Hartz IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen. Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik

Deutschland ist bekanntlich eine weltmeisterliche Exportmaschine – und offensichtlich gehen nicht nur Autos der Premiumklasse, Maschinen aus dem Schwabenland, Chemieprodukte für Landwirtschaft und Kriegsführung über den Ladentisch, sondern auch politische Vorlagen. Griechenland muss das gerade erleben – und jetzt werden aus unserem Nachbarland Österreich Importwünsche hinsichtlich eines der in Deutschland selbst umstrittensten sozialpolitischen Produkte der jüngeren Vergangenheit angemeldet: Hartz IV.

Konkret geht es nicht um irgendwelche Hinterbänkler, die das Sommerloch füllen wollen, sondern um den österreichischen Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP), der in einem Interview so zitiert wird: »Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert.« Diese Äußerung hat nun eine breite und heftige Diskussion ausgelöst. Hartz IV kommt in Österreich an, so ist einer der Artikel dazu überschrieben.

Allerdings gibt es parteiübergreifend heftigen Gegenwind: Zu hohes Arbeitsloseneinkommen: Hagel an Kritik für Schelling. Zuerst einmal eine kurze Skizzierung des bestehenden Sicherungssystems bei Arbeitslosigkeit in Österreich, denn dann wird verständlich, warum das auf so viel Widerspruch stößt.

In »manchen Punkten ist das österreichische Arbeitslosengeld-System … sogar schlechter als die deutschen Hartz-Regelungen. Wer in Österreich seine Arbeit verliert, bekommt unmittelbar nach dem Jobverlust weniger Arbeitslosengeld als in Deutschland. Zumindest, was die Nettoersatzrate betrifft: In Deutschland beträgt das Arbeitslosengeld 65 Prozent des vorher verdienten Nettolohns, in Österreich sind es nur 55 Prozent. Sie wurde seit den 1990er Jahren sukzessive reduziert. 1993 sank die Nettoersatzrate, die von der Höhe des letzten Gehalts berechnet wird, von 57,9 Prozent auf 57 Prozent 1995 auf 56 Prozent und in weiterer Folge im Jahr 2000 auf 55 Prozent. Österreich hat damit eine der niedrigsten Nettoersatzraten beim Arbeitslosengeld Europas. Die Bezugsdauer ist gestaffelt, je nach Alter und Beschäftigungsdauer erhält man 20, 30, 39 bzw. 52 Wochen lang Arbeitslosengeld … Danach kann man Notstandshilfe beantragen. Sie ist unbefristet und macht 95 Prozent des vorher bezogenen Arbeitslosengeldes. Das wiederum ist vergleichsweise viel im internationalen Vergleich. Wer also in Österreich länger arbeitslos bleibt, für den ändert sich bei der Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe wenig. Langzeitarbeitslose in Deutschland stürzen dagegen ab.« (Hervorhebungen nicht im Original). Die Sozialhilfe der Bundesländer ist mittlerweile ersetzt worden durch die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS). Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung besteht aus 2 Teilen: 620,87 Euro Grundbetrag und  206,96 Euro Wohnkostenanteil pro Monat. Zusammen sind das 827,83 Euro. Für Kinder gibt es jeweils 149,01 Euro. Je nach Bundesland können höhere Beiträge sowie Ergänzungsleistungen ausgezahlt werden, z.B. wenn die tatsächlichen Wohnkosten höher sind. Wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe niedriger ist als die Mindeststandards der Bedarfsorientierten Mindestsicherung und kein relevantes Vermögen vorhanden ist, kann eine ergänzende Mindestsicherungsleistung bezogen werden.
Wie man unschwer sehen kann, finden wir in Österreich eine Systematik, die es auch mal in Deutschland mit dem Arbeitslosengeld und der (unbefristeten, ebenfalls am ehemaligen Arbeitseinkommen orientierten) Arbeitslosenhilfe gegeben hat, bis die Arbeitslosenhilfe mit der damaligen Sozialhilfe nach dem BSHG zum Arbeitslosengeld II nach dem SGB II zusammengelegt wurde. Zum anderen ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzer als die beim Arbeitslosengeld I in Deutschland, danach aber gibt es die Notstandshilfe, die bei marginaler Absenkung dem vorherigen Arbeitslosengeld entspricht.

Insofern wäre eine Orientierung am deutschen Hartz IV-Modell tatsächlich für viele Arbeitslose ein herber Einschnitt.

Wie auch bei uns in Deutschland wird die Debatte mit den gleichen Vorurteilen und auch schlichten Unwahrheiten geführt, bei denen es lediglich darum geht, Stimmung zu machen gegen die Arbeitslosen. Bislang der einzige, der den Finanzminister öffentlich unterstützt, ist der  ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel, der mit diesen Worten zitiert wird: Der Finanzminister habe »vollkommen recht, dass Arbeitsanreize fehlen, wenn die erhaltenen Leistungen ohne Arbeit fast genauso hoch sind wie ein Arbeitseinkommen. Genau hier gilt es anzusetzen.« Fast genauso hoch wie ein Arbeitseinkommen ist angesichts der schon skizzierten Ersatzraten beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe kein Euphemismus mehr, sonder schlichtweg falsch. So auch die innerösterreichische Kritik:

»“Fassungslos über so viel arrogante Unwissenheit“ reagieren die Grünen Abgeordneten Birgit Schatz und Judith Schwentner. „Bei einer Nettoersatzrate von 55 Prozent könne man kaum davon sprechen, dass das Arbeitslosengeld auch nur annähernd so hoch sei wie ein angemessenes Erwerbseinkommen. Fakt sei vielmehr, dass Arbeitslosigkeit in Österreich wegen des niedrigen Arbeitslosengeldes der Einstieg in die Armut sei. Für Sozialsprecherin Schwentner ist mit Schellings Aussagen klar, dass dieser keine Ahnung von der Realität habe.«

Dazu auch der Blog-Beitrag Weltfremde Politik: Die Mär vom faulen, reichen Arbeitslosen mit ein paar Rechenbeispielen.

