Auf schwarz-weiße Reflexe ist Verlass – am Beispiel minijobbender Rentner und einem nicht-kinderarmutsreduzierenden Mindestlohn

Es ist ein nicht auflösbares Dilemma in der Sozialpolitik – immer wieder wird man mit völlig entgegengesetzten Bewertungen eines scheinbar eindeutigen Sachverhalts konfrontiert. In diesen Tagen muss man das ein zwei Beispielen erneut zur Kenntnis nehmen.

Da wäre beispielsweise diese Meldung: »Sie räumen Supermarktregale ein, jobben als Briefträger oder arbeiten in Gaststätten: Immer mehr Rentner in Deutschland bessern ihr Einkommen mit einem Minijob auf. Ende 2015 übten bereits 943.000 Senioren ab 65 Jahre einen Minijob aus – ihre Zahl stieg damit seit 2010 um 22 Prozent, im Vergleich zu 2005 sogar um 35 Prozent. Vor zehn Jahren arbeiteten nur 698.000 Senioren in einem Minijob … Besonders drastisch ist der Zuwachs bei den Rentnern ab 75 Jahre: Ende vergangenen Jahres waren knapp 176.000 Senioren dieser Altersgruppe mit einem Monatsverdienst von maximal 450 Euro geringfügig beschäftigt – mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr 2005«, kann man dem Artikel Immer mehr ältere Menschen gehen arbeiten – trotz Rente entnehmen.

Man kann sich sogleich vorstellen, was nach der Präsentation dieser erst einmal nackten Zahlen passiert: „Wir sind gegen die Maloche bis zum Tode“, so wird der Rentenexperte der Bundestagsfraktion der Linken, Matthias W. Wirkwald, in dem Artikel zitiert. Der dramatische Anstieg der minijobbenden Rentner in den vergangenen zehn Jahren zeige: Immer mehr Rentner müssten sich die Rente aufbessern. „Diese arbeiten nicht aus Spaß, sondern weil die Rente nicht zum Leben reicht.“

Und Birkwald  steht nicht alleine mit seiner Bewertung. Auch die Sozialverbände sehen in der steigenden Zahl von Rentnern mit Minijobs einen Hinweis auf wachsende Altersarmut. „Die Entwicklung ist zweifellos dramatisch“, wird Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, zitiert. „Denn sie belegt die wachsende Altersarmut in Deutschland.“

Eine solche Interpretation scheint ja auch naheliegend. Dennoch wird von der anderen Seite zurückgeschossen. Auch das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat sich sofort zu Wort gemeldet in Gestalt von Holger Schäfer, dem Arbeitsmarktexperten des Instituts: „Sicherlich sind manche Rentner auf ihren Minijob angewiesen“, sog wird er in dem Artikel zitiert. „Doch aus Studien wissen wir: Vielen Senioren macht ihr Minijob Spaß.“ Andere würden mehr Kontakt zu anderen Menschen wollen und würden deshalb ein paar Stunden in der Woche arbeiten gehen. Nach seiner Wahrnehmung machen viele Rentner einen Minijob, „weil sie mehr konsumieren wollen“ und führt als Beleg an, dass es die meisten älteren Minijobber nicht im Osten, sondern in Süddeutschland gibt – also in einer Region, in dem viele Menschen eine gute Rente bezögen.

Hinsichtlich des Arbeitsmarktverhaltens von Menschen gibt es keine einfache „wenn, dann“-Gleichung. Das gilt gerade in diesem Beispielfall. Anders formuliert: Beide Seiten können sicher empirische Evidenz für sich beanspruchen, wenn man wirklich mit den Leuten sprechen würde. Dass es Minijobs gibt, die von Älteren gemacht werden, um über die Runden kommen zu können, steht außer Frage, denn es gibt einfach zu viele Tätigkeiten darunter, die man nicht guten Gewissens unter die IW-Kategorie „Spaß an der Altersarbeit“ subsumieren kann.

Auf der anderen Seite ist es aber eben auch so, dass man nicht einfach die fast eine Million Rentner, die minijobbend einen Teil ihrer Zeit verbringen müssen/wollen, unter die Kategorie „Altersarmut“ subsumieren kann und und darf. Denn natürlich gibt es auch die Fälle, in denen die Menschen diese Entscheidung aus anderen als rein materiellen Gründen im engeren Sinne, also um existenzielle Bedürfnisse abdecken zu können, getroffen haben. Das gilt dann aber auch für das Argument der Arbeitgeberinstitutsseite , weil in Süddeutschland mehr minijobbende Rentner gibt als im ärmeren Osten, könne man gar nicht davon sprechen, dass Altersarmut das Hintergrundproblem sei. Denn gerade unter dem großen Durchschnittsdach „wohlhabend“ verbergen sich im Süden eben auch individuell viele Haushalte bzw. Einzelpersonen, die es schwer haben, über die Runden zu kommen. Außerdem sind sie hier auch mit einem deutlich höheren Preisniveau, man denke nur an die Wohnkosten, konfrontiert. Eine Zwangslage, die zu der Arbeit geführt hat, kann sich gerade hier auch knapp oberhalb der Inanspruchnahme der Grundsicherung entfalten.

Fazit: Beide Interpretationen haben etwas für sich, aber nicht in ihrer Eindimensionalität. Und für beide gibt es nach den wenigen bisher vorliegenden Untersuchungen Hinweise. Vielleicht sollte man hier schlichtweg wesentlich genauer hinschauen.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf diese, frustrierend daherkommende Überschrift: Mindestlohn hilft nicht gegen Kinderarmut. Dem Artikel kann man folgende Daten entnehmen:

»Die Einführung des Mindestlohns hat die Kinderarmut in Deutschland nicht erkennbar vermindert. Das lässt sich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen ablesen … Demnach lebten bei Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 noch 861.022 Kinder unter 18 Jahren in einer Aufstocker-Familie mit mindestens einem Erwerbstätigen, der zusätzlich zu seinem geringen Gehalt noch Hartz-IV-Leistungen beantragen musste. Im Januar 2016 waren es 861.539 und damit sogar geringfügig mehr.«

Es geht also a) um Aufstocker und b) um die, bei denen ein oder mehrere Kinder im Haushalt leben.

