Diesseits und jenseits des „Muttertages“. Von glücklichen Müttern und armen Kindern

Seien wir ehrlich – viele Menschen werden versucht sein, den heutigen „Muttertag“ als ein Hochamt zugunsten der notleidenden Blumenhändler zu charakterisieren bzw. abzuwerten. Und es fehlt natürlich auch nicht an kritischen Einwürfen, die in ihrer Extremvariante auf eine Instrumentalisierung dieses „Feiertages“ im Nationalsozialismus meinen hinweisen zu müssen bzw. zumindest darauf aufmerksam machen, dass es scheinheilig sei, an einem Tag des Jahres die Mütter mit ihrem Tun vor allem im Bereich der unbezahlten Arbeit in den Familien zu würdigen und an den Verhältnissen ansonsten nichts zu ändern. Aber so einfach ist es eben nicht, wenn man einen kurzen Moment innehält und zurückblickt in die Entstehungsgeschichte dessen, was heute mehr oder weniger gelungen in vielen Familien inszeniert wird – zugleich wieder einmal ein Lehrbuchbeispiel, was im Laufe der Zeit aus einer ursprünglichen Absicht so werden kann.

Der Muttertag hat seinen Ursprung nicht in den Untiefen der nationalsozialistischen Mutterideologie und auch nicht in den Blumenläden auf der Suche nach neuen Absatzkanälen – sondern in der amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis (1832-1905) versuchte im Jahr 1865, eine Mütterbewegung namens Mothers Friendships Day zu gründen und sie organisierte Mothers Day Meetings, wo sich die Frauen austauschen konnten. Als Begründerin des heutigen Muttertags gilt jedoch Anna Marie Jarvis (1864-1948), die Tochter von Ann Maria Reeves Jarvis. In ihrem 2008 veröffentlichten Beitrag Die Muttertagsmaschinerie schreibt Sandra Kegel zu dieser Frau (und ihrer Mutter):

»Begonnen hat alles mit dem Einsatz der unverheirateten und kinderlosen Lehrerin, die im Hause ihrer Eltern lebt, für die Rechte der Frauen, die ihrer Ansicht nach unterdrückt werden, etwa, weil sie nicht wählen dürfen. Unterstützt wird Anna Jarvis von ihrer Mutter Ann, die ebenfalls politisch aktiv ist und im Jahr 1858 die Vereinigung „Mother’s Work Days“ gründet, um gegen hohe Kindersterblichkeit und für bessere sanitäre Anlagen zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisiert sie Geschlechtsgenossinnen und kümmert sich mit ihnen um die Verwundeten auf beiden Seiten sowie um die Annäherung der verfeindeten Lager.«

Frauen- und Friedensbewegung. Das sind also die Quellen dessen, was wir heute als „Muttertag“ besprechen. Und wichtig in diesem Entstehungskontext: »Was ihr vorschwebt, ist nicht die Würdigung eines Mutterbilds von edler Einfalt, stiller Größe und nimmermüder Opferbereitschaft. Der Tochter eines Methodistenpfarrers ist es um die soziale und politische Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu tun«, so Kegel in ihrem Artikel. Aus diesem Impuls entwickelte sich eine Bewegung, die dazu geführt hat, dass 1914 der „Muttertag“ erstmals als offizieller Feiertag in den USA begangen werden konnte. Und jetzt passierte, was man in vielen anderen Beispielfällen auch immer wieder erleben muss – das kapitalistische System zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Kapazität der „Landnahme“ solcher Dinge, die ursprünglich eine ganz andere Intention verfolgen wollten als denn die Steigerung der Absatzzahlen irgendwelcher „Merchandising“-Produkte in diesem Fall rund um einen Feiertag. Aber die Kommerzialisierung des „Muttertages“ war unaufhaltsam – und sie bzw. die kommerziellen Potenziale waren der Auslöser für die Übernahme in Deutschland.

Der eine oder die andere meint, das sei jetzt wieder eine dieser kritischen Übertreibungen? Also gut, schauen wir genauer hin, wie das in Deutschland gelaufen ist:

Sandra Kegel klärt uns auf: »In Deutschland ist es ein gewisser Rudolf Knauer, der 1922, als er aus Amerika von der Idee erfährt, begeistert mit Vortragsreisen durchs Land zieht und für eine solche Feier zu Ehren „der stillen Heldinnen unseres Volkes“ wirbt. Knauer aber handelt nicht als treusorgender Ehemann und Sohn, sondern als Beauftragter des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber, dessen Vorsitzender er 1923 wird – in jenem Jahr also, in dem die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.« Da sind sie also schon, die Blumenhändler. Und die haben damals ein veritables Fallbeispiel für höchst modern daherkommende PR-Arbeit geliefert:

»Knauer wendet für seine Blumenoffensive geschickt eine PR-Strategie an, die man heute social marketing nennen würde: In der Verbandszeitung fordert er die Blumenhändler auf, „irgendeine gemeinnützige Gesellschaft“ als „neutrale Stelle“ zu finden, um den Muttertag aus Amerika zu importieren: „Ein zu starkes Hervortreten der Blumengeschäftsinhaber in Deutschland wäre einer baldigen Einführung nicht zum Vorteil“, warnt der Blumenlobbyist. Die „neutrale Stelle“ ist im Jahr 1925 gefunden: Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ – ein Dachverband konservativ bis völkisch orientierter Vereine, in dem sich Alkoholgegner ebenso organisieren wie der Reichsbund der Kinderreichen, die kirchlichen Frauenverbände und Sittlichkeitsvereine „zur Bekämpfung von Schmutz und Schund“ – nimmt das Ansinnen Rudolf Knauers nur zu gern auf. Denn dieses Umfeld sieht die Mutterschaft als wahre Berufung der Frau und geißelt weibliche Berufstätigkeit, genauso wie die immer populärer werdende Emanzipationsbewegung.«

Man ahnt schon, was jetzt kommen muss: Bereits 1933 wurde der Muttertag von den Nationalsozialisten zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ verankert. Anfang der fünfziger Jahre wird der Muttertag wiederbelebt, allerdings nur in der Bundesrepublik; die DDR, wo er als westlich-reaktionär verschrien ist, ersetzt ihn durch den „Internationalen Frauentag“ am 8. März. Und schon ist alles wohlbeordnet in den ideologischen Welten einsortiert.

Eine immer wieder vorgetragene Kritik am Muttertag bezieht sich auf die dadurch – ob bewusst oder unbewusst – transportierte Stabilisierung der unentgeltlichen Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit  im Sinne einer asymmetrischen Verteilung zwischen den Geschlechtern. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in dem Blog-Beitrag Vom (eigentlich frauenbewegten) „Muttertag“ diesseits und jenseits des Blumenhandels bis hin zu einem (vergifteten) Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit aufgegriffen und beleuchtet.

In diesem Jahr soll es um zwei etwas anders gelagerte Aspekte gehen, die anschlussfähig sind an den „Mutter“-Begriff: Zum einen die Frage, ob denn „die“ Mütter in Deutschland glücklich sind und zum anderen die Tatsache, dass bei allen Unterschieden Mütter eines gemeinsam haben: Sie haben Kinder. Und ein Teil ihrer Kinder wird sozialpolitisch hoch relevant in diesen Tagen erneut thematisiert unter dem Dach der „Kinderarmut“ und der ungleichen Chancen zwischen den Kindern in unserer Gesellschaft.

Aber fangen wir mit dem „Glück“ an. Wobei das zugegebenermaßen noch schwieriger daherkommt als die Bestimmung von „Armut“, über die bekanntlich gerade derzeit wieder einmal heftig gestritten wird.
Norwegen ist das beste Land für Mütter – Deutschland auf Platz acht. So eine der Überschriften von Artikeln, in denen über eine neue Studie berichtet wird. Das Ranking ist das Ergebnis der diesjährigen internationalen Vergleichsstudie, die die Kinderschutzorganisation Save the Children in New York veröffentlicht hat. Für ihren 16. jährlichen Mütter-Index untersuchte die Hilfsorganisation 179 Länder. Deutschland gehört demnach zu den Top Ten und belegt Platz acht. Also dürfen wir uns freuen. Bevor man jetzt aber eine Falsche aufmacht, werfen wir noch einen Blick auf die Kriterien, mit denen die Organisation versucht zu messen, was „glückliche Mütter“ ausmacht. Dafür verwendet Save the Children fünf Kriterien:

Müttersterblichkeit, die Sterblichkeit bei unter fünfjährigen Kindern, die durchschnittliche Dauer der Ausbildung, Pro-Kopf-Einkommen und die Beteiligung von Frauen an der Regierung.

