Hartz IV Austria? Jetzt natürlich auch noch die Zumutbarkeit von Arbeit. Ein Update.

In Österreich steigt die Arbeitslosigkeit und auch dort kann
bzw. muss man ein bekanntes Muster in solchen Phasen beobachten: Schnell wird
die öffentliche Diskussion auf „die“ Arbeitslosen gelenkt und es wird
nach „Ursachen“ für die Arbeitslosigkeit gesucht, die in der Person
der Arbeitslosen begründet liegen. Gerne wird dabei dann auch auf die angeblich
falschen Anreizwirkungen der Arbeitslosenunterstützung verwiesen und in deren
Absenkung ein „Lösungsansatz“ gesehen. In Deutschland hat diese Debatte
eine lange Traditionslinie, Stichworte wie – eher technisch –  „Lohnabstandsgebot“ oder – nur populistisch –
„soziale Hängematte“ mögen hier genügen. Die Arbeitsmarktforschung hat zeigen
können, dass es ein immer wiederkehrendes Muster des Auf und Ab dieser Debatten
gibt, das eng mit der Arbeitslosigkeitsentwicklung korreliert. Und mit bevorstehenden Wahlen. Auf diesen Aspekt haben beispielsweise schon Frank Oschmiansky, Silke Kull und Günther Schmid in ihrer 2001 veröffentlichten Studie Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte hingewiesen. Sie belegen für Deutschland schon vor der Hartz IV-Zeit, dass das Thema „Faule Arbeitslose“ seit Mitte der 1970er Jahren regelmäßig politisch und medial hochgespielt wird – veranlasst nicht etwa durch neue Erkenntnisse, sondern durch bevorstehende Wahlen. Die Forscher sprechen vom ei­ nem „deutlichen politischen Kalkül“ und einem wiederkehren­ den Zeitpunkt, nämlich ein bis eineinhalb Jahren vor einer Bundestagswahl, und dies besonders ausgeprägt in Zeiten schwächelnder Konjunktur. 

Die aktuelle Debatte in Österreich wurde ausgelöst durch
Äußerungen in einem Interview mit dem österreichischen Finanzminister Hans-Jörg
Schelling von der ÖVP (Schelling:
Arbeitsloseneinkommen in Österreich ist zu hoch
) mit völlig falschen
Aussagen der Herrn Finanzministers wie: „Es ist auch deshalb schwer,
Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist
wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das
offenbar besser funktioniert“ – aber  seitdem wird landauf, landab darüber geredet,
ob Arbeitslose in Österreich zu viele Jobangebote ablehnen, die Notstandshilfe
zu lange gewährt wird, die Mindestsicherung streng genug kontrolliert wird und
ob nicht nach deutschem Hartz-IV-Vorbild mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt
werden sollte, öfters schlechtbezahlte Teilzeitjobs anzunehmen. Vgl. zu der
ersten Runde der Diskussion in Österreich im Anschluss an die mehr bzw.
eigentlich weniger gehaltvollen Ausführungen des Herrn Ministers den
Blog-Beitrag Hartz
IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen.
Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik
vom 26.
Juli 2015.

Und es überrascht nicht, dass auch wieder – wie in
Deutschland – sofort die beliebte Karte der Zumutbarkeit von Arbeit gezogen
wird, genau an dieser Stelle hat der österreichische Finanzminister dann auch
nachgelegt: Schelling:
Arbeitslose sollen weniger Jobs ablehnen dürfen
. Da ist es dann auch schon
fast egal, dass selbst das Vorstandsmitglied des österreichischen
Arbeitsmarktservices (AMS), also dem dortigen Pedant zur Bundesagentur für
Arbeit, Johannes Kopf, klar Stellung bezogen hat: Zumutbarkeit
kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit
. Aber hier geht es ja auch nicht um
Fakten, sondern um Emotionen.

Und wieder einmal geht es viel zu selten um die Menschen,
die davon betroffen sind, über die geredet und so manches behauptet wird und
deren Schicksale unter den großen Etiketten wie „Langzeitarbeitslose“ oder
„Hartz IVler“ in der Regel verschüttet und damit unsichtbar gemacht werden.

Vor diesem Hintergrund ist es ein kleiner, aber wichtiger
Beitrag gegen die populistische Dampfwalze, die sich in Bewegung gesetzt hat,
wenn in Medien der Blick geöffnet wird für die individuelle Seite der Medaille.
Die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ hat das anhand von zwei
Porträts versucht: Langzeitarbeitslos
in Wien: „Die Wohnung wird zum Gefängnis“
stellt uns einen
47-jährigen Wiener Akademiker vor, der seit vier Jahren verzweifelt einen Job sucht
und mit Blick auf Deutschland der Artikel Langzeitarbeitslos
in Berlin: „Freunde kann ich mir nicht mehr leisten“
, da geht es
um den 52-jährigen Potsdamer Jürgen Weber, der seit 14 Jahren arbeitslos ist und
seit zehn Jahren von Hartz IV lebt.

