbeiter eine Pflegeproblem in der Familien hat. Wie weit weg viele Betriebe – aus einer, das sei hier angemerkt, betriebswirtschaftlich erst einmal durchaus nachvollziehbaren Perspektive – von neuen Wegen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege sind, kann man diesem Passus des Artikels entnehmen:

»Einig sind sich die Unternehmen in ihrer Ablehnung der seit Anfang des Jahres geltenden Gesetze zur Pflegezeit. So schätzen 63 Prozent der Befragten die nun mögliche Arbeitszeitreduzierung als schlecht umsetzbar ein. Skepsis herrscht auch, wenn es um die Frage geht, ob ein Arbeitnehmer zur Sterbebegleitung eine Auszeit nehmen kann. 53 Prozent halten diese Regelung für wenig praktikabel. Selbst die maximal zehn Tage, die Arbeitnehmer im akuten Pflegefall frei nehmen können, um die nötigsten Dinge für ihre Angehörigen zu erledigen, bewertet ein Drittel der Arbeitgeber als problematisch – obwohl ihren Mitarbeitern in dieser Zeit ein Unterstützungsgeld von der Pflegeversicherung gewährt wird. Besonders kleinere Unternehmen von 16 bis 49 Mitarbeitern sehen sich demnach außer Stande, den vorübergehenden Ausfall eines Mitarbeiters zu kompensieren.«

Aber man könnte es auch so sehen: Alles braucht seine Zeit. Die gleiche Abwehrhaltung hatten wir noch vor nicht allzu langer Zeit gegenüber der Vereinbarkeit von Beruf und Familie – und da hat sich ja in den vergangenen Jahren schon einiges getan unter dem Druck der sich verändernden Lebenswirklichkeit für viele Beschäftigte mit Familie und kleinen Kindern. So etwas kann (und muss) man auch erwarten für das Pflegethema. Eine ganz wichtige – und derzeit noch völlig vernachlässigte – Baustelle auf dem Weg in eine bessere Zukunft werden Zwischenformen ambulanter und stationärer Pflege sein, also konkret: Tagesbetreuungsstrukturen. Etwas sehr idealistisch (und hinsichtlich der Folgewirkungen für Frauen nicht unproblematisch) formuliert beispielsweise in dem Beitrag Pflege 2015: Teilzeitjob plus Tagespflege – so kann es funktionieren, der die neue Familienpflegezeit (dazu auch die Webseite des Bundesfamilienministeriums www.wege-zur-pflege.de) thematisiert:

»Auf dem Weg zum Teilzeitjob bringt die Tochter ihre pflegebedürftige Mutter zur örtlichen Tagespflege, um sie nach Feierabend wieder nach Hause mitzunehmen. So könnte künftig der Pflegealltag häufig aussehen.«

Die staatliche Förderung des Modells „Teilzeitarbeit und Teilzeitpflege“ ist aus frauenpolitischer Sicht höchst problematisch, aber unabhängig von dieser kritischen Dimension: Unstrittig ist der Bedarf an mehr tagesbetreuenden und damit beide, die Pflegebedürftigen wie die Angehörigen entlastenden und unterstützenden Strukturen vor Ort. Übrigens – auch hier könnte man viel lernen von den Erfahrungen, die wir im Bereich des Ausbaus der Tagesbetreuung für kleine Kinder gemacht haben.

Aber wieder zurück in den Kernbereich der institutionellen Pflegelandschaft. Ein Thema, das die Pflege und Pflegekräfte durchaus spaltet, sind die Pflegekammern, also eine institutionalisierte Form der Selbstverwaltung der Pflege wie man sie von den Ärzten kennt. An der Pflegekammer scheiden sich in Deutschland die Geister: Einige Bundesländer forcieren eine Gründung, manche sind unentschlossen und andere lehnen sie ab. Eine Übersicht über die völlig heterogene Lage in den Bundesländern kann man in diesem Beitrag der Ärzte Zeitung finden: So steht’s um eine Pflegekammer. In keinem anderen Bundesland ist die Gründung einer Pflegekammer so weit gediehen wie in Rheinland-Pfalz. Bereits am 5. Januar 2015 ist der Gründungsausschuss zusammengetreten und die Kammer wird 2016 das Licht der Welt erblicken.

Auch Schleswig-Holstein ist auf diesem Entwicklungspfad: »Eine vom Sozialministerium in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage hat eine knappe Mehrheit für die Errichtung einer Kammer erbracht. Das entsprechende Gesetz ist auf den Weg gebracht, damit der Errichtungsausschuss seine Arbeit aufnehmen kann.« Auf der anderen Seite ein Bundesland wie Baden-Württemberg: »Eine Pflegekammer ist für die rund 115.000 Beschäftigten in der Pflege nicht absehbar. « Erst einmal hat man eine Pflege-Enquete eingesetzt, die sich Gedanken machen soll. Oder Hamburg: »Eine Umfrage hat eine ablehnende Haltung zur Pflegekammer gezeigt. Die Sozialbehörde beschäftigt sich seitdem nicht mehr offiziell mit der Kammergründung.«

Die Gefechtslage in diesem Teilbereich ist unübersichtlich und von vielen institutionenegoistischen Interessen vergiftet. So sind nicht nur die privaten Träger von Pflegeeinrichtungen (vgl. dazu auch den bpa, den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) entschieden gegen eine Verkammerung, sondern auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die hier eine institutionelle Konkurrenz in ihrem Kampf um einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Pflege wittern.

