Schon mal was von „Nullstundenverträgen“ gehört? Oder von philippinischen Lkw-Fahrern, die es in Deutschland für 628 Euro machen (müssen) – pro Monat natürlich?

Wieder einmal muss aus den Kelleretagen der – eigentlich gar nicht so – neuen Arbeitswelt berichtet werden.
Behandeln wir zuerst die „Nullstundenverträge“, ein derzeit in Großbritannien um sich greifendes Übel auf dem Arbeitsmarkt. Über eine starke Zunahme von Nullstundenverträgen in Großbritannien berichtet Florian Röter in seinem Artikel. Es ist für so manchen Arbeitgeber das Trauminstrument der Ausbeutung, für die Betroffenen sicherlich ein echter Albtraum. Wenn man die folgende Beschreibung liest, dann kann einem schlecht werden angesichts der Perfidie, die in diesem Instrumentarium steckt:

»Vereinbart wird bei Nullstundenverträgen der Stundenlohn, der Arbeitnehmer steht auf Abruf bereit, erhält aber keine Garantie, dass er überhaupt arbeiten darf und etwas verdient. Der Arbeitgeber sichert sich ab, flexibel ist nur der virtuelle Arbeitnehmer, der auf Arbeit und Entgelt hoffen muss und während der vereinbarten Zeiten, womöglich den ganzen Tag, zur Verfügung steht. Auch wenn die Abrufarbeitnehmer kein geregeltes oder gar kein Einkommen haben, so fallen sie für die Regierung praktischerweise doch aus der Arbeitslosenstatistik heraus, schließlich besitzen sie ja einen Arbeitsvertrag.« 

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Immer diese Studien. Jetzt werden die Akademiker durch die mediale Niedriglohndebatte gezogen. Dabei ist die Neuigkeit ein alter, trotzdem bemerkenswerter Anteil

Seit Jahren wird in der Arbeitsmarktdebatte immer wieder das Stichwort „Niedriglohnbeschäftigung“ aufgerufen. Naturgemäß gehen die Vorstellungen darüber, ab wann ein „Niedriglohn“ beginnt – oder eben nicht – sehr weit auseinander. Was für die einen viel ist, mag für die anderen sehr wenig sein. Offensichtlich handelt es sich um ein letztendlich nur durch Festlegung auflösbares Dilemma. Eine solche gibt es auf der EU-Ebene und die verwendet man auch in der Arbeitsmarktforschung: Die „Niedriglohnschwelle“ ist definiert als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Median), wobei die Betonung auf Median und nicht dem arithmetischen Mittel liegt, das wir ansonsten oftmals bei der Durchschnittsbildung verwenden. Es handelt sich also – wie auch die Schwellenwerte in der Armutsforschung – um ein relatives Konzept. Die Armut im (relativ) reichen Deutschland ist eben eine andere als im (nicht nur relativ) armen Rumänien. Und so ist das auch mit dem Niedriglohn. Wer nun genauer wissen möchte, wie es um die Niedriglohnbeschäftigung bestellt ist in unserem Land, der kann und muss schon seit Jahren zu den jährlich wiederkehrenden Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) greifen, die das routiniert haben. Deren Zahlen werden dann immer wieder zitiert, wenn es um das Thema Niedriglöhne geht. Und auch jetzt wieder bezieht man sich auf das IAQ und mit einem lauten Echo wird die Message durch die Medien getrieben: „Hunderttausende Akademiker arbeiten für Niedriglöhne„, meldet die Süddeutsche Zeitung, sekundiert von Spiegel Online „Neue Studie: Hunderttausende Akademiker arbeiten zu Niedriglöhnen“ und die Frankfurter Rundschau spricht gar von „Lohndumping nach der Universität„. Die Ursprungsmeldung wurde übrigens von der Online-Ausgabe der WELT in die Welt gesetzt. Was ist passiert? Ein Generalangriff auf die akademischen Schichten? Schauen wir genauer hin.