Und als ein weiteres Schlaglicht auf die Situation der
deutschen Grundsicherungsempfänger im Hartz IV-System in Deutschland – und vor
allem, wie unerwartet und schnell man da rein und kaum oder gar nicht mehr
rauskommen kann – vgl. diese Fallgeschichte: Armut
ist ein Vollzeitjob. Christine Schultis und ihr Absturz an den Rand der
Gesellschaft
.

Ein besonderes Problem in Deutschland – da sollten die Österreicher genau hinschauen – ist die Tatsache, dass wir in den vergangenen Jahren eine enorme „Verfestigung“ bzw. „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit beobachten mussten, eine dauerhafte Exklusion, deren Ausbreitung im allgemeinen Gerede über das deutsche „Jobwunder“ leider viel zu oft ausgeblendet bzw. verschwiegen wird. Auch hier kann neben allen Statistiken die Sicht der Betroffenen helfen: Vgl. dazu das Video 10 Jahre leben mit Hartz IV: Betroffene berichten auf der Seite O-Ton Arbeitsmarkt. Es geht im Schatten des zehnjährigen „Jubiläums“ von Hartz IV um Langzeitarbeitslose, für die das auch ein persönliches ist, denn so lange sind sie schon im Leistungsbezug: »Beim Heilbronner Beschäftigungsträger Aufbaugilde sind drei Betroffene ehrenamtlich beschäftigt. O-Ton Arbeitsmarkt haben sie ihre Geschichte erzählt und den Leiter der örtlichen Agentur für Arbeit mit ihren Problemen konfrontiert.«

Hartz IV-Anwälte dürfen umsonst arbeiten

Immer wieder wird von den zahlreichen Klagen vor den
Sozialgerichten berichtet, die das Hartz IV-System betreffen. Neben den vielen
erfolgreichen Klagen gegen die Jobcenter und der damit verbundenen Rolle der
Anwälte, den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen, gab es auch an der einen
oder anderen Stelle in den Medien Hinweise darauf, dass es findige Anwälte
geben würde, die ein Geschäftsmodell mit Hartz IV-Empfängern aufgebaut haben
und die Jobcenter mit teilweise fragwürdigsten Klagen überziehen (vgl. beispielsweise
den Beitrag Gierige
Anwälte – Das Geschäft mit Hartz IV
im ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus am
25.02.2015: Einige Anwälte, so die These des Beitrags, überziehen die Jobcenter
mit einer Flut von Widersprüchen und Klagen. Finanziell gewinnt der Anwalt
immer).

Eine neue und abweichende Variante lernen wir durch den
folgenden Artikel kennen: Gut
verteidigt, trotzdem pleite
, so hat Antje Lang-Lendorff ihren Beitrag
überschrieben: »Manche Jobcenter zahlen Anwälten von Arbeitslosen kein Honorar
mehr, sondern verrechnen es mit deren Schulden. Anwaltskammer sieht Schutz von
Armen in Gefahr.«

Sie beginnt mit einem konkreten Fall, der die Anwältin
Aglaja Nollmann betrifft:

»Das Jobcenter war der Ansicht, dass ihr Mandant zu viel
Geld ausgezahlt bekommen habe, und verlangte es zurück. Die Anwältin für
Sozialrecht legte Widerspruch ein – und bekam recht. Trotzdem erhält sie für
ihre Leistung nun kein Honorar. Rund 800 Euro, die ihr das Jobcenter hätte
erstatten sollen, seien mit den Schulden ihres Mandanten verrechnet worden,
erzählt sie. Das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg habe dieses Honorar zwar
anerkannt. „Es hat mir aber auch geschrieben, dass ich dieses Geld nicht
kriege.“«

Auch andere im Sozialrecht tätige Anwälte bestätigen eine
solche Vorgehensweise. Wie aber kann das sein?

»In einem Praxishandbuch der Bundesagentur für Arbeit wird
darauf hingewiesen, dass nicht der Anwalt, sondern der Kläger – also der
Arbeitslose – Anspruch auf Kostenerstattung habe. Und weiter: „Vor jeder
Auszahlung von zu erstattenden Kosten (…) ist zu prüfen, ob gegen den Kostengläubiger
Forderungen seitens des Jobcenters bestehen, die aufgerechnet werden können.“
Im Klartext heißt das: Wenn Arbeitslose dem Jobcenter Geld schulden, ist es
gewünscht, dass das Anwaltshonorar mit diesen Schulden verrechnet wird. Die
Anwälte gehen dann leer aus.«

Das kann natürlich dazu führen, dass
Grundsicherungsempfänger Schwierigkeiten bekommen können, überhaupt einen
Rechtsbeistand zu finden, wenn der damit rechnen muss, nicht auf seine Kosten
zu kommen.