Wieder einmal geht es natürlich auch um Machtfragen bzw. um die Hoffnung, durch eine solche Institutionalisierung aufschließen zu können zu dem, was die Ärzte schon haben. Ob das wirklich schlüssig ist und ob nicht möglicherweise die eigentlichen Probleme der Pflege von einem „Nebenkriegsschauplatz“ überlagert werden, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Offensichtlich allerdings zeigt sich das Grundproblem der Pflege auch hier, ihre Zersplitterung und das Fehlen vergleichbarer institutioneller Strukturen wie sie die Ärzte schon lange haben. In diesen Kontext muss dann auch so eine Wortmeldung eingeordnet werden: »In der Pflege ist die Qualitätssicherung zurzeit nur unbefriedigend geregelt. Ein Hauptproblem liegt darin, dass ein Gremium wie der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) fehlt.« Das zumindest ist die Auffassung von Peter Axer beim 13. Kölner Sozialrechtstag, zitiert nach dem Artikel Mehr Qualität durch einen Pflege-GBA? »In der GKV habe sich der GBA zur Schlüsselfigur entwickelt, sagte Axer. Das Gremium habe eine starke institutionelle Basis, mit der es wissenschaftlichen Sachverstand und Erfahrungen implementieren kann.«

Und eine weitere institutionelle Großbaustelle für die Pflege ist ante portas, die hier nur nachrichtlich aufgeführt werden kann, weil sie für sich allein schon genug Stoff liefern würde für einen längeren Blog-Beitrag: Gemeint ist die Zusammenlegung der versäulten hin zu einer gemeinsamen Pflegeausbildung. Das steht auch noch auf der Tagesordnung.

Abschließend wieder zurück in die Tiefen und auch Untiefen der Pflege – sowohl für die Pflegekräfte wie auch für die Pflegebedürftigen. Dies am Beispiel der Fixierungen von Pflegebedürftigen, ein überaus heikles und emotional verständlicherweise sehr aufgeladenes Thema.
Pflegekräfte fühlen sich „mutterseelenallein“, so hat Ilse Schlingensiepen ihren Artikel überschrieben.:

»Wenn eine Pflegekraft in Altenpflegeeinrichtungen die Fixierung eines Patienten anregt, löst das häufig einen fatalen Dominoeffekt aus.
Der Betreuer beantragt die Maßnahme beim Amtsgericht, der zuständige Richter bestellt einen Verfahrenspfleger und holt Stellungnahmen von verschiedenen Stellen ein. Um sich ein Bild von der Lage zu machen, wenden sich der Richter, der Verfahrenspfleger und die anderen Beteiligten meist an ein und dieselbe Person: die Pflegekraft.«

Nur fühlen sich diese oftmals hoffnungslos überfordert mit dieser Situation. Die Entscheidung für eine Fixierung erfolgt in den Einrichtungen häufig aus Angst vor Haftungsproblemen oder finanziellen Forderungen von Angehörigen, falls einem Bewohner durch einen Sturz etwas passiert. Sebastian Kirsch, Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, wird mit den folgenden Worten zitiert: »Der Einzige, der fachliches Wissen hat, wird von Haftungsängsten geleitet, alle anderen vertrauen auf seine fachliche Beurteilung mangels eigener Fachkenntnisse.«

Über was reden wir hier eigentlich? »Über die Zahl der Fixierungen gibt es keine belastbaren Zahlen. Viele Schätzungen gehen von 240.000 im Jahr aus, manche sogar von 400.000, sagt er. Dabei seien die mit den Maßnahmen verbundenen Risiken bekannt, die bis zum Tod durch Strangulation, Brustkompression oder Kopfschieflage reichen können«, so Schlingensiepen in ihrem Beitrag. Wie so oft gibt es eine erhebliche Lücke zwischen Theorie und Prass, zwischen Erwartung und Realität. In Pflegeheimen soll weniger fixiert werden, so ein Artikel aus dem November des vergangenen Jahres und mit einem speziellen Blick auf die in der Altenpflege arbeitenden Menschen.

Und um den Beitrag abzurunden und wieder bei den pflegenden Angehörigen zu landen: Viele Familien, die keinen ambulanten Pflegedienst eingeschaltet haben, sind dennoch nicht ohne Hilfe – sie greifen auf eine osteuropäische Haushaltshilfe und Pflegekraft zurück, die für eine bestimmte Zeit für eine „24-Stunden-Pflege“ in den Haushalten zur Verfügung stehen. Die meisten verantwortlichen Politiker stecken hier ihren Kopf in den Sand, denn sie wissen auf der einen Seite, dass unser Pflegesystem zusammenbrechen würde, wenn man von heute auf morgen auf diese Menschen verzichten müssen, denn ansonsten müssten die Familien aufgrund ihrer eigenen Verpflichtungen hinsichtlich der Erwerbsarbeit immer öfter eine Heimunterbringung wählen müssten. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Beschäftigungen in diesem Bereich in einer Grau-, zuweilen auch in einer richtigen Schwarz-Zone angesiedelt sind. Zu diesem Themenkomplex vgl. auch den Beitrag von:

Margret Steffen: Gute Arbeit in Privathaushalten. Europäische Erfahrungen und mögliche Gestaltungsansätze der Beschäftigung osteuropäischer Haushaltshilfen und Pflegekräfte. Berlin: Vereinte Dienstleitungsgewerkschaft – ver.di, Januar 2015

So wie jetzt geht es nicht weiter – das ist die Kommentierung eines Teilnehmers am diesjährigen Deutschen Pflegetag. Dem ist derzeit leider nicht wirklich viel hinzuzufügen.