Und weiter kann man dem Artikel entnehmen, dass im Januar 2015 insgesamt 1,244 Millionen Erwerbstätige gezählt wurden, die neben ihrem Job zur Bestreitung des Lebensunterhalts Hartz IV beantragen mussten. Im Januar 2016 waren es 1,191 Millionen. Dies entspricht einem Rückgang um 4,3 Prozent. Die Zahl der Aufstocker, in deren Haushalt mindestens ein Kind lebt, ging nur um 2,1 Prozent auf 556.000 zurück.

Und die Bewertung dieses Zahlen? Die stammen aus einer Anfrage, die von der Bundestagsfraktion der Grünen an die Bundesregierung gestellt worden ist. „Es ist ein Skandal, wenn fast 900.000 Kinder, obwohl ihre Eltern arbeiten, von Hartz-IV-Leistungen abhängig und damit massiv von Armut bedroht sind“, wird Wolfgang Strengmann-Kuhn, der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, in dem Artikel zitiert. „Der Mindestlohn geht an den Familien vorbei“, argumentiert der Abgeordnete.

Auch hier werden wir wieder mit einer Instrumentalisierung von Zahlen und daraus abgeleiteten scheinbar plausiblen Schlussfolgerungen konfrontiert. Hängen bleibt beim unbefangenen Leser, „der“ Mindestlohn sei gescheitert, weil die Kinderarmut, genauer: die Zahl der in Hartz IV-empfangenden Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder, bei dessen Eltern es sich um „Aufstocker“ handelt, nicht zurückgegangen ist. Das wiederum ist eine gewagte These. Aus zwei Gründen.

Zum einen – das wurde im Vorfeld der Diskussion immer wieder gesagt – ist eine „armutsvermeidende“ Wirkung (hier im Sinne einer nicht mehr gegebenen Hartz IV-Bedürftigkeit) nur bei alleinstehenden Arbeitnehmern gegeben, wenn sie Vollzeit arbeiten (und unter Berücksichtigung der realen Kaufkraft selbst dann nicht, wenn man sich in „teuren“ Regionen befindet). Aber der gesetzliche Mindestlohn reicht selbst bei Vollzeit nicht aus für eine Existenzsicherung, wenn es Angehörige zu versorgen gibt. Das nun aber ist nicht (nur) ein Problem der Höhe des Mindestlohnes, sondern (auch) des defizitären Familienlastenausgleichs.

Zum anderen wird der unbefangene Leser des zitierten Artikels ob bewusst oder unbewusst den Eindruck bekommen haben, es geht um Leute, die als Aufstocker voll arbeiten und zu wenig verdienen. Wenn man sich nicht auskennt, liegt diese Interpretation auch nahe. Aber „die“ Aufstocker gibt es nicht. Es gibt tatsächlich Vollzeitbeschäftigte, die so wenig verdienen, dass sie noch aufstocken müssen. Aber das ist nur eine kleine Gruppe. Die große Zahle der Aufstocker sind Hartz IV-Empfänger, die sich im Minijob-Bereich Geld hinzuverdienen, also in einer geringfügigen Beschäftigung. Hier könnte der Stundenlohn auch bei 20 Euro und mehr liegen, man würde dennoch nicht aus der Hilfebedürftigkeit herauskommen.

Ich kann ja nichts dafür, die sozialpolitische Welt ist einfach sehr kompliziert und sie verträgt auch keine zu einfachen Antworten.

Schwarze sowie einige andere Haushaltshilfen

So kann man es auf den Punkt bringen: 80 Prozent aller Haushaltshilfen arbeiten illegal. Was hängen bleibt, muss nicht weiter erläutert werden. Man könnte durchaus aber auch so eine Botschaft platzieren: Die Schwarzarbeit bei Haushaltshilfen ist »trotz der weiterhin hohen Zahlen in den vergangenen zehn Jahren erheblich zurückgegangen.« Beide Aussagen sind für sich genommen richtig und beziehen sich auf eine neue Veröffentlichung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW):

Dominik Enste: Arbeitsplatz Privathaushalt. IW-Kurzberichte 45/2016, Köln 2016.

Enste hat das Sowohl-als-auch in diese Formulierung gepackt: »Die Schwarzarbeit in Privathaushalten ist in den letzten 10 Jahren um bis zu einem Viertel gesunken. Dies ist insbesondere auf den großen Anstieg der Haushaltshilfen in Minijobs (plus 270 Prozent) zurückzuführen. Dennoch arbeiten weiterhin rund drei Millionen Haushaltshilfen in Deutschland schwarz.«
Dabei ist die Zahl der Privathaushalte, die eine Haushaltshilfe beschäftigen, in den vergangenen Jahren – Enste betrachtet die zehn Jahre von 2005 bis 2015 – relativ konstant geblieben. 2005 waren das 3,86 Millionen, für 2015 werden 3,62 Millionen Haushalte ausgewiesen. Zwischen 8 und 10 Prozent aller Haushalte haben in den zurückliegenden Jahren demnach eine Haushaltshilfe beschäftigt.

»Haushaltshilfen helfen überwiegend einerseits älteren Menschen und andererseits (gutverdienenden) Familien. Haushaltshilfen – zu schätzungsweise fünf Sechstel Frauen – können dabei grundsätzlich zwischen vier verschiedenen Beschäftigungsformen wählen. Neben einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in einem Haushalt besteht die Möglichkeit, über eine Dienstleistungsagentur seiner Arbeit nachzugehen, die Arbeit im Privathaushalt als Minijob anzumelden oder sich selbstständig zu machen«, so Dominik Enste.