Nicht nur der eine oder andere Leser wird an dieser Stelle skeptisch den Blick auf den Aussagegehalt solcher Kriterien für den Glückszustand der Mütter richten. Ohne das hier wirklich vertiefen zu können: Bereits eine Annäherung an den Glücksbegriff auf Wikipedia-Nievau muss zahlreiche Fragezeichen generieren:

»Das Wort „Glück“ kommt von mittelniederdeutsch gelucke/lucke (ab 12. Jahrhundert) bzw. mittelhochdeutsch gelücke/lücke. Es bedeutete „Art, wie etwas endet/gut ausgeht“. Glück war demnach der günstige Ausgang eines Ereignisses. Voraussetzung für den „Beglückten“ waren weder ein bestimmtes Talent noch auch nur eigenes Zutun. Dagegen behauptet der Volksmund eine mindestens anteilige Verantwortung des Einzelnen für die Erlangung von Lebensglück in dem Ausspruch: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Die Fähigkeit zum Glücklichsein hängt in diesem Sinne außer von äußeren Umständen auch von individuellen Einstellungen und von der Selbstbejahung in einer gegebenen Situation ab.«

Wer es hier wissenschaftlich fundierter braucht, dem seien nur beispielhaft die Beiträge zur Glücksforschung des Ökonomen Karl-Heinz Ruckriegel empfohlen, der sich seit Jahren und intensiv damit beschäftigt.

Wie schwierig das mit „dem“ Glück „der“ Mütter ist, kann man an einer aktuellen und überaus kontroversen Debatte aufzeigen, die sich an einer neuen Studie entzündet hat. »Anfang April veröffentlichte die israelische Wissenschaftlerin Orna Donath eine Studie, in der 23 Mütter öffentlich ihren Kinderwunsch bereuten. Vor allem in Deutschland entwickelte sich eine hitzige Debatte. Zahlreiche Medien berichteten darüber, unter dem Hashtag „RegrettingMotherhood“ diskutierten Männer und Frauen in sozialen Netzwerken«, so der Einstieg in das informative Tageschau-Dossier Alles gut zum Muttertag? Mutterschaft im Wandel von Anna-Mareike Krause und Michael Stürzenhofecker.

»Eine junge israelische Wissenschaftlerin veröffentlicht eine Studie in einer amerikanischen Fachzeitschrift für Geschlechterwissenschaft – und das deutsche Internet explodiert. Wie kann das sein? Nun, es ging um Mütter«, so die lapidare und auf die besondere Überhöhung des Mütter-Begriffs gerade in Deutschland abstellende Zusammenfassung in dem Artikel Mütter, die wie Männer denken von Anna Sauerbrey. Sie verweist auf einen interessanten Punkt: »An Frauen, die wie Männer denken, fühlen und handeln, hat sich die Gesellschaft gewöhnt. An Mütter, die wie Männer denken, fühlen und handeln, nicht.« Das Thema hat seine medialen Kreise gezogen – neben vielen Zeitungsartikeln wurde es auch in Radiobeiträgen aufgegriffen. Vgl. hierfür nur stellvertretend die Sendung Ich bereue – Vom Glück und Elend der Mütter des Hessischen Rundfunks.
Warum wird das hier aufgerufen? Um an diesem einen Beispiel zu zeigen, dass man äußerst behutsam mit Begriffen wir „Glück“ umgehen sollte. Es eignet sich nicht wirklich für eine gesellschaftspolitische Thematisierung von so komplexen und zugleich normativ enorm aufgeladenen Tatbeständen wie dem Geschlechterverhältnis oder dem Selbstverständnis von dem, was als „Mutterrolle“ verstanden wird, wobei sich das bereits zwischen zwei benachbarten Gesellschaften wie Deutschland und Frankreich erheblich unterscheiden kann (vgl. dazu und mit Blick auf weitere Länder den Artikel mit der leider sehr euphemistischen Überschrift Glückliche Mütter – was andere Länder besser machen).

Also rufen wir den zweiten Aspekt auf und der kommt leider weitaus handfester und bedrängender daher als die Frage nach dem „Glück“ der Mütter. Es geht um die Kinder bzw. um einen Teil von ihnen. Also denjenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind, sondern auf der anderen Seite. Die in Armut leben (müssen).

Armutsgefährdete Kinder sind materiell unterversorgt und sozial benachteiligt – unter dieser erst einmal leider nicht wirklich überraschend daherkommenden Diagnose hat die Bertelsmann-Stiftung auf zwei neue Studien hingewiesen, die von ihr in Auftrag gegeben wurden: »Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als armutsgefährdet. Verzicht und ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe sind die Folgen. Doch die staatliche Unterstützung für Familien in prekären Lebenslagen orientiert sich zu wenig an den Bedarfen der Kinder. Zu diesen Ergebnissen kommen zwei Studien der Bertelsmann Stiftung.«

»In der Bundesrepublik wachsen 2,1 Millionen unter 15-Jährige in Familien auf, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdeutlicht, was Armut für den Alltag der Kinder bedeutet: Er ist geprägt von Verzicht und einem Mangel an Teilhabe. Für eine zweite Untersuchung haben Armutsforscherinnen der Universität Frankfurt vertiefende Interviews mit Eltern und Fachkräften geführt. Demnach kann das staatliche Unterstützungssystem Armut nur unzureichend auffangen.«

Die beiden Studien – die man nicht frei zugänglich abrufen kann, sondern als Buchpublikationen bestellen müsste – werden von der Stiftung so zusammengefasst:

»Das IAB hat den Lebensstandard von Kindern aus SGB-II-Haushalten untersucht und mit der Situation von Kindern in gesicherten Einkommensverhältnissen verglichen. Während im Bereich der elementaren Grundversorgung nur geringe Benachteiligungen vorliegen, zeigen sich in anderen Bereichen deutlichere Unterschiede: 20 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug leben aus finanziellen Gründen in beengten Wohnverhältnissen – gegenüber 3,9 Prozent der Kinder, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen (Übrige). Drei von vier Kinder, deren Eltern SGB-II-Leistungen erhalten, können keinen Urlaub von mindestens einer Woche machen (Übrige: 21 Prozent), 14 Prozent leben in Haushalten ohne Internet (Übrige: 1 Prozent), 38 Prozent in Haushalten ohne Auto (Übrige: 1,6 Prozent) und knapp einem Drittel ist es aus finanziellen Gründen nicht möglich, wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen nach Hause einzuladen (Übrige: 3,3 Prozent). Bei jedem zehnten Kind mit SGB-II-Bezug besitzen nicht alle Haushaltsmitglieder ausreichende Winterkleidung (Übrige: 0,7 Prozent).

Das Aufwachsen von Kindern in armutsgefährdeten Familien ist vielfach geprägt von einem Bündel an Problemen. Das zeigen Familieninterviews der Armutsforscherinnen Sabine Andresen und Danijela Galic (Universität Frankfurt). Zur chronischen Geldnot kommen oftmals Krankheiten, Trennung der Eltern, beengte Wohnverhältnisse und unsichere Schulwege hinzu. Erziehung bedeutet für die Eltern häufig Erklärung von Nein-Sagen und Verzicht. Eine große Belastung, denn auch bei einkommensschwachen Eltern sind die Kinder der Lebensmittelpunkt: Sie wünschen sich für ihre Kinder vor allem gute Bildung und sind bereit, dafür eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Das Gefühl fehlender Selbstbestimmung führt bei einkommensschwachen Eltern oftmals zu Resignation und Erschöpfung. Auslöser ist auch Unzufriedenheit mit staatlicher Unterstützung. Eltern, die von der Grundsicherung leben, klagen über zu viele behördliche Anlaufstellen, wechselnde Ansprechpartner und bürokratische Hürden. Sie vermissen, als Familie mit spezifischen Problemlagen wahrgenommen zu werden. Die befragten Fachkräfte aus Verwaltung und Bildungseinrichtungen problematisieren ähnliche Themen und pflichten den Familien bei. Zeitmangel, bürokratische Hürden und verschiedene Zuständigkeitsbereiche erschweren passgenaue Unterstützung.«

Und was folgt daraus – zumindest für die Auftraggeberin, also die Bertelsmann-Stiftung?