20 Jahre Pflegeversicherung. Eine – wie immer in der Sozialpolitik – unvollständige Erfolgsgeschichte jenseits der Festveranstaltungen

Im März 1994 wurde die Pflegeversicherung als vierte Säule der Sozialversicherung neben Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung politisch beschlossen und am 1. Januar 1995 wurde sie zum Leben erweckt. »Die Pflegeversicherung übernimmt seit 1995 ambulante und teilstationäre Kosten. Seit Mitte 1996 zahlt sie auch Leistungen für die damals rund 480.000 Alten- und Pflegeheimbewohner. Mittlerweile leben knapp 800.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen«, so die Bundesregierung in ihrer Mitteilung Meilenstein in der Sozialgeschichte, für die das eine „Erfolgsgeschichte“ ist. 1995 erhielten eine Million Pflegebedürftige Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung, heute sind es gut 2,6 Millionen Menschen. Zwei Drittel der pflegebedürftigen Menschen werden in aller Regel zu Hause durch Familienangehörige, teilweise unter Beteiligung ambulanter Dienste betreut, ein Drittel stationär in Heimen. Etwa eine Million Menschen sind beruflich in der Altenpflege tätig. Auf einem Festakt des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, würdigten am 13. Januar 2015 zahlreiche Gäste aus Politik, Gesundheitswirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft die „Erfolgsgeschichte“ Pflegeversicherung. Staatssekretär Laumann wird mit den Worten zitiert: »Hatten Pflegebedürftige und ihre Familien zuvor kaum Unterstützung erhalten, gibt es inzwischen eine Vielzahl von Strukturen und Angeboten zur Entlastung.«

Die Pflegeversicherung, wie wir sie heute vorfinden, ist wie alles in der Sozialpolitik das Ergebnis eines Kompromisses. Über viele Jahre im Vorfeld der dann gewählten Sozialversicherungslösung wurde teilweise erbittert darüber gestritten, wie man das Risiko der Pflegebedürftigkeit in unserem Sozialstaat „richtig“ absichert. Vereinfacht gesagt gab es neben der letztendlich dann auch gewählten Variante als beitragsfinanzierte Sozialversicherung immer auch den Vorschlag, ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz einzuführen. Ein ganz wichtiger Aspekt, warum man überhaupt über eine andere Form der Finanzierung der Pflegekosten damals diskutiert und die Pflegeversicherung eingeführt hat, war der immer stärkere Anstieg der Sozialhilfe-Kosten bei den Kommunen, die mit den „Hilfe zur Pflege“-Leistungen nach dem damaligen BSHG als Ausfallbürge für Menschen, die nicht in der Lage waren, die Kosten beispielsweise einer Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung mit ihren vorhandenen Mitteln und ihrem Vermögen abdecken zu können, in Anspruch genommen wurden – und in den letzten Jahren in steigendem Maße wieder werden.

Schaut man sich einmal die lange Zeitreihe derjenigen an, die „Hilfe zur Pflege“-Leistungen nach dem BSHG bzw. mittlerweile SGB XII, also aus der Sozialhilfe, in Anspruch genommen haben, dann wird zum einen erkennbar, wie in den Jahren vor der Schaffung der Pflegeversicherung die kommunalen Ausgaben für die Pflege stetig angestiegen sind – und man erkennt auch den Effekt der Leistungen aus der Pflegeversicherung, die 1995 bzw. 1996 begannen, im Sinne stark sinkender kommunaler Sozialhilfeausgaben für den Pflegebereich. Man erkennt allerdings auch, dass seit Anfang des Jahrtausends die Zahl der Empfänger/innen von „Hilfe zur Pflege“-Leistungen wieder kontinuierlich ansteigt. Und dieser Prozess wird erwartbar anhalten und – ceteris paribus – den kommunalen Druck erneut ansteigen lassen.

Die sich in diesen Zahlen manifestierende Entwicklung wird auch in der Berichterstattung rund um die Festivitäten anlässlich des 20jährigen Bestehens der Pflegeversicherung aufgegriffen: Immer mehr Pflegebedürftige werden zum Sozialfall, um nur ein Beispiel zu zitieren. Im Jahr 2013 beliefen sich die staatlichen Nettoausgaben zur Finanzierung armutsgefährdeter Pflegebedürftiger bereits auf 3,34 Mrd. Euro, mit steigender Tendenz.

Bevor auf die wieder steigenden Ausgaben für die Kommunen eingegangen wird, muss aber mit Blick auf die Daten betont werden, dass der größte Teil der Ausgaben für Pflegebedürftigkeit von der Sozialen Pflegeversicherung sowie durch private Ausgaben der Betroffenen und ihrer Angehörigen gedeckt werden (müssen). Noch ist der Anteil der kommunal finanzierten Sozialhilfe kleiner als 10% – besonders erhöht haben sich in der Vergangenheit die privaten Ausgaben, die mittlerweile mehr als ein Drittel der Gesamtausgaben umfassen. Dass die Kommunen ohne substantielle Veränderungen im Gesamtsystem der Finanzierung von Pflegeleistungen mit stetig steigenden Ausgaben konfrontiert sein werden, liegt auf der Hand: Zum einen muss man immer wieder darauf hinweisen, dass die Pflegeversicherung eine Teil-Kaskoversicherung ist, also eben nicht die gesamten Kosten beispielsweise der Pflege und Unterbringung in einem Pflegeheim abdecken, sondern „nur“ einen definierten Anteil, der sich vom Grad der festgestellten Pflegebedürftigkeit ableitet. Der restliche Anteil muss zum einen aus den laufenden Einnahmen der Pflegebedürftigen gedeckt werden, also im wesentlichen aus den Renten bzw. Pensionen und – wenn diese Beiträge nicht ausreichen – dann auch aus dem gegebenenfalls vorhandenen Vermögen des Betroffenen. Sollten auch diese Beträge nicht ausreichen, um die Kosten zu decken, dann würde vor der Inanspruchnahme der kommunalen Sozialhilfeleistungen geprüft werden, ob die Kinder zur Mitfinanzierung herangezogen werden können.