Die absolute Kurzfassung lautet: „Mehr als 600.000 Akademiker bekamen 2012 Niedriglöhne gezahlt. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie. Besonders Frauen seien betroffen“, so die Süddeutsche Zeitung. Fast jeder zehnte Akademiker habe 2012 weniger als 9,30 Euro in der Stunde bekommen – da haben wir sie also, die „Niedriglohnschwelle“. Wer darunter verdient ist ein Niedriglöhner. Und weiter erfahren wir: 8,6 Prozent der Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss seien 2012 davon betroffen gewesen, in absoluten Zahlen waren das etwa 688.000 Menschen. Eine veritable Großstadt sozusagen. Und dann kommt eine wichtige Information:

„Es gibt seit Jahren eine konstante Gruppe von akademisch ausgebildeten Arbeitnehmern, die zu geringen Löhnen arbeiten“, wird die IAQ-Expertin Claudia Weinkopf in dem Spiegel Online-Artikel zitiert. Die Zahl schwanke seit Jahren grob zwischen sieben und fast zwölf Prozent. Da haben wir wieder das IAQ als Referenzpunkt – neben dem Hinweis, dass es sich hinsichtlich des Anteils eben nicht um eine Neuigkeit handelt, sondern um einen bereits seit Jahren beobachteten Anteilswert innerhalb der von Niedriglöhnen betroffenen Grundgesamtheit.

Datenquelle sind die Berechnungen des IAQ, die seit Jahren regelmäßig vom Institut als „IAQ-Report“ veröffentlicht werden. Der bislang letzte, im Netz verfügbare Bericht stammt aus dem Juni 2013 und bezieht sich hinsichtlich der dort ausgewiesenen Werte noch auf das Jahr 2011:

Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2011 (= IAQ-Report 2013-01), Duisburg 2013

Dort findet man – wie angemerkt bezogen auf das Jahr 2011 – in der Zusammenfassung die folgenden Informationen:

Im Jahr 2011 arbeiteten 23,9% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter 9,14 € (bundesweite Niedriglohnschwelle). Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten betrug im Jahr 2011 knapp 8,1 Millionen. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor lagen auch im Jahr 2011 mit 6,46 € in West- und 6,21 € in Ostdeutschland weit unter der Niedriglohnschwelle. Nach Qualifikation differenziert ist das Niedriglohnrisiko zwischen 2001 und 2011 am stärksten für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung gestiegen und nach Arbeitszeitform für Vollzeitbeschäftigte. Mehr als jede/r fünfte Beschäftigte hätte bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € pro Stunde Anspruch auf eine Lohnerhöhung.

Hinsichtlich der Datenbasis für diese Aussagen kann man den Berichten auch entnehmen, dass sich die Forscher des IAQ auf der Basis des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) bewegen. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung, die bereits seit 30 Jahren läuft. Im Auftrag des DIW Berlin werden jedes Jahr in Deutschland über 20.000 Personen aus rund 11.000 Haushalten von TNS Infratest Sozialforschung befragt. Die Daten geben Auskunft zu Fragen über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit.

Wie immer im statistischen Leben spielt die Abgrenzung der Grundgesamtheit eine Rolle. Im Bericht für das Jahr 2011 schreibt das IAQ: »In früheren Analysen hatten wir auch Schüler/innen, Studierende und Rentner/innen ausgeschlossen mit der Begründung, dass diese typischerweise nur einen Nebenjob ausüben.« Mit Blick auf die aktuelle Mindestlohndebatte hatte man die aber im 2013 erstellten Report wieder aufgenommen. Sie merken an: »Ohne diese Gruppen lag die Niedriglohnschwelle mit 9,23 € pro Stunde etwas höher und der Niedriglohnteil betrug 24,6%.«

Das IAQ macht regelmäßig auch Aussagen zur Niedriglohnbeschäftigung nach Qualifikationsstufen.
Das für die allgemeine Niedriglohndebatte in Deutschland interessanteste Ergebnis hinsichtlich der Qualifikationsebenen findet sich in diesem Zitat: »Insgesamt bleibt es bei dem Befund, dass Niedriglöhne in Deutschland keineswegs überwiegend gering Qualifizierte oder Jüngere betreffen. Vielmehr ist die große Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten formal qualifiziert und stammt aus den mittleren Altersgruppen. Im Niedriglohnsektor werden auch keineswegs ausschließlich „einfache“ Tätigkeiten geleistet. Die im SOEP gestellte Frage, ob für die Ausübung der eigenen Tätigkeit eine Berufsausbildung oder eine höherwertige Ausbildung erforderlich ist, bejahten im Jahr 2011 mit 48,5% knapp die Hälfte aller Niedriglohnbeschäftigten.«

Und – das zeigt die Abbildung mit den Anteilswerten – auch Menschen mit einem Hochschulabschluss sind unter den Niedriglohnbeschäftigten vertreten.

