Ein Trauerspiel: Tarif weg, Betriebsräte weg, mindestens ein Viertel weniger Lohn. Das war mal anders. Und wenn man schon dabei ist, kann man die Minijobs gleich mitmachen

Wenn man die vergangenen Jahre zurückblickt, dann muss man für den Handel, vor allem für den Einzelhandel, immer wieder und mit zunehmender Häufigkeit wie auch Intensität Auseinandersetzungen über die Arbeitsbedingungen der dort arbeitenden Menschen, überwiegend Frauen, zur Kenntnis nehmen. Das hat auch etwas mit einer bedenklichen Entwicklung zu tun, die Alexander Hagelüken in seinem Artikel Ein Viertel weniger Lohn so umreißt: »Der Handel in Deutschland bezahlt nur noch jeden Zweiten nach Tarif – mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Sie bekommen nicht nur weniger Geld, sondern haben meist auch keinen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt.« Wenn wir über „den“ Handel sprechen, dann geht es um eine Branche, in der mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt sind.

Seit Mitte der 1990er Jahre ist zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung aussteigen, um die Lohnkosten zu senken und die Arbeitsbedingungen stärker nach ihren Wünschen zu gestalten. Inzwischen bezahlt weniger als jeder dritte Betrieb im Handel noch nach Tarifvertrag und damit ist der allgemeine Trend einer Tarifflucht in dieser Branche besonders ausgeprägt. »In der deutschen Wirtschaft arbeiten zwei von drei Beschäftigten nach Tarifvertrag … Im Handel dagegen profitiert nur noch jeder zweite von branchenweit geltenden Löhnen – im Jahr 2000 waren es dagegen fast 75 Prozent«, berichtet Hagelüken in seinem Artikel. Und man muss bereits an dieser Stelle anmerken: Im Einzelhandel waren es vor dem Jahr 2000 sogar noch mehr, denn bis zu diesem Jahr war der Tarifvertrag in diesem Bereich allgemeinverbindlich, er galt also für alle Unternehmen, egal ob tarifgebunden oder nicht.

Basis für den Artikel von Alexander Hagelüken ist eine Studie aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München:

Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte. In: ifo Schnelldienst, 11/2015, S. 33-40
Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene. Der Tendenz nach weisen sie auch eine geringere Produktivität auf und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.

Er hebt einige der Befunde aus dieser Studie hervor – wobei man davon ausgehen muss, dass sich die Zahlen und die dahinter stehenden Verhältnisse noch weiter verschlechtert haben, denn die Daten, die in der ifo-Studie verwendet wurden, stammen aus dem Jahr 2010: »Die Auswirkung auf Arbeitnehmer ist gewaltig: Wer keinen Tarifvertrag hat, verdient ein Viertel weniger. Angesichts der ohnehin überschaubaren Löhne für Verkäufer(innen) und andere in der Branche wirkt sich der Unterschied stark aus. Auch gibt es nur in zwei Prozent aller Firmen ohne Tarif einen Betriebsrat.« Da, wo noch eine Tarifbindung existiert, handelt es sich im Regelfall um größere Unternehmen mit mehreren Betrieben. 80 Prozent der Handelsfirmen ohne Tarifvertrag sind hingegen Einzelbetriebe. Das wiederum nutzen die Großen: »Konzerne wie die großen Supermarktketten gliedern Filialen aus und lassen die von einem Selbständigen als eigene Firma führen – ohne Tarifvertrag und Betriebsrat.« Edeka und Rewe sind hier besonders hervorzuheben. 
Man kann es drehen und wenden wie man will: Gerade das Beispiel des Einzelhandels verdeutlicht, was passiert, wenn eine ganze Branche nach dem – bewussten – Wegfall der flächendeckenden und alle Unternehmen betreffenden Tarifbindung über eine Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags in die „freie Wildbahn“ entlassen wird. Denn ab dem Moment des Wegfalls der Tarifbindung wurde es für einzelne Unternehmen attraktiv, sich gegenüber der Konkurrenz Kostenvorteile dadurch zu verschaffen, dass man das Personal schlechter vergütet. Denn die Personalkosten spielen eine große Rolle im Bereich vieler Dienstleistungen.

