Die Diskussionen über die Entwicklung des Arbeitsmarktes sind oftmals mit zwei Problemen behaftet: Zum einen neigen viele Beteiligte zu einseitigen Pauschalierungen über „den“ Arbeitsmarkt (die einen schwärmen dann vom deutschen „Jobwunder“ und verbreiten die „alles ist gut und wird immer besser“-Message, die anderen hingegen sehen überall die Ausbreitung von Leiharbeit, Niedriglöhnen und schlechter Arbeit). Das ist gerade mit Blick auf den hyperkomplexen Raum, in dem die vielen unterschiedlichen Arbeitsmärkte eingebettet sind, mehr als reduktionistisch. Auch wenn es schwer fällt – man muss schon genauer hinschauen und man muss akzeptieren, dass die Gleichzeitigkeit von widersprüchlichen Entwicklungslinien je nach Verhasstheit der konkreten Arbeitsmärkte ein Wesensmerkmal moderner Gesellschaften darstellt. Zum anderen aber werden die Debatten auch dadurch belastet, dass man zu sehr beobachtete Entwicklungen in der Vergangenheit für gegeben unterstellt und einfach fortschreibt, was natürlich fatal ist, wenn es am aktuellen Rand der Zeitreihe zu neuen, anderen Entwicklungen als in den vergangenen Jahren kommt, die man dann nicht oder mit größerer Zeitverzögerung wahrzunehmen beginnt. Und noch eine dritte Problemdimension muss angesprochen werden – die letztendlich nicht auflösbare Problematik der Aggregation von ganz unterschiedlichen Einzelfällen in Kategorien wie beispielsweise „die“ Langzeitarbeitslosen oder hier relevant „die“ atypisch Beschäftigten an sich.
Minijobs
Selbst schuld am Minijob-Dasein, wenn man nicht was Ordentliches gelernt hat? Ein Tweet und eine komplexe Realität, die von einigen sehr weit weg ist
Erneut werden wir Zeugen, wie man twitternd eine ziemlich große Welle auslösen kann. Diesmal ist es nicht der amerikanischen Präsident, sondern jemand, der einige Kampfgewichte leichter, aber immerhin Generalsekretär der CDU Deutschland ist. Und seine Partei hat erst diese Tage als letzte in der Riege der zur Bundestagswahl antretenden Parteien ihr Wahlprogramm der Öffentlichkeit vorgelegt: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017 – 2021, so ambitiös ist das überschrieben. Darin findet man beispielsweise diese Aussage: »Sozial ist, was Arbeit schafft. Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Wir setzen uns ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen bis spätestens 2025 Vollbeschäftigung für ganz Deutschland. In West und Ost, in Nord und Süd. Wir werden die Zahl der Arbeitslosen nochmals halbieren.« Das ist an vielen Stellen mittlerweile kommentiert worden, vgl. beispielsweise Voll mit fremden Federn von Florian Diekmann: »Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2025. Das ist nicht nur wohlfeil. Es ist dreist. Denn die Union hat beim entscheidenden Punkt bisher gebremst, nicht gefördert« – und er meint hier die Nicht-Aktivität der Union hinsichtlich einer wirklichen Bekämpfung der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland.«
„Sozial ist, was Arbeit schafft“ – so steht es im Wahl-, bzw. Regierungsprogramm der Union. Das allein wäre schon ausreichend Stoff, um über den Un-Sinn einer solchen Formulierung nachzudenken, denn es sollte eigentlich nicht wirklich schwer zu erkennen sein, dass gerade nicht jede Arbeit sozial ist.
Aber hier geht es um einen ganz besonderen Aspekt unseres Arbeitsmarktes: die Minijobs. Und um die Vorstellungen, die offensichtlich ein Spitzenpolitiker von dieser sehr deutschen Ausformung einer Teilzeit-Beschäftigung hat. Grundsätzlich muss man wissen, dass es zwei Formen der geringfügigen Beschäftigung gibt: Zum einen die ausschließlich geringfügig Beschäftigten und zum anderen die geringfügig Beschäftigten im Nebenjob, also Arbeitnehmer, die einer sozialversicherungspflichtigen Teil- oder Vollzeitbeschäftigung nachgehen und dann noch einen Minijob zusätzlich ausüben.
Man braucht keine drei Minijobs, wenn man was Ordentliches gelernt habe, so Peter Tauber. Bei ihm und sicher vielen anderen schwirrt da im Kopf herum, dass es Leute gibt, die mehrere 450-Euro-Jobs nebeneinander machen (müssen). Nun muss man an dieser Stelle zum einen klar stellen, dass es zwar durchaus die Möglichkeit gibt, mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nebeneinander auszuüben, aber dies 1.) im Grunde nur für die ausschließlich geringfügig Beschäftigten gilt* und 2.) darf die Grenze von 450 Euro insgesamt nicht überschritten werden. Man kann schlichtweg nicht mehrere eigenständige 450-Euro-Jobs parallel nebeneinander ausüben.
*Wenn man eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat und nebenbei einen oder mehrere Minijobs ausüben will, gilt die Regelung: Zwar bleibt der 450-Euro-Job abgabenfrei, den der Arbeitnehmer zuerst angenommen hat, aber alle weiteren Entgelte aus den Minijobs werden mit dem aus der Hauptbeschäftigung zusammengerechnet.
Die Abbildung zeigt auf Basis von aktuellen Daten der Minijob-Zentrale, dass im gewerblichen Bereich 97,3 Prozent der Minijobber lediglich eine geringfügige Beschäftigung ausüben, in den Privathaushalten sind es mit 88 Prozent etwas weniger. Zwei oder gar noch mehr Minijobs haben keine wirkliche Relevanz. Dann bleibt die Frage, wie es denn aussieht mit dem Vorwurf, die Leute, die geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ausüben (müssen), hätten besser „was Ordentliches“ gelernt, dann müssten sie das jetzt nicht machen.
In diesem Zusammenhang lohnt der Blick in die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag: Minijobs in Deutschland, Bundestags-Drucksache 18/7840 vom 10.03.2017. Die dort in aller Tiefe ausgewiesenen Daten beziehen sich auf den Juni 2015:
- Hinsichtlich des Anforderungsniveaus der Tätigkeiten, die Minijobber ausüben, zeigen die Daten folgenden Befund: Bei den geringfügig entlohnt Beschäftigten waren im Juni 2015 insg. 44,4 Prozent Personen mit Helfertätigkeiten. Die Anteile der Personen, die als Fachkraft, Spezialist oder Experte arbeiten, unter den Minijobbern, stellt sich folgendermaßen dar: Fachkräfte: 43,7 Prozent; Spezialisten: 4,6 Prozent; Experten: 3,6 Prozent.
- Von den Minijobbern haben 48,9 Prozent einen anerkannten Berufsabschluss, nur 19,3 Prozent haben keinen Berufsabschluss.
Der DGB hat im November 2015 diese Studie veröffentlicht: Minijobs: Sackgasse für qualifizierte Arbeitskräfte. Analyse der Qualifikationsprofile von ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten. In dieser Studie wurden die ausschließlich geringfügig Beschäftigten betrachtet und darunter die Gruppe der „im klassischen Erwerbsalter von 25-64 Jahren“ befindlichen Personen. Fast drei von vier in dieser Altersgruppe sind weiblich. Wenn wir über Minijobs reden, sprechen wir über typische Frauenjobs.