Für Rechtsanwälte werde es immer schwerer, den sozial
Schwachen einen wirkungsvollen Zugang zum Recht zu gewährleisten, so Marcus
Mollnau, Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin. Die Anwaltskammer setze sich
dafür ein, „die gesetzlichen Regelungen zu ändern und ein Aufrechnungsverbot zu
verankern“.
Wenn man sich das klar macht – das hat schon was: Der
Mandant eines Anwalts wird (teil)entschuldet auf Kosten des erfolgreichen
Anwalts und zugunsten der unterlegenen Partei, die aber dem Mandaten vorher
einen Kredit gewährt hat.
Und das Problem der Verschuldung von Hartz IV-Empfänger ist
nicht irgendein Randproblem. Ende April 2015 konnte man beispielsweise lesen: Langzeitarbeitslose
brauchen häufiger Kredite
.

»Wenn das Arbeitslosengeld II, Hartz IV genannt, nicht
reicht, geraten Langzeitarbeitslose schnell in eine Abwärtsspirale.
Zehntausende sind jeden Monat auf zusätzliche Darlehen für Waschmaschine,
Kühlschrank, Kleidung oder andere Dinge angewiesen. Im vergangenen Jahr
erkannten die Jobcenter pro Monat im Schnitt bei rund 18.700 Hartz-IV-Beziehern
einen Anspruch auf ein solches Darlehen an. Das geht aus einer Antwort der
Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten
Sabine Zimmermann hervor … Im Vergleich zum Jahr 2013 mit im Schnitt rund
17.800 Darlehen pro Monat ist die Zahl 2014 um mehr als fünf Prozent gestiegen.
Im Jahr 2010 waren es sogar nur 15.500 Kredite pro Monat – seither ist die Zahl
demnach um knapp 21 Prozent gestiegen.«

Hartz IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen. Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik

Deutschland ist bekanntlich eine weltmeisterliche Exportmaschine – und offensichtlich gehen nicht nur Autos der Premiumklasse, Maschinen aus dem Schwabenland, Chemieprodukte für Landwirtschaft und Kriegsführung über den Ladentisch, sondern auch politische Vorlagen. Griechenland muss das gerade erleben – und jetzt werden aus unserem Nachbarland Österreich Importwünsche hinsichtlich eines der in Deutschland selbst umstrittensten sozialpolitischen Produkte der jüngeren Vergangenheit angemeldet: Hartz IV.

Konkret geht es nicht um irgendwelche Hinterbänkler, die das Sommerloch füllen wollen, sondern um den österreichischen Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP), der in einem Interview so zitiert wird: »Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert.« Diese Äußerung hat nun eine breite und heftige Diskussion ausgelöst. Hartz IV kommt in Österreich an, so ist einer der Artikel dazu überschrieben.

Allerdings gibt es parteiübergreifend heftigen Gegenwind: Zu hohes Arbeitsloseneinkommen: Hagel an Kritik für Schelling. Zuerst einmal eine kurze Skizzierung des bestehenden Sicherungssystems bei Arbeitslosigkeit in Österreich, denn dann wird verständlich, warum das auf so viel Widerspruch stößt.

In »manchen Punkten ist das österreichische Arbeitslosengeld-System … sogar schlechter als die deutschen Hartz-Regelungen. Wer in Österreich seine Arbeit verliert, bekommt unmittelbar nach dem Jobverlust weniger Arbeitslosengeld als in Deutschland. Zumindest, was die Nettoersatzrate betrifft: In Deutschland beträgt das Arbeitslosengeld 65 Prozent des vorher verdienten Nettolohns, in Österreich sind es nur 55 Prozent. Sie wurde seit den 1990er Jahren sukzessive reduziert. 1993 sank die Nettoersatzrate, die von der Höhe des letzten Gehalts berechnet wird, von 57,9 Prozent auf 57 Prozent 1995 auf 56 Prozent und in weiterer Folge im Jahr 2000 auf 55 Prozent. Österreich hat damit eine der niedrigsten Nettoersatzraten beim Arbeitslosengeld Europas. Die Bezugsdauer ist gestaffelt, je nach Alter und Beschäftigungsdauer erhält man 20, 30, 39 bzw. 52 Wochen lang Arbeitslosengeld … Danach kann man Notstandshilfe beantragen. Sie ist unbefristet und macht 95 Prozent des vorher bezogenen Arbeitslosengeldes. Das wiederum ist vergleichsweise viel im internationalen Vergleich. Wer also in Österreich länger arbeitslos bleibt, für den ändert sich bei der Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe wenig. Langzeitarbeitslose in Deutschland stürzen dagegen ab.« (Hervorhebungen nicht im Original). Die Sozialhilfe der Bundesländer ist mittlerweile ersetzt worden durch die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS). Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung besteht aus 2 Teilen: 620,87 Euro Grundbetrag und  206,96 Euro Wohnkostenanteil pro Monat. Zusammen sind das 827,83 Euro. Für Kinder gibt es jeweils 149,01 Euro. Je nach Bundesland können höhere Beiträge sowie Ergänzungsleistungen ausgezahlt werden, z.B. wenn die tatsächlichen Wohnkosten höher sind. Wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe niedriger ist als die Mindeststandards der Bedarfsorientierten Mindestsicherung und kein relevantes Vermögen vorhanden ist, kann eine ergänzende Mindestsicherungsleistung bezogen werden.
Wie man unschwer sehen kann, finden wir in Österreich eine Systematik, die es auch mal in Deutschland mit dem Arbeitslosengeld und der (unbefristeten, ebenfalls am ehemaligen Arbeitseinkommen orientierten) Arbeitslosenhilfe gegeben hat, bis die Arbeitslosenhilfe mit der damaligen Sozialhilfe nach dem BSHG zum Arbeitslosengeld II nach dem SGB II zusammengelegt wurde. Zum anderen ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzer als die beim Arbeitslosengeld I in Deutschland, danach aber gibt es die Notstandshilfe, die bei marginaler Absenkung dem vorherigen Arbeitslosengeld entspricht.

