Kafka in Dortmund? Wenn’s nur das wäre. Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems

Zuweilen muss man selbst als professioneller Beobachter sozialpolitischer Irrungen und Wirrungen schlucken. Beispielsweise bei so einer Meldung: »Weil eine Mitarbeiterin des Jobcenters einen Hartz-IV-Empfänger beim Betteln beobachtet hatte, wurde dem Mann ein großer Teil seiner Bezüge gestrichen. Das Betteln ist laut Jobcenter als Beruf oder Selbstständigkeit zu bewerten.« Das kann man diesem Artikel entnehmen: Jobcenter kürzt bettelndem Mann Hartz IV. Da kommt man schon ins Grübeln: Betteln als Beruf oder Selbständigkeit? Gibt es da auch Ausbildungsgänge? Kann man eine geförderte Umschulung machen? Kann man – natürlich nach Vorlage eines Businessplans – eine Existenzgründungsförderung beantragen? Nun mag der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen – bitte nicht übertreiben. Dieser Blog soll doch kein Ableger des kafkaesken Schreibens werden. Nun denn, schauen wir uns den Fall einmal genauer an.

»Weil sein Arbeitslosengeld nur knapp zum Leben reicht, bettelt ein 50-jähriger Dortmunder regelmäßig in der Innenstadt. Doch dass er für kleine Spenden stundenlang in den Einkaufsstraßen ausharrt, kommt dem Mann nun teuer zu stehen.« Konkret geht es um den Fall von Michael Hansen, wie zuerst in diesem Artikel von Tobias Großekemper dargestellt: Keine milde Gabe vom Jobcenter: Dortmunder Bettler wurde Hartz IV gekürzt. Und erneut werden wir Zeugen einer diesen vielen Lebensläufe, die dann im Hartz IV-System aufschlagen und für die das Grundsicherungssystem dann leider nicht selten auch die Endstation darstellt.

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Das Bundesverfassungsgericht und die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung im Grundsicherungssystem

Man kann sicher lange darüber streiten, was denn ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (so die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010,  BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) umfassen muss – aber unmittelbar einleuchtend ist für die meisten Menschen, dass die Wohnung – im wahrsten Sinne des Wortes „ein Dach über dem Kopf“ – zu den zentralen Bestandteilen eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ gehört.

Aber hier liegt dann konkret eine Menge Zündstoff im gegebenen Hartz IV-Regelwerk – denn die einschlägige Formulierung im § 22 SGB II beginnt im Absatz 1 mit diesem Satz:

»Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.«

Hört sich verständlicher an, als es ist – denn hier wird mit „angemessen“ ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ verwendet, der in der Praxis dann konkretisiert und rechtlich überprüfbar bestimmt werden muss. In Form von konkreten Wohnungsgrößen und Mietkostenhöhen, die „noch“ oder eben „nicht mehr“ als angemessen definiert werden.

Die damit verbundenen Konflikte wurden hier öfter beschrieben, so beispielsweise in dem Beitrag Hartz IV: Wenn das Einfamilienhaus nicht nur rechnerisch geschrumpft wird. Von 144 über 130 auf 110 Quadratmeter. Oder: Kinder weg – Haus weg vom 12. Oktober 2016 oder Wohnen mit Hartz IV? Dann reicht es immer öfter nicht für die Kosten der Unterkunft. Beispielsweise in Berlin vom 8. Juli 2016.

Und nun hat sich auch das Bundesverfassungsgericht – nicht – mit diesem Thema befasst. Dazu findet man diese Mitteilung des hohen Gerichts: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung. Und gleich am Anfang wird allen, die gehofft haben, aus Karlsruhe würde etwas zu den umstrittenen Fragen der Wohnkosten kommen, der Zahn gezogen:

»Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in „angemessener“, sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf „angemessene“ Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.«

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Beschwerde zu diesem Thema nicht zur Entscheidung angenommen. Vgl. dazu auch die ausführliche Begründung BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 617/14 – Rn. (1-21). Zum Sachverhalt kann man der Pressemitteilung entnehmen:

»Die Beschwerdeführerin bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnt alleine eine 77 qm große Wohnung, für die das Jobcenter die Miet- und Heizkosten zunächst vollständig und seit 2008 nur teilweise übernahm. Ihre Klage auf vollständige Kostenübernahme wies das Sozialgericht ab; Berufung und Revision blieben erfolglos. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde trägt sie vor, in ihrem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt zu sein. Daneben hat das Sozialgericht Mainz dem Bundesverfassungsgericht zwei Verfahren vorgelegt, weil es die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) II zu den Kosten der Unterkunft und Heizung für verfassungswidrig hält.«

Eine ausführliche Beschreibung des Falls der Beschwerdeführerin aus Freiburg findet man in dem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, Rn. 3-9. Und warum hält sie die Regelung in § 22 SGB II für verfassungswidrig? »Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde geltend, in ihrem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verletzt worden zu sein. Es sei bislang nicht geklärt, ob § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II den vom Bundesverfassungsgericht seit 2010 entwickelten Vorgaben an die Ausgestaltung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums genüge. Dies sei zu verneinen. Die gesetzliche Regelung einer Beschränkung der Übernahme der Kosten der Unterkunft, „soweit diese angemessen sind“, sei nicht ausreichend bestimmt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne das nicht kompensieren, denn die Ausgestaltung des grundrechtlichen Leistungsanspruchs obliege dem Gesetzgeber«, so die Darstellung des Bundesverfassungsgerichts.