»Betrachtet man nur die bekannten Qualifikationen und setzt sie ins Verhältnis, so kommt man zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent keinen Abschluss (404.481), 71 Prozent (1.414.747) einen Berufsabschluss und weitere 9 Prozent (177.632) sogar einen akademischen Abschluss haben.« (DGB 2015: 6)
Carsten Wippermann (2012): Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin, Oktober 2012
Wippermann hat die Erfahrungen von rund 2.000 aktuellen oder ehemaligen Minijobberinnen erhoben. Ergebnis: Eine geringfügige Beschäftigung taugt in der Regel nicht als Brücke in einen regulären Job. Die Befreiung von Steuern und Sozialabgaben bis zu einem Einkommen von 450 Euro und die beitragsfreie Krankenversicherung über den Ehegatten böten sogar Anreize, auf Dauer in einem Minijob beschäftigt zu bleiben. In dem die Studie zusammenfassenden Beitrag Minijob: Sackgasse für viele Frauen werden weitere Befunde referiert:
»Minijobberinnen haben zwar in der Regel eine fundierte Berufsqualifikation … Dennoch werden sie in der Regel nicht mehr als qualifizierte Fachkraft wahrgenommen. Damit ist ihre Verhandlungsposition in späteren Einstellungsgesprächen schlechter als die vergleichbarer Bewerber – sollten sie zu den 40 Prozent gehören, die den Weg zurück in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überhaupt schaffen. Knapp zwei Drittel der Frauen, die vorher ausschließlich in einem Minijob gearbeitet haben, erhalten in ihrem neuen, sozialversicherungspflichtigen Job ein Nettoeinkommen unter 1.000 Euro. Das gilt sogar für gut 28 Prozent der Vollzeit-Beschäftigten.
Damit führe der Minijob nicht nur während der Minijob-Tätigkeit, sondern auch in seinen Spätfolgen zu einer signifikanten Zementierung der Entgeltungleichheit … Im Lebensverlauf vergrößere sich so die Entgeltdifferenz zwischen den Geschlechtern. Denn mit jedem Jahr im Minijob sinken die für die Frauen künftig möglichen Lohnsteigerungen und Entgelte.«
Wippermann ging es in seiner Studie vor allem um die Motivlage der Minijobberinnen, also warum machen die das. Als Gründe nannten die Frauen:
- Eine geringfügige Beschäftigung biete „gute Bedingungen“. 72 Prozent der Frauen im Minijob „pur“ berichteten, der Arbeitgeber habe bei der Gestaltung des Arbeitsvertrages auf ihre Wünsche geachtet. Gerade junge Mütter schätzen die Möglichkeit, nur wenige Stunden zu arbeiten.
- Mit zunehmendem Alter gewinnt ein weiterer Grund an Bedeutung: „Ich habe einen Minijob angenommen, weil ich keine bessere Alternative habe“, sagte knapp die Hälfte der 50- bis 64-Jährigen in ausschließlich geringfügiger Beschäftigung. Mit zunehmender Dauer komme also der „Realitätsschock“ … Denn Minijobberinnen gälten trotz Berufsausbildung als unqualifiziert und würden dauerhaft niedrig entlohnt – ohne Aufstiegs- und Karriereperspektive.
Man muss also durchaus differenzieren – für viele Frauen, vor allem Mütter, ist eine ausschließlich geringfügige Beschäftigung in der Eigenwahrnehmung nicht per se eine von außen aufgedrückte Unannehmlichkeit, sondern sie passt durchaus in die jeweilige Lebensphase. Das auch deshalb, weil es sich um eine subventionierte Beschäftigungsform handelt, bei der beispielsweise die beitragsfreie Familienmitversicherung in der Krankenversicherung erhalten bleibt, die natürlich von anderen Beitragszahlern quersubventioniert werden muss. Hinzu kommt der „Brutto=Netto“-Aspekt, was sich bei einer regulären Beschäftigung aufgrund der Steuerklassen und der Sozialabgabenpflicht erheblich verändert.
Zu dem hier angesprochenen Themenfeld vgl. auch Markus Krüsemann: Fehlsubventionen, von denen die Falschen profitieren vom 11.05.2017. Er weist auf zwei Gruppen hin, die von der staatlichen Subventionierung der Minijobs besonders profitieren:
»Dies sind zum einen die im Nebenjob geringfügig Beschäftigten. Sie werden gegenüber jenen Beschäftigten bessergestellt, die ihren regulären Verdienst durch (der Steuerpflicht unterworfene) bezahlte Überstunden und Mehrarbeit aufstocken. Zum anderen sind es Ehe- bzw. Lebenspartner, die neben ihre Tätigkeit als Hausfrau und -mann per Minijob das gemeinsame Einkommen aufbessern ohne damit die aus gemeinsamer Veranlagung resultierende Steuerlast zu vergrößern. Von der Subventionierung der Minijobs profitieren insbesondere Personen, die selbst oder deren Ehe- oder Lebenspartner ein hohes Einkommen generieren, und gleichzeitig ein relativ hohes Einkommen aus dem Minijob erzielen. Letztlich sind es also die Haushalte mit höherem Einkommen, für die der Minijob ein gutes Geschäft ist.«
Eine genauere Bilanzierung findet man in der 2017 veröffentlichten Studie Die fiskalischen Kosten der Minijobs von Tobias Peters.
Und vollends abstrus wird die Taubersche Argumentation, wenn man bedenkt, welche Entwicklungen wir am aktuellen Rand bei „den“ Minijobs sehen. »Nach Rückgängen im Jahr 2015 steigt die Zahl der Minijobs seit dem zweiten Quartal 2016 wieder leicht an. Diese Entwicklung hat sich im dritten Quartal 2016 fortgesetzt. Erneut ist der Boom bei den Minijobs im Nebenjob die treibende Kraft«, berichtet Markus Krüsemann. Während die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten aufgrund deren Verteuerung durchaus Bremseffekte gezeitigt hat, stellt sich die Situation bei den im Nebenjob geringfügig Beschäftigten ganz anders dar: »Ihre Zahl steigt schon seit Jahren und unbeeindruckt vom Mindestlohn an. Ende September 2016 lag das Plus im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 4,4 Prozent. Damit gab es fast 2,76 Millionen Beschäftigte mit einen zusätzlichen Minijob als Nebenjob, womit mal wieder ein neuer Höchststand markiert wurde.« Darunter sind eben auch viele Beschäftigte mit einer „ordentlichen“ Ausbildung, die sich auf diesem Weg etwas dazuverdienen (müssen).
Und selbst wenn man eine „ordentliche“ Ausbildung gemacht hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man auf der Sonnenseite des Lebens lustwandeln kann. Vgl. dazu den Beitrag Der nach Gerhard Schröder „beste Niedriglohnsektor“, der in Europa geschaffen wurde, betrifft mehr als jeden fünften Arbeitnehmer in Deutschland vom 17. Juni 2017:
2017, nach Jahren des angeblichen „Jobwunders“ in Deutschland, wird man mit so einer Meldung konfrontiert: Knapp jeder Vierte arbeitet für Niedriglohn: »Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch. So verdienen 22,5 Prozent der Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde … Zum Vergleich: Im Euroraum insgesamt kommen nur 15,9 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause und haben aber mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner: Im Euroraum beginnt der Niedriglohn erst unterhalb von 14,10 Euro.« Als Niedriglohn gilt nach einer Definition der OECD ein Verdienst, der unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Bruttostundenlohns (gemessen am Median, nicht am arithmetischen Mittel) liegt. In Frankreich arbeiten nur 8,8 Prozent der Beschäftigten für einen Niedriglohn, der dort mit nur zehn Euro etwas niedriger liegt als in Deutschland. An der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde wird auch erkennbar, dass eine Vergütung nach dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde nicht dazu führen kann, die betroffenen Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnbereich herauszuholen – er ist ja auch „nur“ eine Lohnuntergrenze.