Ein möglicher Lösungsansatz liegt auf der Hand: Back to the roots, so könnte man diese Strategie bezeichnen. Also angesichts der nun wirklich empirisch belegbaren Fehlentwicklungen in der Branche muss eine Wieder-Einführung der Allgemeinverbindlichkeit in Erwägung gezogen werden. Grundsätzlich müssen das auch Vertreter der Regierungsparteien so gesehen haben, denn in dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 findet man folgende Übereinkunft zwischen Schwarz und Rot:

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses.« (S. 48).

Auf diesem Feld allerdings lassen tatkräftige Aktivitäten der Großen Koalition bisher sehr zu wünschen übrig. Gerade für den Bereich des Einzelhandels lässt sich zeigen, dass diese Branche bis 2000 durchaus als stabil und „geordnet“ bezeichnet werden kann und die seitdem zu beobachtenden Ausformungen von Lohndumping und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen korrelieren eindeutig mit dem Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit, die auf Druck der Arbeitgeber zustande gekommen ist. Und angesichts der sehr asymmetrischen Machtposition der zumeist Arbeitnehmerinnen in diesem Bereich wäre ein „öffentliches Interesse“ im wahrsten Sinne des Wortes gegeben. Man kann nur hoffen, dass hier endlich was passiert. Wir haben definitiv kein Erkenntnis-, sondern ein vertitables Umsetzungsproblem.

Und viele Beschäftigte im Handel, vor allem im Einzelhandel, sind Minijobber, also geringfügig Beschäftigte. Eine hoch problematische besondere Beschäftigungsform, vor allem hinsichtlich der negativen Anreize, die hier mit Blick auf Erwerbsbiografien vor allem von Frauen und den daraus resultierenden Sicherungslücken gesetzt werden. Vgl. hierzu nur als Beispiel die vom Bundesfamilienministerium herausgegebene Studie von Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013. Es gibt eine lange „Traditionslinie“ von Forderungen, diese Sonder-Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen oder wenigstens deutlich restriktiver auszugestalten.

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD findet sich dazu so gut wir gar nichts, keinerlei Ambitionen werden erkennbar: »Wir werden dafür sorgen, dass geringfügig Beschäftigte besser über ihre Rechte informiert werden. Zudem wollen wir die Übergänge aus geringfügiger in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erleichtern.« (S. 52 f.)

Jetzt kommt mal wieder etwas Bewegung in dieses „vergessene“ Thema. Dies zum einen vor dem Hintergrund der Mindestlohn-Debatte, denn wenn auch die im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von vielen Ökonomen in den Raum gestellten schweren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt ausgeblieben sind, konnte man am Anfang des Jahres Rückgänge bei der Zahl der geringfügig Beschäftigten beobachten, die über das übliche Muster hinausgehen. Dies wird sofort aufgegriffen als Beleg für die „zerstörerischen“ Wirkungen des Mindestlohns. Vgl. hierzu beispielsweise Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel in seinem kurzen Beitrag Mindestlohn: erste Anzeichen für Jobverluste, der in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ veröffentlicht wurde. Aber auch er muss zugeben, dass wir uns derzeit hier im Bereich der Spekulation bewegen, es fehlen nicht nur Daten, sondern auch eine Gesamtbilanzierung ist derzeit nicht möglich (so bereits in meiner im April verfassten Kurzexpertise diskutiert: Stefan Sell: 100 Tage gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015).

Zum anderen hat sich nunmehr der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium zu Wort gemeldet mit einem Gutachten unter dem Titel Potenziale nutzen – mehr Fachkräfte durch weniger Arbeitsmarkthemmnisse, in dem auch Änderungsvorschläge bei den Minijobs vorgeschlagen werden. Thomas Öchsner hat das in diesem Artikel zusammengefasst: „Steuerfreiheit von Minijobs im Nebenerwerb abschaffen“.