Insofern wäre eine Orientierung am deutschen Hartz IV-Modell tatsächlich für viele Arbeitslose ein herber Einschnitt.

Wie auch bei uns in Deutschland wird die Debatte mit den gleichen Vorurteilen und auch schlichten Unwahrheiten geführt, bei denen es lediglich darum geht, Stimmung zu machen gegen die Arbeitslosen. Bislang der einzige, der den Finanzminister öffentlich unterstützt, ist der  ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel, der mit diesen Worten zitiert wird: Der Finanzminister habe »vollkommen recht, dass Arbeitsanreize fehlen, wenn die erhaltenen Leistungen ohne Arbeit fast genauso hoch sind wie ein Arbeitseinkommen. Genau hier gilt es anzusetzen.« Fast genauso hoch wie ein Arbeitseinkommen ist angesichts der schon skizzierten Ersatzraten beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe kein Euphemismus mehr, sonder schlichtweg falsch. So auch die innerösterreichische Kritik:

»“Fassungslos über so viel arrogante Unwissenheit“ reagieren die Grünen Abgeordneten Birgit Schatz und Judith Schwentner. „Bei einer Nettoersatzrate von 55 Prozent könne man kaum davon sprechen, dass das Arbeitslosengeld auch nur annähernd so hoch sei wie ein angemessenes Erwerbseinkommen. Fakt sei vielmehr, dass Arbeitslosigkeit in Österreich wegen des niedrigen Arbeitslosengeldes der Einstieg in die Armut sei. Für Sozialsprecherin Schwentner ist mit Schellings Aussagen klar, dass dieser keine Ahnung von der Realität habe.«

Dazu auch der Blog-Beitrag Weltfremde Politik: Die Mär vom faulen, reichen Arbeitslosen mit ein paar Rechenbeispielen.

Wie bei uns wird natürlich reflexhaft das Argument der mangelnden Arbeitsanreize wie eine Monstranz von denen vor sich hergetragen, die auf eine Absenkung der Sozialleistungen zielen. Dazu hat sich auch das Arbeitsmarktservice (AMS) als österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit zu Wort gemeldet:

»AMS-Chef Johannes Kopf hielt in einem früheren Interview … die Anreize eine Arbeit aufzunehmen, in Österreich für groß genug. Einen Sonderfall ortete er aber: „Wenn zum Beispiel eine Frau mit den Kindern zu Hause ist und der Vater ein Fall für die Mindestsicherung, dann ist diese für die Familie so hoch, wie er oftmals kaum allein verdienen kann. Das ist eine Inaktivitätsfalle. Da müsste es die Möglichkeit geben, die Mindestsicherung bei der Arbeitsaufnahme teils weiter zu beziehen.“«

Damit beschreibt er eine Problematik, die wir auch in Deutschland kennen, die aber primär mit den Sicherungsdefiziten in anderen Bereichen wie dem Familienlastenausgleich zu tun haben.

Und zu der Ausgangsthese von dem angeblich zu hohen Arbeitslosengeld in Österreich finden wir bei der OECD in dem Anfang Juli veröffentlichten aktuellen Beschäftigungsausblicks für unser Nachbarland den folgenden Hinweis: »Besonders hoch ist in Österreich laut OECD die Einkommensungleichheit. Dies lasse sich durch chronische Arbeitslosigkeit, niedriges Kompetenzniveau einiger Bevölkerungsgruppen und das generell niedrige Arbeitslosengeld erklären« (OECD: Österreich sollte AMS-Budget aufstocken). Das Budget für das Arbeitsmarktservice (AMS) sollte erhöht werden, schlägt die OECD vor.

Man kann nur hoffen, dass sich die Österreicher nicht in die Hartz IV-Falle locken lassen. Die müssen nicht die gleichen Fehler machen wie wir.

Ganz weg, ein wenig weg, so lassen, wie es ist oder noch härter auch für die Älteren. Sanktionen im Hartz IV-System vor dem Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages

Eines der am heftigsten umstrittenen Themen im Grundsicherungssystem sind die Sanktionen. Für die einen ein Ding der Unmöglichkeit, dass man das Existenzminimum weiter beschneidet bis hin zu einer „Totalsanktionierung“. Von Totalsanktionen waren im vergangenen Jahr 7.500 Hartz-IV-Bezieher betroffen, davon knapp 4.000 unter 25 Jahren. Die andere Seite sieht in den Sanktionen ein notwendiges Element, mit dem der notwendige Druck aufgebaut werden kann, sich regelkonform im Sinne des Grundsicherungssystems zu verhalten. Diese Lagerbildung mit einigen Grautönen dazwischen wurde erneut deutlich bei einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages im Kontext der Forderungen nach einer generellen Abschaffung der Sanktionen durch die Fraktion Die Linke (18/3549, 18/1115) sowie seitens der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einem Sanktionsmoratorium, außerdem sollen die Kürzungen künftig auf höchstens zehn Prozent des Regelsatzes begrenzet werden (18/1963).