Und es gibt natürlich noch eine fünfte Beschäftigungsform: die Haushaltshilfen arbeiten schwarz. Und das tun 80 Prozent von ihnen, folgt man den Schätzungen des IW. Auf der Grundlage der IW-Schätzung für das Jahr 2015 ergibt sich, dass »in etwa 3,6 Millionen Haushalte eine Haushaltshilfe beschäftigt (war). In demselben Jahr lag die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Haushaltshilfen nur bei etwa 47.000 Personen. Rund 300.000 Haushaltshilfen waren bei der Minijob-Zentrale angemeldet und rund 20.000 waren offiziell selbständig tätig. Unter der Annahme, dass eine Haushaltshilfe mit angemeldetem Minijob durchschnittlich in zwei bis drei Haushalten tätig ist, arbeiten damit zwischen 2,67 und 3 Millionen Haushaltshilfen in Deutschland schwarz.«

Man kann der Abbildung aber eben auch entnehmen, dass die Zahl der schwarz beschäftigten Haushaltshilfen in den vergangenen zehn Jahren deutlich abgenommen hat, die Schätzwerte des IW sind um ein Viertel kleiner geworden. »Insbesondere ist dies auf den großen Anstieg der Haushaltshilfen in Minijobs (plus 270 Prozent) zurückzuführen.« Eine besonders bedeutsame Rolle dabei spielt das „Haushaltscheck-Verfahren“ der Minijob-Zentrale, das die Anmeldung von Haushaltshilfen als Minijobber vereinfacht. Wenn der Arbeitgeber Privathaushalt diesen Weg nutzt, dann ist die Haushaltshilfe nicht nur legal beschäftigt, sondern mit einer Anmeldung über die Minijob-Zentrale können die Arbeitgeber 20 Prozent ihrer jährlichen Kosten, bis zu 510 Euro, steuerlich geltend machen.

Trotz dieser Vorteile sind „nur“ 300.000 Minijobberinnen in Privathaushalten offiziell gemeldet – das liegt aber auch daran, dass die geringfügige Beschäftigung bei 450 Euro gedeckelt ist und nicht wenige Putzfrauen haben einen offiziellen Minijob und arbeiten in den Privathaushalten zusätzlich schwarz. Viele, die eine Haushaltshilfe auf Minijobbasis, also ganz legal einstellen wollen (oder müssen), werden das kennen – wenn, dann bekommt man nur Angebote auf der Basis „brutto für netto“, als schwarz. Der theoretisch nutzbare Minijob ist schon „vergeben“.

Interessant sind natürlich die politischen Debatten, die sich um die Präsentation dieser Zahlen entwickeln. „Der Staat sollte Schwarzarbeit tolerieren“, so ist beispielsweise ein Artikel dazu überschrieben. Von wem dieses Zitat stammt? Natürlich, von Friedrich Schneider, „Schwarzarbeit-Experte“ an der Universität von Linz.

Er »fordert … sogar, dass der Staat Schwarzarbeit im Haushaltssektor tolerieren sollte. Der Wohlstandseffekt überwiege im Vergleich zum Steuerausfall, denn insbesondere Frauen könnten durch Haushaltshilfen mehr arbeiten, was dem Staat auch in Form von Abgaben wiederum zugutekomme, betonte Schneider: „Deshalb sollte sich der Staat hier großzügig zeigen und Schwarzarbeit im Haushaltssektor tolerieren“.«

Ganz offensichtlich hat der Experte hier einen eher volkswirtschaftlichen Blick auf das Themenfeld. Und man könnte natürlich ergänzend anführen, dass doch bereits heute, wo Schwarzarbeit verboten ist und zu entsprechenden rechtlichen Konsequenzen führt (oder sagen wir korrekter: führen würde), dennoch fast drei Millionen nicht-angemeldete Haushaltshilfen unterwegs sind, wir also de facto bereits eine von Schneider geforderte Tolerierung haben. Das liegt natürlich auch an dem evidenten Kontrollproblem in privaten Haushalten.

Aber die Forderung Schneiders muss weiter verstanden werden, er will offensichtlich eine Legalisierung der Schwarzarbeit in diesem Bereich.

»Wolfgang Buschfort, Sprecher der Minijob-Zentrale, ist von dieser Idee wenig begeistert. „Wer Schwarzarbeit im Haushaltsbereich akzeptiert, müsste das dann auch im gewerblichen Bereich tun. Das wäre ein fatales Signal“, sagte er.«

Aber es ist schon ein echtes Dilemma, das auch der Sprecher der Minijob-Zentrale anspricht: Den Druck zu erhöhen und Privathaushalte strenger zu kontrollieren, sei jedoch „nicht durchsetzbar“, so wird er in dem Artikel zitiert.

Gibt es Alternativen? Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, wird mit diesem Vorschlag zitiert:

Sie fordert …, dass Minijobs in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse überführt werden müssen. „Die Beschäftigten sollten über Vermittlungsagenturen regulär angestellt sein. Auf die Weise würde der ganze Bereich transparent, und wir kämen vom Vier-Augen-Prinzip hinter verschlossenen Türen weg.

Auch Brigitte Pothmer, Arbeitsmarkt-Expertin der Grünen im Bundestag, scheint diesem Ansatz folgen zu wollen: »Speziell geförderte Dienstleistungsagenturen könnten helfen, die Arbeit in Privathaushalten von Bürokratie zu befreien und existenzsichernde Jobs zu schaffen.« Aber zugleich kennt sie die Untiefen dieses nur auf den ersten Blick überzeugenden Lösungsansatzes: »Das könne aber nur eine Antwort sein, denn haushaltsnahe Dienstleistungen seien individuelle Beschäftigungsverhältnisse, die den sehr privaten und persönlichen Bereich betreffen würden.«

So ist das, die Idee mit den Agenturen gibt es schon lange, auch entsprechende Modellversuche wurden durchgeführt. Mit sehr ernüchternden, um nicht zu sagen mehr als enttäuschenden Ergebnissen. Zum einen wollen viele Kunden nicht einer Agentur, die dann irgendwen schickt, den Zugang zur eigenen Wohnung ermöglichen. Zum anderen aber, man muss es auch ansprechen, wollen offensichtlich viele Privathaushalte nicht auf die Kostenvorteile durch die Schwarzarbeit verzichten.

Was bleibt? Eine gewisse Ratlosigkeit aus Sicht derjenigen, die sich eine Welt der legalen Beschäftigungsformen wünschen.

Mehr Hartz IV-Aufstocker trotz Mindestlohn, immer weniger Aufstocker in Berlin – ein (scheinbares) Durcheinander

Da wird der eine oder andere aber irritiert den Kopf schütteln. Was denn nun? Zum einen meldet die Berliner Zeitung: In Berlin gibt es immer weniger „Aufstocker“. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit »waren im Dezember 2014 rund 124.000 Arbeitnehmer auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Ein Jahr später, im Dezember 2015, waren es nur noch etwa 118.000.« Und gleichzeitig kann man der Rheinischen Post entnehmen: Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns. Dieser Artikel bezieht sich nicht nur auf Berlin, sondern berichtet von den Zahlen deutschlandweit und auch hier fungiert die Bundesagentur für Arbeit als Datenlieferant. »Demnach erhielten im September 2015 nach den letztverfügbaren Daten 592.215 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ergänzende staatliche Leistungen in Form von Arbeitslosengeld II. Ein Jahr zuvor, im September 2014, waren es dagegen mit 589.701 etwa 2500 Beschäftigte weniger.« Das hätten doch – eingedenk der Argumentation bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, dass man damit auch die eigene Existenzsicherung unabhängig von ergänzenden, eben aufstockenden Leistungen aus der Grundsicherung sicherstellen wolle – weniger und nicht etwas mehr werden müssen.
Entweder läuft da was schief – oder aber, man muss wieder einmal genauer auf die Zahlen schauen.