Er umreißt die Ausgangslage: »7,24 Millionen Menschen, meistens Frauen, haben eine Stelle auf 450-Euro-Basis, für die sie keine Steuern zahlen müssen und sich von den Sozialabgaben befreien lassen können. Allein 2,42 Millionen packen dabei auf ihren Hauptjob die geringfügige Beschäftigung als Zusatzjob oben drauf, etwa, weil das Geld sonst nicht reicht oder ein paar Hunderter im Monat zusätzlich für Extrawünsche zur Verfügung stehen sollen.«

Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi fordert nun eine „Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse“ – aber was die dann in ihrem Gutachten präsentieren, ist wenn überhaupt ein „Reförmchen“. Denn zumindest, so der Beirat, solle „die Steuerfreiheit von Minijobs für Zweitverdiener in einer Ehe“ abgeschafft werden. Die Begründung dafür:

»Die Gutachter führen aus, dass Minijobs besonders „für Verheiratete mit hoher Grenzsteuerbelastung interessant“ seien. Es sei „angesichts der hohen steuerlichen Belastung, die an der Verdienstgrenze der Minijobs einsetzt“ wenig überraschend, dass so wenige geringfügig beschäftigte Frauen auf eine sozialversicherungspflichtige Stelle wechselten.«

Das nun ist weder weitreichend, noch originell, letztendlich nur copy and paste vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den so genannten fünf „Wirtschaftsweisen“, die ebenfalls den „Fehlanreiz“ beklagt und gefordert hatten, die Steuerfreiheit der Minijobs im Nebenerwerb und für den Zweitverdiener einer Ehe abzuschaffen. Nichts neues also. Das eigentliche Anliegen des genannten Gutachtens des Beirats beim BMWi ist auch etwas ganz anderes, was Öchsner so beschreibt: »Der Beirat wünscht sich von der Bundesregierung außerdem neue flexiblere Regeln für den Eintritt in die Rente, um ältere Beschäftigte möglichst lange am Arbeitsmarkt zu halten.« Aber das ist nicht nur brisant, sondern wäre wieder eine weiteres eigenständiges Thema, dass uns noch verfolgen wird.
Fazit: Auf Seiten der megagroßen Koalition keine Anzeichen von Bewegung und es ist aus politökonomischen Gründen auch nicht erwartbar, dass sich hier was hinsichtlich der Minijobs tun wird, nachdem die Arbeitsmarktfrage aus Sicht der Union so „belastet“ ist durch die bisherigen Aktivitäten der Bundesarbeitsministerin Nahles. Grundsätzlich gilt: Man sollte schon mal immer wieder darüber nachdenken, warum Deutschland mit dieser besonderen Beschäftigungsform weltweit ziemlich solitär daherkommt.

(Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt

Die Bayern mal wieder: Die Gastronomie-Branche sieht sich durch das Gesetz zum Mindestlohn besonderen Belastungen ausgesetzt. Bei einer Demonstration „gegen Bürokratismus und Dokumentationswahn“ sagt der Präsident des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, das Gastgewerbe drohe unter der Last der Bürokratie zu zerbrechen, berichtet Franz Kotteder in seinem Artikel 5000 Wirte demonstrieren gegen ausufernde Bürokratie. Und die Gastwirte sind nicht allein auf weiter Flur: Unterstützung kommt von der bayerischen Wirtschaftsministerin: Auch Ilse Aigner (CSU) schimpft auf das „Bürokratiemonster à la Nahles“, kann  man dem Artikel entnehmen. Und scheinbar reihen sich die Demonstranten ein in eine Vielzahl an protestierenden Stimmen gegen das erst seit Januar 2015 in Kraft befindliche Mindestlohngesetz – mit einem auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Fokus:

„Gastfreundschaft statt Doku-Wahn“ und „Wirtsstube statt Schreibstube“ lauteten die Parolen, oder auch „Ich will jeden Sonntag arbeiten“ und „Ich will kochen statt dokumentieren“.