»Bislang, so die Andresen/Galic-Studie, konzentriere sich die Familien- und Sozialpolitik zu stark auf die Integration von Eltern in den Arbeitsmarkt. Empfehlenswert sei die Einrichtung zentraler Anlaufstellen mit festen Ansprechpartnern, die die jeweilige Familiensituation kennen. Zugleich sollten strukturelle Veränderungen Fachkräften mehr Entscheidungsspielräume und eine passgenaue Unterstützung ermöglichen. Zudem setzt sich die Bertelsmann Stiftung dafür ein, das Existenzminimum für Kinder zu überprüfen und die staatliche Grundsicherung anzupassen.«

Übrigens – von „Glück“ wird im vorliegenden Fall nicht einmal gesprochen.

Irrungen und Wirrungen der Diskussion über „den“ Arbeitsmarkt, „die“ Arbeitslosen – und natürlich darf „die“ Armut nicht fehlen

Jetzt muss auch mal eine positive Botschaft kommen, bei all den sozialpolitischen Problemen, die in diesem Blog ansonsten so ausgebreitet werden. Also erfüllen wird den Wunsch des einen oder der anderen und zitieren voller anfänglicher Zufriedenheit: »Kommt eine Deutsche, die jahrelang im Ausland lebte und drei Jahre für ihre Töchter daheim blieb, zurück nach Deutschland. Bewirbt sich auf die erste Stelle, die ihr passend erscheint, und – zack! – sie hat den Job. Kommt ein arbeitsloser Spanier nach Deutschland, bewirbt sich auf drei Stellen und – oha! – bekommt drei Angebote. Fast jeder Deutsche kennt derzeit so eine Geschichte, und viele Europäer kennen sie auch. Den Jugendlichen der Krisenländer gilt Deutschland längst als gelobtes Land der Arbeit.« So Lisa Nienhaus in ihrem gleichsam als Predigttext daherkommenden Artikel Freut euch doch endlich!

Allerdings begrenzt sie ihre klar daherkommende Botschaft sogleich mit einer missbilligend klingenden Anfrage an das lesende Publikum: »Deutschland erlebt ein Wunder am Arbeitsmarkt. Wieso trauen wir ihm nicht?« Die Dame ist wirklich verschnupft mit „den“ Deutschen: »Man muss es den Deutschen … noch einmal ganz deutlich sagen: In Deutschland gibt es mehr Arbeit, als es sich vor zehn Jahren die kühnsten Optimisten vorherzusagen trauten.« Nein, es soll hier gar nicht die Frage aufgeworfen werden, was das denn für eine Arbeit im Detail ist – obwohl man schon geneigt ist, darauf hinzuweisen, dass dazu auch solche Arbeit gehört, die der Artikelschreiberin wahrscheinlich nicht direkt vor Augen ist, was sie aber der eigenen Zeitung, für die sie schreibt, entnehmen kann: Verkauft an den Meistbietenden, so ein lesenswerter Beitrag von Leonie Feuerbach: »Leiharbeitsfirmen locken junge Rumänen auf Arbeitssuche nach Deutschland. Hier werden sie ausgenutzt und ausgebeutet – mitunter jahrelang. Zwei rumänische Krankenpfleger erzählen, was sie in deutschen Pflege- und Altenheimen erlebten.«

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Das doppelte Kreuz mit der Armut und der Herkunft: Die (angeblichen) Armutskonstrukteure schlägt man und die Ständegesellschaft 2.0 wird nur angeleuchtet

Vor einigen Wochen hatte der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen aktualisierten Armutsbericht für Deutschland veröffentlicht: Die zerklüftete Republik. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014, so ist der überschrieben. Der dabei u.a. herausgestellte Befund, die »Armut in Deutschland hat mit einer Armutsquote von 15,5 Prozent ein neues Rekordhoch erreicht und umfasst rund 12,5 Millionen Menschen«, hat eine heftige und keineswegs neue Diskussion über den Sinn und Unsinn einer Armutsmessung entfacht, wie sie der Paritätische hier betreibt. Nun gibt es durchaus eine Reihe von Gründen, methodische und inhaltliche Fragezeichen an der Art und Weise der „Armutsmessung“ des Paritätischen zu setzen und diese auch zu formulieren (vgl. dazu ausführlicher meinen Blog-Beitrag Armut. Armutsgefährdungsquoten. Ein Durchschnitt und mehrere andere Durchschnitte. Zum neuen Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über die regionale Armutsentwicklung vom 19.02.2015). In der medialen Diskussion fokussierte die Kritik aber im Wesentlichen nur auf einen Aspekt, der schon seit langem immer wieder vorgetragen wird: Mit dem Ansatz des Paritätischen werde keine Armut gemessen, sondern höchstens Einkommensungleichheit innerhalb einer Gesellschaft. Zusätzlich befeuert wurde diese immer wiederkehrende Debatte  dann durch einen viele irritierenden Vorstoß der sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, über die in einem Artikel berichtet wird: »Nahles hält nicht viel von der gängigen Armutsgrenze«. Und als Begründung für ihre Abneigung wird dann genau das Argument vorgetragen, was die Kritiker der gängigen Armutsquotenberechnung seit langem vortragen. Dazu der Artikel über Nahles: „Der Ansatz führt leider schnell in die Irre. Angenommen, der Wohlstand in unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das Ausmaß an Armut gleich“, sagt sie. Es handele sich um eine relative Größe, die zwar die Spreizung der Einkommen zeige – aber nicht die absolute Armut.

Gerade der Hinweis auf „absolute Armut“ nun ist eine schon mehr als merkwürdige Verirrung in längst vergessen geglaubte frühe Phasen der Armutsforschung (vg. dazu meine kritischen Anmerkungen in dem Blog-Beitrag Die Armut kriegen wir auch noch wegdefiniert. Stehen wir vor einer Renaissance der „veterinärmedizinisch“ fundierten Armutsberichterstattung? vom 27.03.2015). Das auf den ersten Blick plausibel daherkommende Bild von der Explosion des Wohlstandes und einer trotzdem gleich bleibenden Armutsquote aufgrund der inneren Logik der Art und Weise, wie „Armut“ gemessen wird, hat sich dann in den vergangenen Wochen verselbständigt und mittlerweile auch einen traurigen Höhepunkt erreicht, wenn beispielsweise Uli Dönch einen Artikel meint überschreiben zu müssen mit Warum die Armutslobbyisten nur noch nerven. „Reiche verteufeln, Bedürftige erfinden“, darum würde es den „Armutslobbyisten“ – er schießt sich dabei namentlich auf Ulrich Schneider, den Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, ein. Damit ist der vorläufige Tiefpunkt einer Debatte erreicht.