Wie bei uns wird natürlich reflexhaft das Argument der mangelnden Arbeitsanreize wie eine Monstranz von denen vor sich hergetragen, die auf eine Absenkung der Sozialleistungen zielen. Dazu hat sich auch das Arbeitsmarktservice (AMS) als österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit zu Wort gemeldet:

»AMS-Chef Johannes Kopf hielt in einem früheren Interview … die Anreize eine Arbeit aufzunehmen, in Österreich für groß genug. Einen Sonderfall ortete er aber: „Wenn zum Beispiel eine Frau mit den Kindern zu Hause ist und der Vater ein Fall für die Mindestsicherung, dann ist diese für die Familie so hoch, wie er oftmals kaum allein verdienen kann. Das ist eine Inaktivitätsfalle. Da müsste es die Möglichkeit geben, die Mindestsicherung bei der Arbeitsaufnahme teils weiter zu beziehen.“«

Damit beschreibt er eine Problematik, die wir auch in Deutschland kennen, die aber primär mit den Sicherungsdefiziten in anderen Bereichen wie dem Familienlastenausgleich zu tun haben.

Und zu der Ausgangsthese von dem angeblich zu hohen Arbeitslosengeld in Österreich finden wir bei der OECD in dem Anfang Juli veröffentlichten aktuellen Beschäftigungsausblicks für unser Nachbarland den folgenden Hinweis: »Besonders hoch ist in Österreich laut OECD die Einkommensungleichheit. Dies lasse sich durch chronische Arbeitslosigkeit, niedriges Kompetenzniveau einiger Bevölkerungsgruppen und das generell niedrige Arbeitslosengeld erklären« (OECD: Österreich sollte AMS-Budget aufstocken). Das Budget für das Arbeitsmarktservice (AMS) sollte erhöht werden, schlägt die OECD vor.

Man kann nur hoffen, dass sich die Österreicher nicht in die Hartz IV-Falle locken lassen. Die müssen nicht die gleichen Fehler machen wie wir.

Ganz weg, ein wenig weg, so lassen, wie es ist oder noch härter auch für die Älteren. Sanktionen im Hartz IV-System vor dem Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages

Eines der am heftigsten umstrittenen Themen im Grundsicherungssystem sind die Sanktionen. Für die einen ein Ding der Unmöglichkeit, dass man das Existenzminimum weiter beschneidet bis hin zu einer „Totalsanktionierung“. Von Totalsanktionen waren im vergangenen Jahr 7.500 Hartz-IV-Bezieher betroffen, davon knapp 4.000 unter 25 Jahren. Die andere Seite sieht in den Sanktionen ein notwendiges Element, mit dem der notwendige Druck aufgebaut werden kann, sich regelkonform im Sinne des Grundsicherungssystems zu verhalten. Diese Lagerbildung mit einigen Grautönen dazwischen wurde erneut deutlich bei einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages im Kontext der Forderungen nach einer generellen Abschaffung der Sanktionen durch die Fraktion Die Linke (18/3549, 18/1115) sowie seitens der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einem Sanktionsmoratorium, außerdem sollen die Kürzungen künftig auf höchstens zehn Prozent des Regelsatzes begrenzet werden (18/1963).

Mehr als eine Million Sanktionen wurden im vergangenen Jahr gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt – weil sie einen Termin im Jobcenter versäumten, eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme verweigerten oder einen angebotenen Job ablehnten – wobei man darauf hinweisen muss, dass der größte Anteil der verhängten Sanktionen – also Leistungskürzungen – auf den Tatbestand eines Meldeversäumnisses zurückzuführen ist, nicht etwa auf die Ablehnung eines Stellenangebots. Und auch die Verweigerung einer Maßnahme kann ja durchaus – wie Praktiker wissen – nicht nur in einer allgemeinen Unlust des Leistungsbeziehers begründet sein, sondern durchaus auch in dem, was als „Maßnahme“ gemacht werden soll.

Wie dem auch sein: »Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales … sprach sich eine Mehrheit der geladenen Experten für die Beibehaltung von Sanktionsmöglichkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) aus. Vertreter aus dem Bereich der Wirtschaft nannten das System der Sanktionen ausgewogen. Auch Landkreistag und Städtetag sprachen sich – ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gegen eine generelle Abschaffung oder ein Moratorium der Sanktionen aus«, berichtet der Pressedienst des Bundestages in seinem Bericht Streit um SGB II-Sanktionen. Es gab aber auch davon abweichende Stellungnahmen.

Eine klare Ablehnung der Sanktionsregelungen kam von der Diakonie Deutschland. In deren Stellungnahme zur Anhörung heißt es mehr als deutlich:

»Das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum darf nicht beschnitten werden. Sanktionen führen zunehmend in existenzgefährdende Armut und Wohnungslosigkeit. Zudem gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg für positive Effekte von Sanktionen auf die Leistungsberechtigten. Daher setzt sich die Diakonie Deutschland für die Abschaffung von Sanktionen im SGB II, eine Verringerung von Sanktionsinstrumenten und bessere Hilfen für Langzeitarbeitslose ein. Jede Begrenzung der bisherigen Sanktionspraxis ist bereits ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zu einer Situation, in der sämtliche existenzsichernden Leistungen gestrichen werden können und Menschen in existenzbedrohliche Not geraten. Die Diakonie Deutschland begrüßt den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 26. Mai dieses Jahres, das Bundesverfassungsgericht zur Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Sanktionen anzurufen.«

Soweit wie die evangelische Konkurrenz wollte die katholische Seite, vertreten durch die Caritas, dann nicht gehen. Die Caritas fokussiert neben partiellen Abmilderungen bestehender allgemeiner Sanktionsregelungen vor allem auf die besondere Situation der jungen Menschen unter 25, für die es im SGB II ein verschärftes Sanktionsregime gibt: Diese verschärften Sanktionen für Jugendliche seien nicht vertretbar. Sie könnten durchaus kontraproduktiv wirken, wenn etwa durch einen Verlust der Wohnung die Jugendlichen in kriminelle Bereiche abrutschen. In ihrer Stellungnahme schreibt die Caritas unter Nummer 1 der Forderungen: »Die Sonderregelungen für Jugendliche sind noch in dieser Legislaturperiode abzuschaffen. Zu scharfe Sanktionierung wirkt bei Jugendlichen kontraproduktiv. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein Teil der Jugendlichen bei scharfer Sanktionierung das Vertrauen zu den Jobcentern verliert. Der Kontakt zu ihnen geht verloren und sie „verabschieden“ sich aus der Förderung. Eine Basis für wirksame Zusammenarbeit mit jungen Menschen besteht nicht mehr.«