Auch das Sozialgericht (SG) Mainz hatte Zweifel an der gesetzlichen Grundlage für die Kostendeckung und legte dem BVerfG diese Frage vor. Die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II), wonach Kosten für Unterkunft und Heizung anerkannt werden, soweit diese angemessen sind, hielt man auch dort für verfassungswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungswidrigkeit aber nicht erkennen. Die Akte wird mit dieser Formulierung geschlossen: »Die Regelung genügt der Pflicht des Gesetzgebers, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.«

»Der Gesetzgeber durfte den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit verwenden, um die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung zu begrenzen. Was hier als „angemessen“ zu verstehen ist, lässt sich durch Auslegung … ausreichend bestimmen. Danach ist der konkrete Bedarf der Leistungsberechtigten einzelfallbezogen zu ermitteln. Dabei gehen die Fachgerichte davon aus, dass anhand der im unteren Preissegment für vergleichbare Wohnungen am Wohnort der Leistungsberechtigten marktüblichen Wohnungsmieten ermittelt werden kann, welche Kosten konkret angemessen sind und übernommen werden müssen.«

In dem Beschluss zur Nicht-Annahme der Beschwerde führt das Gericht abschließend (und sich entlastend) aus: »Zwar handelt es sich bei den Kosten für Unterkunft und Heizung um eine der grundrechtsintensivsten Bedarfspositionen, denn sie betreffen die grundlegende Wohn- und Lebenssituation eines Menschen … Doch ergibt sich daraus keine Verpflichtung, jedwede Unterkunft im Falle einer Bedürftigkeit staatlich zu finanzieren und insoweit Mietkosten unbegrenzt zu erstatten. Die grundrechtliche Gewährleistung bezieht sich nur auf das Existenzminimum.«

Nur der Vollständigkeit halber: Erst vor kurzem hatte sich das höchste Gericht schon mal mit den Kosten der Unterkunft im Hartz IV-System beschäftigen müssen und da hatte es eine Entscheidung getroffen, vgl. dazu den Beitrag Das Bundesverfassungsgericht, die Kosten der Unterkunft und Heizung für Hartz IV-Empfänger und wegweisende Aspekte einer neuen Entscheidung vom 23. August 2017. In dem Fall war eine Verfassungsbeschwerde erfolgreich gewesen: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung vorläufiger Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung, so ist die Pressemitteilung des BVerfG überschrieben. Die bezieht sich auf BVerfG, Beschluss vom 01. August 2017 – 1 BvR 1910/12. Es ging dabei um einen Streitfall aus dem Jahr 2012, der nunmehr abschließend entschieden worden ist.

»Der Beschwerdeführer bezieht Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Das Jobcenter ging davon aus, er lebe mit einer weiteren Person in einer Bedarfsgemeinschaft und bewilligte daher nur reduzierte Leistungen. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtete das Sozialgericht das Jobcenter, dem Beschwerdeführer vorläufig die höheren Leistungen für einen Alleinstehenden einschließlich von Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. Die dagegen erhobene Beschwerde des Jobcenters war vor dem Landessozialgericht erfolgreich. Solange noch keine Räumungsklage erhoben sei, drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Daher fehle die notwendige Eilbedürftigkeit einer Gewährung höherer Kosten der Unterkunft und Heizung. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG).«

Dem Betroffenen sind damals Leistungen vorenthalten worden, weil das Jobcenter einen Verdacht hatte, keinen Beweis.

Das nun wollte auch das BVerfG nicht akzeptieren: »Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob tatsächlich die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Sie können die Eilbedürftigkeit von vorläufigen Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung deshalb nicht nur pauschal darauf beziehen, ob schon eine Räumungsklage erhoben worden ist.« Hier hatte der Beschwerdeführer als Recht bekommen, primär, weil es sich um eine Frage nach dem Rechtsschutz für den Betroffenen handelte. Der hat jetzt eine Entscheidung. Damit soll aber auch gut gewesen sein, so kann man die neue Nicht-Entscheidung zur grundsätzlichen Frage nach der „Angemessenheit“ verstehen.