Die großen Treiber der Ausgabensteigerungen im bestehenden System für die Kommunen sind offensichtlich: Zum einen steigt schlichtweg die Zahl der pflegebedürftigen Menschen aufgrund der demografischen Entwicklung erheblich an. Hinzu kommt, dass unter den zukünftigen Pflegebedürftigen zahlreiche Menschen sein werden, die zum einen mit Armutsrenten ausgestattet und kaum oder gar keinem Vermögen auf anteilig höhere Hilfeleistungen aus dem Sozialhilfe-System angewiesen sein werden. Viele von ihnen werden – wenn überhaupt – zudem Kinder haben, bei denen „nicht viel zu holen“ sein wird. Eine weitere Quelle steigender Hilfe zur Pflege-Ausgaben der Kommunen liegt innerhalb des Systems der Pflegeversicherung begründet bzw. des bisherigen Umgangs mit ihren Leistungen: Über Jahre hinweg wurden weder Beiträge noch Leistungen angepasst, so der Hinweis bei Stefan Vetter in seinem Artikel Der Preis der Würde. Das hat zu einer erheblichen Realwert-Senkung der Leistungen aus der Pflegeversicherung geführt, was natürlich nach dem Prinzip der kommunizieren den Röhren dazu führt, dass diese Anteile an anderer Stelle gegenfinanziert werden müssen. Ein weiterer Aspekt ist die in vielen Sonntagsreden vielfach beschworene Verbesserung der Pflegelandschaft vor allem mit Blick auf die dort arbeitenden Menschen. Theoretisch sind sich alle einig, dass beispielsweise die Vergütung für die Pflegekräfte erhöht werden müssten. Auch die Personalschlüssel in den Pflegeeinrichtungen, vor allem in der stationären Pflege, die durch immer höhere Grade der Pflegeintensität charakterisiert sind, müssten verbessert werden, was allerdings zu erheblichen Mehrausgaben führen würde.

Man kann es drehen und wenden wie man will. Die Finanzierungsfrage wird – neben den vielen Baustellen auf der Seite der Leistungen wie auch des Zugangs (Stichwort Pflegebedürftigkeitsbegriff) – zu einer zentralen Thematik werden (müssen). Hier erweist es sich als hoch problematisch, dass die Pflegeversicherung als beitragsfinanzierte Sozialversicherung konzeptualisiert worden ist mit all den Folgeproblemen, die wir auch von ihren großen Geschwistern wie der Rentenversicherung kennen, vor allem hinsichtlich der Begrenzung auf den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und dann auch noch bis zur Beitragsbemessungsgrenze.

Entsprechend die Argumentation von Rothgang et al. im BARMER GEK Pflegereport 2014, die neben den unbestreitbaren Erfolgskomponenten von 20 Jahren Pflegeversicherung auch auf zentrale kritische Punkte hinweisen:

»Gleichzeitig enthält das Pflege-Versicherungsgesetz einige Geburtsfehler dieses neuen Sozialversicherungszweig, die bis heute nachwirken und aktuelle Reformvorhaben und -debatten prägen. Hierzu zählt der (zu) enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, der im für 2017 geplanten zweiten Pflegestärkungsgesetz erweitert werden soll, die fatale Eingrenzung der Beitragspflicht auf Löhne, Gehälter und Lohnersatzleistungen ebenso wie das duale System von Sozialer Pflegeversicherung und Privater Pflegepflichtversicherung, das normativ nicht gerechtfertigt werden kann. Auch produziert das Nebeneinander von einer Krankenversicherung mit Kassenwettbewerb und einer Pflegeversicherung ohne Kassenwettbewerb Fehlanreize an den Schnittstellen.«

Trotz des unabweisbaren Weiterentwicklungsbedarfs angesichts zahlreicher kritischer Punkte muss aber fairerweise auch darauf hingewiesen werden, dass gerade mit Blick auf die Situation vor über 20 Jahren zahlreiche positive Bilanzpunkte auszuweisen wären (vgl. dazu Rothgang et al. 2014: 25 ff.): So waren vor Einführung der Pflegeversicherung etwa 80 % der Pflegeheimbewohner auf die bedürftigkeitsabhängige Hilfe zur Pflege angewiesen, heute sind es weniger als die Hälfte. Die Versorgungssituation war damals eine ganz andere und durch erhebliche Defizite, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einrichtungen, sondern auch im Hinblick auf das konkrete Leistungsangebot gekennzeichnet. Qualität war kein Thema. Hier hat es nach Einführung der Pflegeversicherung erhebliche Veränderungen gegeben: Im Bereich der Pflegeinfrastruktur kam es zu einer dramatischen Expansion des Angebots an formeller Pflege. Im Pflege-Versicherungsgesetz wurde erstmals die ganze Bevölkerung obligatorisch in eine gesetzliche Versicherung einbezogen. »Vor allem aber wurde das Pflegerisiko mit Einführung der Pflegeversicherung als allgemeines Lebensrisiko anerkannt, das einer sozialrechtlichen Bearbeitung bedarf. Damit wurde die deutsche Pflegeversicherung Vorbild für die Einführung der Pflegeversicherung in Luxemburg, Japan und Korea und für viele aktuelle Debatten zur Pflegesicherung in anderen Teilen der Welt« (Rothgang et al. 2014: 27). Das darf und muss zur Kenntnis genommen werden.

In den vor uns liegenden Jahren wird es – hier folge ich der Einschätzung von Rothgang et al. (2014: 29) – vor allem an drei Punkten dringenden Handlungsbedarf geben:
Zum einen der enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, dann die anhaltende Debatte über Leistungsdynamisierung, da der § 30 SGB XI nur die Möglichkeit für diskretionäre Leistungsanpassungen, aber keine obligatorischen regelgebundenen Leistungsanpassungen vorsieht, sowie last but not least vor dem Hintergrund der Begrenzung der Beitragspflicht auf Einkommen aus unselbständiger Arbeit und Lohnersatzleistungen, die zur strukturellen Einnahmeschwäche auch der Pflegeversicherung führen, eine Weiterentwicklung der Finanzierungsgrundlagen.
Es gibt also – nicht wirklich überraschend – eine Menge zu tun. Und wir sind dann nur auf der Ebene der Pflegeversicherung, hinzu kommen weitere hoch relevante Felder der Pflegepolitik, vom Pflegepersonal angefangen über die kommunale Altenhilfe bis hin zu den osteuropäischen Pflegekräften, die im Regelfall in halb- oder illegalen Verhältnissen mit dafür sorgen, dass unser Pflegesystem nicht kollabiert ist.

