Private Krankenversicherung: Auch hier träumt man von Selektivverträgen. Und hundertausende Versicherte erleben derzeit einen Albtraum

In dem Beitrag Vom „Wildwuchs“ und Qualitäts-„Wüsten“ ambulanter Leistungen in Krankenhäusern über eine „Vereinheitlichung“ der fachärztlich-ambulanten Versorgung hin zu den eigentlichen Interessen der Krankenkassen vom 02.03.2016 wurde bereits am Beispiel des neuen Krankenhausreports 2016 und den dort besonders herausgestellten ambulanten Leistungen, die in Kliniken erbracht werden, aufgezeigt, dass die Krankenkassen immer wieder versuchen, den von ihnen angestrebten Ausbruch aus dem kollektivvertraglichen Gehäuse und die Ermöglichung von Selektivverträgen über das heute schon vorhandene Ausmaß voranzutreiben und die gesundheitspolitische Diskussion in diese Richtung zu beeinflussen. Ihr strategisches Interesse daran liegt auf der Hand: Im Gegensatz zum Kollektivvertrag  schließt der einzelne Leistungserbringer beim Selektivvertrag einen Versorgungsvertrag direkt mit einer Krankenkasse ab, die dadurch natürlich ganz andere Freiheitsgrade hinsichtlich einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Vergütung und anderer Parameter der Versorgungslandschaft an die Hand bekommt. Der „Zuckerbrot und Peitsche“-Modus lässt sich in so einem System überhaupt erst anwenden, in kollektivvertraglichen Systemen sind die Steuerungsmöglichkeiten der Kassen deutlich begrenzter, teilweise gar nicht vorhanden.

Aber nicht nur die Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung haben Selektivverträge auf dem Wunschzettel, auch die Private Krankenversicherung (PKV) würde gerne wollen dürfen. Und das wäre aus der Sicht der privaten Krankenversicherungsunternehmen noch dringlicher als in der GKV, denn die PKV hat so gut wie überhaupt keine wirksamen Steuerungsinstrumente gegenüber den Leistungserbringern und einige von ihnen benutzen sie als Melkkuh im Versorgungsalltag.

Unter der Überschrift Kooperation für mehr Marktmacht berichtet die „Ärzte Zeitung“ in diesem Kontext passend: »Vier PKV-Unternehmen gründen ein Joint Venture, um sich selektivvertraglich besser aufzustellen.« Dabei handelt es sich um die Unternehmen Barmenia, Gothaer, Hallesche und Signal, die ihre Kräfte im Bereich des Leistungsmanagements und im Einkauf bündeln wollen. Dazu haben sie ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet, Arbeitstitel: „Leistungsmanagement Plus“. Schaut man sich die Positionierung dieser vier privaten Krankenversicherer im Ranking der Marktanteile an, so kann man der Abbildung entnehmen, dass sie alle zusammen auf etwas mehr als 15 Prozent Marktanteil kommen. Dieser Wert ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil er keine marktbeherrschende Stellung zur Folge hat, so dass einer kartellrechtlichen Genehmigung kaum etwas im Wege stehen wird.

Der Hintergrund für diesen Vorstoß ist das Grundproblem der viel zu geringen Größe der meisten privaten Krankenversicherer:

»Verträge mit ihnen würden bei Ärzten und Kliniken nur eine Minderheit der Patienten erfassen. Mit ihrem Gemeinschaftsunternehmen wollen Barmenia, Gothaer, Hallesche und Signal durch die Bündelung der Nachfrage für mehr Schlagkraft sorgen. Gemeinsam können sie bessere Konditionen für ihre Kunden aushandeln. Und: Über Selektivvereinbarungen könnten sie auch Vergütung und Qualität beeinflussen.«

Da sind sie also wieder, die Selektivverträge. Darüber hinaus sprechen klassische betriebswirtschaftliche Argumente für diesen Ansatz: »Die vier PKV-Unternehmen wollen wohl auch im Einkauf kooperieren, um von Skaleneffekten zu profitieren. So kann es sinnvoll sein, für Hilfsmittel wie Rollstühle oder Hörgeräte mit Anbietern Verträge zu schließen.«
Nun ist das erst einmal eine überschaubare Gruppe auf dem Markt der privaten Krankenversicherungen. »Ursprünglich wollten sie möglichst viele Anbieter ins Boot holen. Jetzt machen zunächst einmal die vier Unternehmen den Anfang, die alle als Versicherungsvereine organisiert sind.« Wobei sich das möglicherweise als Kern einer deutlich größeren Nummer herausstellen wird.