Wenn man das macht, dann zeigt sich sehr schnell, dass das scheinbare Durcheinander gar keines ist.

An den Anfang gestellt sei der Hinweis, dass die „Aufstocker“ eine durchaus heterogene Gruppe sind, denn darunter können Vollzeitbeschäftigte mit sehr niedrigen Löhnen fallen, aber auch Arbeitslosengeld II-Bezieher, die einen „kleinen“ Minijob ausüben, der sich an der Zuverdienstgrenze nach den bestehenden Einkommensanrechungsvorschriften orientiert.

Schauen wir zuerst auf die Daten aus Berlin, von wo ja ein Rückgang der Zahl der Aufstocker in der Größenordnung 5 Prozent im Zeitraum von Dezember 2014 bis Dezember 2015 berichtet wird. Und dann erfahren wir etwas genauer:

»Im selben Zeitraum zwischen 2014 und 2015 ging die Zahl der sogenannten „Minijobber“ – erwerbstätiger Hartz-IV-Empfänger mit einem Einkommen bis zu 450 Euro – um etwa 15 Prozent zurück. Gleichzeitig erzielten 17 Prozent mehr Menschen, die auch auf Sozialhilfe angewiesen sind, ein Brutto-Einkommen über 1200 Euro.«

Und von besonderer Bedeutung ist dann dieser Hinweis: »Bemerkenswert sei jedoch die Umwandlung von „Minijobs“ in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Mit der Einführung des Mindestlohns sei auch die Zahl der geringfügig Beschäftigten gesunken.«

Das ist anschlussfähig an die Erkenntnisse, die man dem Artikel Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns entnehmen kann. Hier wird mit dem Jahresvergleich September 2014 zu September 2015 gearbeitet: Die Zahl der Aufstocker sei von 589.701 auf 592.215 gestiegen – aber aufpassen, die beiden Werte beziehen sich (nur) auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Und dann kommt die Auflösung, die anschlussfähig ist an die eben nur scheinbar abweichende Meldung aus Berlin:

»Leicht rückläufig war die Aufstocker-Zahl lediglich bei den Vollzeitbeschäftigten mit sozialversicherungspflichtigen Jobs. Sie sank zwischen September 2014 und September 2015 um knapp 17.000 auf 201.078. Dagegen stieg die Zahl der teilzeitbeschäftigten Arbeitslosengeld-II-Empfänger um knapp 20.000 auf 391.120 an. Spürbar positiv wirkte der Mindestlohn lediglich auf die geringfügig Beschäftigten. Die Zahl der Mini-Jobber, die auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren, lag im September 2015 mit knapp 421.000 rund 53.000 niedriger als ein Jahr zuvor. Vor allem dieser Rückgang erklärt, warum die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker Ende 2015 insgesamt mit 1,21 Millionen um rund 50.000 unter dem Vorjahreswert gelegen hat.«

Eine Zusammenfassung mit Blick auf den Mindestlohn könnte so formuliert werden:
Der Mindestlohn wirkt bei den Aufstocken, die eine Vollzeitarbeit ausüben, denn die 8,50 Euro heben zumindest den Alleinstehenden über die Bedürftigkeitsschwelle, deren Unterschreiten aufstockende Hartz IV-Leistungen ermöglicht. Gleichzeitig steigt die Zahl der (sozialversicherungspflichtig) teilzeitbeschäftigten Aufstocker (denn bei geringer Stundenzahl wäre man selbst bei deutlich höheren Löhnen als den 8,50 Euro leistungsberechtigt, wenn man sonst keine Einnahmen hätte), das aber vor allem deshalb, weil gleichzeitig ein Teil der früheren Mini-Jobber im Aufstockungsbezug deshalb nicht mehr auftauchen, weil schlichtweg ihre bisherigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt worden sind in sozialversicherungspflichtige Teilzeit-Jobs – und deren Zahl unter den Aufstocken steigt ja auch an.

Insofern sind wir hier mit den Umwälzungsprozessen auf einem eben nicht statischen Arbeitsmarkt konfrontiert, die mit dem Mindestlohn zusammenhängen:

Ein Teil der bisherigen Minijobs ist abgebaut, ein anderer Teil ist hochgezogen worden in den Bereichen der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung (und generiert hier jetzt „neue“, letztendlich aber „alte“ Aufstockerfälle) und die Vollzeitbeschäftigten müssen wegen des Mindestlohns weniger oft aufstocken als früher, zumindest wenn sie alleinstehend sind.

Weitere systematische Aspekte kann man auch dem Beitrag Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016 entnehmen.

Die Minijobs mal wieder. Von neu erforschten alten „Defiziten“ bis hin zu unlösbaren strukturellen Problemen eines besonderen Beschäftigungsformats

Ende Juni 2015 wurden 6.732.108 gewerbliche Minijobber gezählt (und damit 190.102 weniger als im Juni 2014). Hinzu kommen 295.381 Minijobber in Privathaushalten (das waren 15.483 mehr als im Jahr zuvor). Wenn wir über „geringfügige Beschäftigung“ sprechen, dann betrifft dies also mehrere Millionen Menschen, die in diesem Beschäftigungsformat entweder ausschließlich oder aber neben einer anderen, „normalen“ Beschäftigung unterwegs sind. Entsprechend bunt ist die Zusammensetzung der Minijobber-Schar.