Mehr als eine Million Sanktionen wurden im vergangenen Jahr gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt – weil sie einen Termin im Jobcenter versäumten, eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme verweigerten oder einen angebotenen Job ablehnten – wobei man darauf hinweisen muss, dass der größte Anteil der verhängten Sanktionen – also Leistungskürzungen – auf den Tatbestand eines Meldeversäumnisses zurückzuführen ist, nicht etwa auf die Ablehnung eines Stellenangebots. Und auch die Verweigerung einer Maßnahme kann ja durchaus – wie Praktiker wissen – nicht nur in einer allgemeinen Unlust des Leistungsbeziehers begründet sein, sondern durchaus auch in dem, was als „Maßnahme“ gemacht werden soll.

Wie dem auch sein: »Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales … sprach sich eine Mehrheit der geladenen Experten für die Beibehaltung von Sanktionsmöglichkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) aus. Vertreter aus dem Bereich der Wirtschaft nannten das System der Sanktionen ausgewogen. Auch Landkreistag und Städtetag sprachen sich – ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gegen eine generelle Abschaffung oder ein Moratorium der Sanktionen aus«, berichtet der Pressedienst des Bundestages in seinem Bericht Streit um SGB II-Sanktionen. Es gab aber auch davon abweichende Stellungnahmen.

Eine klare Ablehnung der Sanktionsregelungen kam von der Diakonie Deutschland. In deren Stellungnahme zur Anhörung heißt es mehr als deutlich:

»Das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum darf nicht beschnitten werden. Sanktionen führen zunehmend in existenzgefährdende Armut und Wohnungslosigkeit. Zudem gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg für positive Effekte von Sanktionen auf die Leistungsberechtigten. Daher setzt sich die Diakonie Deutschland für die Abschaffung von Sanktionen im SGB II, eine Verringerung von Sanktionsinstrumenten und bessere Hilfen für Langzeitarbeitslose ein. Jede Begrenzung der bisherigen Sanktionspraxis ist bereits ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zu einer Situation, in der sämtliche existenzsichernden Leistungen gestrichen werden können und Menschen in existenzbedrohliche Not geraten. Die Diakonie Deutschland begrüßt den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 26. Mai dieses Jahres, das Bundesverfassungsgericht zur Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Sanktionen anzurufen.«

Soweit wie die evangelische Konkurrenz wollte die katholische Seite, vertreten durch die Caritas, dann nicht gehen. Die Caritas fokussiert neben partiellen Abmilderungen bestehender allgemeiner Sanktionsregelungen vor allem auf die besondere Situation der jungen Menschen unter 25, für die es im SGB II ein verschärftes Sanktionsregime gibt: Diese verschärften Sanktionen für Jugendliche seien nicht vertretbar. Sie könnten durchaus kontraproduktiv wirken, wenn etwa durch einen Verlust der Wohnung die Jugendlichen in kriminelle Bereiche abrutschen. In ihrer Stellungnahme schreibt die Caritas unter Nummer 1 der Forderungen: »Die Sonderregelungen für Jugendliche sind noch in dieser Legislaturperiode abzuschaffen. Zu scharfe Sanktionierung wirkt bei Jugendlichen kontraproduktiv. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein Teil der Jugendlichen bei scharfer Sanktionierung das Vertrauen zu den Jobcentern verliert. Der Kontakt zu ihnen geht verloren und sie „verabschieden“ sich aus der Förderung. Eine Basis für wirksame Zusammenarbeit mit jungen Menschen besteht nicht mehr.«

Diese Ausführungen haben offensichtlich Stefan von Borstel, der als einer der wenigen über die Anhörung berichtet hat, offensichtlich zu seiner fragend ausgestalteten Überschrift inspiriert: Führen Hartz-IV-Sanktionen zu Straftaten?  Seine Wahrnehmung aus der Anhörung: »Viele Experten plädierten aber für eine Entschärfung der Sanktionen – insbesondere für Arbeitslose unter 25 Jahren. Gerade bei Jugendlichen könnten harte Sanktionen dazu führen, dass sie sich vollständig zurückzögen und in die Kriminalität abtauchten, um sich das Lebensnotwendigste zu besorgen. Nach einer aktuellen Studie sind rund 20.000 junge Menschen komplett aus der Betreuung von Jobcenter oder Jugendamt herausgefallen. Über ihren Verbleib weiß man nichts.« Dazu auch der Blog-Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“ vom 11.06.2015.