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Der Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze! Das muss so sein. Wenn eine enttäuschte Ideologie auf Wirklichkeit trifft

Das wird viele Arbeitsplätze kosten – so lautet eine der Hauptbotschaften im Vorfeld der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes seitens der Kritiker einer solchen Lohnuntergrenze. Nicht nur einige Arbeitsplätze hier und da, sondern fast eine Million Jobs werden bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde vernichtet. Das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hat eine Pressemitteilung dazu am 19.03.2014 kurz und bündig so überschrieben: Der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro gefährdet bis zu 900.000 Arbeitsplätze. Viele Medien haben das damals abgeschrieben und die Zahl geistert auch noch heute durch die Landschaft. »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich danach auf bis zu 900.000 Arbeitsplätze. Dabei ist auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt. In Vollzeit-Stellen entsprechen die gesamten Verluste in etwa 340.000 Arbeitsplätzen.« Grundlage für diese Aussage war eine Studie von Ronnie Schöb, Marcel Thum und Andreas Knabe (Der flächendeckende Mindestlohn, 2014). Aber nun ist er da und Ende Februar 2015 wurde Heinrich Alt von der Bundesagentur für Arbeit so zitiert: »… eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.«

Das nun lässt die Mindestlohn-Gegner natürlich nicht ruhen – und man legt nach im Kampf um die öffentliche Meinungsbildung: Unter der – fast schon weichgewaschen daherkommenden – Überschrift „Zahlreiche ungelöste Probleme“ serviert uns eine arbeitgeberfinanzierte Lobbyorganisation eine düstere Bilanz der ersten Tage: »Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland wirkt sich zunehmend negativ auf Unternehmen und Beschäftigte aus. Das ist ein Ergebnis eines Papers der beiden Ökonomen Prof. Knabe und Prof. Ronnie Schöb, die im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt wurde.« Es muss natürlich eigentlich „das im Auftrag …“ und nicht „die“ heißen, denn es geht ja um „das Paper“, aber auch auf der arbeitgeberfinanzierten Seite gibt es offensichtlich Probleme mit der Rechtschreibung, nicht nur bei der vielgescholtenen Jugend.

Da sind sie also wieder. Natürlich, auch die beiden Professoren können die Realität – die durch weiter abnehmende Arbeitslosigkeit und weiter ansteigende Beschäftigung gekennzeichnet ist – nicht ganz verleugnen, also wechseln sie etwas die Argumentationslinie, ohne die zentrale Botschaft vom Jobkiller Mindestlohn zu verwerfen.

Und das geht so, folgt man den Ausführungen der INSM:

Obwohl es dank guter Konjunktur und robustem Arbeitsmarkt bisher zu keinem messbaren Arbeitsplatzabbau gekommen sei, gebe es keinen Grund zu Entwarnung, so die beiden Wissenschaftler weiter. Der Druck auf den Arbeitsmarkt erfolge erfahrungsgemäß zeitverzögert … „Die volle Beschäftigungswirkung wird sich erst langfristig einstellen. Hinzu komme, so die Wissenschaftler, dass der Mindestlohn in vielen Fällen Randgruppen am Arbeitsmarkt treffe. Rentner, Studenten oder hinzuverdienende Ehepartner würden im Falle des Jobverlusts nicht in die offizielle Arbeitslosenstatistik eingehen. Eine Messung der negativen Effekte des Mindestlohnes wird deshalb „eine der größten Herausforderungen der kommenden Zeit für die empirische Arbeitsmarktforschung in Deutschland sein“, so die Wissenschaftler.“

Das Paper von Knabe und Schöb (2015), auf das die INSM Bezug nimmt, findet man im Original unter dem Titel Hundert Tage Mindestlohn: Unternehmen unter Anpassungsdruck. Und die Botschaft der beiden wurde sofort mit publizistischem Flankenschutz versehen – die FAZ hat sich bereit erklärt, das zu machen. Mit einer sehr klaren Ansage in der Überschrift, die natürlich hängen bleiben soll, auch wenn der eigentliche Artikel weitaus vorsichtiger formuliert ist: Der Mindestlohn vernichtet Minijobs. Punkt. Das sitzt. Und das scheint ja auch zu stimmen, wenn man sich nur beschränken würde auf die Zahl der Minijobs, also der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, umgangssprachlich auch als „450 Euro-Jobs“ bekannt. Denn, so Dietrich Creutzburg die Zahlen richtig zitierend:

»Die Zahl der Minijobs geht neuerdings stark zurück. Für den Monat Januar zählte die zuständige Meldestelle, die Minijobzentrale, bundesweit 255.000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse weniger als noch für Dezember. Die Gesamtzahl der Minijobs im gewerblichen Sektor ging damit um fast 4 Prozent auf 6,6 Millionen zurück. Zwar gibt es zum Jahreswechsel oft einen Rückgang: Von Dezember 2013 auf Januar 2014 sank die Zahl um 91.000. Nun aber ist der Rückgang fast dreimal so stark. Das könnte bedeuten, dass der zum 1. Januar eingeführte Mindestlohn mehr als 150.000 Minijobs vernichtet hat.«

Das könnte es bedeuten. Das muss es aber nicht zwangsläufig bedeuten. »Offen ist, was aus den Betroffenen wurde. Ob die Minijobs in reguläre Stellen umgewandelt wurden oder wegfielen, lasse sich aus den Zahlen noch nicht ablesen«, so Creutzburg die Minijob-Zentrale zitierend. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die wieder auf den ersten Blick plausible „Beweisführung“ den Jobkiller Mindestlohn betreffend studiert:

»Besonders viele Minijobs, allein 60.000 …, verschwanden im Handel, wie der Branchenvergleich zeigt. Für den Handelsverband Deutschland (HDE) liegt die Ursache auf der Hand. „Dieser überproportional starke Abbau ist ganz klar auf die neuen bürokratischen Belastungen durch den Mindestlohn zurückzuführen“, sagte Geschäftsführer Heribert Jöris. Zudem habe der Mindestlohn die Minijobs besonders stark verteuert.«

Dann wird es interessant: „Seit Einführung des Mindestlohns rechnen sich Minijobs für Arbeitgeber in vielen Fällen insgesamt schlicht nicht mehr“, so wird der Hde-Geschäftsführer Jöris zitiert. Und weiter: »Es bleibe nun abzuwarten, „ob dieser deutliche Verlust an Arbeitsplätzen an anderer Stelle in der Branche durch den Aufbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze kompensiert“ werde.«
Eben und genau. Das bleibt a) abzuwarten (denn die tief gegliederten Daten zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gibt es erst mit einem dreimonatigen time-lag) und b) könnte man ja einfach mal die Frage aufwerfen, ob jetzt der Einzelhandel wirklich zehntausende Stellen ersatzlos gestrichen hat. Wer macht dann die Arbeit? Sind die Öffnungszeiten wieder auf 18 Uhr eingedampft worden? Werden die Läden über Mittag geschlossen? Wir wissen das (noch) nicht.

Aber statt das einfach mal zum jetzigen Zeitpunkt zu akzeptieren, legt der Verfasser des FAZ-Artikels nach und postuliert sogar als Zwischenüberschrift in seinem Artikel: „Prognose ist als bestätigt zu werten“ – und meint damit natürlich die Prognose aus dem ifo-Umfeld von den 900.000 verlorenen Arbeitsplätze, die wir zu erwarten haben wegen dem Mindestlohn. Wie kriegt er das hin? Er schreibt mit ausdrücklichem Bezug auf die Prognose von Schöb et al. aus dem vergangenen Jahr:

»Bei näherem Hinsehen liegt diese „Horrorprognose“ gar nicht so weit neben der Realität: 660.000 dieser gefährdeten Stellen seien Minijobs, so die ifo-Studie. Dass gleich im ersten Monat nach Einführung des Mindestlohns eine sechsstellige Zahl von Minijobs verschwunden ist, ließe sich sogar als Bestätigung der Prognose werten.«

Man kann das ja mal versuchen – aber seriös ist das nicht. Auch und gerade nicht vor dem Hintergrund der eigenen Argumentation der Mindestlohn-Kritiker in ihrer Auftragsarbeit für die INSM:

»Eine der größten Herausforderungen der kommenden Zeit für die empirische Arbeitsmarktforschung in Deutschland wird es sein, wissenschaftlich solide die Wirkungen des Mindestlohns zu evaluieren. Ein Problem dabei ist die Verfügbarkeit notwendiger Daten. Die Wirkungen des Mindestlohns können nicht allein anhand der Arbeitslosenquote analysiert werden. Der Mindestlohn trifft in vielen Fällen Randgruppen am Arbeitsmarkt, wie Rentner, Studenten oder hinzuverdienende Ehepartner, die im Falle des Jobverlusts nicht in die offizielle Arbeitslosenstatistik eingehen werden. Da viele Minijobber, die weniger als 15 Stunden in der Woche arbeiten, aber gern mehr arbeiten würden, bereits als Arbeitslose zählen, werden Arbeitsplatzverluste in diesem Bereich ebenfalls nicht die offizielle Arbeitslosenquote erhöhen. Neben der Arbeitslosigkeit ist es daher notwendig, auch die Zahl der Beschäftigten und die geleisteten Arbeitsstunden zu betrachten. Diese Zahlen sind aber nur mit einiger zeitlicher Verzögerung verfügbar.« (Knabe/Schöb 2015: 5)

Daran ist nichts auszusetzen – aber es gilt eben auch: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nur sagen, dass die befürchteten großen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Form spürbarer negativer Beschäftigungseffekte und einem Ausstrahlen in die Arbeitslosigkeit hinein ausgeblieben ist. Und das Rentner oder Studierende ihre kleinen, günstigen Minijobs verloren haben, bleibt abzuwarten und noch zu beweisen. Da beißt die Maus keinen Faden ab – erste halbwegs seriöse Aussagen zu den Arbeitsmarktauswirkungen des Mindestlohns wird man frühestens in der zweiten Jahreshälfte machen können und dann auch nur unter Berücksichtigung der zahlreichen möglichen Wirkungskanäle. Das verbietet übrigens zum jetzigen Zeitpunkt auch eine umgekehrte Interpretation, also dass der Mindestlohn gar keine negativen Folgen auf einzelne Regionen, Branchen oder Unternehmen haben wird.

Was man aber unbedingt berücksichtigen sollte ist die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt keine stationäre Angelegenheit ist. Nur weil an der einen Stelle Jobs verloren gehen, weil beispielsweise Minijobs als solche verschwinden, heißt das noch lange nicht, dass nicht gleichzeitig andere Jobs aufgebaut werden, was dann als Zuwachs bei der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung registriert werden wird. Und wenn eine Minijobberin aufgrund der guten Arbeitsmarktlage endlich in einen normale Teilzeitbeschäftigung oder gar eine Vollzeitbeschäftigung wechseln kann, dann ist das eine deutliche Verbesserung für die Arbeitnehmerin und damit zu begrüßen, auch wenn statistisch ein Minijob wegfallen sollte.

Deshalb abschließend ein Blick auf die Prognose der hauptberuflichen Arbeitsmarktforscher vom IAB der Bundesagentur für Arbeit, die diese Tage erst ihre Vorhersage für das Jahr 2015 veröffentlicht haben unter der ebenfalls klaren Botschaft: Der Arbeitsmarkt bleibt auf Erfolgskurs. Hier einige der zentralen Vorhersagen:
Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist wieder in Gang gekommen, die jahresdurchschnittliche Zahl der (registrierten) Arbeitslosen wird auf 2,79 Mio. taxiert. Die Erwerbstätigkeit setzt ihren Aufwärtstrend leicht abgeschwächt fort. Der Zuwachs im Jahr 2015 beträgt 350.000 Personen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steigt um 540.000 und erreicht mit 30,74 Mio. Personen ein neues Allzeithoch.