Es erübrigt sich für diejenigen, die sich mit der Lebenswirklichkeit der Menschen auseinandersetzen, die nicht nur zu den Privilegierten gehören, darauf hinzuweisen, dass ganz viele der hier angesprochenen Arbeitnehmer über eine grundsolide Ausbildung verfügen. Sie sind aber nicht CDU-Generalsekretär.
Aus der Welt der Mindestlöhne (und ihrer angeblichen Gefahren, wenn es denn welche gibt)
Der Mindestlohn ist mal wieder Thema in der kritischen Berichterstattung.
Alleinerziehende brauchen oft ergänzende Sozialleistungen, so eine der Schlagzeilen: »Ein Vollzeitjob mit Mindestlohn reicht für viele Arbeitnehmer nicht aus, um Lebenshaltungs- und Wohnkosten zu decken. Dies gilt insbesondere für Alleinerziehende, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linken hervorgeht.« Beim aktuellen Mindestlohn von 8,84 Euro und 37,7 Stunden Arbeit pro Woche ergibt sich ein Bruttoeinkommen von 1.444 Euro. Unter Berücksichtigung von Steuern, Abgaben, Freibeträgen und Lebenshaltung bleiben einer Alleinerziehenden noch 339 Euro für die Kosten von Wohnung und Heizung. Das reicht in der Regel nicht. Bei 87 Prozent der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender mit einem Kind liegen die von den Behörden anerkannten Wohnkosten höher, wie aus der Antwort der Bundesregierung hervorgeht. Vgl. hierzu Höhe des gesetzlichen Mindestlohns und Umfang der Sonderregelungen und Übergangsvorschriften, Bundestags-Drucksache 18/11918 vom 11.04.2017. Aber das betrifft nicht nur die Alleinerziehenden.
»Selbst für Singles in Vollzeittätigkeit, die nur den Mindestlohn erhalten, ist es mitunter schwierig, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Bei einem Bruttoeinkommen von 1444 Euro bleiben ihnen 368 Euro für das Wohnen und Heizen. Bei 39 Prozent der Bedarfsgemeinschaften Alleinstehender erkennen die Behörden höhere Wohnkosten an. Flächendeckend ist dies in Hessen, Berlin und Hamburg der Fall. Auch in Düsseldorf, im Kreis Neuss, in Bonn, Köln, Münster, Darmstadt, Frankfurt/Main, Wiesbaden und Mainz liegen die Wohnkosten so hoch, dass Vollzeit arbeitende Singles mit Mindestlohn auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind.«
Und dann gibt es da ja noch die Minijobs. Eine der wenigen verbliebenen (scheinbaren) Kritikpunkte der vielen Mindestlohngegner gerade aus der Ökonomenzunft bezieht sich auf den (angeblichen) massenhaften Abbau geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse aufgrund der mit dem gesetzlichen Mindestlohn seit dem 1. Januar 2015 einhergehenden Kostenerhöhung.
Hier hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit einmal genauer hingeschaut:
Philipp vom Berge und Enzo Weber (2017): Beschäftigungsanpassung nach Mindestlohneinführung: Minijobs wurden teilweise umgewandelt, aber auch zulasten anderer Stellen. IAB-Kurzbericht 11/2017, Nürnberg 2017
Die Wissenschaftler schreiben zusammenfassend zu ihren Befunden: »Um den Jahreswechsel 2014/2015 ist die Zahl der Minijobs in Deutschland deutlich gefallen. Dieser Rückgang wurde durch verstärkte Umwandlung solcher Jobs in sozial versicherungspflichtige Beschäftigung teilweise ausgeglichen. Im Vergleich zu den Vorjahren hat sich die Zahl der umgewandelten Minijobs verdoppelt. Dabei fanden Umwandlungen vermehrt bei bestimmten Personengruppen statt: Frauen, Älteren, Ostdeutschen und Beschäftigten in mittelgroßen Betrieben. Die im Zuge der Mindestlohneinführung umgewandelten Beschäftigungsverhältnisse waren bislang nicht weniger stabil als solche in der Vergangenheit.«
Apropos Minijobs. Dazu der Beitrag Schon 2016 wieder „business as usual“ bei den Minijobs von Markus Krüsemann, der über den Horizont der IAB-Studie hinausschaut: »Das im ersten Jahr nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns beobachtete deutliche Minus bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten hat offensichtlich keine Trendwende eingeläutet. Schon 2016, im zweiten Jahr mit Lohnuntergrenze war es mit den Rückgängen vorbei. Nach den jetzt vorliegenden Zahlen der Bundesagentur für Arbeit gingen die Zahlen wie schon zur Jahresmitte auch zum Ende des dritten Quartals nur noch kaum merklich zurück … Der Bestand an Beschäftigten, die nur im Minijob arbeiten, hat sich im Jahresverlauf damit kaum verändert. Dies kann als deutliches Zeichen dafür interpretiert werden, dass der 2015 erkennbare Prozess der betriebsinternen Umwandlung von geringfügiger in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (dies betraf etwa die Hälfte der abgebauten Minijobs) längst abgeschlossen ist.« Und dann kommt ein ganz wichtiger Aspekt: »Von einer Rückkehr zum „business as usual“ kann bei den im Nebenjob geringfügig Beschäftigten erst gar keine Rede sein. Ihre Zahl steigt schon seit Jahren und unbeeindruckt vom Mindestlohn an. Ende September 2016 lag das Plus im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 4,4 Prozent. Damit gab es fast 2,76 Millionen Beschäftigte mit einen zusätzlichen Minijob als Nebenjob, womit mal wieder ein neuer Höchststand markiert wurde.«
Aber wir wollen an dieser Stelle die vielen „enttäuschten“ Ökonomen, dass es (bisher) nicht so gekommen ist mit dem vorhergesagten „Jobkiller“ Mindestlohn, nicht alleine stehen lassen. Immer wieder gibt es Versuche, eine angebliche Pathologie des Mindestlohns für Beschäftigung zu belegen. Wie schädlich sind Mindestlöhne? So hat Norbert Häring seinen Artikel im Handelsblatt überschrieben, der – wenn auch mit einem Fragezeichen versehen – den Finger auf die Wunde legt, die von der Mainstream-Ökonomie in Deutschland so gerne diagnostiziert wird (auch wenn der Patient einfach über keine Beschwerden klagt).
»Schaden Mindestlöhne der Beschäftigung im Niedriglohnsektor? Viele Studien legen nahe, dass sogar das Gegenteil der Fall sein könnte. Nun haben Forscher einen neuen Ansatz gewählt – mit Hilfe der Bewertungsplattform Yelp«, berichtet Häring. Hintergrund der neuen Studie sind die Entwicklungen in den USA: »Der kalifornische Gesetzgeber hat jüngst beschlossen, dass der Mindestlohn bis 2022 von derzeit 10 auf 15 Dollar steigen wird. Gut zwei Fünftel der Beschäftigten in dem Staat verdienen nach Medienberichten derzeit weniger als 15 Dollar die Stunde. Eine Reihe von Städten, darunter San Francisco, hat den heftig umstrittenen Mindestlohn von 15 Dollar schon vorher beschlossen.«
Vor diesem Hintergrund fällt eine Studie aus der Elite-Uni Harvard, derzufolge höhere Mindestlöhne zu deutlich mehr Restaurantschließungen führen, den Mindestlohnkritikern wie ein Geschenk des Himmels vor die Füße. Da wird dann auch sofort von einer „Schock-Studie aus Harvard“ gesprochen (so beispielsweise Tyler Durden: Harvard ‚Shock‘ Study: Each $1 Minimum Wage Hike Causes 4-10% Increase In Restaurant Failures). Die (noch) Trump-nahe Nachrichten-Website Breitbart fand ihren ganz eigenen Zugang: „Mindestlohnerhöhungen drängen Nicht-Eliten-Restaurants aus dem Geschäft“ titelte man dort (vgl. dazu auch Härings Blog-Beitrag Breitbart und Zero-Hedge begeistern sich für windige Harvard-Studie gegen den kalifornischen Mindestlohn von 15 Dollar).