Das bedeutet aber nicht – wie man aus der Titelei beispielsweise der Frankfurter Rundschau ableiten könnte – Lohndumping nach der Universität, denn das wissen wir schlichtweg nicht. Das könnte man nur dann behaupten, wenn man wüsste, wo und wie die Arbeitnehmer/innen mit Hochschulabschluss eingesetzt werden. Wenn aber – zugespitzt formuliert – alle in den Daten ausgewiesenen Hochschulabsolventen als Döner-Verkäufer, Putzhilfen oder Taxifahrer arbeiten würden, dann wären diese Beschäftigungen eine Erklärung für ihren Niedriglohnstatus. Anders würde sich der Fall darstellen, wenn die Hochschulabsolventen tatsächlich ausbildungsadäquat eingesetzt werden und dennoch weniger als die 9,30 Euro in der Stunde bekommen würden.

Diese Unterscheidung ist generell von Bedeutung, denn die aktuellen Irritationen, die von den hier zitierten Zahlen zu den Akademikern und ihrer Betroffenheit von Niedriglohnbeschäftigung über die Medienberichterstattung ausgelöst werden, resultieren aus der nicht passungsfähigen Verknüpfung von Akademiker und Niedriglohn in der Wahrnehmung vieler Beobachter (was aber auch gar nicht gegeben sein muss, wenn man wüsste, um welche Beschäftigungsfelder es sich handelt). Die gleiche Problematik haben wir bei der immer wieder gerne zitierten Statistik, dass die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bei den Akademikern am niedrigsten sei.

Quelle: Weber, B. und Weber, E. (2013): Bildung ist der beste Schutz
vor Arbeitslosigkeit (= IAB-Kurzbericht 4/2013), Nürnberg, Abb. 1, S. 2

Die Abbildung aus der Veröffentlichung von Weber, B. und Weber, E. (2013): Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit (= IAB-Kurzbericht 4/2013) verdeutlicht diese gerne rezipierte Sichtweise – und die Unterschiede sind ja auch gewaltig: Während bei denjenigen, die über keinen Berufsabschluss verfügen, die Arbeitslosenquote bei fast 20% lag, also jeder vierte aus dieser Gruppe von registrierter Arbeitslosigkeit betroffen war, belief sich für das hier ausgewiesene Jahr 2011 die Quote bei den Akademikern lediglich auf 2,4%. Ein Vielfaches weniger als bei den Geringqualifizierten. Aber eines beantwortet diese beeindruckende Zahl von nur 2,4% offizieller Arbeitslosenquote unter den Akademikern natürlich nicht: Was machen die statt der Arbeitslosigkeit? Also wenn sie arbeiten – wo und wie arbeiten sie? Ausbildungsadäquat? Oder in einem ganz anderem Bereich, der nichts mit ihrem Studium zu tun hat? Darüber können wir schlichtweg nichts sagen. Das wäre aber schon von Bedeutung – beispielsweise auch im Kontext der allgemeinen Akademisierungsdebatte.

Also bleiben wir bei dem, was wir wissen: Auch ein Studium kann vor einer Niedriglohnbetroffenheit nicht vollständig schützen. Desweiteren sehen wir auch hier ein Abbild der geschlechtsbezogenen Spaltung des Arbeitsmarktes, denn: Den IAQ-Zahlen zufolge ist unter Akademikerinnen das Risiko, zu Niedriglöhnen zu arbeiten, fast doppelt so hoch wie unter Männern: Während 11,4 Prozent der Frauen mit Hochschulabschluss auf dem Niedriglohnsektor arbeiten, sind es bei den Männern nur 6,1 Prozent.

Und abschließend ein zweiter Aspekt, der zum Nachdenken Anlass geben sollte:

»Die Zahl der arbeitslosen Akademiker erhöhte sich 2013 im Jahresdurchschnitt gegenüber dem Vorjahr um 21.400 auf 191.100 Menschen … Dies sei ein Anstieg um 13 Prozent. Grund sei unter anderem die deutlich gestiegene Absolventenzahl.«

Das Land der Niedriglöhne und die es umgebenden Länder

Die Berichterstattung über eine neue Studie des IAB zum Thema Niedriglöhne in Deutschland war eindeutig und tut besonders weh vor dem Hintergrund des internationalen Vergleichs: „Jeder vierte Deutsche muss für Niedriglohn arbeiten„, so beispielsweise Spiegel Online: »Knapp ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland bezieht einen Niedriglohn von weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde. Das geht aus einer Studie des Forschungsinstituts IAB hervor. Europaweit gibt es nur in Litauen mehr Geringverdiener als hierzulande.« Es handelt sich um die Studie „Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich“ von Thomas Rhein. Man muss dabei beachten, dass es um einen Vergleich der Niedriglohnbeschäftigung zwischen Deutschland und 16 anderen europäischen Ländern geht und sich die dafür verwendeten Daten aus das Jahr 2010 beziehen.