Von mehreren Seiten wurde auch diese Forderung vertreten: Die Gelder für die Unterkunft sollten im Sanktionsfall nicht gekürzt werden, damit die Hartz-IV-Empfänger nicht auch noch ihre Wohnung verlieren und in die Obdachlosigkeit abrutschten, so Sozialverbände, Kommunen und Bundesagentur für Arbeit.

Irgendwo in der Mitte hat sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verortet. »Für eine stärkere Gewichtung des Förderns im System des „Forderns und Förderns“ sprach sich der Vertreter des DGB aus. Die Eingliederungsvereinbarungen müssten individueller als bisher auf den Einzelnen zugeschnitten seien. Außerdem sollten Leistungskürzungen nach Ansicht des DGB auf maximal 30 Prozent beschränkt werden«, berichtet der Pressedienst des Bundestages.

Erwartbar anders die Position der Arbeitgeber, auch hinsichtlich der Forderung nach einer Abschwächung des rigiden Sanktionsregimes für die Unter-25-Jährigen. Dazu der Pressedienst des Deutschen Bundestages in seinem Bericht über die Anhörung:

»Aus Sicht der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) sind die „großen Erfolge“ bei der Integration Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsmarkt auch auf die Sanktionen zurückzuführen. Diese seien ein Kernelement des Prinzips von „Fördern und Fordern“, hieß es von der BDA ebenso wie vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Die Regelung, wonach Unter-25-Jährige härtere Sanktionen befürchten müssen als Über-25-Jährige, ist nach Meinung der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft angemessen. Auch die BDA vertrat die Ansicht, dass diese Sanktionen zu einer stärkeren Kooperation der Arbeitssuchenden mit den Jobcentern führen würden. Von einer Abschwächung solle daher abgesehen werden, sagte die BDA-Vertreterin.«

Aber wer jetzt denkt, die Arbeitgeber gerieren sich am radikalsten hinsichtlich der Sanktionsfrage, der hat nicht mit den kommunalen Spitzenverbänden gerechnet – ein echtes Trauerspiel, wenn man bedenkt, dass in deren Beritt auch die Jugendhilfe fällt und man einfach mal mit seinen eigenen Leuten vor Ort hätte sprechen müssen, wie denn so die harten Sanktionen „wirken“ bei den jungen Menschen:

»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.«

Also nicht die härteren Regelungen für die Jugendlichen runter fahren, sondern die für die Erwachsenen entsprechend nach oben anpassen. Das kann man beim besten Willen nur durch eine funktionärsbedingte erhebliche Eintrübung der Sicht auf die Realitäten vor Ort erklären.

Alle schriftlichen Stellungnahmen wurden in der Ausschussdrucksache 18(11)394 veröffentlicht.

Nichts Neues, alte Positionierungen werden hier aufgewärmt, vgl. dazu beispielsweise nur den Blog-Beitrag Das große Durcheinander auf der Hartz IV-Baustelle.  Sanktionen verschärfen oder ganz abschaffen, mit (noch) mehr Pauschalen das administrative Schreckgespenst Einzelfallgerechtigkeit verjagen oder den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen aus dem SGB II in das SGB XII „outsourcen“? vom 19.06.2014, also vor genau einem Jahr.

So wird das nichts, wenn einem an der entscheidenden Grundsatzfrage gelegen ist: Sanktionen im Grundsicherungssystem ja oder nein? Diese Grundsatzfrage berührt ein zentrales Konstruktionsprinzip des auf dem SGB II basierenden Grundsicherungssystems: Es handelt sich um ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“, zumindest für nicht wenige unter den Hartz IV-Empfänger, für die der Leistungsbezug nicht nur eine überschaubare transitorische Lebensphase ist. Das ist unvermeidlich: Würde man, wie das die Linke fordert, generell alle Sanktionen abschaffen, dann wäre das ein erheblicher Schritt in Richtung auf ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Tragende Säulen der bestehenden Hartz IV-Architektur würden zusammenbrechen, deshalb auch der Widerstand der Arbeitgeber, aber auch – so die These hier – die vorsichtige Positionierung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) irgendwo zwischen Baum und Borke.

Einen weiterführenden Schritt wird es wohl erst geben, wenn sich das Bundesverfassungsgericht der Grundsatzfrage annimmt bzw. annehmen muss, gibt es nun doch den Vorlagenbeschluss S 15 AS 5157/14 des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht, in dem explizit die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelung postuliert und eben zur Prüfung vorgelegt wird. Dazu auch ausführlicher der Blog-Beitrag: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.
Wir werden uns noch gedulden müssen in dieser Angelegenheit.