Um was für eine Studie geht es hier eigentlich?
Urheber der Aufregung ist das amerikanische Ökonomenehepaar Dara Lee Luca und Michael Luca. Dara Lee arbeitet für das Institut Mathematica Policy Research, Michael lehrt an der Harvard Business School. Beide sind auf datengetriebene Politikanalyse spezialisiert. Für ihre Mindestlohnstudie kooperierten sie mit der Bewertungsplattform Yelp, berichtet Norbert Häring.
Um ihren Ansatz zu verstehen, muss man wissen, dass die US-amerikanische Debatte über Mindestlöhne stark beeinflusst wurde von David Card und Alan B. Krueger und ihren Studien sowie den Anleihen, die bei ihnen gemacht wurden:
»1994 und 2000 veröffentlichten sie Studien zur Beschäftigungsentwicklung in Fast-Food-Restaurants der benachbarten Bundesstaaten Pennsylvania und New Jersey, nachdem in New Jersey der Mindestlohn erhöht worden war. 2010 folgte eine Studie von Dube, Lester und Reich, die den gleichen Ansatz auf viele Paare von benachbarten Kreisen in verschiedenen Bundesstaaten anwandte. In allen Studien war das Ergebnis, dass ein höherer Mindestlohn nicht zu Beschäftigungsverlusten, sondern eher zu Beschäftigungsgewinnen in dieser Niedriglohnbranche führt.«
Das Ökonomenpaar Luca hat mit Blick auf die beweisführende Branche der Fast-Food-Restaurants einen anderen Ansatz gewählt. Hier ist ihr Papier im Original:
Dara Lee und Luca Michael Luca (2017): Survival of the Fittest: The Impact of the Minimum Wage on Firm Exit. Working Paper 17-088, Harvard University, 2017
Sie haben sich auf der Plattform Yelp die Bewertungen, Zugänge und Abgänge von Restaurants in der Region San Francisco angeschaut. Häring zur Methode der beiden: »Dort haben verschiedene Städte unterschiedlich hohe Mindestlöhne eingeführt. Die beiden untersuchten, ob ein höherer Mindestlohn die Wahrscheinlichkeit verändert, dass ein Restaurant schließt.«
Zu den Ergebnissen der beiden schreibt Häring:
„Die Daten deuten darauf hin, dass höhere Mindestlöhne die Marktaustrittsrate von Restaurants erhöht“, schreiben die beiden. Das treffe vor allem Restaurants mit schlechten Bewertungen, die ohnehin existenzbedroht seien. Für ein Restaurant mit mittlerer Bewertung ermitteln sie eine um 14 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit des Marktaustritts, wenn der Mindestlohn um einen Dollar pro Stunde steigt. Für Restaurants in der höchsten Bewertungskategoire (5 Sterne) ist kein Einfluss festzustellen.
Also müssen wir uns doch Sorgen machen? Sind die Arbeiten von Card und Kruger widerlegt? Häring trägt die Zweifel an der neuen Studie zusammen:
- »Zur statistischen Absicherung gibt es im Studientext die Einräumung, dass das Hauptergebnis „nur in bestimmten Spezifikationen“ statistisch signifikant sei.« Bei so einer Formulierung sollte man hellhörig werden und vorsichtig bei der Übernahme der Befunde sein. Man kann das als Hinweis lesen, dass ziemlich viel mit den Daten herumprobiert wurde, bis brauchbare Ergebnisse im Sinne der Autoren herauskamen. Ein Blick in die Studie legt nahe, dass es genau so ist: »Nur ein Ergebnis bezeichnen die Autoren selbst als „robust“, dass nämlich eine Mindestlohnerhöhung schlecht bewerteten Restaurants mehr Probleme macht als gut bewerteten. Was den Gesamteffekt auf die Marktaustrittswahrscheinlichkeit angeht, sprechen sie dagegen nur von „suggestiver Evidenz“. Das ist die unterste Kategorie der Verlässlichkeit.«
- Und dann gibt es einen weiteren, methodisch schwerwiegenden Einwand gegen die angebliche „Schock-Studie“ aus Harvard. Häring formuliert den so: »Bleibt die Frage, ob die Zahl der Restaurants und Arbeitsplätze insgesamt sinkt, oder ob die frei werdenden Lokalitäten durch neue, bessere Restaurants ersetzt werden, oder schon bestehende Restaurants mehr Leute einstellen. Diese Frage kann die Studie nicht beantworten, weil die Anzahl der Beschäftigten in den Yelp-Daten nicht enthalten ist. Der wichtigste Faktor, der in der Theorie zu steigender oder stagnierender Beschäftigung durch höhere Mindestlöhne führen kann, wird also nicht geprüft.«
Das süffisante Fazit von Norbert Häring: »Die ausgehfreudigen Kalifornier müssen nicht befürchten, ihr notorisch gesundes und fades Essen künftig selbst zubereiten zu müssen.«
Bei den Minijobs wird es besser, sagt eine Studie. Also schrittweise. Aber weiterhin viele Baustellen. Und die heikle Frage: Sollen sie bleiben?
Immer diese Minijobs. Erneut sind sie Thema in der politischen Arena. Und wieder geht es um den seit Jahren bekannten Tatbestand, dass die Menschen, die einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, vor allem diejenigen, die ausschließlich einen solchen Minijob haben, obgleich sie rechtlich den „normalen“ Beschäftigungsverhältnissen gleichgestellt sind, was beispielsweise die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall angeht oder den Anspruch auf bezahlten Urlaub, in der Praxis oftmals anders behandelt werden. In den vergangenen zwei Jahren wurden die Minijobs und ihre Entwicklung vor allem im Windschatten der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns diskutiert, denn selbstverständlich gilt der auch für Minijobber. Also rechtlich gesehen. Aber wurde nicht erst vor kurzem kritisiert, dass viele Minijobber nicht den ihnen zustehenden Mindestlohn bekommen? Millionen Minijobber werden mit illegalen Minigehältern abgespeist, so ist beispielsweise einer der Artikel überschrieben, in dem über eine Studie des WSI berichtet wurde. Es handelt sich hierbei um die Studie Mindestlohngesetz. Für viele Minijobber weiterhin nur Minilöhne, dazu auch der Artikel Unzureichende Umsetzung des Mindestlohns bei Minijobbern der beiden Studienautoren Pusch und Seifert. Eine der Hauptaussagen der Studie: Knapp die Hälfte der Minijobber haben nicht den ihnen zustehenden Mindestlohn erhalten.
Allerdings beziehen sich diese Zahlen auf einen Zeitraum bis Mitte 2015, also wenige Monate nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und speisen sich aus Umfragedaten – kritische Hinweise zu der Studie findet man in diesem Beitrag vom 31. Januar 2017: Minijobs diesseits und jenseits vom Mindestlohn sowie darüber hinaus die Frage: Muss und sollte es so bleiben mit den Minijobs?