Was bleibt? Das – immer größer werdende – Problem. Es ist eine empirische Tatsache, dass die zugestandenen „angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung“ immer mehr Hartz IV-Empfänger dergestalt unter Druck setzen, als dass sie nicht Schritt halten mit der Preisverschärfung in Verbindung mit einem eklatanten Angebotsmangel in vielen Regionen für bezahlbaren Wohnraum. Das führt dazu, dass zahlreiche Grundsicherungsempfänger gezwungen sind, die nicht vom Jobcenter akzeptierten Mietanteile aus den Regelleistungen selbst zu tragen – schaut man sich die Differenz zwischen den bewilligten und den tatsächlichen Kosten der Unterkunft für Deutschland insgesamt an, dann kann man berechnen, dass die Hartz IV-Empfänger in diesem Jahr auf 594 Mio. Euro Wohnkosten sitzenbleiben. Bei vielen bedeutet das, dass sie aus ihrem Regelbedarf von (noch) 409 Euro pro Monat, der ja dafür nicht vorgesehen und schon für die laufenden Lebenshaltungskosten mehr als knapp kalkuliert ist, den Differenzbetrag decken müssen.

Und das sind eben nicht nur ein paar Fälle, wie auch schon die genannte Summe von fast 600 Mio. Euro anzeigt. Viele Menschen, die von Hartz IV leben, leiden unter den immer stärker steigenden Mietpreisen, die der Immobilienboom ausgelöst hat. Die Obergrenze, bis zu der die Wohnungskosten vom Sozialstaat übernommen werden und die jede Kommune selbst festlegt, reicht immer häufiger nicht aus. So lagen laut der Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen Jahren rund ein Fünftel der Bedarfsgemeinschaften über der Grenze – im April 2017 zum Beispiel rund 590.000 der ungefähr 3,1 Millionen Haushalte. Vgl. dazu auch den Artikel Verdrängt vom Immobilienboom von Stefan Schulz.

Gleichzeitig sehen wir aktuell, wie die Fallzahlen im Grundsicherungssystem steigen – nicht nur, aber auch, weil immer mehr Flüchtlinge von den Jobcentern als SGB II-„Kunden“ betreut werden müssen (vgl. hierzu am Beispiel des kommunalen Jobcenters Hamm den Artikel Flüchtlinge: Starker Anstieg der Fallzahlen im Jobcenter). Im August 2017 wurden bereits über 800.000 Hartz IV-Empfänger aus den sogenannten nichteuropäischen Asylherkunftsländern von der BA ausgewiesen, das sind über 14 Prozent aller Hartz IV-Empfänger. Und man muss davon ausgehen, dass die meisten dieser Menschen, darunter sind viele Frauen und Kinder, auf längere Sicht im Grundsicherungssystem verbleiben werden.

Wozu das führen kann bzw. wird? Das wird das Druck auf das SGB II-System erhöhen und zugleich ein schwer zu durchbrechende Spirale auslösen: Die „Kostenträger“ werden versuchen, über eine restriktive Definition der „Angemessenheit“ der zu finanzierenden Unterkunftskosten die Ausgabenbelastung im Zaum zu halten, gleichzeitig stoßen immer mehr Hilfebedürftige auf ein völlig überfordertes Segment an billigen oder zumindest halbwegs bezahlbarem Wohnraum, wo wir es mit einem eklatanten Nachfrageüberschuss zu tun haben. Das wird dazu führen, dass ein Teil der Hartz IV-Empfänger in zunehmenden Maße eine Art Selbstbeteiligung aus dem (dafür nicht vorgesehenen) Topf für den Regelbedarf abzweigen müssen, da die Lücke zwischen den bewilligten und den tatsächlichen Mietkosten irgendwie gegenfinanziert werden muss. Andere werden aus welchen Gründen auch immer aus dem Wohnungssystem rausfliegen (oder gar keinen Zugang finden), so dass das sowieso schon drängende Problem der Wohnungslosigkeit an Dramatik gewinnen wird.

Aber damit müssen sich nun andere herumschlagen, das Bundesverfassungsgericht hat wie gesagt die Akte für sich selbst geschlossen – was die Grundsatzfrage der „Angemessenheit“ angeht.