Alles gut im Pflegebegutachtungsland Deutschland? Tolle Noten, erhebliche Zweifel. Und die Hoffnung auf einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff

Im vergangenen Jahr wurden von 1.400 Gutachtern mehr als 1,4 Millionen Pflegebegutachtungen, darunter 308.000 in Pflegeheimen, vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) durchgeführt. Sie stellen das Nadelöhr dar, durch das man durch muss, um nach Einstufung in eine der Pflegestufen Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung zu bekommen. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, das 2012 vom Bundestag verabschiedet wurde, sieht vor, dass die Medizinischen Dienste regelmäßig Versicherte befragen – konkret müssen an 2,5 Prozent der Versicherten, die Pflegeleistungen beantragen, Fragebögen verschicket werden. Die Ergebnisse wurden nun vom Medizinischen Dienst der Öffentlichkeit präsentiert. Und die können sich auf den ersten Blick sehen lassen: »86 Prozent der pflegebedürftigen Menschen sind mit der Begutachtung durch die  Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) zufrieden … Die repräsentative Befragung belegt zudem, dass die MDK-Gutachter von 90 Prozent der Versicherten als kompetent, hilfsbereit und freundlich wahrgenommen werden.« (Quelle: Bundesweite Versichertenbefragung: Pflegebedürftige bewerten MDK-Begutachtung positiv). Also alles gut an diesem Nadelöhr des Pflegesystems? Dann irritiert die Überschrift eines Artikels von Anno Fricke in der Ärzte Zeitung: MDK räumt Mängel ein. Zwar sei die Mehrheit der Befragten mit dem MDK angeblich zufrieden, aber: »Der Blick aufs Detail offenbart jedoch Defizite.« Die Gutachter müssten künftig intensiver auf die individuelle Pflegesituation des Versicherten eingehen und ihr Vorgehen intensiver erläutern, so wird Peter Pick, der Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des GKV-Spitzenverbands, in dem Artikel zitiert. Und konkreter: Die Pflegegutachter sollten sich zudem mehr Zeit nehmen. „Sechs bis sieben Minuten für eine Begutachtung sind zu wenig“.

Wasser in den Wein gießt auch der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch: »Wieder stellt sich der MDK ein Zeugnis mit Bestnoten aus. Tatsächlich besagen sie nur, dass die Gutachter mehrheitlich pünktlich kamen, sich vorgestellt und höflich verhalten haben.« Und er legt nach: »Die Noten sagen aber rein gar nichts über die Ergebnisse aus. Mehr als jedes dritte Gutachten ist fehlerhaft oder falsch, mehr als 40 Prozent der Widersprüche führen zu einem Erfolg. Leider hat der Gesetzgeber blauäugig das gesamte Befragungsverfahren in die Hände des Kostenträgers gelegt. So hat man den Bock zum Gärtner gemacht.«

Die Ergebnisse der Befragung wurden zwar jetzt veröffentlicht, liegen aber schon seit längerem vor. Bereits im Juni berichtete beispielsweise die Ärzte Zeitung unter der Überschrift: Tolle Noten wecken Skepsis.

Dass es durchaus Grund gibt für Skepsis hinsichtlich der „Heile Welt“-Botschaft kann man auch der ARD-Dokumentation Im Zweifel gegen den Patienten? Der Kampf um die Pflegestufe entnehmen, die am 11. August 2014 ausgestrahlt wurde:

»Für viele alte Menschen ist es eine Schicksalsfrage: Wird mir eine Pflegestufe bewilligt oder bleibt mir die Hilfe verwehrt? Darüber entscheiden die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung. Unabhängig und fair sollen sie handeln. Doch daran gibt es massive Zweifel. Die Reportage zeigt den Kampf von Patienten und deren Angehörigen um Gerechtigkeit. Im Film begegnen den Zuschauern verzweifelte Menschen, die sich von den Kassen und dem MDK betrogen fühlen. Die Recherchen bestätigen: Mit zum Teil absurden Begründungen werden Versicherte um ihre berechtigten Ansprüche gebracht.«

Also doch nicht alles Gold, was jetzt glänzend der Öffentlichkeit präsentiert wird? Sicher nicht.

Aber vielleicht hilft der Blick in die Zukunft? Dazu der MDK:

»Die Medizinischen Dienste gehen davon aus, dass durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der 2015 auf den Gesetzgebungsweg gebracht werden soll, die individuelle Pflegesituation besser in der Pflegebegutachtung berücksichtigt werden kann. Denn künftig wird bei der Begutachtung nicht mehr das Minutenzählen, sondern das Erfassen der Alltagskompetenz der Pflegebedürftigen im Fokus stehen. Das neue Verfahren soll alle Dimensionen der Pflegebedürftigkeit erfassen. Damit erhalten auch Betroffene mit gerontopsychiatrischen und kognitiven Einschränkungen einen besseren Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung.«

Zum (übrigens seit Jahren geplanten und immer wieder verschobenen) neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aus Sicht der Medizinischen Dienste der Krankenkassen vgl. auch die Beiträge in der Zeitschrift MDK Forum, Heft/2014.