Moment, wird an dieser Stelle der aufmerksame Leser einwerfen: Wie kann es sein, dass die Erwerbstätigkeit (das sind ja alle, die irgendwie arbeiten, also neben den normalen Arbeitnehmern auch die geringfügig Beschäftigten, die Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen und die Beamten) weniger stark zunehmen als die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten? Genau hier ist die Verbindungslinie zum ersten Teil des Beitrags – der Mindestlohn und die Minijobs. Auf der Seite 4 schreiben die Arbeitsmarktforscher:

»Strittig ist, inwieweit der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn Auswirkungen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit haben wird. Zu erwarten ist, dass die Zahl der Minijobs relativ deutlich sinken wird … Für das Jahr 2015 erwarten wir insgesamt aber keine entscheidenden negativen Effekte, auch wenn es in bestimmten Bereichen zu Arbeitsplatzverlusten kommen kann. So sind Betriebe in Ostdeutschland, bestimmte Branchen wie das Gastgewerbe oder der Einzelhandel und vor allem Minijobs vom Mindestlohn besonders betroffen.«

Die Differenz zwischen den prognostizierten +350.000 Erwerbstätigen und den +540.000 bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten resultiert für die Arbeitsmarktforscher neben leichten Rückgängen bei der Zahl der Selbständigen und der Beamten vor allem aus einer starken Verringerung der Zahl der „marginal Beschäftigten“, die vor allem aus den Minijobbern bestehen, in einer Größenordnung von -180.000 Personen in 2015.

Und der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auf eine weitere Publikation aus dem IAB verwiesen, die ebenfalls kürzlich veröffentlicht wurde: Reichweite des Mindestlohns
in deutschen Betrieben, so ist die Arbeit von Hellmann et al. überschrieben. Die ist deshalb von besonderem Interesse, weil man hier die (mögliche) Betroffenheit vom Mindestlohn nicht an der Personenseite festgemacht hat, sondern von der „anderen“ Seite, also den Betrieben: Wie viele Betriebe gab es überhaupt, in denen auch Stundenlöhne unter 8,50 Euro bezahlt wurden? Und wie viele Beschäftigte in diesen Betrieben verdienten im Jahr 2014 weniger als den Mindestlohn? Das sind die Fragen, denen man mit Daten aus dem IAB-Betriebspanel nachgegangen ist. Die Studie hat ein sehr interessantes Ergebnis zu Tage gefördert – interessant vor allem vor dem Hintergrund der Frage, wie viele Arbeitnehmer denn wirklich betroffen sind von dem neuen Mindestlohn.
»Insgesamt zeigt die Auswertung der aktuellen Erhebung des IAB-Betriebspanels aus dem Jahr 2014, dass 4,4 Prozent der Beschäftigten in Deutschland vom Mindestlohn betroffen sind.« Das sind deutlich weniger als in anderen Studien bislang ausgewiesen. Zur Größenordnung der betroffenen Betriebe:

»Laut IAB-Betriebspanel hatten rund 12 Prozent der befragten Betriebe in Deutschland kurz vor der Mindestlohneinführung mindestens einen Beschäftigten, der weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdiente. Überdies gaben etwa 7 Prozent der Betriebe an, sie hätten bereits im Vorfeld Lohnanpassungen vorgenommen.«

Fazit: Derzeit kann man die vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns breit diskutierten massiven negativen Beschäftigungseffekte nicht erkennen – ganz im Gegenteil, der Arbeitsmarkt ist (noch) in guter Verfassung, die Beschäftigung – vor allem die sozialversicherungspflichtige – steigt weiter an und wir sehen kein Durchschlagen auf die Arbeitslosigkeitszahlen. Und auch die nun von den Autoren der Auftragsarbeit der INSM in den Mittelpunkt gestellten „verlorenen“ Minijobs können und müssen wesentlich differenziert angeschaut und bewertet werden. Das alles heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass man jetzt, im März 2015, Entwarnung geben kann hinsichtlich der möglichen negativen Auswirkungen der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Angesichts der vielen Wirkungskanäle, die man im Auge behalten muss, kann man das frühestens in einigen Monaten.