Viele Menschen, die in der PKV versichert sind, haben derzeit auch einen Traum – allerdings eher einen Albtraum. Und zwar auf der Beitragsseite, also bei dem Geld, das sie an die Versicherungen zahlen müssen. »Bis zu 130 Euro mehr müssen Privatversicherte ab April in der DKV bezahlen. Pro Monat. Der SPD-Experte Karl Lauterbach sieht das als Fanal für die gesamte Branche«, so Rainer Woratschka in seinem Artikel DKV-Beiträge steigen um bis zu 130 Euro im Monat.

»Beitragsschock für Hunderttausende von privat Versicherten: Bei der DKV, Deutschlands zweitgrößtem privaten Krankenversicherer, steigen die Tarife zum April teilweise um bis zu 130 Euro im Monat. Und ohne den Einsatz von knapp einer halben Milliarde Euro aus Rückstellungen wäre der Beitragsanstieg sogar noch höher ausgefallen. Über alle Tarife erhöhten sich die Beiträge um 7,8 Prozent … Betroffen seien 59,2 Prozent der rund 880 000 Vollversicherten. Man habe die Steigerungen auf 129,90 Euro im Monat begrenzt. Für 65-Jährige sei ein Limit von 79,90 Euro gezogen worden.«

Seitens der DKV wird vor allem auf die Aufgabenseite und dabei auf den Krankenhausbereich verwiesen. Der Anteil der Hochkostenfälle habe sich „vervielfacht“.

Die fundamentalen Faktoren, die hinter dieser Entwicklung wirken, betreffen nicht nur die DKV, sondern die ganze Branche:

  • Ihr Neugeschäft bricht ein, 
  • die Niedrigzinsphase schmälere zunehmend auch die langfristigen Geldanlagen der Versicherer 
  • und die Kostendynamik sei „nach wie vor ungebrochen“. 
  • Hinzu kommt, dass die Privatversicherten länger leben und seltener in die GKV zurückwechseln (was die Politik in den vergangenen Jahren auch bewusst erschwert bis verunmöglicht hat).
  • Hinzu kommt die Senkung des Rechnungszinses, weshalb die Versicherten mehr Geld für die Alterungsrückstellung aufbringen müssten.

Und auch vor diesem Hintergrund sollte man sich nicht in falscher Sicherheit wiegen, wenn man bei einem der anderen Unternehmen versichert ist. Dazu Rainer Woratschka in seinem Artikel:

„Wo’s bisher nicht geknallt hat, knallt es noch“, sagt der Versicherungsberater Christhart Kratzenstein vom Onlineportal Expertennetzwerk24. Bei anderen Anbietern sei die Situation „definitiv nicht besser“, für alle privat Versicherten werde es spürbar teurer.

Für die Privatversicherten wird die PKV jetzt zunehmend zu einem echten Risiko. Für alle? Nein, vor allem bezieht sich diese Aussage auf die privat Vollversicherten. Da gibt es aber noch eine andere Säule des PKV-Geschäfts. Die Beamten.

»Gut bezahlbar sei die private Absicherung nur noch für Beamte … – und das liege auch nur daran, dass ihnen der Steuerzahler über die Beihilfe einen Großteil der Kosten abnehme.«

Es wird doch schon seit Jahren immer deutlicher, dass dieses auch im internationalen Vergleich mehr als begründungsbedürftige Zwei-Klassen-System nicht nur auf den Prüfstand gehört, sondern es müsste endlich eine ordnungspolitische Bereinigung erfolgen, wie sie übrigens schon vor vielen Jahren von Ländern, die mal so ein Spaltung hatten, vorgenommen worden ist. Auch wenn an einer solchen Stelle viele Akteure natürlich Amok laufen: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, der von Jahr zu Jahr an Dramatik zunehmen wird.