»Von der Debatte um die angebliche Bedürftigkeit profitiert nur einer: die Umverteilungslobby«, so Dönch in seinem Artikel und wirft dieser ominösen Lobby – damit jeder weiß, um was für Gesellen es sich hier handeln muss – vor, sie seien „Zahlentrickser“. Starker Tobak. Der Verfasser teilt richtig aus und bezeichnet dann den jährlichen „Armutsbericht“ als „Horrorstudie“. Und dem Artikelschreiber kommen die kritischen Anmerkungen der Bundessozialministerin Andrea Nahles sehr gelegen: »Wie viele Experten kritisiert auch sie den theoretischen Unterbau des „Armutsberichts“ – die Definition der „relativen Armut“.«

Und er illustriert das dann mit einem scheinbar plausiblen Beispiel aus der Zahlenwelt:

»Demnach ist bereits „arm“, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens („Median“) erzielt. Also beispielsweise ein Alleinverdiener mit Ehepartner, zwei Kindern und ca. 3300 Euro brutto im Monat. Diese Familie ist sicherlich nicht wohlhabend oder gar „reich“ – aber ist sie deshalb schon „arm“? Andrea Nahles findet das nicht.«

Viele Leser werden sagen – also 3.300 Euro brutto im Monat für die Beispielsfamilie, das ist doch keine „Armut“. Hierzu nur zwei Anmerkungen – eine hinsichtlich der Zahlen und des korrekten Umgangs mit diesen und eine grundsätzliche.

Fangen wir mit den Zahlen bezogen auf das Beispiel in dem Artikel von Dönch an. Hierzu hat Ulrich Schneider auf seiner Facebook-Seite eine kritische Erläuterung veröffentlicht, die hier als Abbildung dokumentiert ist, die verdeutlichen soll, dass der Herr Redakteur selbst offensichtlich mit den Zahlen trickst, denn die von ihm genannte Familie – vgl. das Berechnungsbeispiel in dem Kasten – fällt gerade nicht unter die „Armutsschwelle“ gemessen an den 60% der Median-Einkommens in unserem Land, weil ihr Nettoeinkommen auf alle Fälle höher liegt als der Schwellenwert. So viel zu Qualitäts- und besonders Statistikproblemen im Journalismus. Wenn man schon so kräftig austeilt, dann sollte man sich seiner Sache aber auch sicher sein und wenigstens korrekt argumentieren, wenn es um Zahlen geht. Und mit der Zahlentrickserei hat es der Autor. So schreibt er weiter – ebenfalls auf den ersten Blick skandalös den Irrweg der Armutsforscher illustrierend: »Wenn sich alle Einkommen in Deutschland verhundertfachen – also auch der Hartz-IV-Regelsatz von 399 auf 39.900 Euro –, dann läge die Armut laut Definition des Wohlfahrtsverbandes immer noch „auf Rekordniveau“.« Wenn, ja wenn.

Mathematisch gesehen ist das Ende der Welt allein aufgrund der Tatsache, dass irgendwann in einigen Milliarden Jahren die Sonne erlischt, nur eine Frage der Zeit. Allerdings nicht wirklich relevant für uns und viele andere Generationen nach uns. Es handelt sich hierbei um eine Zahlenspielerei, um das mal nett auszudrücken, denn dass es einen solchen Einkommenssprung geben könnte, ist sogar noch unwahrscheinlicher als das Ende der Welt rechnerisch genau bestimmen zu können. Es dient der Propaganda. Und am Ende des Artikels wird der Herr Redakteur dann auch konkret, was das eigentliche Ziel seiner massiven Attacke ist: Denn er identifiziert als die eigentliche Absicht der Armutslobby, dass sie „die Reichen“ zugunsten der Benachteiligten schröpfen wolle. Da ist es, das Schreckenswort: Umverteilung. Auf gar keinen Fall – und er beendet seine Ausführungen mit einem weiteren Tiefpunkt, in dem er nicht einfach sagt, dass die, die haben, nichts abgeben wollen und wenn man ihnen was wegnehmen würde, sauer sind, sondern die (potenziell) von Umverteilung profitierenden Einkommensarmen brauchen das gar nicht, denn »… wer finanziell Bedürftigen immer nur Geld gibt, macht sie abhängig, demütigt sie und hält sie in ihrer Abhängigkeit gefangen. Das einzig wirksame Mittel im Kampf gegen dauerhafte Armut ist die liberale Leitidee der „Hilfe zur Selbsthilfe“: Bildung, Qualifikation, Förderung.« Und zu ist der Sack.

Auf der anderen Seite – weg von der wirklich billigen Polemik eines Herrn Dönch – gilt es grundsätzliche Fragen aufzurufen. Denn wie heißt es richtig: In einer Übertreibung – und sei sie noch so peinlich formuliert – liegt oftmals ein Kern Wahrheit verborgen. Zum einen ist das ein auch von vielen kritischen Armutsforschern immer wieder geäußertes Unbehagen an der eindimensionalen Reduktion der Armutsdiskussion und damit verbunden der Definition von „Armut“ auf Einkommensarmut bzw. „Einkommensarmutsgefährdungsquoten“. So lautet nämlich der korrekte Terminus, wenn man die 60% des Median-Einkommens unterschreitet, folgt man dem Konzept der „relativen Armutsdefinition“, das im übrigen keine wirre Idee irgendwelcher „Armutslobbyisten“ ist, die in ihren Suppenküchen nur auf Kundschaft warten, um mit ihnen aber so richtig Rendite zu machen, sondern es handelt sich hierbei um eine Definition, die man sich auf der EU-Ebene (und auch in anderen internationalen Kontexten) gleichsam offiziell und nach vielen Jahren der intensiven und kontroversen Auseinandersetzung gegeben hat. Aber das interessiert ja kaum noch einen.

Mein Argument ist hier ein anderes: Dass die Kritiker so erfolgreich sind mit ihrer grundsätzlichen Infragestellung der rechnerischen Bestimmung von „Einkommensarmut“ hat auch mit dem bewusst-unbewussten Bild von „Armut“ und damit unauflösbar verbunden „armen Menschen“ zu tun. Nicht ohne Grund habe ich am Anfang des Beitrags ein Foto zur Illustration verwendet, das abbildet, wie viele Menschen „Armut“ sehen (möchten). Ein obdachloser Mensch, ganz unten angekommen, niedergestreckt, hilflos. Das ist die im wahrsten Sinne des Wortes „nackte“ Armut. Da wird jeder zustimmen müssen, dass das bittere Armut ist. Aber wenn man dann die (Einkommens)Leiter höher steigt, dann wird es schon ambivalenter und verstörender. Schon bei Hartz IV-Empfängern sprechen viele nicht von „Armut“, sondern von „bekämpfter Armut“, denn die bekommen doch sogar amtlich testiert das „soziokulturelle Existenzminimum“ über die Leistungen aus dem Grundsicherungssystem. Dann können Menschen mit einem Einkommen bzw. einem Geldbetrag oberhalb des Hartz IV-Satzes wohl kaum als arm zu bezeichnen sein, was sie aber teilweise durchaus sind, folgt man der allgemeinen 60%-vom-Median-Grenze bei der Festlegung der „Armutsschwelle“.

Nur eine Anmerkung dazu: Natürlich hat – das liegt in der Binnenlogik jeder relativen Bestimmung von Armut (oder Einkommensungleichheit) begründet – ein Mensch, der in Deutschland oder Österreich als „einkommensarm“ klassifiziert wird, weitaus mehr Geld zur Verfügung als ein Mensch in Bangladesh oder in Somalia. Aber das ist ja auch der Kern der relativen Bestimmung: Konzeptioneller Ausgangspunkt ist immer die Ermöglichung bzw. der Ausschluss von Teilhabe in der Gesellschaft, in der die Menschen jeweils leben (müssen). Und für ein Mindestmaß an Teilhabe sind die erforderlichen Mittel in unterschiedlichen Ländern eben auch unterschiedlich hoch – man schaue sich das selbst innerhalb eines Gebildes wie der Europäischen Union an, mit ihren Armenhäusern in Bulgarien und Rumänien und dem Lebensstandard in Dänemark, den Niederlanden oder Luxemburg. Und selbst die Grundsicherung in Deutschland – weil verfassungsrechtlich eigentlich gebunden an die Sicherstellung eines soziokulturellen Existenzminimums – ist ein relatives Ding, ansonsten könnte man die Leistungen des Hartz IV-Systems gleichsam als eine Art „Überlebenshilfe“ ausgestalten und man müsste dann kaum oder wesentlich seltener  irgendwelche Anpassungen der Beträge vornehmen, was aber verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre.