Und nun gibt es schon wieder was zu berichten über eine neue Studie. »Laut einer Studie von 2012 war die Situation für Minijobber „teilweise erschreckend“, wie NRW-Arbeitsminister Rainer Schmeltzer festhält. Er stellte am Donnerstag in Berlin die Nachfolgestudie vor und attestiert: „Es hat sich seit 2012 einiges getan, aber es ist noch längst nicht alles gut!“«, so Christoph Kürbel in seinem Artikel Bald ein echter Job?
Und auch die neue – ebenfalls auf Befragungsdaten basierende – Studie, auf die sich der nordrhein-westfälische Arbeitsminister bezieht, macht Aussagen über den Umfang von Mindestlohnverstößen bei Minijobbern:
»Jeder zweite der 1,7 Millionen Minijobber in Nordrhein-Westfalen verdiente 2012 noch weniger als 8,50 Euro. 2016 traf das laut RWI-Leibniz-Institut nur noch auf 14,6 Prozent der geringfügig Beschäftigten zu.«
Das sind deutlich geringere Werte als die, die vor kurzem vom WSI in den Raum gestellt worden sind. Aber auch in anderen Bereichen soll es erkennbare Verbesserungen gegeben haben:
»29 Prozent der Minijobber haben 2016 eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Anspruch genommen. Die Zahl habe sich im Vergleich zu 2012 fast verdreifacht. Auch habe mittlerweile jeder zweite seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub genutzt. 2012 war das nur jeder Fünfte.«
Dann schauen wir doch mal genauer in die zitierte Studie hinein, die bereits im November 2016 dem nordrhein-westfälischen Arbeitsministerium als Auftraggeber übergeben worden ist:
RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (2017): Nachfolgestudie zur Analyse der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs) sowie den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Endbericht. Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Essen, November 2016
Die Studienergebnisse basieren auf zwei umfangreichen Befragungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Bereich der geringfügigen Beschäftigung, die im zweiten Halbjahr 2016 durchgeführt worden sind. »Datengrundlage waren die Datenbestände der DRV Rheinland und der DRV Westfalen für Juni 2016, aus denen insgesamt 25.000 geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer und 10.000 Arbeitgeber von geringfügig Beschäftigten nach dem Zufallsprinzip angeschrieben wurden. Die Befragungsergebnisse können angesichts von Vergleichen zwischen den Charakteristika der Befragten und den Charakteristika der Gesamtheit der geringfügig Beschäftigten in NRW und in der Bundesrepublik Deutschland als repräsentativ für die befragte Altersgruppe angesehen werden« (RWI 2016: 122).
Minijobs werden überwiegend von Frauen ausgeübt (ihr Anteil hat sich auf 63 Prozent erhöht). Das durchschnittliche Bildungsniveau der geringfügig Beschäftigten – sowohl hinsichtlich der beruflichen als auch der schulischen Bildung – ist nicht auffällig niedrig, mit Ausnahme eines vergleichsweise hohen Anteils von Beschäftigten ohne einen beruflichen Abschluss. Wenn Männer einen Minijob ausüben, dann meistens im Nebenjob. Anders bei den Frauen: »Im Minijob beschäftigte Frauen gehen hingegen überwiegend selber keiner weiteren Erwerbstätigkeit nach, während ihr Partner fast immer Vollzeit beschäftigt ist.«
Und wo arbeiten die? »Die meisten geringfügig Beschäftigten arbeiten im Handel, Gesundheits- und Sozialwesen und Gastgewerbe. Während sich die Männer relativ gleichmäßig auf verschiedene Branchen verteilen, arbeiten Frauen deutlich häufiger in den für Minijobs typischen Branchen wie Handel, Gesundheits- und Sozialwesen, Privathaushalte, Gastgewerbe und Reinigungsgewerbe. Die meisten im Minijob Beschäftigten haben einen schriftlichen, unbefristeten Vertrag (56,9 Prozent). Dieser Wert liegt deutlich höher als im Jahr 2012 (44,0 Prozent). Trotzdem haben immerhin noch 20,1 Prozent der Befragten lediglich einen mündlichen Vertrag« (RWI 2016: 123).
»Im Durchschnitt liegen die Stundenlöhne der geringfügig Beschäftigten bei 10,63 Euro … Die Verteilung der Stundenlöhne zeigt, dass die Lohnkategorie oberhalb des Mindestlohns (8,50-9,99 Euro) mit 41,7 Prozent besonders häufig vertreten ist, rund 25 Prozent verdienen (fast) genau den Mindestlohn.
Ein signifikanter Anteil der befragten Arbeitnehmer (14,5 Prozent) gibt an, einen Stundenlohn unter 8,50 Euro zu erhalten. Für 17,1 Prozent dieser Arbeitnehmer gibt es legale Gründe für die relativ niedrigen Löhne; insbesondere Zeitungszusteller und Minderjährige sind häufig vertreten … Zusammengefasst bedeutet dies, dass 12,0 Prozent aller geringfügig Beschäftigten einen Lohn unter 8,50 Euro erhält und es hierfür keine Ausnahme- oder Übergangsregelung gibt« (RWI 2016: 123).
Hier liegt der Verdacht eines illegalen Unterschreitens des Mindestlohns nahe, da es für diese Personen keine Ausnahme- oder Übergangsregelung gibt, die das Abweichen nach unten erklären kann. Und auch das ist nicht überraschend: »Die Mehrheit der Beschäftigten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro arbeitet in typischen Niedriglohnbranchen, die viele Minijobs anbieten, wie dem Handel, dem Gastgewerbe, dem Gesundheits- und Sozialwesen und dem Reinigungsgewerbe. Privathaushalte sind ebenfalls stark betroffen, was sowohl auf einen stärkeren Aufklärungsbedarf hindeutet« (RWI 2016: 124).
»Schmeltzer will Minijobs aber nicht abschaffen, da dieses Modell von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sehr geschätzt werde. Minijobber seien Teilzeitbeschäftigte und nicht etwa „Arbeitnehmer zweiter Klasse“. Sie hätten dieselben Rechte, wie alle anderen Beschäftigten auch.«
Minijobs diesseits und jenseits vom Mindestlohn sowie darüber hinaus die Frage: Muss und sollte es so bleiben mit den Minijobs?
Es ist ruhig geworden um den gesetzlichen Mindestlohn in den vergangenen Monaten. Seit dem 1. Januar 2015 ist er für (fast) alle in Kraft und zu Beginn dieses Jahres wurde er angehoben auf 8,84 Euro pro Stunde. Die vielen Kritiker der Lohnuntergrenze sind angesichts der nicht eingetretenen Beschäftigungskatastrophe leiser geworden und auf der anderen Seite hat das ausgelagerte Verfahren einer Anpassung des Mindestlohns in die Mindestlohnkommission für die Politik Druck rausgenommen angesichts der vielen Forderungen nach einem deutlich höheren Mindestlohn als das, was wir jetzt haben (vgl. dazu den Beitrag Der gesetzliche Mindestlohn und seine rechnerische Zähmung vom 29. Juni 2016). Nun aber schwappt das Thema wieder in den Strom der öffentlichen Aufmerksamkeit, ausgelöst von einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Thomas Öchsner hat darüber in seinem Artikel unter der Überschrift Millionen Minijobber werden mit illegalen Minigehältern abgespeist berichtet.