Über die Minijobs (oft auch als „450-Euro-Jobs“ bezeichnet) gab und gibt es immer wieder kritische Debatten. Derzeit taucht der in den Zahlen erkennbare leichte Rückgang der gewerblichen Minijobber vor allem als Argument der Gegner des zum Jahresanfang scharf gestellten gesetzlichen Mindestlohns auf – sie sehen hier einen „Beleg“ für die angeblich beschäftigungszerstörende Wirkung der allgemeinen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde. Das kann und muss man allerdings wenn nicht anders, so wenigstens deutlich differenzierter sehen (vgl. hierzu beispielsweise den Blog-Beitrag Der Mindestlohn läuft, bestimmte Arbeitnehmer dürfen sich monetär freuen und die Zahlen sprechen für sich vom 21. August 2015). Daneben gibt es seit langem eine fundamentale Infragestellung dieses eigenartigen Beschäftigungsformats, vor allem mit Blick auf die mit ihm einhergehenden Verzerrungseffekte in bestimmten „minijoblastigen“ Branchen und mit einem besonders kritischen Blick auf deren Bedeutung für die Erwerbsbiografie von Frauen, die überdurchschnittlich Minijobs ausüben und dies oftmals als ausschließlich geringfügig Beschäftigte.
Und immer wieder wird deutliche Kritik an der faktischen Ausgestaltung vieler Minijobs geübt, vor allem hinsichtlich der Nicht-Beachtung von auch für Minijobs vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen.  Dabei geht es um en Vorwurf, dass gerade Minijobbern oftmals ihnen zustehende Rechte aus dem Arbeitsverhältnis vorenthalten werden. Für diese Kritiklinie liefert eine neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit scheinbar neues (tatsächlich aber altes) Futter.

»Bei Minijobbern kommt es anders als bei anderen Beschäftigten häufiger vor, dass sie keinen bezahlten Urlaub oder keine Lohnfortzahlung bei Krankheit erhalten. Zugleich sind sie weniger gut über ihre Arbeitnehmerrechte informiert als andere Beschäftigte. Das zeigt eine Befragung von 7.500 Beschäftigten und 1.100 Betrieben durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)«, kann man der Pressemitteilung Bezahlter Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: In der Praxis besteht Nachholbedarf bei Minijobbern des Instituts entnehmen. Etwas genauer zu den Ergebnissen der Studie:

»Rund 35 Prozent der Minijobber berichten, keinen bezahlten Urlaub zu erhalten, ohne dass ein rechtlich zulässiger Grund dafür vorliegt. Von den Betrieben sagen etwa 15 Prozent ohne Angabe eines rechtlichen Grundes, dass ihre Minijobber keinen bezahlten Urlaub bekommen. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall liegen die Anteile bei rund 46 bzw. rund 21 Prozent … Etwa zwei Drittel der Minijobber wissen über ihren Anspruch auf bezahlten Urlaub oder auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Bescheid, bei den übrigen Beschäftigten sind es dagegen rund 95 Prozent … „Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat oder Tarifvertrag sind vergleichsweise gut über ihre Rechte informiert“, stellen die IAB-Forscher fest … Die Studie zeigt aber auch: Rund 50 Prozent der Betriebe, die angeben, ihren Minijobbern keinen bezahlten Urlaub zu gewähren, haben Kenntnis von der tatsächlichen Rechtslage. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fielen die Ergebnisse ähnlich aus.«

Die Studie im Original kann man hier als PDF-Datei abrufen:

Stegmaier, Jens et al. (2015): Bezahlter Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: In der Praxis besteht Nachholbedarf bei Minijobbern. IAB-Kurzbericht, 18/2015, Nürnberg.

Man sollte aber wissen: Die Studie bezieht sich auf die Situation in Betrieben mit mindestens elf Beschäftigten, das bedeutet, dass die Situation in den Kleinstbetrieben gar nicht abgebildet wird. Gerade für diesen Abschnitt dies Arbeitsmarktes muss man aber plausibel davon ausgehen, dass es erhebliche Diskrepanzen zwischen der Rechtslage und der tatsächlichen Umsetzung bei Minijobs geben wird.

Interessant ist auch die Wahrnehmung seitens des Bundesarbeitsministeriums (BMAS), das in seiner Pressemitteilung Rechten von Minijobbern Geltung verschaffen diagnostiziert: „IAB-Studie zeigt Defizite“. Das nun ist sehr höflich formuliert für die teilweise erheblichen Rechtsverstöße im Bereich der Beschäftigung der Minijobber, die in der Studie (erneut) offengelegt werden.

Doch natürlich präsentiert das BMAS auch gleich eine „Lösung“ für die Probleme, in der bekannten Form einer Delegation dieser Aufgabe an eine zuständige Stelle:

»Die Ergebnisse der IAB-Studie über das Wissen um die grundlegenden Arbeitnehmerrechte und ihre tatsächliche Durchsetzung zeigen, dass sich die Information und Beratung durch die Minijob-Zentrale noch stärker der Aufklärung und Sensibilisierung beider Seiten – Beschäftigter wie Arbeitgeber – im Bereich der Arbeitnehmerrechte widmen muss. „Minijobber haben dieselben Arbeitnehmerrechte wie alle Beschäftigten“ – auch diese Botschaft wird nun im Zentrum des Services der Minijob-Zentrale stehen.«

Die soll es also richten. Aber unabhängig von der bislang schon guten und bemühten Aufklärungsarbeit der Minijob-Zentrale ergeben sich an dieser Stelle zwei grundsätzliche Befunde.

Zum einen sind, wie bereits angedeutet, die aktuell präsentierten Befunde über „Defizite“ bei den Minijobs nicht neu, sondern sie wurden in einigen Untersuchungen vorher bereits identifiziert und reklamiert – dort dann aber oftmals verbunden mit einem sozialpolitisch besonders relevanten erweiterten Blick auf die Effekte der geringfügigen Beschäftigung, vor allem hinsichtlich der Frauen und den Auswirkungen auf deren Erwerbsbiografien, die in einem sozialen Sicherungssystem, das im Wesentlichen immer noch auf (möglichst ununterbrochener, vollzeitiger und durchschnittlich vergüteter) Erwerbsarbeit basiert, von zentraler Bedeutung sind, denn die Alternative bei Nicht-Erfüllung der Leistungsvorausstzung sind aus der Ehe abgeleitete Sicherungsansprüche und/oder der Verweis auf die bedürftigkeitsabhängige Grundsicherung.