Diese Ausführungen haben offensichtlich Stefan von Borstel, der als einer der wenigen über die Anhörung berichtet hat, offensichtlich zu seiner fragend ausgestalteten Überschrift inspiriert: Führen Hartz-IV-Sanktionen zu Straftaten?  Seine Wahrnehmung aus der Anhörung: »Viele Experten plädierten aber für eine Entschärfung der Sanktionen – insbesondere für Arbeitslose unter 25 Jahren. Gerade bei Jugendlichen könnten harte Sanktionen dazu führen, dass sie sich vollständig zurückzögen und in die Kriminalität abtauchten, um sich das Lebensnotwendigste zu besorgen. Nach einer aktuellen Studie sind rund 20.000 junge Menschen komplett aus der Betreuung von Jobcenter oder Jugendamt herausgefallen. Über ihren Verbleib weiß man nichts.« Dazu auch der Blog-Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“ vom 11.06.2015.

Von mehreren Seiten wurde auch diese Forderung vertreten: Die Gelder für die Unterkunft sollten im Sanktionsfall nicht gekürzt werden, damit die Hartz-IV-Empfänger nicht auch noch ihre Wohnung verlieren und in die Obdachlosigkeit abrutschten, so Sozialverbände, Kommunen und Bundesagentur für Arbeit.

Irgendwo in der Mitte hat sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verortet. »Für eine stärkere Gewichtung des Förderns im System des „Forderns und Förderns“ sprach sich der Vertreter des DGB aus. Die Eingliederungsvereinbarungen müssten individueller als bisher auf den Einzelnen zugeschnitten seien. Außerdem sollten Leistungskürzungen nach Ansicht des DGB auf maximal 30 Prozent beschränkt werden«, berichtet der Pressedienst des Bundestages.

Erwartbar anders die Position der Arbeitgeber, auch hinsichtlich der Forderung nach einer Abschwächung des rigiden Sanktionsregimes für die Unter-25-Jährigen. Dazu der Pressedienst des Deutschen Bundestages in seinem Bericht über die Anhörung:

»Aus Sicht der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) sind die „großen Erfolge“ bei der Integration Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsmarkt auch auf die Sanktionen zurückzuführen. Diese seien ein Kernelement des Prinzips von „Fördern und Fordern“, hieß es von der BDA ebenso wie vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Die Regelung, wonach Unter-25-Jährige härtere Sanktionen befürchten müssen als Über-25-Jährige, ist nach Meinung der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft angemessen. Auch die BDA vertrat die Ansicht, dass diese Sanktionen zu einer stärkeren Kooperation der Arbeitssuchenden mit den Jobcentern führen würden. Von einer Abschwächung solle daher abgesehen werden, sagte die BDA-Vertreterin.«

Aber wer jetzt denkt, die Arbeitgeber gerieren sich am radikalsten hinsichtlich der Sanktionsfrage, der hat nicht mit den kommunalen Spitzenverbänden gerechnet – ein echtes Trauerspiel, wenn man bedenkt, dass in deren Beritt auch die Jugendhilfe fällt und man einfach mal mit seinen eigenen Leuten vor Ort hätte sprechen müssen, wie denn so die harten Sanktionen „wirken“ bei den jungen Menschen:

»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.«

Also nicht die härteren Regelungen für die Jugendlichen runter fahren, sondern die für die Erwachsenen entsprechend nach oben anpassen. Das kann man beim besten Willen nur durch eine funktionärsbedingte erhebliche Eintrübung der Sicht auf die Realitäten vor Ort erklären.

Alle schriftlichen Stellungnahmen wurden in der Ausschussdrucksache 18(11)394 veröffentlicht.

Nichts Neues, alte Positionierungen werden hier aufgewärmt, vgl. dazu beispielsweise nur den Blog-Beitrag Das große Durcheinander auf der Hartz IV-Baustelle.  Sanktionen verschärfen oder ganz abschaffen, mit (noch) mehr Pauschalen das administrative Schreckgespenst Einzelfallgerechtigkeit verjagen oder den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen aus dem SGB II in das SGB XII „outsourcen“? vom 19.06.2014, also vor genau einem Jahr.

So wird das nichts, wenn einem an der entscheidenden Grundsatzfrage gelegen ist: Sanktionen im Grundsicherungssystem ja oder nein? Diese Grundsatzfrage berührt ein zentrales Konstruktionsprinzip des auf dem SGB II basierenden Grundsicherungssystems: Es handelt sich um ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“, zumindest für nicht wenige unter den Hartz IV-Empfänger, für die der Leistungsbezug nicht nur eine überschaubare transitorische Lebensphase ist. Das ist unvermeidlich: Würde man, wie das die Linke fordert, generell alle Sanktionen abschaffen, dann wäre das ein erheblicher Schritt in Richtung auf ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Tragende Säulen der bestehenden Hartz IV-Architektur würden zusammenbrechen, deshalb auch der Widerstand der Arbeitgeber, aber auch – so die These hier – die vorsichtige Positionierung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) irgendwo zwischen Baum und Borke.

Einen weiterführenden Schritt wird es wohl erst geben, wenn sich das Bundesverfassungsgericht der Grundsatzfrage annimmt bzw. annehmen muss, gibt es nun doch den Vorlagenbeschluss S 15 AS 5157/14 des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht, in dem explizit die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelung postuliert und eben zur Prüfung vorgelegt wird. Dazu auch ausführlicher der Blog-Beitrag: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.
Wir werden uns noch gedulden müssen in dieser Angelegenheit.