Diese Überschrift ist nicht unproblematisch, verleitet sie doch viele Leser nach der ersten, flüchtigen Kenntnisnahme zu dem Eindruck, dass das heute, im Januar 2017 so sei. Und er schreibt dann auch am Anfang seines Beitrags: »Viele Minijobber erhalten nicht den gesetzlichen Mindestlohn, obwohl er ihnen zusteht.« Wenn man dann aber weiterliest, erfahren wir:
»Demnach bekamen 2015 knapp die Hälfte dieser geringfügig Beschäftigten weniger als 8,50 Euro brutto die Stunde, die Arbeitgeber damals mindestens zahlen mussten … „Die Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass die Betriebe bei einem erheblichen Teil der Minijobber nicht wie gesetzlich vorgeschrieben die Löhne erhöht haben“, stellen die Studienautoren Toralf Pusch und Hartmut Seifert fest … Bei wie vielen 450-Euro-Stellen genau die Lohnuntergrenze unterlaufen wird, schreiben die Forscher nicht. Es dürfte sich aber um Millionen handeln.«
Einerseits wird auch hier der Eindruck erweckt, dass es sich um eine aktuelle Bestandsaufnahme handelt, andererseits sollte man die von Öchsner zitierte Jahreszahl – 2015 – nicht überlesen. Da lohnt doch ein Blick in das Original:
Toralf Pusch und Hartmut Seifert: Mindestlohngesetz. Für viele Minijobber weiterhin nur Minilöhne. WSI Policy Brief Nr. 9, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), Januar 2017
Für ihre Studie haben Pusch und Seifert Daten aus zwei Quellen ausgewertet: Dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) betreut wird, sowie das Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS), das beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt ist. In beiden Panels wurden im Laufe des Jahres 2015 mehrere Tausend Arbeitnehmer zu Einkommen und Arbeitszeiten befragt. Die WSI-Forscher konzentrieren sich in ihrer Auswertung auf Menschen, für die der Minijob den Haupterwerb darstellt. Branchen, in denen der gesetzliche Mindestlohn für einen Übergangszeitraum legal unterschritten werden durfte, haben sie für ihre Analyse bereits herausgerechnet.
Nun muss man zwei Dinge wissen und bei der Interpretation der Studienergebnissen berücksichtigen:
- Auch wenn SOEP und PASS wichtige und überaus hilfreiche Datensätze sind – es handelt sich um Befragungsdaten und Stichproben. Damit verbunden sind zwei methodische Aspekte: Zum einen beruhen die Angaben zu Stundenlöhnen auf den Angaben der Befragten und sind Umrechnungen von deren Angaben, was sie in einem bestimmten Zeitraum, beispielsweise im der Befragung vorgelagerten Monat verdient haben und wie viel Stunden sie gearbeitet haben. Mithin haben wir hier natürlich einen nicht auflösbaren Unschärfebereich, der sich aus den unvermeidbaren Ungenauigkeiten von Befragungsdaten ergibt. Zum anderen kann die Stichprobegröße dazu führen, dass bei bestimmten speziellen Auswertungen, bei denen viele Merkmalsträger ausgeschlossen werden müssen, sehr kleine Fallzahlen resultieren, von denen dann auf die Grundgesamtheit hochgerechnet wird.
- Hinzu kommt, dass sich die Datenerhebung in der WSI-Studie auf das Frühjahr 2015 bezieht und damit auf einen Zeitraum kurz nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Damit verbunden sind zwei methodische Fragezeichen: Man kann davon ausgehen, dass sich am Anfang gerade im Bereich der Minijobs – neutral formuliert – noch zahlreiche Übergangs- und Anpassungsschwierigkeiten bei der Überführung der Minijobs in die neue Mindestlohnwelt beobachten lassen (von denen einen Teil im weiteren Verlauf der Zeit gelöst werden), so dass sich mit Blick auf den Jahresanfang 2017 eine Übertragung der Werte von selbst verbietet.
In der Studie selbst gibt es einen kleinen Hinweis auf den zuletzt angesprochenen Mechanismus. So schreibt Öchsner in seinem Bericht über die Studie: »So verdienten im Jahresdurchschnitt 2014 etwa 60 Prozent der Minijobber weniger als 8,50 Euro die Stunde. Dieser Anteil sank zunächst auf etwa 50 Prozent. Der durchschnittliche Zeitpunkt der Befragung war dabei der März 2015. Zieht man die Umfrageergebnisse vom Juni 2015 heran, erhielten immer noch 44 Prozent der Minijobber nicht die 8,50 Euro.« Ganz offensichtlich hatten wir es schon in den wenigen Monaten bis zur Jahresmitte 2015 mit einem beweglichen Ziel zu tun und es spricht nichts dagegen, dass sich die Werte in dem weitaus längeren Zeitraum bis heute weiter nach unten angepasst haben.
Das soll nicht verstanden werden als eine Botschaft dergestalt, dass alles in Ordnung sei in diesem Bereich, dass es keine Probleme mit den Minijobs geben würde. Aber man sollte korrekterweise und im Sinne der Sache darauf verzichten, a) den Eindruck zu erwecken, dass gegenwärtig die Hälfte der Minijobber nicht den ihnen zustehenden Mindestlohn bekommen und b) dass das gesicherte Daten sind.
Diese Schwachstelle wurde dann auch sofort aufgegriffen von den fundamentalen Mindestlohnkritiker, dazu beispielsweise der Beitrag Inszenierter Minijob-Skandal von Dietrich Creutzburg: »Zumindest Mitarbeiter des Statistischen Bundesamts und der Mindestlohnkommission haben sich am Montag aber darüber gewundert – und zwar nicht nur deshalb, weil die Zahlen auf der recht wackligen Grundlage allgemeiner Haushaltsbefragungen stehen oder weil sie sich bei näherem Hinsehen nur auf das Frühjahr 2015 beziehen, also sehr kurz nach Einführung des Mindestlohns.« Das greift die auch in diesem Beitrag dargestellten kritischen Hinweise auf. Hinzu kommt:
»Vor allem weichen die Zahlen der Böckler-Stiftung stark von jenen ab, die das Statistische Bundesamt längst vorgelegt hat. Demnach waren im April 2015 bis zu 13 Prozent der Minijobber (und nicht 48,5 Prozent) zu Stundenlöhnen von unter 8,50 Euro tätig.
Die amtlichen Statistiker hatten dazu für die Mindestlohnkommission eigens eine Sondererhebung unter 6000 Betrieben mit 70.000 Beschäftigten durchgeführt. Deren im Juni 2016 veröffentlichten Ergebnisse waren bisher auch von Gewerkschaftsseite nicht bezweifelt worden.«
Er spricht hier offensichtlich den ersten Bericht der Mindestlohnkommission an, der im Juni 2016 veröffentlicht worden ist: Erster Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, so ist das Werk überschrieben. Darin findet man auch die von ihm zitierten Daten (vgl. zur Kritik an diesem Bericht, die aus dem gewerkschaftlichen Lager vorgetragen wurde, den Beitrag Der Mindestlohn und seine Kommission. Die Arbeitnehmervertreter sind sauer über „gravierende Fehldarstellungen“ im ersten Bericht der Kommission über die Auswirkungen der Lohnuntergrenze vom 7. Juli 2016).
Auch wenn es bei der Missachtung der Mindestlohnregelung (wahrscheinlich) nicht mehr ganz so schlimm aussehen mag, wie von der WSI-Studie behauptet – die eigentlich relevante und über den Mindestlohn weit hinausreichende Frage sollte hier aufgerufen werden – denn die verdient eine vertiefende Diskussion:
Ob und wie weiter mit dem Beschäftigungsformat der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die völlig zu Recht seit Jahren immer wieder grundsätzlich kritisiert werden?