Aber bei allen Verbesserungen, die ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff bringen könnte, bleibt auch hier eine gehörige Portion Skepsis und man sollte erst dann aufatmen, wenn das wirklich auch kommt: Denn bereits in den vergangenen Legislaturperioden hatte man das immer auf der Agenda und jedesmal sollte am Ende der Legislaturperiode was passieren und man hat das dann angesichts der dann anstehenden Wahlen auf den Beginn der neuen Legislaturperiode verschoben. Insofern gibt es keinen Grund, mit Blick auf den Kalender und auf die geplante Implementierung am Ende der laufenden Legislaturperiode nicht wieder mit einem „Wir würden ja gerne, aber … ganz bestimmt in der nächsten Legislaturperiode“-Effekt zu rechnen. Wir lassen uns gerne von einem „Diesmal aber anders“-Moment  überraschen.

Vom „Kampfplatz“ demografische Entwicklung zur höchst realen Rollatoren-Gesellschaft und den Mühen einer Alltagsgestaltung vor Ort

Die demografische Entwicklung ist eine mittlerweile höchst kontroverse Angelegenheit geworden. Denn die einen instrumentalisieren die tatsächlichen oder angeblichen Entwicklungen für ganz andere Zwecke, beispielsweise das Rentensystem „umzubauen“ oder andere sozialpolitische Weichenstellungen vorzunehmen – oft mit Bezug auf die angebliche Unabwendbarkeit wegen der demografischen Entwicklung. Hierzu als ein Beispiel von vielen die neue Studie Die Zukunft des Generationenvertrags. Wie sich die Lasten des demografischen Wandels gerechter verteilen lassen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Andere hingegen, gerade aus dem linken Spektrum, haben in Reaktion auf diese durchaus beobachtbaren und folgenreichen Instrumentalisierungen eine Haltung entwickelt, die jede Bezugnahme auf mögliche Probleme – oder wie heißt es heutzutage weichgespülter daherkommend: Herausforderungen – durch die demografische Entwicklung als zu verurteilend ablehnt, denn sofort wird hier irgendeine Abbauabsicht unterstellt.

Und außerdem, so die Hardcore-Vertreter dieses jegliche Probleme negierenden Ansatzes, sei der Umgang mit der demografischen Entwicklung überhaupt kein Problem, denn alles sei eine Verteilungsfrage und allein der angebliche Produktivitätsfortschritt der Wirtschaft würde ausreichen, um die Jungen, die Alten und eigentlich alle anderen auch zu bedienen, man müsse den nur irgendwie „abschöpfen“. Vgl. für diese Position beispielsweise die immer wiederkehrenden Ausführungen von Gerd Bosbach: „Die Probleme sind lösbar“. Der Statistiker Gerd Bosbach hält die Angst vor dem demografischen Wandel für unbegründet.

Aber das sind Extrempunkte einer so typisch deutschen, deshalb aber eben nicht automatisch auch richtigen Entweder-Oder-Debatte. Die Wahrheit liegt wie so oft sicherlich in der Mitte und es lohnt ein Blick auf konkrete Herausforderungen, die sich durch den demografischen Wandel tatsächlich unabweisbar stellen werden und die man rechtzeitig bearbeiten muss, um überhaupt eine Chance haben zu können, die Weichen in eine menschenorientierte Gestaltung des Alltags stellen zu können. Denn eines können bzw. dürfen auch die Kritiker der „Demografie-Debatte“ nicht leugnen – wir werden in den vor uns liegenden Jahrzehnten eine erhebliche Zunahme an älteren Menschen inmitten unserer Gesellschaft bekommen und deren Anforderungen und Probleme müssen berücksichtigt werden. Das gilt gerade nicht nur für die Pflege, wobei die meisten Menschen hier überwiegend bis ausschließlich an das Segment der stationären Pflege denken. Aber die meisten Menschen mit Pflegebedürftigkeit leben zu Hause oder bei ihren Familien und ein Trend ist klar erkennbar: Man schiebt den Übertritt in die stationäre Pflege so lange wie irgendwie möglich auf, um in seinem gewohnten Wohnumfeld bleiben zu können. Das ist absolut verständlich, wirft aber auch zahlreiche Gestaltungsfragen auf. Eine ganz wichtige Aufgabe darunter lässt sich begrifflich mit „Barrierefreiheit“ fassen, ein Begriff, der für viele – wenn überhaupt – eher mit behinderten Menschen in Verbindung gebracht wird, nicht aber mit der demografischen Entwicklung. Aber genau das ist es, viele ältere Menschen haben die gleichen oder vergleichbare Probleme wie Menschen im Behinderungen und insofern gewinnen auch sie durch barrierefreie Strukturen.

Dankbar für jede funktionierende Rolltreppe oder Fahrstuhl – so hat Lothar Heinke seinen Artikel überschrieben, der sich mit diesem Thema am Beispiel der Stadt Berlin auseinandersetzt. Er hat einige Gedanken über die Mühen der Ebene formuliert.

»Heute sitzen in Berlin 60.000 Menschen im Rollstuhl, 150.000 nutzen einen Rollator. Und so quält man sich eben über die gar nicht so niedrigen Treppen in den Bus – der Fahrer wartet geduldig oder steigt aus und klappt die Rampe hoch. Man ist dankbar für jede funktionierende Rolltreppe und jeden Aufzug …«

Und das ist die Ist-Situation, die man gedanklich und planerisch anreichern muss um den Aspekt der weiteren Entwicklung:

»Der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Jürgen Schneider, sagt, dass zehn Prozent der Einwohner Berlins auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Viele Gehwege sind unebene Stolperfallen, Bauunterhaltungsmittel sind knapp …  2030 werden 270.000 Berliner älter als 80 Jahre sein. Dann sitzt eine Großstadt im Rollstuhl, fährt Stützwägelchen oder geht am Stock. Nicht nur bei Glatteis.«