Zum „wahren Kern“ der kritischen Argumentation nur diese Anmerkung: Auch in der wissenschaftlich fundierten Armutsforschung gibt es seit Jahrzehnten eine umfangreiche Diskussion und auch Infragestellung des hier strittigen Indikators relative „Einkommensarmustquote“. Man darf und muss hier nur daran erinnern, dass der Begriff einer „lebenslagenorientierten Armutsberichterstattung verdeutlicht, dass sehr wohl gesehen wird, dass Armut ein multidimensionales Problem darstellt, das eigentlich auch so abgebildet werden müsste. Und bezeichnenderweise war der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001 überschrieben mit „Lebenslagen in Deutschland. Erster Armuts- und Reichtumsbericht“ (BT-Drs. 14/5990 vom 08.05.2001).

Aber zur Wahrheit gehört eben auch: Wie so oft in der Wissenschaft und Statistik ist es eben bis heute nicht gelungen, einen halbwegs akzeptablen und das heißt auch operationalisierbaren Indikator zu generieren, der die multidimensionalen Aspekte von Armut verdichtet und abzubilden in der Lage ist. Nur muss man an dieser Stelle dann auch darauf hinweisen, dass das kein eigenes Problem der Armutsforschung darstellt, man denke an dieser Stelle nur an die seit ebenfalls vielen Jahren laufende Debatte und Infragestellung des Bruttoinlandsprodukts als Maßstab für die volkswirtschaftliche Wertschöpfung. Auch hier gibt es zahlreichen Kritiker und Kommissionen, die darauf hinweise, dass die Fokussierung auf die eine Zahl eher in die Irre führt und zahlreiche wichtige Punkte nicht berücksichtigt.

Also wieder zurück. Man kann die aktuelle Debatte über die „richtige“ Armut auch so interpretieren, wie es Heribert Prantl in seinem Kommentar Wer in Deutschland arm ist in der Süddeutschen Zeitung gemacht hat – sie »geht am Thema vorbei. Die deutschen Armen sind arm, weil sie ausgeschlossen sind aus einer Welt, die sich nur den Situierten entfaltet.« Er stellt die richtige Fragen: »Wie kann man Armut messen? An der Länge der Schlange vor den Geschäften, in denen es das billige Brot von gestern zu kaufen gibt? Oder ist der Mensch womöglich erst dann arm, wenn er in Mülltonnen wühlen muss? Ist also dann die Not derer, die jeden Cent dreimal umdrehen müssen und die samt ihren Kindern nur knapp irgendwie über die Runden kommen, keine richtige Not?« Es geht um eine Art Glaubwürdigkeitsstreit, der hinter der neuen Armutsdebatte steht. Sie wird ausgetragen zwischen denen, die Armut in Deutschland für ein aufgeblasenes Schreckensszenario halten, und denen, die die Realität aus täglicher Arbeit kennen. Und auch Prantl argumentiert auf der Linie, die in diesem Beitrag bereits zugunsten des relativen Blicks angedeutet worden ist. Er zitiert einen Satz aus einem Brief an den Oberbürgermeister der Stadt München: „Arm zu sein unter Armen mag vielleicht noch zum Aushalten sein. Arm zu sein unter protzenhaften Reichtum – das ist unerträglich.“ Und Prantl legt den Finger auf eine offene Wunde: Das eigentliche Problem der (wie bereits dargestellt gar nicht so) „neuen“ Armutsdebatte ist darin zu sehen, dass aus Sicht der armen Menschen in unserem Land deren reale Armutserfahrungen, denen sie täglich ausgesetzt sind, entwertet werden durch diese Debatte von oben: »Sie haben die Anerkennung ihrer Bedürftigkeit verloren. Deswegen kann so getan werden, als seien die Langzeitarbeitslosen an ihrer Situation selbst schuld. Deshalb können die relativ Armen als relativ faul diskreditiert werden«, so Prantl.

Dabei ist die bruchstückhafte und vielfältig zersplitterte Realität von Armut in unserer Gesellschaft evident, wenn man sehenden Auges durch die gesellschaftliche Wirklichkeit läuft:

»Armut heute hat viele Gesichter: da ist der Gelegenheitsarbeiter; der wegrationalisierte Facharbeiter; der arbeitslose Akademiker; da sind die schon immer zu kurz gekommenen am Rand der Gesellschaft; da ist die alleinerziehende Mutter, da sind die Einwandererkinder, die aus dem Ghetto nicht herausfinden; da sind Hartz-IV-Empfänger; da sind dreihunderttausend Obdachlose; und die neuen Alten, die Dementen, die zu wenig Hilfe erhalten.«

Und auch Prantl stößt dann in das Gelände vor, um das es eigentlich geht: »Der Gegensatz von Gewinnern und Verlierern ist elementarer denn je. Der Politologe Franz Walter hat das so beschrieben: „Die einen betrinken sich mit Hansa-Pils, die anderen entspannen sich beim Brunello; die einen nächtigen in Fünf-Sterne-Hotels, die anderen machen es sich notgedrungen auf dem Balkon oder im nahegelegenen Campingplatz gemütlich“. Das klingt klischeehaft.« Ist es aber für viele Menschen viel weniger, als man denken könnte.

Damit sind wir abschließend bei dem zweiten, letztendlich entscheidenden Aspekt der (eigentlich) zu führenden Diskussion über Armut und Ungleichheit in unserer Gesellschaft angekommen – der Herkunft und ihrer Bedeutung für das, was nicht wenige Sozialwissenschaftler zu Recht als eine zunehmende Polarisierung innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen und artikulieren (vgl. dazu auch meine Hinweise in dem Blog-Beitrag Kinderarmut. Leider nichts Neues. Ein weiteres Update zu den auseinanderlaufenden Lebenslinien der Kinder. Und zugleich eine ernüchternde Relation: 2 zu 1 vom 14.03.2015).

Zu dem so wichtigen Thema der Bedeutung des Themas „Herkunft“ sei an dieser Stelle die Buchbesprechung von Alex Rühle unter der Überschrift Dummköpfe ante portas empfohlen: »Zwei Bücher beleuchten das deutsche Klassensystem aus unterschiedlicher Perspektive. Die Autoren kommen zum selben Ergebnis: Egal, wie sehr man sich anstrengt, am Ende zählt nur die Herkunft.«

»Der eine geht das Problem von unten an, aus der Sicht und Schicht der Arbeiter, die andere von oben, aus der Perspektive der Reichen. Marco Maurer untersucht den biografischen Anfang, Julia Friedrichs die finanziellen Folgen des Endes. Und beide, das ist das Verstörende an ihren soeben erschienenen Büchern, beide kommen zu demselben Schluss: ob nun in der Schule oder im Beruf, es ist egal, wie sehr man sich anstrengt. Am Ende zählt einzig die Herkunft. Willkommen in der BRD 2015, willkommen in der Ständegesellschaft 2.0.«

Eine lesenswerte Rezension der beiden Bücher – und in überzeugender Art und Weise wird wieder einmal deutlich, dass die Ungleichheit in unserer Gesellschaft zum einen irritierend vielfältiger wird, sich zum anderen – angesichts der gewaltigen normativen Kraft der Herkunft – die Schere zwischen unten und oben weiter auseinander gehen muss. Unabhängig von immer wieder vorzeigbaren und ja auch vorhandenen erfolgreichen Ausbruchsversuchen „von unten“, die allerdings nicht die Regel darstellen, aber in einer durch und durch individualisierten Gesellschaft gerne als Totschlagargument gegen den Gedanken instrumentalisiert und auch angenommen werden, dass es das gerade nicht gibt, was mit dem Wortspiel von der „Ständegesellschaft 2.0“ zum Ausdruck gebracht werden soll. Letztendlich, wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, darf es eben nicht – um hier an die in der Gesamtschau unsägliche Kommentierung des Herrn Dönch zu erinnern – darum gehen, die Bedürftigen mit etwas mehr Transferleistungen in ihrer Abhängigkeit einzumauern. Sondern um die fundamentale Frage, was man den auseinanderlaufenden Kräften der Herkunft und des familialen Hintergrunds entgegenzusetzen hat. Das wäre eine „neue“ Armuts-“ bzw. Ungleichheitsdebatte, die sich lohnen würde, die aber auch unweigerlich schnell an die Systemgrenzen stoßen muss.