Datengrundlage der Studie ist der „Survey on Income and Living Conditions“ (EU-SILC), eine repräsentative Befragung von Haushalten in den Mitgliedsländern der EU, bei der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte mit Angaben zur Arbeitszeit in allen Betrieben unabhängig von deren Größe oder Branche erfasst werden. Das erlaubt eine umfassende Analyse.

Wichtig ist natürlich die Frage, wie „Niedriglohn“ abgegrenzt wird, also ab welchem Lohneinkommen kann man von einem Niedriglohn sprechen. Die vorliegende Studie bezieht sich auf eine international gängige Definition: »Die Höhe der Niedriglohnschwelle wird in Relation zum mittleren Lohn bzw. Medianlohn in einem Land bestimmt. Genauer: Ein Lohn gilt als Niedriglohn, wenn er unter dem Schwellenwert von zwei Dritteln des Medians liegt. Wegen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse wird die Niedriglohnschwelle für jedes Land separat ermittelt. Auf Grundlage dieser Schwelle lässt sich die Niedriglohnquote … als Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten ermitteln.« Der Median wird statt des arithmetischen Mittels verwendet, weil diese Kennzahl, bei der die Lohneinkommen in eine untere und eine obere Hälfte sortiert werden, unempfindlicher ist gegen einige wenige Ausreißer, die beim arithmetischen Mittel, also dem „normalen“ Durchschnitt, sofort zu Auswirkungen führen.

Für die Interpretation der Werte besonders wichtig:  Wenn man die Niedriglohnschwelle definiert als zwei Drittel des Medians des jeweiligen Landes, dann ist das der zentrale Indikator »… für die Größe des Niedriglohnsektors in einem Land und damit auch für die (Un-)Gleichverteilung der Lohneinkommen, allerdings nur für die untere Hälfte der Lohnverteilung.« Und ganz vollständig muss man hinzufügen: ein Maß für die Lohnungleichheit in einem bestimmten Land, wie wir gleich noch sehen werden bei Betrachtung der unterschiedlichen Niedriglohn-Schwellen in den einzelnen Ländern. Außerdem muss auch darauf hingewiesen werden: Niedriglohnbeschäftigung muss nicht unbedingt mit Einkommensarmut einhergehen: »Denn die Armutsgefährdung hängt nicht nur vom individuellen Bruttolohn, sondern auch von anderen Einkünften, von der Wirkung des Steuer- und Transfersystems und vom Haushaltskontext ab.« Natürlich ist das für ein Überschreiten der Einkommensarmut notwendige Lohneinkommen für einen Alleinstehenden niedriger als für einen Alleinverdiener, der mit seinem Lohneinkommen eine vierköpfige Familie ernähren muss/will.

Auf dieser methodischen Grundlage errechnet sich für Deutschland ein Niedriglohn-Schwellenwert von 9,54 Euro pro Stunde. Das sieht in anderen Ländern vor dem Hintergrund der dortigen Lohneinkommensverteilung naturgemäß anders aus: »In den übrigen Ländern liegen die Schwellenwerte in einer großen Spannweite zwischen 1,08 Euro (Bulgarien) und 15,80 Euro (Dänemark).«

Deutschland hat mit einem Anteil von 24,1 Prozent an allen Beschäftigten den höchsten Wert unter den Vergleichsländern, wenn man einmal von Litauen (27,5 Prozent) absieht. Der Anteilswert von 24,1 Prozent in Deutschland entspricht einer Zahl von 7,1 Millionen Menschen, die zu Niedriglohnbedingungen arbeiten müssen.