Erwähnenswert an dieser Stelle ist die hinsichtlich dieser Fragen sehr klare Analyse von Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, herausgegeben und veröffentlicht vom Bundesfamilienministerium im Jahr 2013. Seiner Zusammenfassung der zentralen Befunde der Studie kann man beispielsweise entnehmen (vgl. Wippermann 2013: 16 ff.):

»Während für Männer ihr Minijob (weil Minijob-on-top) weitgehend risikofrei ist, ist für verheiratete Frauen ihr Minijob (meist als Minijob pur) mit erheblichen Risiken im Lebenslauf verbunden.« Und mit Blick auf die Frauen:

»Einmal Minijob pur – lange Minijob: So lautet das Fazit dieser Studie: Minijobs pur entfalten eine schnell einsetzende und hohe Klebewirkung und keine Brückenfunktion. Die Zahlen belegen: Frauen, die einmal im Minijob waren, finden nur zu einem geringen Teil den Übergang in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Je länger der Minijob währt, umso unwahrscheinlicher wird ein Wechsel in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung … Insofern wird die These empirisch bestätigt, dass Minijobs nicht als Brücke in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wirken, sondern als sehr schnell wirkender Klebstoff. Die Anreizstrukturen und das Image von Minijobs (passt zur aktuellen Lebenssituation, Maßanzug für alle, die nur wenige Stunden arbeiten wollen) verfangen und sind entscheidende Einstiegsmotive; doch im Anschluss ist die Mehrheit der Frauen im Minijob pur „gefangen“.«

Wichtig sein Hinweis auf die eben auch und gerade sozialpolitischen Anreize, die dazu führen, dass viele Frauen hier hängen bleiben:

»Denn wenn die Frauen im Minijob pur „drin“ sind, dann greifen die institutionalisierten Anreizstrukturen (beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenkasse des Partners, Befreiung von Steuern und Sozialabgaben), sodass für die Hälfte dieser Frauen der Übertritt in eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht mehr attraktiv und finanziell lohnenswert erscheint; zum anderen gelten Frauen mit zunehmender Dauer im Minijob pur nicht als qualifizierte Fachkraft, bekommen das stigmatisierende Label „Minijobberin“ und haben kaum noch Chancen auf eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.«

Und mit Blick auf die „neuen“ Ergebnisse des IAB hinsichtlich der „Defizite“, dass den Minijobbern nicht selten zustehende Rechte und Leistungen verweigert werden: Schon in der Wippermann-Studie von 2013 gab es ein eigenes Kapitel unter der Überschrift „Gewährung und Beanspruchung arbeits- und sozialrechtlicher Leistungen“ (S. 59 ff.). In einem zusammenfassenden Artikel über die Studie  (Minijobs: Sackgasse für viele Frauen) erfahren wir zu den damaligen Befunden:

»Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlte Überstunden – auf all diese Leistungen haben auch Minijobberinen einen gesetzlichen Anspruch. Vielen werden diese Rechte jedoch vorenthalten, zeigen die Befragungsergebnisse. Sehr vielen Frauen in Minijobs sind die gesetzlichen Regelungen nicht bekannt, sie werden von ihnen nicht eingefordert oder ihnen verweigert … Insgesamt bekommen 79 Prozent der Minijobberinnen im erwerbsfähigen Alter kein Urlaubsgeld. Gleiches gilt für 77 Prozent der ausschließlich geringfügig Beschäftigten. Rund die Hälfte erhält keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, gut ein Zehntel ist sich nicht sicher …  bei 60 Prozent (fallen) Überstunden an. Wer im „Minijob pur“ Überstunden macht, bekommt in rund der Hälfte der Fälle einen Freizeitausgleich. Bei 14 Prozent überweisen die Arbeitgeber eine Vergütung zusätzlich zum Gehalt, 16 Prozent schreiben die Zeit einem Stundenkonto gut. In den restlichen Fällen erhalten Minijobberinnen Überstunden gar nicht oder in bar ausgezahlt, bekommen Geschenke oder Naturalleistungen. „Hier werden die fließenden Grenzen zur Schwarzarbeit sichtbar“, kommentiert Wippermann die Befragungsergebnisse.«

Fazit: Die hoch problematischen Effekte der geringfügigen Beschäftigung vor allem auf die Erwerbsbiografien vieler Frauen sind seit langem bekannt und ein in dem Instrument systematisch angelegtes strukturelles Problem, das sich verfestigt und potenziert durch die bewusste Wechselwirkung mit anderen sozialpolitischen Regelungen wie z.B. der beitragsfreien Familienmitversicherung.

Man kann es drehen und wenden wie man will – in der bestehenden Logik wird es wenn überhaupt nur marginale Verbesserungen geben können. Deshalb fordern nicht wenige Arbeitsmarktexperten die Abschaffung dieses besonderen Beschäftigungsformats (das es übrigens im internationalen Vergleich neben Deutschland nur in Österreich und in der Schweiz in abgewandelten Formen gibt). Bereits 2012 hat sich die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebene Studie Geringfügige Beschäftigung: Situation und Gestaltungsoptionen von Werner Eichhorn et al. mit den unterschiedlichen Optionen einer Veränderung der Minijobs – innerhalb des Systems bis hin zur ihrer Abschaffung beschäftigt. Wenn man denn Veränderungen will, was man bis heute nicht voraussetzen darf, beispielsweise findet sich hinsichtlich der Minijobs im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 – nichts von Substanz. Außer diese wohlfeile Absichtserklärung: »Wir werden dafür sorgen, dass geringfügig Beschäftigte besser über ihre Rechte informiert werden. Zudem wollen wir die Übergänge aus geringfügiger in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erleichtern.« (S. 52 f.).

Vor diesem Hintergrund ist übrigens der von einigen beklagte Rückgang der Minijobs im gewerblichen Bereich (nicht bei den Privathaushalten, da steigt die Zahl weiter an) im Kontext der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns mit Beginn des Jahres 2015 nicht nur verständlich (denn der Mindestlohn gilt auch für Minijobs und das führt zu einer teilweise erheblichen Verteuerung dieser Beschäftigungsform, denn früher hat man gerade hier sehr niedrige Stundenlöhne ausreichen können, da für die Betroffenen der „Brutto gleich Netto-Effekt“ kompensierend gewirkt hat) und der Rückgang ist sogar zu begrüßen, wenn man aus dynamischer Sicht davon ausgeht, dass diese Jobs nicht wegfallen, sondern viele von ihnen werden transformiert in sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit, denn der Arbeitsbedarf verschwindet ja nicht. Aus Sicht der „normalen“ Beschäftigung (und der auf ihr basierenden sozialen Sicherungssysteme) ist das gut so.