Foto: © Reinhold Fahlbusch

Kinderarmut. Leider nichts Neues. Ein weiteres Update zu den auseinanderlaufenden Lebenslinien der Kinder. Und zugleich eine ernüchternde Relation: 2 zu 1

Schon seit langem wird „Kinderarmut“ in unserem Land beklagt. In vielen sozialwissenschaftlichen Studien wird immer wieder von einer „Infantilisierung“ der Armut gesprochen. In den 1990er Jahren prägte Richard Hauser aufgrund eines deutlichen Anstiegs der Armutsbetroffenheit von Kindern den Begriff der „Infantilisierung der Armut“, so in einem Beitrag in dem von ihm und Irene Becker 1997 herausgegebenen Sammelband „Einkommensverteilung und Armut. Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft?“. Mittlerweile gehört das aufgrund der Verfestigung der überdurchschnittlichen Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen von dem, was unter dem Terminus „Armut“ diskutiert wird, zum Standardrepertoire der Armutsbeobachter wie auch der sozialpolitischen Debatten, was man dagegen tun kann.

Aber es bleibt weiterhin das anzumerken, was in einem früheren Blog-Beitrag so formuliert wurde: »Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll« (vgl. dazu Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem? vom 11.10.2014). Aber bevor der eine oder die andere an dieser Stelle sofort der Versuchung erliegt, abzutauchen in den Streit über den „Armutsbegriff“ – unstrittig ist in der Armutsforschung, dass frühes Erleben von Armutslagen einen prägenden, nicht überraschend einen oftmals negativ prägenden Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hat. Bis hin zu zerstörerischen Auswirkungen, die sich ein Leben lang bemerkbar machen.

Und das ist zum einen für viele kleinen Menschen, die dem ausgeliefert sind, ein ganz individuelles Drama – es ist aber auch für die gesellschaftspolitische Debatte von großer Bedeutung, die seit Jahren zunehmend eingedampft wird auf eine einseitige Verengung auf „Chancengerechtigkeit“, um die man sich kümmern müsse, alles andere kommt dann schon von alleine oder aber die Individuen sollen sich nicht beklagen, denn sie hatten ja die Chancen und diese eben nicht genutzt. Vor diesem Hintergrund sind Studien wie die, die von der Bertelsmann-Stiftung nun der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, von Relevanz, zeigen sie doch in aller Klarheit, dass beispielsweise beim Eintritt in das Schulsystem von Chancengerechtigkeit keine Rede sein kann. Und es kommt – wenn man über die Studie hinausdenkt – sogar noch schlimmer.

»In Deutschland wachsen mehr als 17 Prozent der unter Dreijährigen in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben. Wie wirkt sich das auf die Entwicklung dieser Kinder aus? Eine Analyse von Schuleingangsuntersuchungen im Ruhrgebiet zeigt: Armutsgefährdete Kinder sind schon bei Schuleintritt benachteiligt«, so die Bertelsmann-Stiftung unter der Überschrift Aufwachsen in Armut gefährdet Entwicklung von Kindern anlässlich der Veröffentlichung dieser von ihr in Auftrag gegebenen Studie:

Thomas Groos und Nora Jehles: Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern. Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung. Arbeitspapiere wissenschaftliche Begleitforschung „Kein Kind zurücklassen!“ Band 3. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, Februar 2015

Konkret wurde in der Studie die Situation in der Stadt Mülheim an der Ruhr untersucht. In dieser Ruhrgebietsstadt lebt knapp ein Drittel der Kinder unter sechs Jahren von Hartz-IV-Leistungen. In manchen Stadtteilen sind in den Kitas mehr als 70 Prozent der Kinder arm. Für die Studie wurden die Daten von 4.802 Schuleingangsuntersuchungen aus den Jahren 2010 bis 2013 ausgewertet.

Die Forscher haben festgestellt, »dass 43 Prozent der armutsgefährdeten Kinder mangelhaft Deutsch sprechen, während dies bei nur bei 14 Prozent der Kinder zutrifft, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen. Probleme mit der Körperkoordination haben demnach 24,5 Prozent der Kinder aus Hartz-IV-Familien, bei der Vergleichsgruppe sind es 14,6 Prozent. Ähnliches gilt bei den Tests zur Visuomotorik, also der Koordination von Auge und Hand (25 zu 11 Prozent). Probleme beim Zählen haben 28 Prozent, gegenüber 12,4 Prozent«, so der Artikel Ruhrgebiets-Studie zeigt schwere Defizite bei armen Kindern. Die Schuleingangsuntersuchungen erkennen bei den Kindern, deren Familien von staatlicher Grundsicherung leben, mehr als doppelt so häufig Defizite in der Entwicklung wie bei Kindern, die in gesicherten Verhältnissen aufwachsen. »Zugleich leben sie deutlich zurückgezogener … So erlernen lediglich zwölf Prozent dieser Kinder ein Instrument, bei der Vergleichsgruppe spielen knapp ein Drittel Geige, Klavier oder Gitarre. Vor ihrem dritten Geburtstag gehen 31 Prozent der Kinder aus Hartz-IV-Familien in eine Kita, bei den Übrigen sind es über 47 Prozent.«

Über einen wichtigen Aspekt der Studie berichtet Vera Kämper in ihrem Artikel In der Kita sollte Arm auf Reich treffen:

»Wichtig für die Bildungschancen der Kinder sei der Besuch einer Kindertagesstätte. Doch ganz so einfach funktioniere das nicht. „Ein früher Kita-Besuch kann negative Folgen von Kinderarmut verringern“, heißt es in der Studie. „Allerdings ist das kein Automatismus.“ Positive Effekte für die Entwicklung der Kinder treten demnach nur dann ein, wenn die Kita-Gruppen sozial gemischt sind. Weil die Armut jedoch höchst unterschiedlich verteilt sei, könnten Kitas eine Durchmischung oftmals nicht gewährleisten.«

Das ist logisch – vor allem, wenn man bedenkt, dass die meisten Kinder wohnortnah zur Kita gehen und wenn sie als Folge einer bewussten Elternentscheidung in eine andere Kita gebracht werden, dann eher als Ergebnis einer Wahlentscheidung von Eltern aus der Mittelschicht, die im Ergebnis die bereits vorhandene soziale Selektivität des Kita-Besuchs noch im Sinne einer sozialen Schließung verstärkt.

An dieser Stelle prallt Wirklichkeit auf Wunschdenken, auch wenn die daraus abgeleiteten Forderungen an Politik und Gesellschaft angesichts der bestehenden Zustände unterstützt werden im Sinne der Devise: Besser das als gar nichts. Dazu schreibt die Bertelsmann-Stiftung:

»Der erste Ansatzpunkt ist eine Sport-Förderung. Der leichtere Zugang zum Sport hilft, frühkindliche Entwicklung und Sprachkompetenz zu verbessern. Der zweite Ansatzpunkt ist die Kita. Sowohl der frühe Besuch einer Kita und die besondere Förderung in der Kita wirken positiv auf die Entwicklung von Kindern. Es wird gezeigt, dass die bessere Ressourcenausstattung von „sozialen Brennpunkt-Kitas“ positiv auf die Entwicklung von Kindern wirkt und in Familienzentren arme Kinder über deutlich bessere Sprachkompetenzen verfügen.«

Einerseits ist das eine schon sehr kleingeschredderte Variante von Kinderarmutsbekämpfungspolitik, anderseits muss man das natürlich auch lesen als Verbeugung für das, was in Nordrhein-Westfalen die landespolitischen Ansatzpunkte sind und die möchte man unterstützen. Das mag lobenswert sein und überhaupt irgendeine Förderung ist mit Blick auf die kleinen Menschen, die davon profitieren können, sicher ein Segen – es ändert aber nur äußerst begrenzt etwas an der Kraft, die hinter dem steht, was wir als Auseinanderlaufen im Sinne einer Polarisierung von „guter“ und „schlechter“ Kindheit bezeichnen müssen:

Zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass wir hier mit einem sich kontinuierlich verstärkenden Prozess der scherenhaften Entwicklung konfrontiert sind, haben in der Vergangenheit zahlreiche bildungsökonomische Studien beigetragen, die mit unterschiedlichem Design immer wieder der einen zentralen Frage nachgegangen sind: Wie stark ist der Einfluss der Bildungseinrichtungen (wir sprechen hier von allen für Kindheit und Jugend relevanten Bildungseinrichtungen, also auch, aber nicht nur der Kita oder der Grundschule) auf die „Humankapitalentwicklung“ der Menschen – und wie stark ist der Einfluss des Familienhintergrunds darauf. Bevor der eine oder die andere an dieser Stelle eine das Weiterlesen blockierende Schnappatmung bekommt angesichts der verwendeten Begrifflichkeit vom Humankapital – auch wenn das mal von Geisteswissenschaftlern zum Unwort des Jahres gewählt worden ist, so ist es in der Ökonomie hingegen gerade ein positiver, gleichsam emanzipatorischer Begriff, der die Reduzierung des Menschen auf einen Kostenfaktor aufhebt, ihn als Kapital bzw. als Vermögen ansieht, das man hegen und pflegen und vermehren sollte, nicht aber vernutzen und wegschmeißen Auch in der familienwissenschaftlichen Diskussion verwendet man ja völlig zu Recht den Begriff vom „Humanvermögen“.

Die besagten Studien haben also untersucht und versucht auch abzuschätzen, welchen Einfluss Bildungseinrichtungen und der Familienhintergrund auf die weitere, lebenslange Entwicklung der Kinder haben im Sinne des Lebenseinkommens, des Arbeitslosigkeitsrisikos, des Risikos, Armut ausgesetzt zu sein usw. Also ein mehr als ambitionierter, aber eben nicht reduktionistischer Ansatz. Und wenn man eine Quintessenz der meisten dieser Studie ziehen muss, dann taucht dort immer wieder eine Relation auf, die uns nachdenklich stimmen sollte:

2 zu 1. In Worten: Der Einfluss des Familienhintergrunds auf die Humankapitalentwicklung der Menschen ist doppelt so stark wie der Einfluss aller Bildungseinrichtungen. Und doppelt so stark muss hier doppelt gelesen werden – eben auch nach oben und unten doppelt. Deshalb laufen die Lebenslinien der Kinder „unten“ und „oben“ auch immer weiter auseinander.

Natürlich kann das, wenn man es logisch zu Ende denkt, zu erheblichen Frustrationen führen und auch zu einer Blockade weiterer gesellschaftspolitischer Anstrengungen, die Schere wenigstens etwas zu schließen. Es kann aber auch dazu führen, dass man sich gerade nicht – wie auch in der neuen Studie empfohlen – selbst beschneidet und ein wenig mehr Geld für die schwierigeren Fälle fordert oder gar das völlig gescheiterte und nur noch als Peinlichkeit zu bezeichnende „Bildungs- und Teilhabepaket“ der Bundesregierung an der einen oder anderen Stelle etwas aufpampert. Man könnte und müsste zu ganz anderen, weitaus ambitionierter angelegten Diskussionen kommen – Kindergrundsicherung einführen, die Kitas und die Schulen, die sich um die abgehängten Kinder kümmern, mit einem Vielfachen der Geld- und Personalmittel ausstatten als die, die nur mit „Mittelschichtskindern“ gesegnet sind. Ich höre an dieser Stelle auf, denn es zeichnet sich ab, was dem vorangehen muss – eine echte gesellschaftspolitische Umverteilungsdiskussion. Und das ist derzeit nicht wirklich erkennbar, dass es hierfür große oder überhaupt eine Begeisterung gibt in Politik und Gesellschaft.

Wir werden alsbald über die nächste Studie berichten müssen.

Foto: Screenshot von der Webseite zur Kinderarmutsstudie der Bertelsmann Stiftung (www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/kein-kind-zuruecklassen-kommunen-in-nrw-beugen-vor/projektnachrichten/aufwachsen-in-armut-gefaehrdet-entwicklung-von-kindern/, 14.03.2015)

Kinder unter Hartz IV – kurz vor Weihnachten ein Aufflackern in der Berichterstattung. So viele kleine Schicksale in einer großen Zahl

Nein, hier geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit den vielen Artikeln und Sendungen, die in diesen Tagen rund um das Thema „Hartz IV“ erschienen sind. Es geht hier um eine Zahl.
1,64 Millionen, so lautet diese Zahl.

Man kann diese Zahl auch anders übersetzen: Jedes sechste Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das bewegt den einen oder die andere gerade in den Tagen vor dem Weihnachtsfest, in denen viele Erwachsene an leuchtende Kinderaugen denken oder sich diese wünschen. Eine Projektionsfläche für eigene Kindheitserinnerungen und darüber hinaus für den Versuch, aus der Routine und oftmals auch Tristesse des Alltags ausbrechen zu können. Das ist legitim, vielleicht sogar sehr wichtig. Und in diesem Kontext wird es dann auch absolut verständlich, warum diese Tage auch die wichtigsten sind für diejenigen, die Spenden sammeln. Ob für „Ärzte ohne Grenzen“, für rumänische Straßenhunde oder für Wikepedia. Denn in diesen Tagen gibt man gerne und auch mehr als sonst. Und man ist aufnahmefähig für Berichte, in denen darauf hingewiesen wird, dass es viele Kinder auch in unserem Land gibt, denen nicht vergönnt sein wird, unter einem reichlich bestückten Weihnachtsbaum Geschenke auspacken zu können. Damit sind wir wieder bei den 1,64 Millionen Kindern unter 15 Jahre, die sich derzeit im Hartz IV-Bezug befinden oder besser: unter Hartz IV, denn ihre Situation ist durch die Lage ihrer Eltern bedingt. Kinderarmut keine eigenständige Armutsform, sondern immer eine abgeleitet Armut ihrer Eltern.

Deshalb müssen alle Überlegungen, wie man Kinderarmut bekämpfen kann, am System Familie und insbesondere an den Erwachsenen ansetzen. Aber zuvor ein notwendiger Blick auf die Zahlen, hinter denen sich – das kann nicht oft genug betont werden – lauter Einzelschicksale verbergen:
Aktuell sind mehr als 1,64 Millionen Kinder unter 15 Jahre auf Hartz IV angewiesen oder leben in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. Das sind 15,5% aller Unter-15-Jährigen. Dabei gibt es eine erhebliche Streuung schon auf der Ebene der Bundesländer, denn in Berlin ist derzeit jedes dritte Kind betroffen, während es in Bayern nur 7,2 Prozent sind. In Ostdeutschland lag die Quote mit 23,5 Prozent wesentlich höher als im Westen (13,7 Prozent).


Schon ein erster Blick auf die Hilfequoten verdeutlicht, dass es hinsichtlich der Kinder eine „Sonderentwicklung“ in den vergangenen Jahren gegeben hat. Denn während der Anteil der auf Hartz IV-Leistungen angewiesenen Menschen seit 2010 leicht rückläufig ist und auch der Anteil der erwerbsfähigen Menschen, die im SGB II-Bezug sind, abgenommen hat, sieht seit 2012 die Entwicklung bei den Kindern anders aus, hier steigen die Anteilswerte wieder. Darauf wird übrigens nicht erst jetzt hingewiesen, vgl. dazu beispielsweise den Blog-Beitrag Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem? vom 11.11.2014). Dann stellt sich natürlich die Frage, wie es zu dieser vom generellen Trend abweichenden Entwicklung kommen kann, denn man muss sehen, dass die vergangenen Jahre arbeitsmarklich gesehen eine gute Phase waren, was sich eben auch in einem – wenn auch viele zu geringen – Rückgang der allgemeinen Zahl an Hartz IV-Empfängern niedergeschlagen hat. An dieser Stelle sei erinnert an die Aussage, dass es Kinderarmut als solche nicht gibt, da es sich immer um eine von der Armut der Eltern abgeleitete Armut handelt. Insofern macht es Sinn, einmal genauer hinzuschauen, ob und wen ja welche Haushalte denn besonders betroffen sind. Hier zeigt sich, dass es vor allem zwei – allerdings in sich durchaus sehr heterogene – Gruppen sind, in denen die von Hartz IV-Leistungen abhängigen Kinder leben: Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose.
Jeder 10. Haushalt ist von Hartz IV-Leistungen abhängig, bei den Alleinerziehenden sind es 40% der Haushalte. Die Hälfte der in Armut lebenden Kinder, lebt bei Alleinerziehenden und bezieht Hartz VI. Insgesamt sind 39 Prozent der Familien mit nur einem Elternteil auf Hartz IV angewiesen. Wie keine andere gesellschaftliche Gruppe sind sie von Armut betroffen.