Nachtrag (03.07.2015):
Eine Teilnehmerin an der Anhörung des Ausschusses hat mich per Mail darauf hingewiesen, dass eine Aussage, die dem Artikel des Pressedienstes des Bundestags entnommen und hier zitiert wurde, nicht stimmen könne – hinsichtlich der verschärften Sanktionen für die Unter-25-Jährigen.
Offensichtlich ist den Verfassern des Beitrags in einer ersten Version – aus der ich zitiert habe – ein Fehler unterlaufen. Die Passage, die ich dieser ersten Variante entnommen und in meinem Beitrag (s.o.) zitiert habe, ging so:


»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.«


Wenn man die gleiche Quelle jetzt anschaut, dann findet man diese (inhaltlich richtige) Variante:


»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Jüngeren die Regelungen der Über-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages.«


Damit wäre klar gestellt, dass die kommunalen Spitzenverbände keineswegs eine Übertragung des schärferen Sanktionsregimes auf die älteren Hartz IV-Empfänger fordern, sondern umgekehrt eine „Abschwächung“ für die Jüngeren befürworten. Man hätte sich vom Pressedienst des Bundestages allerdings gewünscht, dass er auf die zwischenzeitlich offensichtlich vorgenommene Korrektur wenigstens in Form einer Fußnote offenlegt, so muss man den Eindruck bekommen, dass die jetzt vorhandene Formulierung von Anfang an so da drin stand. Dem war nicht so.

Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden

Sanktionen sind eines der umstrittensten Themen innerhalb der Grundsicherung, dem Hartz IV-System. Dazu gibt es jetzt einen Vorstoß aus den unteren Etagen der Sozialgerichtsbarkeit direkt in die Höhen des Bundesverfassungsgerichts:
»Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts sei der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen, teilte das Gericht in Gotha am Mittwoch mit. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen.«
Das Sozialgericht Gotha sei nach eigenen Angaben – so die Meldung des MDR unter der Überschrift Sozialgericht hält ALG-II-Kürzung für verfassungswidrig – das bundesweit erste Gericht, das die Frage aufwerfe, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zum Sachverhalt, bei dem es letztendlich um die Frage der Verfassungswidrigkeit einer 60%-Kürzung geht:

»Das Gericht urteilte in einem Fall, bei dem ein Mann vom Jobcenter Erfurt Arbeitslosengeld (ALG) II bezog. Nachdem er ein Arbeitsangebot abgelehnt hatte, wurde ihm das ALG II um 30 Prozent, also um 117,30 Euro monatlich gekürzt. Wegen einer weiteren Pflichtverletzung – der Mann lehnte eine Probetätigkeit bei einem Arbeitgeber ab – wurde ihm die Leistung später um weitere 30 Prozent gekürzt, insgesamt also nun um 234,60 Euro pro Monat. Dagegen reichte der Mann Klage am zuständigen Sozialgericht Gotha ein.«

Die 15. Kammer des SG Gotha sieht hier das Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

»So bezweifeln die Richter, dass die Sanktionen mit der im Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde und der im Artikel 20 festgeschriebenen Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik vereinbar sind. Denn aus diesen Artikeln ergebe sich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das bei einer Kürzung oder kompletten Streichung des Arbeitslosengeldes II gefährdet sei, so das Gericht. Außerdem stünden die Sanktionen im Widerspruch zu den Artikeln 2 und 12 des Grundgesetzes, weil sie die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen gefährden könnten. Die genannten Grundgesetz-Artikel garantierten jedoch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«

Die Befassung des höchsten deutschen Gerichts wird in zweierlei Hinsicht interessant:

Zum einen haben wir – soweit man das von außen der Sachverhaltsdarstellung entnehmen kann – im vorliegenden Fall eine Arbeitsverweigerung als sanktionsauslösenden Tatbestand, damit wäre der „Kernbereich“ dessen berührt, was die Befürworter von Sanktionen immer vorbringen, also die aktive Verweigerung einer vielleicht möglichen Beendigung der Hilfebedürftigkeit durch eine Arbeitsaufnahme mit der Folge, dass die Solidargemeinschaft gegen diese missbräuchliche Inanspruchnahme geschützt werden müsse.

Zum anderen – und aus einer grundsätzlichen Perspektive wesentlich relevanter – wird hier ein Grundwiderspruch (?) im bestehenden Grundsicherungssystem aufgerufen: Immer wieder wird auf die wegweisende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 über die (teilweise, weil auf die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs bezogene) Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelleistungen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) hingewiesen. In den Leitsätzen zu dieser Entscheidung findet sich die folgende Formulierung:

»Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.«

Im weiteren Verlauf der Entscheidungsbegründung des BVerfG findet man die folgende Ausführung:

»Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden …«

Vor dem Hintergrund dieser Formulierung kann man schon auf die an sich naheliegenden Frage kommen, wie es denn im Lichte des offensichtlich unbedingten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums möglich sein soll und kann, einem Hilfebedürftigen dieses unbedingte Grundrecht zu entziehen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

An dieser Stelle sei auf eine weitere Entscheidung des BVerfG hingewiesen, aus dem Jahr 2012, als die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz festgestellt wurde. In BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 findet man bei den Leitsätzen den folgenden Passus:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und unter der Absatz-Nr. 120 findet man den folgenden Hinweis:

»Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss.«

In der ersten Gesamtschau verfestigt sich das Bild, dass eine Sanktionierung, wie man sie dem Sachverhalt des Sozialgerichts Gotha entnehmen kann, gegen die Unbedingtheit dieses Grundrechtsanspruchs verstößt.