Der Mindestlohn läuft, bestimmte Arbeitnehmer dürfen sich monetär freuen und die Zahlen sprechen für sich

Man darf und muss an ihn erinnern – der allgemeine
gesetzliche Mindestlohn, der seit dem 1, Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde und
der davor und in den Wochen danach für intensive Debatten in Deutschland
gesorgt hat. Aufgrund der überaus pessimistischen Vorhersagen zahlreicher
ökonomischer Auguren wurden gewaltige negative Auswirkungen auf den
Arbeitsmarkt in den Raum gestellt. „Job-Killer“ und andere Schmähzuschreibungen
machten die Runde. Aber schon damals gab es auch zahlreiche und gewichtige
Gegenstimmen, die darauf verwiesen, dass es sich bei den meisten „Prognosen“ um
interessengeleitete Stimmungsmache gegen das Instrument staatlicher Mindestlohn
an sich handelt und – weitaus bedeutsamer – dass viele damals hysterische
Wirtschaftswissenschaftler schlichtweg die andere Seite der Medaille vergessen
haben, dass höhere Löhne eben nicht nur höhere Kosten darstellen, sondern
gerade in dem Segment, in dem der Mindestlohn greift, also bei den unteren
Einkommensgruppen, immer auch einen hohen Nachfrageeffekt und damit beschäftigungschaffende
Wirkungen entfalten.

Nunmehr kann man der Print-Ausgabe der FAZ vom 18.08.2015
unter der Überschrift „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ lesen: »Vor allem
Geringqualifizierte bekommen nun deutlich mehr Geld. Das Gastgewerbe stellt
sogar mehr Personal ein.« So einen eindeutigen Befund kann man natürlich nur
zähneknirschend stehen lassen und deshalb schiebt man sogleich mit Sorgenfalten
gezeichneter Stirn hinterher: »Wird das so bleiben?« Trotzdem stellt man zuerst
einmal die Fakten dar: »Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro je Stunde
hat vielen Geringverdienern zu Jahresbeginn einen Lohnsprung beschert. Un- und
angelernte Arbeiter haben ihren Bruttoverdienst deutlich gesteigert, vor allem
in Ostdeutschland; in einigen Branchen legten die Löhne sogar um mehr als 10
Prozent zu. Verdienste, die schon zuvor über 8,50 Euro lagen, haben
demgegenüber kaum auf den Mindestlohn reagiert.« Und woher hat die FAZ diese
Zahlen? Von der Bundesbank, die in ihrem Monatsbericht für den August 2015 die
Befunde der vierteljährlichen Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes
aufgearbeitet hat.

Die Ausführungen der Bundesbank finden sich in dem Beitrag Konjunktur
in Deutschland
und dort im Abschnitt „Beschäftigung und Arbeitsmarkt“ auf
den Seiten 54 ff. Dort kann man nachlesen:

»Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich im Frühjahr 2015 weiter
verbessert. Die Erwerbstätigkeit und die Zahl offener Stellen sind erneut
gestiegen, die Arbeitslosigkeit hat abgenommen. Die seit dem Jahresbeginn
auffallend kräftige Verringerung der Minijobs ist im Verbund mit der
vergleichsweise starken Expansion sozialversicherungspflichtiger Stellen in
einigen eher personalintensiven Dienstleistungssektoren wohl weitgehend als
Anpassungsreaktion der Unternehmen auf das Inkrafttreten des allgemeinen
gesetzlichen Mindestlohns zu interpretieren. Abgesehen von diesem
Umwandlungseffekt erscheinen die Auswirkungen der Mindestlohneinführung auf das
gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen im aktuell günstigen Konjunkturumfeld sehr
begrenzt.«

Noch in den zurückliegenden Wochen war der erkennbare
Rückgang der Zahl der Minijobber sofort (fehl)interpretiert worden im Sinne der
vorhergesagten zerstörerischen Wirkung auf die Beschäftigung. Allerdings hatte
ich beispielsweise bereits im April dieses Jahres in einer Expertise für die
rheinland-pfälzische Landesregierung (Sell, Stefan: 100 Tage
gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und
offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
.
Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015) darauf
hingewiesen: »Hinsichtlich des für Januar 2015 ausgewiesenen
überdurchschnittlich ausgeprägten Rückgangs der Zahl der geringfügig
Beschäftigte … kann man zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls von einem
„Wegfall“ von Arbeitsplätzen sprechen. Denn wir wissen derzeit schlichtweg
nicht, ob die Stellen ersatzlos gestrichen wurden oder ob es auf der
betrieblichen Ebene nicht Substitutionsprozesse gegeben hat, beispielsweise ein
„Upgrading“ bisher auf geringfügiger Basis Beschäftigter in den Bereich der
„normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teil- oder gar Vollzeit.«
(S.3). Und weiter: »… es kann und wird in einem bislang allerdings noch nicht
bestimmbaren Umfang zu einer Verschiebung von der bisherigen geringfügigen in
den teilzeitigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbereich gekommen
sein oder aber eine Aufstockung der Arbeitszeit bei anderen in den Unternehmen
Beschäftigten bei Wegfall des Minijobs.« Vor dem Hintergrund der seit längerem
insgesamt positiven Verfasstheit des deutschen Arbeitsmarktes »kann ein Teil
der jetzt ausgewiesenen Rückgange bei den ausschließlich geringfügig
Beschäftigten auch damit zusammen hängen, dass Menschen, die bislang
unfreiwillig auf Minijobs verwiesen waren, weil sie eigentlich mehr und
„normal“ arbeiten wollen, die sich verbessernde Beschäftigungssituation nutzen,
um in „normale“, also sozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder gar
Vollzeitbeschäftigung zu wechseln und die individuelle Arbeitsmarktlage damit
deutlich zu verbessern.« (S. 4)