Dabei gehen 70 Prozent der Single-Eltern einer Arbeit nach. Doch nicht immer gelingt es, die Rolle der Alleinerziehenden und der Familienernährerin unter einen Hut zu bringen: Jede fünfte berufstätige Alleinerziehende muss aufstocken, also zusätzlich Leistungen vom Jobcenter beziehen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Erschwerend kommt hinzu, dass nur die Hälfte aller anspruchsberechtigten Kinder den Unterhalt vom anderen Elternteil in voller Höhe ausgezahlt bekommt. Tatsächlich arbeiten 45 Prozent der Alleinerziehenden in Vollzeit-Jobs, dagegen nur 30 Prozent der Frauen, die in einer Paarfamilie leben.

Zu der oftmals schwierigen Situation Alleinerziehender sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien erschienen, die belegen, welchen Hemmnissen die Betroffenen ausgesetzt sind. Die Bertelsmann-Stiftung schreibt dazu anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie:

»Das Problem vieler Alleinerziehenden ist, dass sie nicht nur den Alltag mit Arbeit, Haushalt und Kindern allein organisieren müssen, sondern auch noch von der Politik via Steuer- und Unterhaltsrecht zahlreiche Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen. Denn der Staat orientiert sich zu stark  an der Zwei-Eltern-Familie. Und das stellt Alleinerziehende mitunter vor gewaltige finanzielle Probleme … Der Gesetzgeber geht seit der Unterhaltsrechtsreform aus dem Jahr 2008 davon aus, dass jede Alleinerziehende problemlos Vollzeit arbeiten kann, sobald ihr Kind drei Jahre alt ist und eine Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Entsprechend muss der Expartner ab diesem Zeitpunkt keinen Betreuungsunterhalt mehr zahlen.« (Wie die Politik Alleinerziehende unter Druck setzt).

Die angesprochene Studie versucht eine Bestandsaufnahme der Situation der Alleinerziehende sowie eine Diskussion von möglichen Lösungsansätzen:

Anne Lenze: Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf. Gütersloh 2014

Als ein Beispiel für eine gelungene, weil sensible und zugleich differenzierte Bestandsaufnahme sei an dieser Stelle auf einen Beitrag hingewiesen, der vom Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt wurde und den man als Audio-Datei abrufen kann:

Alltagskampf bis zur Erschöpfung (15.12.2014)
90 Prozent aller Alleinerziehenden sind weiblich, viele von ihnen auf Hartz IV angewiesen. Im Zuge der Agenda 2010 hat sich für viele von ihnen die Situation verschärft – gefordert wird viel, vom Fördern ist nicht viel übrig geblieben. Doch das Jobcenter ist nicht das einzige, gegen das sie Tag für Tag ankämpfen müssen.

In diesem Beitrag wird an vielen Stellen herausgearbeitet, mit welchen strukturellen Problemen die Betroffenen zu kämpfen haben, die es aber eben auch verunmöglichen, durch eine punktuelle Intervention schnell deutlich positive Ergebnisse beispielsweise hinsichtlich einer besseren Arbeitsmarktintegration erreichen zu können. 

Und mit strukturellen Problemen in mehrfacher Hinsicht haben es auch die Langzeitarbeitslosen zu tun, wenn sie den eine Arbeit suchen. Und es sind wirklich sehr viele Langzeitarbeitslose, die nicht nur Arbeitssuchenden, sondern bereit sind, jede Form der Beschäftigung anzunehmen, wenn sie aus ihren Zustand dadurch entfliehen können. Aber oftmals prallen sie an den Anforderungen bzw. Erwartungen bzw. Vorurteilen der heutigen Arbeitswelt ab. Anfang November 2014 wurden auf dieser Seite die Ergebnisse einer neuen Studie der Hochschule Koblenz vorgestellt, die sich mit einer Quantifizierung des so genannten „harten“ Kerns der Langzeitarbeitslosigkeit beschäftigt hat (vgl. dazu den Beitrag Neue Zahlen zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem. Und in der Arbeitsmarktpolitik wird das „Programmhopping“ für einige wenige fortgeschrieben). In Anlehnung an die sehr restriktive Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung durch den Gesetzgeber definieren die Wissenschaftler Personen als arbeitsmarktfern, wenn sie in den letzten drei Jahren nicht beschäftigt waren und mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen. Diese „Vermittlungshemmnisse“ führen dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die davon betroffenen in absehbarer Zeit in irgendeine Erwerbsarbeit integriert werden können, gegen Null geht. Und je länger für diese Menschen nichts passiert, was ihre Passivierung in der Langzeitarbeitslosigkeit aufzubrechen in der Lage ist, umso schwieriger wird es werden, sie jemals in die Nähe einer solchen Erwerbsarbeit zu bringen. Erschreckend ist die quantitative Größenordnung, um die es bei diesem „harten“ Kern der Langzeitarbeitslosigkeit geht und auch die beobachtbare Zunahme dieser Personengruppe – wohlgemerkt, in einer Phase, die allgemein durch gute arbeitsmarktliche Rahmenbedingung geprägt war – ist äußerst bedenklich:

»Mehr als 480.000 Menschen in Deutschland haben nahezu keine Chance am Arbeitsmarkt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz. Trotz guter Arbeitsmarktlage ist ihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr noch gestiegen. In den Familien dieser Menschen leben über 340.000 Kinder unter 15 Jahren – ebenfalls deutlich mehr als noch im Vorjahr … Mit 435.000 Menschen gab es 2011 noch zehn Prozent weniger Betroffene. Und auch die Zahl der Kinder ist gestiegen. 2011 lebten 305.000 unter 15-Jährige in den Haushalten der Arbeitsmarktfernen, 11,5 Prozent weniger als 2012.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – wenn die Situation der Eltern, die sich in der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit befinden, nicht aufgebrochen wird, dann werden die Kinder weiter leiden müssen. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass man die Verhältnisse, unter denen diese Kinder aufwachsen (müssen), auf eine andere Schiene setzt. Das bedeutet konkret, dass wir wenigstens bei den Personen, bei denen wir relativ gesichert wissen, dass sie mittel- bis langfristig so gut wie keine realistische Chance auf eine „halbwegs normale“ Erwerbsarbeit haben werden, mithilfe von sinnvollen öffentlich geförderten Beschäftigungsangeboten darauf hinwirken, dass diese Menschen, die eben auch Eltern sind, einer Erwerbsarbeit nachgehen können.

Aber so, wie man derzeit die Alleinerziehenden gleichsam „im Regen stehen lässt“ bzw. teilweise ihre Situation sogar noch zu verschlechtern gedenkt, so bewegt sich hinsichtlich der von allen halbwegs ehrlich an die Sache herangehenden Experten dringend angemahnten Aktivitäten zu Gunsten einer besseren Integration von Langzeitarbeitslosen außer der Inaussichtstellung nur als kosmetisch zu bezeichnende Pseudo-Programme auf der politischen Bühne nichts. Das wird sich nicht nur bei den eigentlich Betroffenen bitter rächen, sondern auch mit Blick auf die Kinder. Die sind am meisten ausgeliefert und werden gleichsam mit in Haftung genommen für das Tätigkeits-Versagen der Politik. Dann aber braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn der Umfang der Kinderarmut in unserem Land weiter anwachsen wird. Frohe Weihnachten sehen anders aus.