In diese Richtung argumentierte im Jahr 2013 auch der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof und damalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković in einem Streitgespräch mit Uwe Berlin, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, im Rahmen der Veranstaltung „Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?“ am 10.07.2013 in Berlin. In einem Thesenpapier postulierte Nešković:

»Die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II verstoßen in zweierlei Hinsicht fundamental gegen das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums:

  • Es sind keine das Grundrecht ausgestaltenden Normen, wie sie das BVerfG zur Bestimmung des Leistungsumfangs verlangt. Denn sie berechnen keinen Bedarf, sondern ignorieren ihn. Da bereits Normen, die auf einer willkürlichen Bedarfsschätzung beruhen, gegen das Grundrecht verstoßen (Hartz-IV- Entscheidung des BVerfG), muss dies erst recht für Normen gelten, die Leistungen völlig abgekoppelt von dem tatsächlichen Bedarf zuerkennen.
  • Es liegt jedenfalls ab einer Sanktion von mehr als einem Drittel der Regelleistung außerdem eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums vor. Dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum AsylbLG unmissverständlich erkannt: „Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde …, ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“«

Aber so eindeutig ist es dann auch wieder nicht, wie die Ausführungen von Uwe Berlit zeigen (auch er hatte ein Thesenpapier veröffentlicht sowie eine längere Abhandlung: Uwe Berlit: Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig? In: info also, Heft 5/2013. S. 195 ff.). Seine – von Nešković’s Thesen stark abweichende – Auffassung, hier zitiert aus seinem Artikel in info also:

»Rechtsprechung und Literatur halten nahezu einhellig die Sanktionsregelungen des SGB II insgesamt und weitgehend auch im Detail für mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar … Die These von der Verfassungswidrigkeit des Sanktionensystems insgesamt hat juristisch einen erheblichen Begründungsbedarf. Die Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen des SGB II ist nicht seit Jahren umstritten. Die Rechtsprechung – bis hin zum BSG – wendet sie an. Das verfassungs- und sozialrechtliche Schrifttum sieht weit überwiegend dem Grunde nach keine Bedenken. Allenfalls in Einzelfragen wird für eine verfassungskonform einschränkende Auslegung plädiert. Beispiele sind die besondere Sanktionierung unter 25-Jähriger oder die vormalige Sanktionierung des Nichtabschlusses einer Eingliederungsvereinbarung.«
Es ist interessant, wie Berlit argumentiert, wenn es um die bereits angesprochene – scheinbare (?) – Widersprüchlichkeit geht, dass ein Grundrecht auf eine Existenzminimum durch eine Sanktionieren nach unten unterschritten wird:

»Grundrechtsdogmatisch sind Sanktionen kein Eingriff in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, sondern eine abgesenkte Form der Leistungsgewährung wegen – vermeintlich oder tatsächlich – geringerer Schutzwürdigkeit.«

Letzendlich – und das macht den Ausgangsfall aus Gotha, der nun an Karlsruhe weitergeleitet wird, so spannend – geht es um ein ungelöstes Grunddilemma des gesamten Grundsicherungssystems im SGB II: Hartz IV stellt sich dar als ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ und aus dieser Charakterisierung lassen sich auch ganz zentrale Konfliktfelder des SGB II-Systems ableiten. Nun könnte man vor dem Hintergrund der Grundrechtsausführungen des BVerfG auf die Idee kommen, dass aber dann wenigstens das Existenzminimum geschützt sein müsse gegen eine Absenkung.

Hierzu finden wir in dem Beitrag von Berlit (2013) einige interessante Hinweise:

»Weder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen oder sonst eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums«, so Berlit (2013: 199). Er geht hier explizit ein auf das bereits zitierte Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010:
»Das Regelbedarfsurteil befasst sich nur mit der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs. Der Fokus liegt nicht auf den tatbestandlichen Leistungsvoraussetzungen.« Und dann kommt der entscheidende Passus:

»Bereits der Begriff „Hilfebedürftiger“ macht deutlich: Das Grundgesetz verlangt keine tatbestandlich ungebundene, voraussetzungslose Leistungsgewährung oder ein solche, die tatbestandlich allein auf die Anrechnung tatsächlich verfügbaren, bedarfsdeckenden Einkommens oder Vermögens abstellt. Eine positive Schutzpflicht des Staates besteht vielmehr nur dann, „wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann.“ Dies umfasst auch die Mittelbeschaffung durch Erwerbsarbeit. das SGB II ist eine – verfassungsrechtlich zumindest mögliche – klare Entscheidung gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine unbedingte Grundsicherung.« (Berlit 2013: 199)
Diese Ausführungen sollen nur aufzeigen – auch wenn jetzt der Gang nach Karlsruhe begonnen wurde -, dass sich die Gegner der Sanktionen nicht zu früh freuen sollten. Am Ende kann auch eine Entscheidung stehen, die der Logik folgt, die man in Berlit’s Ausführungen erkennen kann.

Aber wie heißt es so treffend: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.