Die Abbildung zur Arbeitsmarktentwicklung (Quelle: Bundesbank
Monatsbericht August 2015
, S. 55) verdeutlich auf einen Blick die insgesamt
positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den zurückliegenden
Jahren. Hinsichtlich der hier interessierenden Mindestlohn-Thematik fördert die
Bundesbank aus der Statistik einige interessante Aspekte ans Tageslicht, vor
allem hinsichtlich der bereits angesprochenen Minijobs, deren Rückgang von den
Mindestlohn-Kritikern als „Beleg“ für die arbeitsplatzzerstörende Wirkung der
staatlichen Lohnuntergrenze angeführt wird. Da kommt man mit den nunmehr
vorliegenden Daten zu ganz anderen Ergebnissen, die bereits frühzeitig – siehe
das Zitat aus meiner Expertise zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Zahlen noch
nicht vorlagen – als wahrscheinliches Szenario in den Raum gestellt wurde:

»Seit dem Jahreswechsel nimmt der Umfang der
sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gerade in denjenigen
Dienstleistungsbranchen recht stark zu, in denen ein überdurchschnittlicher
Anteil des Personalbestandes geringfügig beschäftigt ist. So war im Handel, im
Gastgewerbe, bei Verkehr und Lagerei sowie im Sektor Sonstige Dienstleister der
Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung während der letzten sechs
Monate, für die Daten vorliegen und in denen Beschäftigungseffekte durch die
Mindestlohneinführung zu erwarten sind, in saisonbereinigter Rechnung mehr als
doppelt so hoch wie in vergleichbaren Perioden der letzten zwei Jahre. Zwischen
November 2014 und Mai 2015 wurden in diesen Branchen mehr als 60 000 Stellen
zusätzlich zum bisherigen Aufwärtstrend geschaffen. In diesem Zeitraum kam es in
allen Wirtschaftszweigen zusammengenommen zu einem Abbau von über 140 000
Minijobs … In den betrachteten Wirtschaftsbereichen ist … etwa die Hälfte
aller geringfügig Beschäftigten angestellt. Deshalb legen die Ergebnisse die
Schlussfolgerung nahe, dass eine Umwandlung oder Zusammenfassung in
sozialversicherungspflichtige Stellen als Reaktion auf die Einführung des allgemeinen
Mindestlohns stattgefunden hat.«

Anreize für eine solche Umwandlung sieht die Bundesbank auch
in dadurch realisierbaren Lohnnebenkosten. Das sieht dann so aus:

»Bei gleichem Brutto-Stundenlohn fallen für den Arbeitgeber
bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nur 20,7% Sozialversicherungsbeiträge
an, im Fall von Minijobbern inklusive Pauschalsteuern immerhin 30,9%. Da die geringfügig
Beschäftigten selbst allenfalls geringe Abgaben zahlen, konnten die Unternehmen
bislang für die hier höheren Abgaben zum Teil durch niedrigere Bruttolöhne
kompensiert werden. Für besonders niedrige Löhne besteht diese Möglichkeit
durch den Mindestlohn nicht mehr.«

Auf den S. 58-59 ihres Monatsberichts vertieft die
Bundesbank dann ihre Auseinandersetzung mit dem Mindestlohn in einem Exkurs: „Erste
Anhaltspunkte zur Wirkung des Mindestlohns auf den Verdienstanstieg“, dort auch
mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit einzelnen
„mindestlohnrelevanten“ Branchen.

»Die Brutto-Stundenvergütungen (ohne Sonderzahlungen) der
un- und angelernten Arbeitnehmer in Ostdeutschland stiegen im Winter 2015 mit
9,3% beziehungsweise 6,6% etwa dreimal beziehungsweise doppelt so stark wie in
den oberen beiden Leistungsgruppen … In Branchen, die überwiegend niedrig vergüten,
ist im ersten Vierteljahr 2015 gleichfalls ein auffälliger Anstieg zu
verzeichnen. Dies gilt wieder insbesondere für die Stundenverdienste von
Vollzeitbeschäftigten im östlichen Bundesgebiet. In Westdeutschland ist ein
herausgehobener Anstieg nur in einigen Branchen wie der Beherbergung, der
Textilherstellung und der Nahrungsmittelindustrie zu beobachten … In Branchen
mit geringer Tarifbindung wie der ostdeutschen Gastronomie und dem Wach- und
Sicherheitsgewerbe stiegen die Verdienste im Winterquartal 2015 mit
zweistelligen Zuwachsraten gegenüber dem Vorjahr ebenfalls sehr kräftig. Zudem
sind bereits in den Vorperioden die Tarife vergleichsweise stark angehoben
worden, was auf Vorzieheffekte des flächendeckenden Mindestlohns hindeutet. In
den sehr gering tarifgebundenen Wirtschafts- zweigen Heime und Sozialwesen kam
es im Winter 2015 ebenfalls zu einem spürbaren Verdienstschub.«

 Selbst die FAZ legt in ihrem Artikel „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ noch einen drauf:

»Vor allem das Gastgewerbe hatte vor der Einführung des
Mindestlohns vehement gewarnt, die höheren Lohnkosten würden zu einem starken
Personalabbau führen. Umso auffälliger ist aber, was der Branchenverband Dehoga
am Montag verkündete: Die Geschäfte der Gastronomen und Hoteliers seien im
ersten Halbjahr 2015 gut gelaufen, im Durchschnitt seien die Umsätze um 4,3
Prozent gestiegen. Damit nicht genug: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten im Hotel- und Gastgewerbe habe ein „Allzeithoch“ erreicht, so der
Verband.« Und weiter mit Daten der Bundesagentur für Arbeit: »Für Mai 2015 weist diese 986 600 Beschäftigte im Gastgewerbe aus. Das waren 5,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Im Osten hat sich die Zahl, trotz der besonders starken Lohnkostensteigerung, sogar um 6,1 Prozent erhöht. Eine Erklärung könnte sein, dass die Branche Minijobs in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt hat.«

Das hört sich nicht wirklich nach einem Jobkiller an.
 Vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Daten kommt die
Bundesbank zu folgendem Fazit:

»Insgesamt deuten die Ergebnisse der Vierteljährlichen
Verdiensterhebung darauf hin, dass die Einführung des Mindestlohns die Lohnstruktur
stark beeinflusst hat. Besonders betroffen waren Geringqualifizierte und
Beschäftigte in niedrig vergütenden Wirtschaftszweigen in den neuen Bundesländern
sowie vermutlich die geringfügig Beschäftigten in ganz Deutschland … Der vom
Mindestlohn in diesen Bereichen am unteren Ende der Entgeltverteilung ausgelöste
Lohnzuwachs ist so stark, dass er sich auch in den Durchschnittsvergütungen niederschlägt.«