Aber was man auch nicht machen sollte: Die Mindestlohngegner sehen bereits, dass es zahlreiche Hinweise gibt, dass ihre apokalyptischen Prognosen nicht eintreten werden. Also bereitet man einen Spurwechsel in der Argumentation vor, den Knabe/Schöb (2015: 5) so beschreiben: Sie plädieren dafür, bei der „wissenschaftlichen“ Beurteilung der Wirkungen des Mindestlohns ein „Kontrafaktum“ zu setzen und zu berechnen. Was das ist? Hier die Auflösung:

»Dabei geht es um die Frage, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt hätte, wenn der Mindestlohn nicht eingeführt worden wäre. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann man anhand der tatsächlich eingetretenen Arbeitsmarktentwicklung bestimmen, welchen Effekt der Mindestlohn gehabt hat. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob es nicht vielleicht noch weniger Arbeitslose gegeben hätte, wenn der Mindestlohn nicht eingeführt worden wäre. Die Herausforderung bei der Evaluation des Mindestlohns besteht somit darin, überzeugend kontrafaktische Arbeitsmarktzustände zu berechnen.«

Man könnte jetzt viel dazu sagen, hier sei nur eine sehr kritische Variante präsentiert: Natürlich kann man die Zahlen so foltern, bis sie gestehen. Und natürlich hätte es den einen oder anderen Job mehr gegeben, wenn die Arbeitnehmer noch Geld mitbringen zur Arbeit für den Arbeitsnachfrager. Aber mal ehrlich – da kann man wunderbare Konstruktionen basteln, die im Ergebnis dazu führen werden, dass eigentlich sogar mehrere Millionen Jobs verloren gegangen sind, die ansonsten entstanden wären, wenn … ja, wenn. Das sollte man sich wirklich ersparen und statt dessen eine seriöse Mindestlohn-Evaluierung machen, die die Kirche im Dorf lässt.

Die Geschlechter und ihre Löhne. Einige Gedanken und kritische Anmerkungen zum „Equal Pay Day“ im April 2015

Wieso denn „Equal Pay Day“ im April 2015, wird die eine oder der andere jetzt erstaunt fragen? Der war doch schon am 20. März, überall gab es an diesem Tag Aktionen und selbst die Gesetzgebungsmaschinerie soll angeworfen werden, nach der Frauenquote (für Aufsichtsräte von einigen wenigen börsennotierten Konzernen) will die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) noch in diesem Jahr die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern in einem „Entgeltgleichheitsgesetz“ festschreiben. »Die Politik habe zu lange zugeschaut, jetzt müsse gehandelt werden«, so wird die Ministerin zitiert. Um die Gehaltsunterschiede offenzulegen, wolle sie ein Auskunftsrecht gesetzlich verankern und Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern verpflichten, gerechtere innerbetriebliche Strukturen zu schaffen. Und das Thema scheint wirklich auch im medialen Mainstream angekommen zu sein – wenn man das daran messen möchte, dass selbst Günther Jauch seine Talksendung am 22.03.2015 unter den Titel Der ungerechte Lohn – warum verdienen Frauen weniger? Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? Von wegen! gestellt hat.

In vielen anderen Medien wurde über die Geschlechter und ihre Löhne berichtet – beispielsweise im Radio: Lohntransparenz – Hat der Wert der Arbeit ein Geschlecht?, fragt etwa der Deutschlandfunk in einer Hintergrundsendung. Auch der Hessische Rundfunk hat sich auf die Suche gemacht: Zahlemann und Töchter – Warum Frauen weniger verdienen, so der Titel einer Sendung zum Thema. Aber sortieren wir in einem ersten Schritt einmal die Fakten – und korrigieren dann auch noch das „wahre“ Datum des „Equal Pay Day“ – der eigentlich erst auf den 11. April dieses Jahres zu terminieren wäre.  Um die ganze Sache dann noch so richtig zu verkomplizieren, könnte man darauf hinweisen, dass zum einen (ausgehend von 7 statt 22 Prozent Lohnlücke) der Equal Pay Day viel früher im Jahr hätte angesetzt werden müssen – oder aber man hätte das Datum deutlich nach hinten verlängert müssen, wenn man ihn von einem „Gender Pay Gap Day“ zu einem „Gender Income Gap Day“ erweitern würde, was auch schon vorgeschlagen wurde. Alles klar? Ein offensichtlich echtes Durcheinander, dass einer Aufdröselung zugeführt werden muss. 

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Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.