Nachtrag (03.07.2015):
Eine Teilnehmerin an der Anhörung des Ausschusses hat mich per Mail darauf hingewiesen, dass eine Aussage, die dem Artikel des Pressedienstes des Bundestags entnommen und hier zitiert wurde, nicht stimmen könne – hinsichtlich der verschärften Sanktionen für die Unter-25-Jährigen.
Offensichtlich ist den Verfassern des Beitrags in einer ersten Version – aus der ich zitiert habe – ein Fehler unterlaufen. Die Passage, die ich dieser ersten Variante entnommen und in meinem Beitrag (s.o.) zitiert habe, ging so:


»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.«


Wenn man die gleiche Quelle jetzt anschaut, dann findet man diese (inhaltlich richtige) Variante:


»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Jüngeren die Regelungen der Über-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages.«


Damit wäre klar gestellt, dass die kommunalen Spitzenverbände keineswegs eine Übertragung des schärferen Sanktionsregimes auf die älteren Hartz IV-Empfänger fordern, sondern umgekehrt eine „Abschwächung“ für die Jüngeren befürworten. Man hätte sich vom Pressedienst des Bundestages allerdings gewünscht, dass er auf die zwischenzeitlich offensichtlich vorgenommene Korrektur wenigstens in Form einer Fußnote offenlegt, so muss man den Eindruck bekommen, dass die jetzt vorhandene Formulierung von Anfang an so da drin stand. Dem war nicht so.

Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden

Sanktionen sind eines der umstrittensten Themen innerhalb der Grundsicherung, dem Hartz IV-System. Dazu gibt es jetzt einen Vorstoß aus den unteren Etagen der Sozialgerichtsbarkeit direkt in die Höhen des Bundesverfassungsgerichts:
»Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts sei der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen, teilte das Gericht in Gotha am Mittwoch mit. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen.«
Das Sozialgericht Gotha sei nach eigenen Angaben – so die Meldung des MDR unter der Überschrift Sozialgericht hält ALG-II-Kürzung für verfassungswidrig – das bundesweit erste Gericht, das die Frage aufwerfe, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zum Sachverhalt, bei dem es letztendlich um die Frage der Verfassungswidrigkeit einer 60%-Kürzung geht:

»Das Gericht urteilte in einem Fall, bei dem ein Mann vom Jobcenter Erfurt Arbeitslosengeld (ALG) II bezog. Nachdem er ein Arbeitsangebot abgelehnt hatte, wurde ihm das ALG II um 30 Prozent, also um 117,30 Euro monatlich gekürzt. Wegen einer weiteren Pflichtverletzung – der Mann lehnte eine Probetätigkeit bei einem Arbeitgeber ab – wurde ihm die Leistung später um weitere 30 Prozent gekürzt, insgesamt also nun um 234,60 Euro pro Monat. Dagegen reichte der Mann Klage am zuständigen Sozialgericht Gotha ein.«

Die 15. Kammer des SG Gotha sieht hier das Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

»So bezweifeln die Richter, dass die Sanktionen mit der im Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde und der im Artikel 20 festgeschriebenen Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik vereinbar sind. Denn aus diesen Artikeln ergebe sich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das bei einer Kürzung oder kompletten Streichung des Arbeitslosengeldes II gefährdet sei, so das Gericht. Außerdem stünden die Sanktionen im Widerspruch zu den Artikeln 2 und 12 des Grundgesetzes, weil sie die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen gefährden könnten. Die genannten Grundgesetz-Artikel garantierten jedoch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«

Die Befassung des höchsten deutschen Gerichts wird in zweierlei Hinsicht interessant:

Zum einen haben wir – soweit man das von außen der Sachverhaltsdarstellung entnehmen kann – im vorliegenden Fall eine Arbeitsverweigerung als sanktionsauslösenden Tatbestand, damit wäre der „Kernbereich“ dessen berührt, was die Befürworter von Sanktionen immer vorbringen, also die aktive Verweigerung einer vielleicht möglichen Beendigung der Hilfebedürftigkeit durch eine Arbeitsaufnahme mit der Folge, dass die Solidargemeinschaft gegen diese missbräuchliche Inanspruchnahme geschützt werden müsse.

Zum anderen – und aus einer grundsätzlichen Perspektive wesentlich relevanter – wird hier ein Grundwiderspruch (?) im bestehenden Grundsicherungssystem aufgerufen: Immer wieder wird auf die wegweisende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 über die (teilweise, weil auf die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs bezogene) Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelleistungen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) hingewiesen. In den Leitsätzen zu dieser Entscheidung findet sich die folgende Formulierung:

»Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.«

Im weiteren Verlauf der Entscheidungsbegründung des BVerfG findet man die folgende Ausführung:

»Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden …«

Vor dem Hintergrund dieser Formulierung kann man schon auf die an sich naheliegenden Frage kommen, wie es denn im Lichte des offensichtlich unbedingten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums möglich sein soll und kann, einem Hilfebedürftigen dieses unbedingte Grundrecht zu entziehen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

An dieser Stelle sei auf eine weitere Entscheidung des BVerfG hingewiesen, aus dem Jahr 2012, als die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz festgestellt wurde. In BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 findet man bei den Leitsätzen den folgenden Passus:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und unter der Absatz-Nr. 120 findet man den folgenden Hinweis:

»Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss.«

In der ersten Gesamtschau verfestigt sich das Bild, dass eine Sanktionierung, wie man sie dem Sachverhalt des Sozialgerichts Gotha entnehmen kann, gegen die Unbedingtheit dieses Grundrechtsanspruchs verstößt.

In diese Richtung argumentierte im Jahr 2013 auch der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof und damalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković in einem Streitgespräch mit Uwe Berlin, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, im Rahmen der Veranstaltung „Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?“ am 10.07.2013 in Berlin. In einem Thesenpapier postulierte Nešković:

»Die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II verstoßen in zweierlei Hinsicht fundamental gegen das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums:

  • Es sind keine das Grundrecht ausgestaltenden Normen, wie sie das BVerfG zur Bestimmung des Leistungsumfangs verlangt. Denn sie berechnen keinen Bedarf, sondern ignorieren ihn. Da bereits Normen, die auf einer willkürlichen Bedarfsschätzung beruhen, gegen das Grundrecht verstoßen (Hartz-IV- Entscheidung des BVerfG), muss dies erst recht für Normen gelten, die Leistungen völlig abgekoppelt von dem tatsächlichen Bedarf zuerkennen.
  • Es liegt jedenfalls ab einer Sanktion von mehr als einem Drittel der Regelleistung außerdem eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums vor. Dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum AsylbLG unmissverständlich erkannt: „Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde …, ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“«