Armut macht krank und Krankheit kann arm machen und beides zusammen führt oftmals in einen Teufelskreis

In diesen Tagen wurde wieder einmal gehadert mit der „Armut“. Also weniger mit dem Tatbestand der Armut von Menschen, sondern mit der Berichterstattung darüber. Auslöser war der neue Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderer Verbände. Vgl. dazu den Beitrag Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion – und von abstrusen Kommentaren vom 23.02.2016. Dabei gab es neben der üblichen Schelte an der Methodik der Messung einer relativen Einkommensarmut auch eine sachlich ausgerichtete Darstellung wichtiger Befunde neben der allgemeine Quote der Einkommensarmutsgefährdung, vor allem der Gruppen, bei denen wir eine überdurchschnittliche Betroffenheit prekärer Lebenslagen beobachten müssen. So beispielsweise in dem Übersichtsbeitrag Das sind die fünf größten Armutsrisiken von Frank Specht in der Online-Ausgabe des Handelsblatts oder in diesem Tagesschau-Beitrag.

Ein ganz besonders wichtiger Aspekt der Armutsdiskussion ist der Zusammenhang von Armut und Gesundheit. Darauf geht beispielsweise der Artikel Armut erhöht Herzinfarkt-Risiko von Susanne Werner ein. 

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Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität

Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) basiert vor allem auf den Beitragseinnahmen, abgesehen von einem Bundeszuschuss, also Steuermitteln, in Höhe von (derzeit wieder) 14 Mrd. Euro, im vergangenen Jahr waren es nur 11,5 Mrd. Euro aufgrund von Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt, mit dem pauschal versicherungsfremde Leistungen an die GKV (zum Beispiel beitragsfreie Familienversicherung von Kindern und Ehegatten oder Leistun­gen für Mutterschaft und Schwangerschaft) abgegolten werden sollen. Bis zum Jahr 2009 gab es krankenkassenindividuelle Beitragssätze, die damalige große Koalition hatte diese durch einen fundamentalen Systemwechsel mit der Einführung des Gesundheitsfonds und einem einheitlichen Bundesbeitragssatz beseitigt und zugleich die bis dato existierende paritätische Finanzierung der GKV durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber faktisch aufgehoben, da der Arbeitgeberbeitrag „eingefroren“ wurde durch die Verlagerung eines Teils der Kostenanstiege allein auf die Versichertenseite durch die Einführung einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen, die ausschließlich von den Versicherten zu finanzieren waren (vgl. dazu den Beitrag Des einen Freud, des anderen (perspektivisches) Leid. Zur Neuordnung der Finanzierung der Krankenkassen vom 2. Januar 2014).

Eine weitere Verfestigung des nunmehr asymmetrisch zuungunsten der Versicherten ausgestalteten Finanzierungssystems gab es zum 1. Januar 2015 durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG). Der paritätisch finanzierte Beitragssatz wurde auf 14,6% gesenkt, während der Arbeitgeberanteil bei 7,3% nun auch dauerhaft eingefroren wurde. Die einkommensunabhängigen pauschalen Zusatzbeiträge wurden abgeschafft, stattdessen muss der Zusatzbeitrag nun als prozentualer Anteil von den beitragspflichtigen Einnahmen erhoben werden – sehr angenehm für den Bund, denn der bis dahin vorgesehene steuerfinanzierter Sozialausgleich konnte gestrichen werden, da der „Finanzausgleich“ jetzt innerhalb der GKV und damit von den Versicherten geleistet werden muss (vg. dazu den Beitrag Die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen es alleine stemmen. Die Lastenverschiebung in der Sozialversicherung hin zu den Arbeitnehmern bekommt ein Update vom 16. Oktober 2015).

Zwischenfazit: Die Finanzierung der GKV ist in den zurückliegenden Jahren in mehrfacher Hinsicht zuungunsten der Versicherten (und der Patienten) verschoben worden:

  • Zum einen durch den beschriebenen Prozess des „Einfrierens“ des Arbeitgeberbeitrags, der mittlerweile, also seit dem GKV-FQWG, auch dauerhaft abgekoppelt ist von der Bewältigung der zukünftigen Ausgabenanstiege, denn diese Aufgabe müssen die Zusatzbeiträge leisten, die aber von den Versicherten allein zu tragen sind. Damit hat man sich vom Grundsatz der paritätischen Finanzierung endgültig verabschiedet.
  • Hinzu kommt eine weitere einseitige Belastung, in diesem Fall der Patienten unter den Versicherten – die Zuzahlungen. Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass Zuzahlungen nichts anderes bedeuten als das (teilweise) Vorenthalten einer Kostenerstattung durch die Krankenkasse. Und hier geht es nicht um Peanuts: Zuzahlungen von 3,6 Milliarden Euro sind für die Krankenkassen eine gewichtige Entlastung. Sie entspricht 0,3 Beitragssatzpunkten (vgl. dazu Belastung für Kassenpatienten). 
  • Und auch die an sich gute und richtige Idee, sogenannte „versicherungsfremde Leistungen“ der GJV über einen Bundeszuschuss und mithin aus Steuermittel zu finanzieren, ist hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung mehr als fragwürdig, denn zum einen ist die angesetzte Summe nach Ansicht vieler Kritiker viel zu niedrig und dann wurde die auch noch in den vergangenen Jahren als Steinbruch für Haushaltseinsparungen des Bundes zweckentfremdet. Das Bundesgesundheitsministerium schreibt selbst: »Seit 2012 betrug der Bundeszuschuss 14 Milliarden Euro. Zur Konsolidierung des Bundeshaushalts wurde der Bundeszuschuss 2013 auf 11,5 Milliarden Euro, 2014 auf 10,5 Milliarden und  2015 auf 11,5 Milliarden Euro vorübergehend abgesenkt. Ab 2016 beträgt der Bundeszuschuss wieder 14 Milliarden Euro und ist ab 2017 auf jährlich 14,5 Milliarden Euro festgeschrieben (Haushaltsbegleitgesetz 2014).

Und ein weiterer Punkt kommt jetzt hinzu: Die einseitige Finanzierung der vor uns liegenden Aufgabensteigerungen in der GKV nur über die Versicherten soll nun auch noch zusätzlich befeuert werden durch die Integration der Flüchtlinge in das GKV-System. So eine These ist gerade in diesen Tagen besonders begründungspflichtig. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Krankenkassen droht Milliardendefizit, so die Überschrift eines Artikels von Timot Szent-Ivanyi. Die Hauptthese des Beitrags kann so zusammengefasst werden:

»Der Bund überweist viel zu geringe Krankenkassenbeiträge für Flüchtlinge und andere Hartz-IV-Empfänger. Das so entstehende Loch müssen die gesetzlich Versicherten über höhere Zusatzbeiträge ausgleichen.«

Es wird behauptet, dass bereits in diesem Jahr eine Lücke von mehreren Hundert Millionen Euro entstehen wird, weil der Bund für Flüchtlinge und andere Hartz-IV-Empfänger viel zu geringe Krankenkassenbeiträge überweist. 2017 wird das Loch schon auf über eine Milliarde Euro anwachsen. Aber wie kann es dazu kommen? Die Argumentationskette geht so:

»Flüchtlinge werden in Bezug auf die Sozialsysteme nach einer Wartezeit von 15 Monaten normalen Arbeitnehmern gleich gestellt. Wenn sie keinen Job haben – was zunächst für die meisten Flüchtlinge gelten wird, haben sie Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Hartz-IV). Sie erhalten zudem die vollen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die Beiträge an die jeweilige Kasse zahlt der Bund. Die Höhe der vom Bund übernommenen Beiträge ist aber nicht ansatzweise kostendeckend. Derzeit zahlt der Bund für jeden Hartz-IV-Empfänger rund 90 Euro im Monat. Zwar fehlen noch verlässliche Zahlen, wie hoch die von Flüchtlingen verursachten Gesundheitskosten tatsächlich sind. Es gibt allerdings erste Erfahrungswerte aus Hamburg, die von Kosten in Höhe von 180 bis 200 Euro im Monat ausgehen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird dieser Wert für realistisch gehalten. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Flüchtlinge traumatisiert sind und eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen.«

Folgt man dieser Argumentation, dann ergibt sich eine monatliche Lücke zwischen Beitrag und tatsächlichen Kosten um die 100 Euro oder etwa 1.200 Euro im Jahr. Wenn man das hochrechnet, dann kommt man zu der bereits erwähnten eine Milliarde Euro im kommenden Jahr: »Pro Hunderttausend Flüchtlinge entsteht so in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von 120 Millionen Euro im Jahr. Geht man davon aus, dass spätestens im Verlauf des Jahres 2017 eine Million Flüchtlinge die Wartezeit von 15 Monaten überschritten haben, dann wächst das Loch auf über eine Milliarde Euro.«

Man muss an dieser Stelle kurz innehalten und sich verdeutlichen, wo das eigentliche Problem zu liegen scheint: Irgendwie hat das was mit den Beiträgen zu tun, die für Menschen, die sich im Hartz IV-System befinden, von den Jobcentern an die Krankenkassen überweisen werden.
Hierzu führt Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel aus:

»Die vom Bund überwiesenen 90 Euro sind selbst für „normale“ Hartz-IV-Empfänger nicht kostendeckend. Bis Ende 2015 zahlte der Bund für jeden Hartz-IV-Empfänger 146 Euro im Monat. Mit diesem Betrag waren allerdings auch die Familienmitglieder abgedeckt. Da das Verfahren vor allem wegen der Familienversicherung zu kompliziert war, wurde es zu Beginn des Jahres umgestellt. Seitdem zahlt der Bund für jedes einzelne Familienmitglied den abgesenkten Betrag von 90 Euro. Die Hoffnung, dass die Umstellung für die Krankenversicherung kostenneutral ist, hat sich allerdings nicht erfüllt. Nach Informationen der FR verlieren die Kassen so gegenüber der alten Regelung 120 Millionen Euro im Jahr, Tendenz steigend.«

Der entscheidende Punkt lautet: »Die Kassen müssten also auch ohne die Zuwanderung ein wachsendes Defizit verkraften. Die Flüchtlinge verschärfen die Situation noch weiter.« Ganz genau müsste man formulieren: wenn die Flüchtlinge nach der angesprochenen 15-Monats-Frist im Hartz IV-System landen und dort wie jeder andere Hartz IV-Empfänger behandelt werden. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle: Durch die ja nicht wirklich sachlogisch begründete Absenkung der Beiträge für Menschen im Grundsicherungssystem (von vormals 146 auf nur noch 90 Euro) wird den Krankenkassen Geld entzogen, weil der Bundeshaushalt sich darüber entlasten kann – insofern ein „aktiver Beitrag“ der Hartz IV-Empfänger zur „schwarzen Null“ des Bundesfinanzministers. Nur dass das jetzt den GKV-Versicherten um die Ohren fliegt.

Dieser Artikel wird kontrovers diskutiert. So heißt es beispielsweise in der „Ärzte Zeitung“: Mehrkosten für die Kassen sind unklar. Denn die tatsächlichen Kosten für die Krankenkassen hängen davon ab, in welchem Umfang eine Integration in Erwerbsarbeit (nicht) gelingt. »Unklar sind bisher zudem die tatsächlich durch Flüchtlinge in der GKV entstehenden Gesundheitskosten. Hierzu liegen nur Erfahrungswerte etwa aus Hamburg vor. Danach sollen sich die Kosten auf 180 bis 200 Euro pro Monat belaufen. Zum Vergleich: Die durchschnittlichen Leistungskosten für alle GKV-Mitglieder lagen im Jahr 2014 bei rund 300 Euro pro Monat.« Dann wären die Flüchtlinge also „billiger“.
Was aber schlussendlich auch egal ist, denn auch in diesem Artikel wird das eigentliche Grundproblem erkannt und benannt – »der zu geringe Zuschuss, den der Bund für Bezieher von Arbeitslosengeld II (ALG II) an die Kassen zahlt.«

Und Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat in seinem Beitrag Stimmen die in der FR genannten Krankenkassenbeiträge für „Hartz-IV-Empfänger“? vom 17.02.2016 zu Recht darauf hingewiesen, dass der Betrag, der den Krankenkassen seitens des Bundes „vorenthalten“ wird, sogar noch größer ist als die Summe aus der Differenz zwischen den Kosten und dem Beitrag: Er hängt sich auf an den immer wieder genannten 90 Euro (ganz genau sind es 90,36 Euro pro Monat in 2016), die für jeden erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger und seit dem 1.1.2016 auch „für jedes Familienmitglied“ an die Kassen gezahlt werden. Das aber unterschlägt, dass dies nur für Familienmitglieder im Alter von 15 Jahren und älter (genauer: für „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“) gilt. Also nicht für die fast 1,7 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren. Wenn man die ins Visier nimmt und berechnet, was eigentlich an Beiträgen hätte fließen müssen, dann kommt Schröder zu dieser doch ganz beeindruckenden Summe: »Dies entspricht einem vom Bund „nicht gezahlten Krankenversicherungsbeitrag“ in Höhe von 1,8 Milliarden Euro pro Jahr!«