Die Schlussfolgerungen sind offensichtlich und zugleich ambivalent vor dem Hintergrund der gegebenen Strukturen: Wir brauchen erhebliche Investitionen im öffentlichen Raum, um die Barrierefreiheit herstellen und sichern zu können. Das kann alles nur vor Ort auf der lokalen, also kommunalen Ebene passieren. Viele Kommunen werden verständlicherweise argumentieren, dass sie das angesichts der Haushaltslage nicht werden stemmen können. Schon sind wir mittendrin in einer Auseinandersetzung mit der Mittelausstattung der Kommunen und darüber hinaus mit den Folgen der Schuldenbremsen und der Ausgestaltung der Einnahmenseite der öffentlichen Hand. Zugleich würde ein Investitionsprogramm in diesem Bereich aber erhebliche positive Auswirkungen auch volkswirtschaftlicher Art haben. Barrierefreiheit kann Arbeitsplätze schaffen und zugleich die Lebensqualität der Menschen steigern. Das alles spricht für eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen.

Das alles bedeutet auch, dass wir mehr wissen müssen über die Hindernisse und Bedarfe. Dieser offensichtliche Auftrag an die Wissenschaft wird erst in Umrissen aufgegriffen. Vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Die Soziologie der Behinderung erforschen von Sarah Schaschek. Es handelt sich um ein Porträt über Lisa Pfahl, Berlins erste Professorin für Disability Studies. Sie hat die Barrierefreiheit immer im Auge. Aber das ist eben nicht nur ein Thema für behinderte Menschen „im engeren Sinne“, sondern angesichts der demografischen Entwicklung für immer mehr Menschen, die schlichtweg aufgrund ihres Älterwerdens zunehmend Behinderungen erfahren in ihrem Alltag. Letztendlich geht es um Inklusion, die eben nicht verkürzt werden kann und darf auf Menschen mit Behinderungen, erst recht nicht nur auf den schulischen Bereich.

Schon wieder eine „Reform“ – jetzt die „der“ Pflege. Von Beitragsmitteln und ihrer Verwendung, einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Dauerschleife des täglich grüßenden Murmeltiers und anderen Merkwürdigkeiten

Bekanntlich zucken viele Menschen – und das nicht ohne Grund – zusammen, wenn sie in einem der vielen Felder der Sozialpolitik die Ankündigung einer „Reform“ zu hören bekommen. Denn damit war in den zurückliegenden Jahren – seien wir ehrlich – oftmals weniger Fortschritt und Verbesserung verbunden, sondern Einschränkungen und Abbau, zuweilen auch Exklusion.
Hinsichtlich der von der Großen Koalition angestrebten nächsten „Pflegereform“ – die korrekter (wieder einmal) primär als Reform der Pflegeversicherung bezeichnet werden muss – gibt es auf den ersten Blick mehrere sehr ambitionierte Zielsetzungen: Es soll mehr Geld für die Pflege organisiert , endlich ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Versorgungsrealität gehoben werden, es soll mehr Personal geben und einiges anderes mehr. Offensichtlich – so könnte man meinen – hat die Politik nun endlich die immer lauter werdenden Stimmen aus der Pflege selbst vernommen, die dringend konkrete Verbesserungen anmahnen und sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden  – ob mit breiten Zusammenschlüssen wie dem „Bündnis für gute Pflege„, in dem sich zahlreiche Wohlfahrts-, Sozial- und Pflegeverbände zusammengeschlossen haben oder dem Aktionsbündnis „Pflege am Boden„, die mit bundesweiten Flashmob-Aktionen um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen streiten.

Doch noch ist nichts in trockenen Tüchern bei der anstehenden Pflegereform und ob es sich wirklich um Verbesserungen handeln wird, darüber kann und muss man mit einer gehörigen Portion Skepsis streiten. Unterstützung für das Lager der Skeptiker kann man auch solchen Überschriften entnehmen: „Verschenktes Geld“ – Streit um Rücklagen für die Pflege, so hat Rainer Woratschka seinen Beitrag überschrieben oder wie wäre es damit: „Es wird nicht nur Gewinner geben“. Laumann über die Pflegereform, so hat Anno Fricke ein Interview mit Karl-Josef Laumann, seines Zeichens „Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patientenrechte und Pflege“ im Rang eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium, überschrieben.

Und in diesem Interview findet sich ein interessantes Zitat des Herrn Laumann: Seiner Meinung nach sollte bei der nun umzusetzenden Pflegereform ein Aspekt stärker beachtet werden: »… nämlich dass das Beitragsgeld ausschließlich für die Pflegebedürftigen da ist, und für diejenigen, die die Pflegearbeit leisten.«

Da kann man nur zustimmen. Aber schauen wir genauer hin, was denn mit dem Geld des Beitragszahlers eigentlich geplant ist. Das hat Rainer Woratschka so zusammengefasst:

»Bisher ist vorgesehen, den Pflegebeitrag für die geplante Reform Anfang 2015 um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen – und davon ein Drittel in die Rücklage fließen zu lassen. Das entspräche 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Mit der Reserve soll der vorhergesagte Ausgabenanstieg in den Jahren zwischen 2035 und 2055 abgefedert werden, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge ins Pflegealter kommen. Die restlichen 2,4 Millionen Euro sollen in sofortige Leistungsverbesserungen fließen.
Für einen zweiten Reformschritt, den versprochenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, soll der Beitrag Anfang 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Vorgesehen ist etwa eine differenziertere Einstufung der Pflegebedürftigen, die Abschaffung der so genannten Minutenpflege und mehr direkte Zuwendung statt bloß körperbezogener Leistungen. Davon sollen vor allem Demenzkranke profitieren.«

Diesen Ausführungen kann man zwei zentrale Sollbruchstellen entnehmen: Zum einen die Frage der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und zum anderen die angesprochene Rücklage für die Zukunft, auch als „Vorsorgefonds“ tituliert.

Zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass ein neuer Pflegebedürfigkeitsbegriff kein neuer konzeptioneller Schritt ist, vielmehr pflastern Kommissionen und Gutachten seinen bisherigen Weg – und ein erkennbares Muster, das sich rückblickend so zusammenfassen lässt: schieben, verschieben, aufschieben:

Im Herbst 2006 wurde der erste Pflegebeirat ins Leben gerufen, der die Aufgabe hatte, das Modellvorhaben mit dem Titel „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ zu begleiten. Der Bericht des „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ wurde am 29. Januar 2009 an die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben.  Im Mai 2009 wurde durch den Beirat der Umsetzungsbericht fertiggestellt. »Zum 1. März 2012 wurde durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr erneut einen Expertenbeirat einberufen, der fachliche und administrative Fragen zur konkreten Umsetzung klären sollte. Am 27. Juni 2013 hat der Expertenbeirat den „Bericht zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben. Politische Entscheidungen, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gesetzlich zu verankern, stehen bisher aus«, so der GKV-Spitzenverband.
Und was sagt Pflegebeauftragter Laumann im Frühjahr 2014?

»Man braucht Zeit, um den Pflegebedürftigkeitsbegriff vernünftig umzusetzen. Zunächst müssen wir untersuchen, ob es Gewinner und Verlierer gibt. Das müssen wir mit den MDK und einer Reihe von Menschen, die neu pflegebedürftig werden, quer durch alle Bundesländer untersuchen. Der neue Begriff bedeutet auch, dass mit den Einrichtungen Pflegesätze neu verhandelt werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Eines muss ganz klar sein: Wir müssen den neuen Begriff in dieser Wahlperiode komplett umsetzen, ganz eindeutig.«

Da von allen Seiten akzeptiert wird, dass die Umsetzung eines neuen Pflegebdürftigkeitsbegriffs mehr Geld kosten wird (wobei die konkrete Höhe durchaus umstritten ist, aber: Dass die anvisierten 2,4 Milliarden Euro für das Vorhaben nicht reichen, ist Konsens unter vielen Experten) und gleichzeitig in der dargestellten Finanzplanung eine Anhebung des Beitragssatzes zur Finanzierung dieses Teils der Pflegereform erst für 2017 vorgesehen ist – also in dem Jahr, in dem die nächste Bundestagswahl stattfinden wird – können sich die Aufschiebe-Skeptiker bestätigt fühlen.

Zur Einführung eines (kapitalgedeckten) „Vorsorgefonds“ in der gesetzlichen Pflegeversicherung: Man muss sich in einem ersten Schritt einmal grundsätzlich klar machen, was die Große Koalition hier beabsichtigt: Innerhalb einer umlagefinanzierten Sozialversicherung soll aus Beitragsmitteln gespeist ein kapitalgedeckter Fonds angelegt werden.
Das hat es aus guten Gründen noch nie gegeben.

In dem Artikel von Woratschka wird der Bremer Wissenschaftler Heinz Rothgang zitiert, ein Experte auf dem Gebiet der Pflegefinanzierung, mit Blick auf die Zeitachse: Der Fonds sei „genau dann wieder leer, wenn die höchste Zahl an Pflegebedürftigen erreicht wird“.

Laut Koalitionsvertrag soll die nicht näher bezifferte Rücklage bis zu ihrer Verwendung von der Bundesbank verwaltet werden. Doch die bedankt sich. Angesichts des Auf und Ab beim GKV-Zuschuss traut die Bundesbank der Stetigkeit der öffentlichen Hand nicht, so die Zusammenfassung unter der Überschrift „Bundesbank hält wenig von Vorsorgefonds in Staatsregie“ in der Ärzte Zeitung.

Dazu schreibt die Bundesbank selbst in ihrem Monatsbericht März 2014:

»Ab 2015 soll … der Beitragssatz schrittweise um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Davon sollen 0,4 Prozentpunkte unmittelbar zur Finanzierung der laufenden Ausgaben eingesetzt werden und das den verbleibenden 0,1 Prozentpunkten entsprechende Beitragsaufkommen zunächst in eine (von der Bundesbank verwaltete) Rücklage geleitet werden. Das ausgedehnte Leistungsvolumen wird künftige Generationen noch stärker zusätzlich belasten, weil die schrumpfende Gruppe der für das Beitragsaufkommen besonders relevanten Erwerbstätigen die Pflegeleistungen für die wachsende Gruppe der Leistungsempfänger im Wesentlichen wird finanzieren müssen. Mit dem Aufbau einer Rücklage können die heutigen Beitragszahler zwar stärker und mit dem Abschmelzen zukünftige Beitragszahler weniger zusätzlich belastet werden. Nach dem Verzehr der Finanzreserven wird das höhere Ausgabenniveau dann aber durch laufend höhere Beiträge gedeckt werden müssen. Inwiefern die beabsichtigte Beitragsglättung tatsächlich erreicht wird, hängt von den weiteren Politikreaktionen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Erfahrung zeigt, dass Rücklagen bei den Sozialversicherungen offenbar Begehrlichkeiten entweder in Richtung höherer Leistungsausgaben oder auch zur Finanzierung von Projekten des Bundes wecken. Zweifel an der Nachhaltigkeit einer kollektiven Vermögensbildung unter staatlicher Kontrolle erscheinen umso eher angebracht, je unspezifischer die Verwendung der Rücklagen festgelegt wird« (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2014, S. 10).
Eine deutliche Kritik.

Betrachtet man also wie hier geschehen nur zwei sehr wichtige Komponenten der anstehenden „Pflegereform“, dann wird das Lager der Skeptiker eher gestärkt aus der aktuellen Bestandsaufnahme herausgehen. Wir lassen uns aber natürlich gerne vom Gegenteil überzeugen.