Aber so eindeutig ist es dann auch wieder nicht, wie die Ausführungen von Uwe Berlit zeigen (auch er hatte ein Thesenpapier veröffentlicht sowie eine längere Abhandlung: Uwe Berlit: Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig? In: info also, Heft 5/2013. S. 195 ff.). Seine – von Nešković’s Thesen stark abweichende – Auffassung, hier zitiert aus seinem Artikel in info also:

»Rechtsprechung und Literatur halten nahezu einhellig die Sanktionsregelungen des SGB II insgesamt und weitgehend auch im Detail für mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar … Die These von der Verfassungswidrigkeit des Sanktionensystems insgesamt hat juristisch einen erheblichen Begründungsbedarf. Die Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen des SGB II ist nicht seit Jahren umstritten. Die Rechtsprechung – bis hin zum BSG – wendet sie an. Das verfassungs- und sozialrechtliche Schrifttum sieht weit überwiegend dem Grunde nach keine Bedenken. Allenfalls in Einzelfragen wird für eine verfassungskonform einschränkende Auslegung plädiert. Beispiele sind die besondere Sanktionierung unter 25-Jähriger oder die vormalige Sanktionierung des Nichtabschlusses einer Eingliederungsvereinbarung.«
Es ist interessant, wie Berlit argumentiert, wenn es um die bereits angesprochene – scheinbare (?) – Widersprüchlichkeit geht, dass ein Grundrecht auf eine Existenzminimum durch eine Sanktionieren nach unten unterschritten wird:

»Grundrechtsdogmatisch sind Sanktionen kein Eingriff in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, sondern eine abgesenkte Form der Leistungsgewährung wegen – vermeintlich oder tatsächlich – geringerer Schutzwürdigkeit.«

Letzendlich – und das macht den Ausgangsfall aus Gotha, der nun an Karlsruhe weitergeleitet wird, so spannend – geht es um ein ungelöstes Grunddilemma des gesamten Grundsicherungssystems im SGB II: Hartz IV stellt sich dar als ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ und aus dieser Charakterisierung lassen sich auch ganz zentrale Konfliktfelder des SGB II-Systems ableiten. Nun könnte man vor dem Hintergrund der Grundrechtsausführungen des BVerfG auf die Idee kommen, dass aber dann wenigstens das Existenzminimum geschützt sein müsse gegen eine Absenkung.

Hierzu finden wir in dem Beitrag von Berlit (2013) einige interessante Hinweise:

»Weder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen oder sonst eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums«, so Berlit (2013: 199). Er geht hier explizit ein auf das bereits zitierte Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010:
»Das Regelbedarfsurteil befasst sich nur mit der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs. Der Fokus liegt nicht auf den tatbestandlichen Leistungsvoraussetzungen.« Und dann kommt der entscheidende Passus:

»Bereits der Begriff „Hilfebedürftiger“ macht deutlich: Das Grundgesetz verlangt keine tatbestandlich ungebundene, voraussetzungslose Leistungsgewährung oder ein solche, die tatbestandlich allein auf die Anrechnung tatsächlich verfügbaren, bedarfsdeckenden Einkommens oder Vermögens abstellt. Eine positive Schutzpflicht des Staates besteht vielmehr nur dann, „wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann.“ Dies umfasst auch die Mittelbeschaffung durch Erwerbsarbeit. das SGB II ist eine – verfassungsrechtlich zumindest mögliche – klare Entscheidung gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine unbedingte Grundsicherung.« (Berlit 2013: 199)
Diese Ausführungen sollen nur aufzeigen – auch wenn jetzt der Gang nach Karlsruhe begonnen wurde -, dass sich die Gegner der Sanktionen nicht zu früh freuen sollten. Am Ende kann auch eine Entscheidung stehen, die der Logik folgt, die man in Berlit’s Ausführungen erkennen kann.

Aber wie heißt es so treffend: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.

Arbeitsmarktpolitik: Neue Förderprogramme fressen alte auf. Kannibalisierung in der Förderpolitik der Jobcenter für Langzeitarbeitslose und wieder die Grundsatzfrage: Was hilft wem wie?

»Die Arbeitsministerin hat neue Programme für Langzeitarbeitslose aufgelegt – und muss nun an anderer Stelle kürzen. Die Folge: Den Jobcentern fehlen Millionen Euro. Junge Arbeitslose gehen leer aus«, berichtet Stefan von Borstel in seinem Artikel Andrea Nahles stürzt Jobcenter ins Förderchaos.

Im November des vergangenen Jahres wurde wieder einmal ein neues Förderprogramm der Öffentlichkeit präsentiert. Mit Lohnkostenzuschüssen will die Bundesarbeitsministerin 43.000 schwer vermittelbare Arbeitslose ohne Berufsabschluss wieder zu einem regulären Job verhelfen. Eine Milliarde Euro, so kündigte die Ministerin an, würden dafür ausgegeben. So weit, so schön, wenn … Ja, wenn das zusätzliche Mittel wären. Oder wenn Maßnahmen gestrichen werden, die nachweislich keine Wirkung haben und mit denen man bislang Geld verschwendet hat, denn dann würde ein Wegfall dieser Maßnahmen keine negativen Auswirkungen haben auf die betroffenen Langzeitarbeitslosen. Zugleich müssten die neuen Fördermaßnahmen effektiver sein als das, was man bislang angestellt hat mit den Hartz IV-Empfängern. Diese Punkte werden in dem zitierten Artikel von Borstel nicht direkt thematisiert, müssten aber für eine vollständige Bewertung berücksichtigt werden.

