Die Bayern mal wieder: Die Gastronomie-Branche sieht sich durch das Gesetz zum Mindestlohn besonderen Belastungen ausgesetzt. Bei einer Demonstration „gegen Bürokratismus und Dokumentationswahn“ sagt der Präsident des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, das Gastgewerbe drohe unter der Last der Bürokratie zu zerbrechen, berichtet Franz Kotteder in seinem Artikel 5000 Wirte demonstrieren gegen ausufernde Bürokratie. Und die Gastwirte sind nicht allein auf weiter Flur: Unterstützung kommt von der bayerischen Wirtschaftsministerin: Auch Ilse Aigner (CSU) schimpft auf das „Bürokratiemonster à la Nahles“, kann man dem Artikel entnehmen. Und scheinbar reihen sich die Demonstranten ein in eine Vielzahl an protestierenden Stimmen gegen das erst seit Januar 2015 in Kraft befindliche Mindestlohngesetz – mit einem auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Fokus:
„Gastfreundschaft statt Doku-Wahn“ und „Wirtsstube statt Schreibstube“ lauteten die Parolen, oder auch „Ich will jeden Sonntag arbeiten“ und „Ich will kochen statt dokumentieren“.
Aber wenn man den Artikel genauer liest, dann öffnet sich eine ganz andere Sichtweise auf den eigentlichen Gegenstand des Protestes. Denn der ist weniger bis gar nicht das Mindestlohngesetz und die damit verbundene Auflage, mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen, sondern das Arbeitszeitgesetz, wobei die Verstöße gegen dieses Gesetz in der Vergangenheit oftmals und in der Regel kaschiert werden konnten, nunmehr aber durch die Stundendokumentation der beschäftigten Arbeitnehmer offensichtlich werden, wenn es denn mal eine Kontrolle geben sollte:
»Die seit 1. Januar vorgeschriebene Lohnhöhe von 8,50 Euro ist es freilich nicht, die das bayerische Gastgewerbe stört: Es geht den Hoteliers und Wirten vielmehr um die Pflicht, die geleistete Arbeitszeit minutiös Woche für Woche aufzulisten und gleichzeitig um die Arbeitszeitgrenzen nach dem schon viel länger geltenden Arbeitszeitgesetz, das maximal zehn Stunden Arbeit pro Tag festschreibt. „Wenn ich eine Hochzeit habe“, so ein Wirt aus Freyung am Rande der Demo, „dann dauert die doch oft zwölf oder gar 14 Stunden – oder auch nicht. Ich müsste dafür also auf Verdacht neue Leute verpflichten, die nach zehn Stunden den Service übernehmen.“«
Ganz offensichtlich ist es so, dass das Mindestlohngesetz mit der aus ihm resultierenden Verpflichtung, die Arbeitszeiten der Beschäftigten zu dokumentieren, vor allem deshalb als Problem wahrgenommen wird, weil dadurch gleichsam offensichtlich wird, dass man gegen das Arbeitszeitgesetz verstößt.
In der Praxis führt dass natürlich dazu, dass man gerade bei den Arbeitszeiten tricksen muss – das aber ist eine seit langem bekannte Strategie der Umgehung von Mindestlöhnen, denn wir haben ja nicht erst seit dem 1. Januar einen Mindestlohn, sondern in mehreren Branchen bereits seit Jahren branchenbezogene Mindestlohnregelungen, beispielsweise bei den Gebäudereinigern. Und da gab es bei den schwarzen Schafen immer wieder den Versuch, die Mindestlöhne faktisch durch unbezahlte Mehrarbeit zu unterlaufen.
In diesem Zusammenhang muss man dann auch die Ausführungen von Stefan Körzell vom DGB-Bundesvorstand zur Kenntnis nehmen: »Ein großer Teil der Minijobber berichtet uns, dass getrickst wird«, so ist das Interview mit ihm überschrieben. »… da werden falsche Verträge ausgestellt – das heißt, dass bei 450-Euro-Jobs die Stundenzahl im Arbeitsvertrag steht, die zum Mindestlohn passen würde, nämlich 52,9 Stunden im Monat. Allerdings wissen wir von vielen Minijobbern, die bei uns anrufen, dass sie weit mehr arbeiten. Das kann bis auf 60 oder 70 Stunden hochgehen, um die anfallende Arbeit tatsächlich erledigen zu können.«
Auf die immer wieder von Arbeitgeberseite vorgetragene Kritik an den ausufernden Dokumentationspflichten, also der Dokumentation der Arbeitszeiten der Mitarbeiter, entgegnet der Gewerkschafter Körzell:
»Der Arbeitgeber kann die Dokumentation der Arbeitszeit dem Beschäftigten selbst überlassen. Er kann durchaus sagen: Schreib dir deine Stunden die Woche über auf! Und am Freitag zeichnet er das einmal ab. Dann kostet ihn das nicht mal eine Minute pro Tag. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum die Konzernvertreter so schreien.«
Apropos Minijobs – derzeit fokussiert die Argumentation der Kritiker des Mindestlohns und der Apologeten eines Verlustes von Arbeitsplätzen durch die gesetzliche Lohnuntergrenze auf die „Beweisführung“, man könne das schon erkennen, weil Anfang des Jahres mit dem Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes „mehr als 150.000 Minijobs vernichtet“ worden seien. Diese Argumentation wurde bereits in dem Beitrag Der Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze! Das muss so sein. Wenn eine enttäuschte Ideologie auf Wirklichkeit trifft vom 26.03.2015 auseinandergenommen.