Nun muss man vorweg beim Blick auf die geringfügige Beschäftigung unterscheiden zwischen den ausschließlich geringfügig Beschäftigten, die also keiner weiteren Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht die Größenordnung, um die es hier geht: Nach den Daten der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren im Juni 2016 von den 7,44 Mio. Minijobbern 4,86 Mio. ausschließlich geringfügig beschäftigt. Das waren immerhin 11,2 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Bis zum Sommer des letzten Jahres ist diese Zahl im Vergleich zu den Vorjahren gesunken – um 38.000 gegenüber dem Sommer 2015. Und im Juni 2015 wurden bereits 184.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigte gegenüber dem Jahr 2014 gezählt.
Daneben gibt es noch die Kategorie der Minijobber, die eine geringfügige Beschäftigung als Nebenjob, zusätzlich zu einer anderen Hauptbeschäftigung ausüben. Im Juni 2016 waren das mit 2,58 Mio. immerhin 8,2 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Deren Zahl ist übrigens anders als bei den geringfügig Beschäftigten in den zurückliegenden Jahren gestiegen: Um 98.000 gegenüber 2015 und auch da schon hatte es gegenüber 2014 einen Anstieg von 55.000 Nebenjobbern gegeben.
Hinsichtlich der Entwicklung der Minijobs seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gibt es interessante Neuigkeiten, auf die Markus Krüsemann in seinem Beitrag Minijobs 2016 wieder auf dem Vormarsch hinweist: Im Gefolge der Einführung der allgemeinen Lohnuntergrenze ist es zu einem Rückgang der geringfügigen Beschäftigung gekommen. Ein Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse ist verloren gegangen, etwa die Hälfte aber ist in sozialversicherungspflichtige Arbeit umgewandelt worden, so der Befund einer IAB-Studie (vgl. Arbeitsmarktspiegel. Entwicklungen nach Einführung des Mindestlohns (Ausgabe 1). IAB-Forschungsbericht 1/2016). Aber die neuen, bis Juni 2016 vorliegenden Zahlen der BA zeigen, so Krüsemann, dass es sich offensichtlich nicht um eine echte Trendwende bei den Minijobs gehandelt hat. »Die sind nämlich in den ersten Quartalen 2016 im Vergleich zu den Vorjahresquartalen wieder angestiegen.« Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt: Das erneute Wachstum bei den Minijobs geht allein auf die Zunahme von Personen zurück, die zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung eine geringfügige Beschäftigung im Nebenjob ausüben.
Das alles muss – weit über die Frage, ob sich die Entlohnung wirklich an die Mindestlohnvorgaben hält oder nicht – gesehen werden vor dem empirisch leider gesicherten Tatbestand, dass in vielen Minijobs elementare Arbeitnehmerrechte verletzt werden. Darauf wurde beispielsweise schon in dem Beitrag Die Minijobs mal wieder. Von neu erforschten alten „Defiziten“ bis hin zu unlösbaren strukturellen Problemen eines besonderen Beschäftigungsformats am 18.10.2015 hingewiesen. Dabei geht es um den Vorwurf, dass gerade Minijobbern oftmals ihnen zustehende Rechte aus dem Arbeitsverhältnis vorenthalten werden. Für diese Kritiklinie liefert eine Studie des IAB (vgl. Stegmaier, Jens et al.: Bezahlter Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: In der Praxis besteht Nachholbedarf bei Minijobbern. IAB-Kurzbericht, 18/2015, Nürnberg 2015) entsprechendes Futter:
»Rund 35 Prozent der Minijobber berichten, keinen bezahlten Urlaub zu erhalten, ohne dass ein rechtlich zulässiger Grund dafür vorliegt. Von den Betrieben sagen etwa 15 Prozent ohne Angabe eines rechtlichen Grundes, dass ihre Minijobber keinen bezahlten Urlaub bekommen. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall liegen die Anteile bei rund 46 bzw. rund 21 Prozent … Die Studie zeigt aber auch: Rund 50 Prozent der Betriebe, die angeben, ihren Minijobbern keinen bezahlten Urlaub zu gewähren, haben Kenntnis von der tatsächlichen Rechtslage. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fielen die Ergebnisse ähnlich aus.«
Und eigentlich ist das noch eine Beschönigung der Situation, denn man muss wissen: Die Studie bezieht sich auf die Situation in Betrieben mit mindestens elf Beschäftigten, das bedeutet, dass die Situation in den Kleinstbetrieben gar nicht abgebildet wird. Gerade für diesen Abschnitt dies Arbeitsmarktes muss man aber plausibel davon ausgehen, dass es erhebliche Diskrepanzen zwischen der Rechtslage und der tatsächlichen Umsetzung bei Minijobs geben wird.
Abschließend zu der bereits aufgerufenen Frage, ob und wie es weiter gehen sollte mit den Minijobs. Die Kritik an dieser eigenartigen Beschäftigungsform ist alt und entsprechende Abhandlungen füllen Schrankwände.
Bereits am 12. August 2013 wurde hier in dem Beitrag Blanke Not oder „gestiegene Konsumlust“? Vermutungen über eine Tatsache: Die Anzahl der Zweitjobs wächst weiter. Das Problem sind die Minijobs an sich darauf hingewiesen: Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die deregulierte geringfügige Beschäftigung dazu beigetragen hat, dass „gute“, weil „normale“ sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt wurde und wird in „schlechte“ Minijobs. Zu dieser wichtigen Frage hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit 2012 eine eigene Untersuchung veröffentlicht mit differenzierten, interessanten Befunden: »Hinweise auf die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs finden sich vor allem im Einzelhandel, im Gastgewerbe sowie im Gesundheits- und Sozialwesen … Indizien für die Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs gibt es vor allem für kleine Betriebe mit unter zehn Beschäftigten. In diesem kleinbetrieblichen Segment gehen also der Aufbau von Minijobs und die Reduktion der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Hand in Hand.« (Minijobs: Hinweise auf Verdrängung vor allem im Einzelhandel und Gastgewerbe).
Und immer wieder – nicht überraschend – wird darauf hingewiesen, welche desaströsen Auswirkungen die Minijobs auf die Arbeitsmarktpositionierung wie auch auf die soziale Sicherung der Frauen haben. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme von Carsten Wippermann hierzu wurde im Frühjahr 2013 seitens des Auftraggebers, des Bundesfamilienministerium, veröffentlicht, allerdings ohne die ansonsten üblichen Verlautbarungen und Werbeaktionen, was darauf hindeutet, dass man sich damals nicht besonders identifizieren wollte mit den Befunden der Studie, die hier aber besonders empfohlen sei: Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, viele Frauen bleiben in der „Geringfügigkeitsfalle“ hängen, da sie nichts anderes finden als Minijobs (man schaue sich nur die Stellengesuche des Einzelhandels an) und weil auch das deutsche Steuerrecht mit dem Institut des Ehegattensplitting und der unterschiedlichen Steuerklassen dies leider befördert. In diesem Kontext hatte sich auch die Bertelsmann-Stiftung mit einer Studie und Reformvorschlägen zu Wort gemeldet:
Werner Eichhorst, Tina Hinz, Paul Marx, Andreas Peichl, Nico Pestel, Sebastian Siegloch, Eric Thode, Verena Tobsch: Geringfügige Beschäftigung: Situation und Gestaltungsoptionen, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2012
Das Handelsblatt berichtete damals in dem Artikel Minijobs verschärfen Fachkräftemangel über diese Studie: »Ursache des Problems sei zum einen der abrupte Anstieg der Abgaben- und Steuerbelastung an der oberen Verdienstgrenze der begünstigen Minijobs. Zusätzlich werde dieser „Fehlanreiz“ oft gerade für gut ausgebildete Ehefrauen noch durch die Effekte des Ehegattensplittings bei der Einkommensteuer verschärft, so die Studie: Jeder Mehrverdienst der Partnerin führe dann über den sinkenden Splittingvorteil zu einem überproportionalen Anstieg der Steuerlast. Nach den Daten der Studie leben allein zwei Millionen der rund sieben Millionen Minijob-Beschäftigten mit einem vollzeitbeschäftigten Ehepartner zusammen. Gleichzeitig haben mehr als drei Viertel der Minijobberinnen mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung, ermittelten die Forscher.«
Welche Schlussfolgerungen wurden damals gezogen? Es wurde für eine Verbindung aus Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting plädiert: Die bestmögliche Variante aus Sicht der Studienverfasser sieht vor, das gegenwärtige Ehegattensplitting durch ein Realsplitting zu ersetzen. Die Minijobs sollten ab dem ersten Euro der Einkommensteuerpflicht unterliegen und steigende Beitragssätze zur Sozialversicherung aufweisen. Damit würde die heute bestehende Regelung für Einkommen zwischen 400 und 800 Euro auf den Bereich bis 400 Euro ausgedehnt. Das zusätzlich entstehende Steueraufkommen würde zur Absenkung des Einkommensteuertarifes verwendet.