Dem Artikel kann man entnehmen: »Um die neuen Spezialmaßnahmen für Langzeitarbeitslose zu finanzieren, muss Nahles an anderer Stelle in ihrem Etat sparen. Mitte März bekamen die Jobcenter Post aus dem Arbeitsministerium: Sie wurden darüber informiert, dass sie in den nächsten Jahren weit weniger Fördermittel abrufen können als bislang zugesagt. Allein in den nächsten drei Jahren sind es rund 750 Millionen Euro weniger.«

„Beabsichtigte Maßnahmen wurden damit von heute auf morgen infrage gestellt, zum Teil mussten bereits veröffentlichte Ausschreibungen zurückgezogen werden.“ Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert. Sie hat die Zahlen über eine Anfrage an die Bundesregierung öffentlich gemacht. Die hatte sich schon im April zu Wort gemeldet mit einer Stellungnahme das neue Programm betreffend: Nahles-Programm für Langzeitarbeitslose bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Darin heißt es: »Statt mit angestrebten 33.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer planen die Jobcenter lediglich mit etwas mehr als 24.000 Plätzen … Angesichts von mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen werden von dem Programm nach dem jetzigen Stand gerade einmal 2,4 Prozent der Betroffenen erreicht.« Und bereits in dieser Stellungnahme aus dem April weist Pothmer darauf hin:

»Auf die Teilnahme am Nahles-Programm können viele Jobcenter trotz inhaltlicher Bedenken und trotz des hohen Aufwands nicht verzichten, da ihnen sonst noch weniger Fördermittel als ohnehin zur Verfügung stünden. Nicht nur die steigenden Verwaltungskosten zehren Jahr für Jahr am Topf für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Auch das Bundesprogramm wird teilweise aus diesen Mitteln finanziert. Dabei handelt es sich allein im Jahr 2015 um 117 Millionen Euro, für 2016 werden 204 Millionen Euro veranschlagt. Dieses Geld steht den Jobcentern nicht zur freien Verfügung, sondern ist an das Bundesprogramm gebunden.«

Es wurde am Anfang dieses Beitrags schon erwähnt, dass ein wichtiges Kriterium wäre, ob der Wegfall der alten Förderung unsinnige Maßnahmen betrifft. Denn dann müsste eine Bewertung anders ausfallen, als wenn durchaus sinnvolle Maßnahmen aus haushaltstechnischen Gründen zum Verdrängungsopfer werden. Einen Hinweis, dass der letzte Punkt nicht auszuschließen ist, kann man dem folgenden Beispiel aus Nordrhein-Westfalen entnehmen, mit dem konkretisiert wird, was denn gestrichen oder erschwert wird:

»Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Dort können Jobcenter keine mehrjährigen Ausbildungsmaßnahmen für junge Menschen mehr finanzieren, weil Nahles die Verpflichtungsermächtigungen für die folgenden Jahre zusammengestrichen hat. Für das kommende Jahr wurden die Mittel um zehn Prozent, für die Jahre danach um 40 bis 50 Prozent gekürzt. „Planung und Ausschreibung von Ausbildungsplätzen für die Zielgruppe der benachteiligten jungen Menschen im Rechtskreis SGB II (Hartz IV) wird hierdurch unmöglich gemacht“, heißt es in einem Schreiben der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit an die Ministerin in Berlin.
Damit erhielten viele junge Menschen, die derzeit in Jugendwerkstätten, Produktionsschulen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen fit für eine Ausbildung gemacht würden, keinen Anschluss und Übergang in ein weiteres Förderangebot.«

Auf die Situation der jungen Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen wurde schon an anderer Stelle kritisch hingewiesen und das sollte man wissen, um die neuere Verengung der Fördermöglichkeiten richtig einordnen zu können:

»40 Prozent der Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahren sind schon seit mehr als vier Jahren hilfebedürftig. Dennoch erhalten sie immer weniger arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen und stattdessen mehr Sanktionen und Leistungskürzungen. Das kritisiert die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Ausgabe des Arbeitslosenreports«, so O-Ton Arbeitsmarkt in dem Artikel Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW: Jugendliche werden nicht ausreichend gefördert.

Den Finger auf eine grundsätzliche Wunde der deutschen Arbeitsmarktpolitik legt der Deutsche Landkreistag: „Die Handlungsmöglichkeiten der Jobcenter sollten nicht durch immer neue Bundesprogramme für kleine Personengruppen eingeschränkt werden“, fordern die Landkreise in ihrer Stellungnahme zu einer Anhörung zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am Montag, dem 18. Mai 2015.

Bereits im Februar 2015 berichtete O-Ton Arbeitsmarkt über die ernüchternden Ergebnisse einer Befragung hessischer Jobcenter zu dem neuen Förderprogramm: Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose: Viel Aufwand, wenig Nutzen. »Nicht durchdacht, zu viel Aufwand, zu wenig Nutzen. So denken hessische Jobcenter über das ESF-Förderprogramm für Langzeitarbeitslose von Arbeitsministerin Nahles. Dennoch werden zwei Drittel der Jobcenter am Programm teilnehmen.« Und der Vorwurf wird auch konkretisiert:

»Das Programm sei wenig durchdacht und mit hohem Aufwand verbunden. So könne die spezielle Zielgruppe nicht automatisch aus der Fachsoftware ermittelt werden, sondern müsse aufwändig im Einzelfall überprüft werden. Man gehe davon aus, dass für die geringe Teilnehmerzahl von 60 Personen in Hessen (nicht mal ein Prozent der dort grundsätzlich für die Förderung infrage kommenden Klientel) etwa 1.300 Gespräche zu führen seien.«

Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass das neue Förderprogramm aus dem Bundesarbeitsministerium ein Lohnkostenzuschuss-Programm für besonders beeinträchtige Langzeitarbeitslose ist. Dazu die hessischen Jobcenter aus der Befragung des Städtetags:

»Ohnehin mache es wenig Sinn, die besonders arbeitsmarktferne Zielgruppe direkt mit Lohnkostenzuschüssen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt müsse vor und nicht nach dem Abschluss des Arbeitsverhältnisses stattfinden … Ansonsten seien die geförderten Verhältnisse nicht nachhaltig und auf den Zeitraum der Förderung beschränkt.
Die Erfahrungen mit anderen Lohnkostenzuschüssen (nach § 16e SGB II) zeigten zudem, dass die Zielgruppe so kaum zu integrieren sei. Arbeitgeber hätten grundsätzlich ein geringes Interesse an Lohnkostenzuschüssen und suchten nach direkt einsetzbaren, motivierten und qualifizierten Fachkräften.«

Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Einordnung des Sachverhalts muss hier aufgerufen werden. Die haushaltstechnischen Kapriolen, die jetzt wieder einmal geschlagen werden müssen, weil man ansonsten das neue Förderprogramm nicht auf die Bühne heben kann, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern ganz im Gegenteil in einem Umfeld, in dem immer weniger Fördermittel für Langzeitarbeitslose um Grundsicherungssystem zur Verfügung stehen, auch deshalb, weil die Jobcenter selbst erheblich unterfinanziert sind und eine gegenseitige Deckungsfähigkeit zwischen den Fördermittel und den Verwaltungsausgaben besteht (vgl. beispielsweise den Beitrag Jobcenter: Weniger Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, mehr für die Verwaltung), was dann auch praktisch genutzt wird. Zu dieser Problematik der Beitrag Unterfinanzierte Jobcenter: Von flexibler Nutzung zur Plünderung der Fördergelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vom 10. April 2015:

»Mehr als 520 Millionen Euro nutzten die Jobcenter 2014 nicht wie vorgesehen für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, sondern stopften damit Löcher in ihrem Verwaltungshaushalt. Einzelne Jobcenter zweckentfremdeten sogar zwei Drittel der Fördergelder. 2014 wanderten so mehr als 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat der Jobcenter, ganze 15 Prozent der insgesamt 3,5 Milliarden Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Und die Einzelfälle sind häufig deutlich dramatischer. Manche Jobcenter bedienen sich bei bis zu zwei Dritteln der Fördergelder, darunter das Jobcenter Ansbach (Landkreis) mit einer 66-prozentigen Umschichtung aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat, das Jobcenter Memmingen mit einer 63-prozentigen Umschichtung und das Jobcenter Lichtenfels, das 61 Prozent der Eingliederungsmittel nutzte, um seine Verwaltungskosten zu decken.«

Abschließend muss an dieser Stelle erneut die nicht nur grundsätzlich ungelöste, sondern durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren deutlich verschärfte Grundsatzfrage aufgeworfen werden: Was hilft wem wie?

Das Förderrecht im SGB III und im SGB II, vor allem mit Blick auf die besonderen Probleme der überaus heterogenen Gruppe der langzeitarbeitslosen Menschen, ist in den vergangenen Jahren zahlreichen Veränderungen unterworfen worden,  die sich summa summarum dahingehend zusammenfassen lassen, dass die Fördermöglichkeiten – man denke hier insbesondere an den Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung – immer restriktiver ausgestaltet worden sind. Das hat dann zum Beispiel dazu geführt, dass die förderrrechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich der im wesentlichen auf die Billigvariante der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) eingegrenzten öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten es mit sich bringen, dass man im Grunde nur noch völlig arbeitsmarktferne Maßnahmen durchführen kann, die dann aber gemessen werden an der (Nicht-) Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Den meisten Praktikern und Experten, die vorurteilsfrei auf die Arbeitsmarktpolitik schauen, ist eines seit langem klar: Wir brauchen nicht noch mehr einzelne Förderprogramme, die dann auch noch hoch selektiv ausgestaltet werden, so dass ihr Scheitern in der Lebensrealität vorprogrammiert ist, Sondern unabdingbar ist eine grundsätzliche Flexibilisierung und Erweiterung des Förderrechts  innerhalb des SGB II, die es überhaupt erst möglich machen würde, das vor Ort mit Blick auf den einzelnen Langzeitarbeitslosen individuelle Maßnahmen gestaltet werden könnten, die unterm Strich wesentlich effektiver sein würden. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit, bestimmten Menschen, die mittelfristig bis langfristig keine wirklich realistischen Perspektiven auf eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, dennoch eine Teilhabe an einer dann öffentlich organisierten Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Unabhängig von der dann zu konkretisierenden Frage, wer das sie finanziert, muss man gegenwärtig schlichtweg zu dem Ergebnis kommen, dass auch wenn man wollte, dieser Ansatz einer Kombination ganz unterschiedlicher Fördermaßnahmen schlichtweg vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Ausgestaltung des SGB II gar nicht realisierbar wäre. Insofern – aber das wäre ein eigenes, sehr umfängliches Thema – hätte der Bundestag die zentrale Aufgabe, eine umfassende Reform im Sinne einer erheblichen Entschlackung des bestehenden Förderrechts vorzunehmen. Vorschläge aus den Reihen der Praktiker und der Experten, die sich mit diesem Thema seit langem beschäftigen, gibt es viele. Wie so oft fehlt derzeit der politische Wille, diesen an sich notwendigen Weg auch zu gehen. Stattdessen fokussiert man erneut auf die scheinbar öffentlichkeitswirksame Installierung neuer Förderprogramme nach dem Motto: Seht ihr, wir tun doch was für Langzeitarbeitslose. Auch wenn das wieder einmal ein großes Chaos und zahlreiche Verwüstungen vor Ort anrichtet. Aber das müssen ja andere ausbaden.

Die Pille umsonst. Für Hartz IV-Empfängerinnen. Bis zum 27. Lebensjahr. Scheinbar eine gut gemeinte Forderung aus Bayern

Immer wieder sollte man etwas länger nachdenken, bevor man seiner Freude über eine Forderung – die „sozial“ daherkommt – Ausdruck verleiht. Und eine zustimmend-wohlwollende Reaktion wird bei vielen diese Meldung auslösen: CSU für kostenlose Pille an Hartz IV-Empfängerinnen. »Die CSU fordert kostenlose Verhütungsmittel für bedürftige Frauen. Bis zum 27. Lebensjahr sollen Hartz IV-Empfängerinnen die Pille oder andere Verhütungsmittel auf Rezept erhalten, sagte die Frauen-Unions-Vorsitzende Angelika Niebler am Samstag bei einem kleinen CSU-Parteitag in Bamberg. Damit soll die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche reduziert werden.«

Es gab unter den CSU-Bundestagsabgeordneten auch Widerstand gegen den letztlich erfolgreichen Antrag der Frauen-Union: „Die CSU ist die Partei der Familie“, sagte der schwäbische Abgeordnete Stephan Stracke. „Partei der Familie heißt Ja zu Kindern.“ Doch dieses Argument überzeugte die Mehrheit offensichtlich nicht, kann man der Meldung entnehmen.

Bei vielen wird diese Forderung deshalb auf positive Resonanz stoßen, weil die Hartz IV-Empfänger nun wirklich jeden Cent umdrehen müssen und dadurch entlastet werden könnten – wenn auch nur bis 27 Jahre, danach sollen sie wieder zahlen, obgleich man auch nach diesem Alter schwanger werden kann. Das ist schon eine erste Merkwürdigkeit, die mit der Forderung der CSU-Frauen einhergeht. Aber vielleicht lohnt es sich, hier einmal innezuhalten und grundsätzlich nachzudenken. Da könnte man auf einige kritische Gedanken kommen.