Insofern ist die folgende Klarstellung gerade in der aktuell sich immer mehr aufheizenden Debatte von besonderer Bedeutung (vgl. Krankenkassen soll Millionendefizit durch Flüchtlinge drohen – Bund dementiert):

»Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), nannte es „schlicht falsch“, dass Flüchtlinge Defizite der Krankenkassen verursachen. Für Asylbewerber würden den Kassen vollständig die Gesundheitsleistungen erstattet. Für Hartz-IV-Bezieher aber überweise der Staat den Kassen viel zu wenig, was alleine im vergangenen Jahr eine Unterdeckung von etwa 6,7 Milliarden Euro verursacht habe. Diese „politisch bedingten Einnahmeausfälle“ dürften jedoch nicht den Flüchtlingen in die Schuhe geschoben werden.«

Wenn man ein Fazit schreiben muss, wie wäre es hiermit:

»Hinsichtlich der Finanzierung muss man feststellen, dass sich der Staat zum einen wieder zurückzieht, was den steuerfinanzierten Bundeszuschuss angeht, obgleich doch diese Mittel immer begründet wurden mit dem Ausgleich für gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die seitens der GKV geleistet werden, also mit „versicherungsfremden“ Leistungen. Dies zeigt einmal erneut, wie (un)sicher Finanzierungszusagen seitens des Staates sind bzw. sein können. Zum anderen wird der gesamte zukünftige Kostenanstieg strukturell auf den Schultern der Versicherten abgelegt, die sich damit dann herumschlagen müssen, wodurch die Arbeitgeberseite in Milliarden-Höhe entlastet wird.«

Dieser Passus ist meinem Beitrag Und durch ist sie … Zum Umbau der Krankenkassenfinanzierung und den damit verbundenen Weichenstellungen entnommen. Veröffentlicht am 14.06.2014!

Was kann man nun aus diesem – scheinbaren – Durcheinander schlussfolgern?

Zum einen muss es darum gehen, die haushaltspolitisch kleingerechneten Beiträge für Menschen im Hartz IV-System für die GKV korrekt zu kalkulieren und den Kassen dann auch zugänglich zu machen. Denn auch wenn das zwangsläufig höhere Bundesmittel bedeuten würde – ein Verzicht darauf würde angesichts der hier auch beschriebenen Verschiebung der Lastenverteilung einseitig auf die Versichertenseite in der GKV dazu führen müssen, dass der dadurch induzierte Finanzbedarf der Krankenkassen von den Versicherten allein über die Zusatzbeiträge zu tragen ist.

Zum anderen zeigt sich an dieser Stelle die besondere Bedeutung einer grundsätzlichen Infragestellung des Systemwechsels weg von der paritätischen Finanzierung. Bereits Ende vergangenen Jahres hat sich bei einigen innerhalb der Großen Koalition, namentlich bei den Sozialdemokraten, eine Diskussion entfaltet, diesen Systemwechsel wieder rückgängig zu machen (vgl. dazu und durchaus kritisch mit Blick auf die Rolle der SPD bei der Installierung des gegenwärtigen Systems beispielsweise den Artikel SPD will Gesundheit nun doch wieder paritätisch finanzieren, dagegen für die andere Seite, die das ablehnt, den Kommentar Verlogene Beitragsdebatte von Andreas Mihm).

„Es ist ungerecht, dass die Kassensteigerungen allein von den Arbeitnehmern getragen werden“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley am ersten Weihnachtsfeiertag. Eilig mit einer Änderung hat es Barley aber offenbar nicht. „Wir werden sehen, ob wir das noch in der Großen Koalition thematisieren – aber spätestens in unserem Wahlprogramm werden wir dieses Vorhaben für die nächste Legislaturperiode aufgreifen“«, so ein Zitat aus dem Artikel Die Kassen bitten zur Kasse.

Unabhängig von der Frage der parteipolitischen Gemengelagen: Für eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der GKV gibt es gute sozialpolitische Argumente. Aber auch sie – so entfernt ihre Realisierbarkeit angesichts der Ablehnung bei Arbeitgebern und in der Union derzeit ist – würde nicht wirklich ausreichen, die GKV-Finanzierung wetterfester zu machen: Notwendig ist insgesamt eine völlige Neuordnung der GKV-Finanzierung hin zu einer umfassenden „Bürger“- oder wie man die auch immer nennen will – „versicherung“. Aber auf dieser Baustelle ruht der Betrieb. Was sich bitter rächen wird.