Solche Ideen wirken über die Zeitschiene hinweg und tauchen dann später wieder auf. So hat sich aktuell der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu Wort gemeldet – und ein Reformkonzept die Minijobs betreffend vorgelegt, in dem sich einige Inhalte wiederfinden: Schwarzarbeit und Willkür: Wie Minijobber ausgenutzt werden. DGB stellt Reformkonzept vor, so der DGB am 20.01.2017: »Sie arbeiten nur vier Stunden in der Woche, müssen sich aber rund um die Uhr für einen möglichen Einsatz parat halten: Für Minijobber in der Systemgastronomie ist das ganz normaler Alltag. Auf dem Bau wird mit schwarz bezahlten „Überstunden“ getrickst, in der Gebäudereinigung mit unerreichbaren Zeitvorgaben. Damit sich das ändert, müssen die Minijobs reformiert werden.«
Bei der Bestandsaufnahme der in der Praxis beobachteten Probleme taucht auch wieder der unterm Strich nicht gezahlte Mindestlohn wieder auf, nach einem bekannten Mechanismus:
»Nicht nur in der Systemgastronomie werden die Minijobs als Flexibilisierungsinstrument missbraucht. Beispiel Gebäudereinigung: Hier ist der Anteil an geringfügig Beschäftigten besonders hoch, viele Reinigungskräfte sind Frauen. Sie stecken in der Minijob-Falle fest und arbeiten oft viele Stunden unbezahlt. „Auf dem Papier wird die maximale Stundenanzahl eingehalten“, sagt Frank Schmidt-Hullmann von der IG BAU. „In der Praxis ist das Arbeitspensum aber so hoch, dass es in der vereinbarten und bezahlten Zeit gar nicht zu schaffen ist.“ Oft werden auch Tätigkeiten wie Umziehen oder Fahrten von einem Reinigungsobjekt zum nächsten nicht bezahlt.
Unter dem Strich verdienen die Minijobber also häufig deutlich unter Mindestlohn. Oder sie arbeiten einen Teil der Stunden schwarz – ohne, dass ihnen das bewusst ist. „Das passiert auf dem Bau sehr häufig“, berichtet Schmidt-Hullmann. „Die Arbeiter werden als Minijobber angestellt, aber Vollzeit beschäftigt. Alles, was über die 450 Euro hinausgeht, bekommen sie bar auf die Hand ausgezahlt. Viele wissen gar nicht, dass das Schwarzarbeit und strafbar ist, Migranten aus Osteuropa zum Beispiel.“«
Und was schlägt der DGB nun vor? Nach den Vorstellungen des DGB sollen Minijobs vom ersten Euro an in die Sozialversicherung einbezogen werden, zum Beispiel durch eine Gleitzonenregelung, also im Grunde einer Verlängerung dessen, was wir heute schon mit den sogenannten „Midi-Jobs“ zwischen 450,01 und 850 Euro haben, nach unten. Dabei sind die Beiträge der Beschäftigten am Anfang sehr niedrig und steigen dann schrittweise an, während die anfangs höhere Belastung der Arbeitgeber langsam sinkt. Darüber hinaus solle die pauschale Besteuerung abgeschafft und sichergestellt werden, dass bei Minijobs die gleichen Arbeitsbedingungen herrschen wie bei Vollzeitjobs.
Wer das genauer nachlesen möchte, wird hier fündig: Raus aus der Armutsfalle. DGB-Reformkonzept Minijob, so ist die Publikation, aus der auch die Abbildung mit der vorgeschlagenen Gleitzonenregelung entnommen ist, überschrieben.
Neben der Einbeziehung in die Sozialversicherung vom ersten Euro an ist das zweite Kernelement des Reformvorschlags die Beendigung der pauschalen Besteuerung. Dazu erfahren wir:
»Die pauschale Besteuerung der Einkommen aus Minijobs ist Kern des Problems. Deshalb sollten die Minijobs in das allgemeine Besteuerungssystem eingegliedert werden. Zur Anpassung der Arbeitsverhältnisse sind angemessene Übergangsfristen für die bestehenden Arbeitsverhältnisse notwendig. Um die Steuerbelastung für Ehepaare wirklichkeitsnäher vorzunehmen, soll das Faktorverfahren (Steuerklasse IV/IV mit Faktor) verpflichtend gelten. Das Faktorverfahren ist bereits geltendes Recht, muss derzeit aber vom Ehepaar aktiv beantragt werden.«
Aber was ist mit bestimmten Fallkonstellationen, wo man argumentieren könnte, dass der Minijob mit seiner Herausnehme aus dem allgemeinen System der Sozialabgaben- und Steuerbelastung Sinn machen kann? Man braucht ihn schlichtweg nicht, so der DGB, ohne auf Sonderregelungen verzichten zu müssen: »Bereits heute gibt es Beitrags- und Steuerfreibeträge für ehrenamtliche und karitative Tätigkeiten. Darüber hinaus bestehen weitere Sonderregelungen beim Zuverdienst zum Studium, zur Rente oder zur Arbeitslosenmeldung. Bei diesen Sonderregelungen handelt es sich um zielgenaue Instrumente, die durch den Gesetzgeber bei Bedarf angepasst werden können. Schüler/innen könnten zum Beispiel in Form einer Taschengeldregelung weiterhin sozialabgabenfrei Einkommen in einem bestimmten Rahmen verdienen. Somit braucht es den Minijob nicht.«
Aber werden dann nicht die Menschen in der Minijobzentrale arbeitslos? Auch hierzu gibt es vom DGB einen Vorschlag: »Auch reguläre Teilzeit mit wenig Stunden kann ohne bürokratischen Aufwand angeboten werden. Hier könnte die heutige Minijobzentrale neue Aufgaben übernehmen. Als „Teilzeitzentrale“ könnte sie die Anmeldung der „kleinen Teilzeit“ übernehmen, die Einhaltung der Sozialversicherungspflicht und der Entgeltgleichheit kontrollieren, für Beschäftigung im Haushalt zuständig bleiben und zusätzlich Kleinst-Unternehmen betreuen.«
Über Details muss diskutiert werden. Aber die Stoßrichtung sollte nach allen Erfahrungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt gemacht haben mit der geringfügigen Beschäftigung, klar sein: Weg mit diesem eigenartigen Beschäftigungsformat. Auch wenn der eine oder andere (übrigens nicht nur Arbeitgeber, sondern auch viele Arbeitnehmer, die sich über einen Zweitjob notwendige Finanzmittel organisieren) erst einmal gegen einen solchen Schritt votieren wird.