Forderungen haben oft eine subkutan wirkende Botschaft, einen Subtext, der oft im Unbewussten seine Wirkung richtig entfaltet. Und als eine solche Sub-Botschaft kann man die erneute Selektion von „Hartz IV-Empfängern“  für eine Sonderregelung verstehen. Ganz offensichtlich sieht man bei dieser Personengruppe den Bedarf, eine mögliche Schwangerschaft zu vermeiden – übrigens unter Zuhilfenahme von Verhütungsmitteln, was innerhalb der katholischen Kirche bekanntlich nicht unumstritten ist, um das einmal vorsichtig auszudrücken – und der eine oder die andere könnte auf den Gedanken kommen, dass dahinter auch die Vorstellung steht, dass  die Verhinderung einer Schwangerschaft von Hartz IV-Empfängerinnen irgendwie ein anstrebenswertes Ziel sein könnte.

Man darf und muss an dieser Stelle daran erinnern, dass es in der gesellschaftspolitischen Diskussion in diesem Land immer wieder nicht nur soziologisch-deskriptiv gemeinte Typisierungen nach der sozialen Lage gibt, sondern Begrifflichkeiten wie „bildungsferne“ Schichten bzw. „Unterschichten“ oder „kinderreiche Migrantenfamilien“ sehr oft leider auch in einem normativen und d.h. in diesem Kontext abwertenden Zusammenhang verwendet werden. Man denke an dieser Stelle beispielsweise an die hochproblematische Kollektivhaftung, in die sämtliche Harz IV-Empfänger genommen wurden, die Kinder haben, als es um die Frage ging, ob die Regelleistungen für die Kinder erhöht werden sollten – nicht wenige Politiker und auch Medienvertreter haben damals so argumentiert, dass das Geld gar nicht bei den Kindern ankommen würde, weil die Eltern es zweckentfremden würden, beispielsweise für Alkohol oder Zigaretten. Und völlig unbeschadet der mittlerweile vorliegenden empirischen Evidenz über das tatsächliche Verhalten von Eltern im Harz-IV-Bezug gegenüber ihren Kindern, dass in der allergrößten Zahl der Fälle dadurch gekennzeichnet ist, dass die Eltern eher auf die eigenen knappen Ressourcen zurückgreifen, um ihren Kindern an der einen oder anderen Stelle noch etwas zu ermöglichen, war die angesprochene Unterstellung, dass die Geldleistungen gar nicht bei den Kindern ankommen, ein wichtiger Begründungsstrang für die Implementierung von – nicht nur konzeptionell fragwürdigen, sondern auch grotesk niedrig ausgestatteten – Sachleistungen.

Und ein weiteres Beispiel sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen: Bei der Einführung der so genannten „Mütterrente“ wurde seitens der Regierung, hierbei vor allem der Unionsparteien, argumentiert, dass die höhere Bewertung von Kindererziehungszeiten für Kinder, die vor 1992 zur Welt gebracht worden sind, dadurch legitimiert sei, weil man die „Lebensleistung“ der – im Regelfall – anspruchsberechtigten Mütter dadurch honorieren möchte. Nun könnte man auf den – völlig logischen – Gedanken kommen, dass diese Begründung auch für Frauen gilt, die damals Kinder zur Welt gebracht haben, heute aber Grundsicherungsleistungen beziehen (müssen), weil ihre Rente vorne und hinten nicht reicht. Dem ist aber nicht so, wie  viele Rentnerinnen frustrierend zur Kenntnis nehmen mussten, denn die an sich höhere Rentenleistung aus der „Mütterrente“ wird vollständig verrechnet mit den Ansprüchen auf Grundsicherungsleistungen, so dass sich am Ende ein Nullsummen-Spiel ergibt. Vgl. dazu auch meinen Blog-Beitrag vom 10.01.2015: „Mütterrente“: Wenn die scheinbaren Spendierhosen in der Realität zu heiß gewaschen werden, dann laufen sie ein.
Auch beim so genannten „Betreuungsgeld“ sind wir mit einer Sonderbehandlung der Hartz IV-Empfänger konfrontiert: Mit dieser Leistung – so die offizielle Begründung – wolle man die Erziehungsleistungen (vor allem) der Mütter, die zuhause bleiben und ihr Kind nicht in eine Kindertageseinrichtung oder in die öffentlich geförderte Kindertagespflege geben, honorieren. Bei den Empfängerinnen von Leistungen der Grundsicherung gilt dies offensichtlich nicht, denn das in Anspruch genommene Betreuungsgeld wird hier ebenfalls in Anrechnung gebracht.

Diese ausgewählten Beispiele zeigen, dass die Menschen, die im Hartz IV-Bezug sind, an vielen Stellen einer Sonderbehandlung zu ihren Ungunsten unterworfen werden.

Bei den genannten Beispielen handelt es sich im Ergebnis immer um Entscheidungen, die dazu führen, dass die Betroffenen von der Inanspruchnahme anderer Leistungen exkludiert, also ausgeschlossen werden. Bei der CSU-Forderung nach einer kostenlosen Abgabe von Verhütungsmitteln für Hartz IV-Empfängerinnen bis zum 27. Lebensjahr scheint es sich aber – nur auf den ersten Blick – um das Gegenteil zu handeln, also dass man den Betroffenen etwas zusätzlich ermöglichen möchte. Im Ergebnis könnte sich allerdings erneut eine überaus problematisch wirkende Exklusion ergeben, in dem Sinne nämlich, dass wieder einmal zum Ausdruck gebracht wird, dass die Betroffenen letztendlich eben doch nicht so „wertvoll“ sind wie andere, die nicht auf diese Leistungen angewiesen sind. Damit würde im Ergebnis der vielfältigen und häufig unter der Oberfläche, damit aber überaus nachhaltig wirkenden Abwertung einer Personengruppe weiter Vorschub geleistet werden.

Manchmal wäre es wesentlich angebrachter, auf eine scheinbar begünstigende Sonderregelung zu verzichten, um zu vermeiden, dass in der Folge ein hoher Preis zu zahlen ist, der weit über dem liegt, was eine Pillenpackung heute kostet.