Die Studie von Rhein versucht aber auch, die gängigen Erklärungen, die für die hohen Anteilswerte in Deutschland vorgetragen werden, einer Prüfung zu unterziehen: die steigende Zahl der Minijobber; Frauen, die Lohnnachteilen besonders stark ausgesetzt sind; die Zunahme der befristeten Beschäftigung, u. a. bei jüngeren Berufseinsteigern, verbunden mit teils geringen Einstiegsverdiensten. In der Studie wird dies vergleichend untersucht anhand einer Fokussierung auf insgesamt sechs Länder, darunter die vier größten EU-Länder, die Niederlande sowie Dänemark als Vertreter des skandinavischen Wohlfahrtsstaaten-Typs. Hier einige der wichtigsten Befunde aus der Studie:

Geschlecht: Die Niedriglohnquote der Frauen liegt in Deutschland  mit 32,4 Prozent fast doppelt so hoch wie die der Männer. In keinem anderen Land (mit Ausnahme Österreichs) ist die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern derart ausgeprägt wie bei uns. Erkennbar wird die unselige Rolle, die die „Minijobs“ in Deutschland spielen: »In Deutschland arbeiten deutlich mehr als 40 Prozent aller Geringverdiener in Teilzeit. Dazu trägt auch die Verbreitung der geringfügigen Teilzeitarbeit (Minijobs) bei: Über 11 Prozent aller Geringverdiener arbeiten hierzulande zwölf Wochenstunden oder weniger – ein Anteil, der in keinem anderen Land auch nur annähernd erreicht wird.« Und von den Minijobs sind überwiegend Frauen betroffen.
Qualifikation: Geringqualifizierte (ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium) sind besonders häufig in der Niedriglohnbeschäftigung zu finden – in Deutschland liegt der betreffende Anteil bei über 44 Prozent. Aber: nur 18 Prozent aller Niedriglohnbezieher gering qualifiziert. Mehr als vier von fünf Geringverdienern in Deutschland haben eine abgeschlossene Ausbildung – das ist mehr als in jedem der anderen der untersuchten Länder.

Einer der für die arbeitsmarktpolitische Diskussion wichtigste Befund der Studie sei hier besonders herausgestellt:

»Jedoch lässt sich die Größe des deutschen Niedriglohnsektors nicht allein auf strukturelle Besonderheiten zurückführen. Vielmehr zeigt der Ländervergleich, dass auch „Kerngruppen“ des Arbeitsmarkts betroffen sind. Das lässt sich anhand einer Gruppe verdeutlichen, die eine Kombination von lauter „günstigen“ Merkmalen aufweist: männlich, unbefristet vollzeitbeschäftigt in einem Betrieb mit mehr als 50 Beschäftigten, inländische Staatsangehörigkeit, abgeschlossene Ausbildung, mindestens 30 Jahre alt« (Rhein 2013: 7; Hervorhebung nicht im Original).

Auch die immer noch besondere Rolle Ostdeutschlands kann den großen Niedriglohnsektor nicht erklären, denn auch bei einer separaten Betrachtung zwischen West und Ost zeigt sich für Westdeutschland die beschriebene Größe des Niedriglohnsektors.

»Letztlich können also weder persönliche, noch betriebliche, noch regionale Strukturmerkmale befriedigend begründen, warum die Lohneinkommen im unteren Bereich der Verteilung hierzulande stärker differenziert sind als in anderen europäischen Ländern. Vielmehr muss der Befund als allgemeines Phänomen begriffen werden, das sich quasi „quer“ durch alle Personengruppen zieht« (Rhein 2013: 7).

Der Niedriglohn hat sich in Deutschland von den Rändern in die Mitte gefressen, wenn man es mal anders ausdrücken soll.

Bei der Suche nach möglichen Erklärungen weist Rhein darauf hin, dass ein wichtiger institutioneller Faktor in diesem Zusammenhang die kontinuierlich abnehmende Tarifbindung deutscher Beschäftigter und Betriebe sei. Die arbeitsmarktpolitischen Reformen des letzten Jahrzehnts haben den Trend zu mehr Lohnungleichheit zwar nicht herbeigeführt, könnten aber zu seiner Fortsetzung beigetragen haben, so seine Vermutung.

In diesem Kontext wird uns in Deutschland immer wieder gesagt, die „tolle Arbeitsmarktentwicklung“ bei uns sei einer Folge der „Arbeitsmarktreformen“ und die Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung sei der Preis, den man für die positive Beschäftigungsentwicklung zu zahlen habe. Aber das sei doch besser, als wenn die Menschen gar keine Arbeit hätten. Aber hier gießen die Befunde der Studie Wasser in den Wein, denn:

»Im Ländervergleich ergeben sich allerdings keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Niedriglohnempfänger und dem Beschäftigungsstand. Dies würde dafür sprechen, dass eine erhöhte Lohnspreizung keine zwingende Voraussetzung für dauerhafte Erfolge am Arbeitsmarkt ist« (Rhein 2013: 9).