Was unbestreitbar aber so ist: „Der Minijob ist unattraktiv geworden“, so eine Aussage und zugleich die Überschrift eines Interviews mit Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Zur Entwicklung bei den Minijobs führt er aus:
»Seit Herbst ist die Zahl der Minijobs zurückgegangen. Das hängt meines Erachtens eindeutig mit dem Mindestlohn zusammen, weil bei dem Mindestlohn funktioniert das alte Modell nicht mehr, was die Minijobs für Arbeitgeber attraktiv machte. Früher konnte der Arbeitgeber sagen, ich biete einen geringen Lohn und der Arbeitnehmer wird es schon akzeptieren, weil für den ja brutto für netto gilt, das heißt, der Arbeitnehmer muss ja keine Sozialabgaben und Steuern bezahlen. Jetzt ist es so, der Mindestlohn schreibt 8,50 Euro vor, egal ob brutto oder netto, von daher ist er jetzt unattraktiv geworden, der Minijob, und es werden weniger. Und ich glaube, das wird sich auch in Zukunft so fortsetzen, dass die Minijobs mehr und mehr austrocknen.«
Dann wird immer wieder das Beispiel der entlassenen Taxifahrer vorgetragen, um zu illustrieren, dass der Mindestlohn hier völlig fehl am Platz sei. Und solche Meldungen scheinen das dann auch zu bestätigen: »Ab Mai werden Berliner mehr Geld für Taxifahrten bezahlen müssen. Der Senat plant, die Preise um rund 14 Prozent zu erhöhen. Schuld daran ist der neu eingeführte Mindestlohn. Der Druck auf die Branche wird immer stärker. Hunderte Fahrer seien deswegen schon entlassen worden«, kann man dem Artikel Taxifahrten in Berlin sollen deutlich teurer werden von Peter Neumann entnehmen.
Hier muss man dann aber immer wieder auf die Besonderheiten der Taxibranche hinweisen, die dazu führen, dass es ein nicht einfach bis gar nicht auflösbares Dilemma in diesem Bereich gibt: Die Beschäftigung – und damit die Gültigkeit des Mindestlohns – ist zweigeteilt in einige angestellte Fahrer, die jetzt unter den Mindestlohn fallen sowie den vielen Selbständigen bzw. Scheinselbständigen, die Taxi fahren und nichtv om Mindestlohngesetz betroffen sind. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in mehreren Beiträgen analysiert und eingeordnet, vgl. beispielsweise Taxifahrer eingeklemmt zwischen dem Mindestlohn ante portas, (Schein)Selbständigkeit und einer App vom 18.04.2014 oder Die klassische Taxibranche hat es nicht leicht in Zeiten von gesetzlichem Mindestlohn und rosinenpickender Konkurrenz aus der App-Economy vom 11.06.2014. Besonders viel Stress hat der Mindestlohn der Branche deshalb gebracht, weil nicht nur mit 8,50 Euro ein deutlich höherer Stundenlohn gezahlt werden muss bei den angestellten Fahrern als bislang im Durchschnitt, sondern auch und vor allem, weil das gesamte bisherige Vergütungssystem umgekrempelt wird: Bisher hatten wir eine Umsatzbeteiligung der Fahrer (zwischen 35 bis 40% des Umsatzes) – so dass das Risiko umsatzfreier Standzeiten ein Stück weit ausgelagert war auf die Fahrer und andererseits war das natürlich auch eine „Motivation“, sich um möglichst viel Umsatz zu bemühen, was sich dann auswirkt auf die Frage, wo und wann man fährt. Aber der Mindestlohn ist eben ein Stunden- also Zeitlohn und muss für die Arbeitsstunden gewährt werden – im Grunde unabhängig von der Tatsache, ob da Umsatz generiert wird oder nicht.
Wie dem auch sei – die teilweise heftigen Preiserhöhungen werden jetzt begründet mit dem Mindestlohn, allerdings selten bis gar nicht wird darauf hingewiesen, dass natürlich auch die vielen Selbständigen von den Tariferhöhungen profitieren, obgleich für sie die Mindestlohnbestimmungen gar nicht gelten, sie können weiterhin für deutlich weniger in der Stunde fahren. Und die angestellten Fahrer sind in der Minderheit. Wir haben es hier also mit einem besonderen Strukturproblem einer Branche zu tun.
Foto: © Stefan Sell