Da müssen die doch sowieso hin: Barauszahlung von Sozialleistungen an der Supermarktkasse

Irgendwie konsequent, wird der eine oder andere mit einem gewissen zynischen Unterton gedacht haben bei dieser Meldung: »Empfänger von Leistungen wie dem Arbeitslosengeld können sich Bargeld künftig in besonders dringenden Fällen an Supermarktkassen auszahlen lassen. Das Verfahren sei für Menschen, die kein eigenes Konto haben oder die im Ausnahmefall sofort eine Auszahlung bräuchten, sagte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit«, so berichtet es dieser Artikel: Rewe, Penny und Co.: Arbeitslosengeld gibt es bald auch an der Supermarktkasse. Zu den beteiligten Supermärkten und Drogerien gehörten Rewe, Penny, Real, dm und Rossmann. „Ziel ist die flächenweite Einführung der neuen Lösung bis Ende 2018”, sagte der BA-Sprecher.
Die Betroffenen müssen doch sowieso im Supermarkt einkaufen gehen, dann kann man ihnen da auch die Möglichkeit eröffnen, Geld einzulösen. Was aber ist wirklich der Hintergrund? Die Antwort auf diese Frage wird nun auch viele nicht überraschen: Es geht für denjenigen, der das Geld auszahlen muss, darum, Kosten zu sparen, die damit verbunden sind. Und für die anderen geht es um Geschäfte. Den Dritten auf diesem Spielfeld, also die betroffenen Leistungsempfänger, hat mal wieder niemand gefragt.

Was ist der Hintergrund dieser Geschichte? Es geht, das sei hier gleich vorangestellt, nicht um die normalen Auszahlungen der Arbeitsagenturen und der Jobcenter. Die sollen und werden weiter wie bisher in Form normaler Überweisungen stattfinden.

Es geht um etwas, was im § 42 SGB I normiert worden ist: »Besteht ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach und ist zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich, kann der zuständige Leistungsträger Vorschüsse zahlen, deren Höhe er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Er hat Vorschüsse nach Satz 1 zu zahlen, wenn der Berechtigte es beantragt; die Vorschußzahlung beginnt spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags.« Die Formulierung „spätestens“ bedeutet bei Ausübung pflichtgemäßen Ermessens, dass das auch bedeuten kann, den Vorschuss sofort auszuzahlen. Es geht also um Akutfälle, die einen sozialrechtlichen Vorschussanspruch auslösen.

Das ist bisher so praktiziert worden, dass Gelder im Jobcenter bar ausgezahlt wurden oder der Betroffene sich über Kassenautomaten in den Arbeitsagenturen und Jobcenter,  über kommunale Kassen oder Stadt- bzw. Kreissparkassen mit dem Geld selbst versorgen konnte.

Die Kassenautomaten in Jobcentern und Arbeitsagenturen sind der Bundesagentur für Arbeit ein betriebswirtschaftliches Dorn im Auge. Durchaus nachvollziehbar, wie man den Zahlenangaben dieses Artikels entnehmen kann:

»Der Unterhalt der bisherigen Geldautomaten in den Jobcentern koste die Bundesagentur acht Euro pro Transaktion. Im Vorjahr hätten sich die Kosten mit 400.000 Bar-Transaktionen demnach auf 3,2 Millionen Euro belaufen.«

Die Gesamtzahl der Bar-Transaktionen verdeutlicht zugleich, dass wir es hier mit einer wichtigen und bedeutsamen Angelegenheit zu tun haben.

Die Automaten sollen nun aus Kostengründen abgebaut werden. Ein anderer soll den Job machen. Den hat man offensichtlich gefunden: »Den Zuschlag für die Bargeldauszahlung erhielt das Berliner Unternehmen Cash Payment Solutions. Der Dienstleister verfügt dem Zeitungsbericht zufolge über ein bundesweites Händlernetz mit 8.500 angeschlossenen Filialen. Kunden könnten dort bereits Online-Einkäufe und Stromrechnungen bar an der Ladenkasse bezahlen. Zudem böten einige Banken die Kassen ihren Kunden als Alternative zum Geldautomaten an.

Wer sich für dieses Unternehmen interessiert, dem sei hier dieses Interview mit Florian Swoboda, dem Gründer und Geschäftsführer der Cash Payment Solutions, aus dem vergangenen Jahr empfohlen: Barzahlen.de: Vom Banken-Angreifer zum Banken-Dienstleister – um das Filial-Problem zu lösen. In dem Gespräch ging es vor allem um die Transformation vom Banken-Angreifer zum Lösungsanbieter für das Filialproblem der Direkt- und Retailbanken. Man bietet die Infrastruktur mit den vielen Händlern Banken zur Nutzung an. So können Banken Ihr Netzwerk an „Bankautomaten“ um 10.000 Filialen erweitern. Ohne hohe Fixkosten. Das Unternehmen bietet sich an, um die Bargeldversorgung für Bankkunden gewährleisten in Zeiten, in denen die Banken immer mehr Filialen und Geldautomaten abbauen. Das Angebot an die Banken geht so: »Warum den Prozess der Ein- und Auszahlung nicht dahin auslagern, wo sowieso den ganzen Tag mit Bargeld hantiert wird: im Einzelhandel. Dort werden nach wie vor, und diese Zahl hat sich in den letzten 10 Jahren nicht merklich verändert, 80 % aller Transaktionen in bar gezahlt.«

Wie nun muss man sich die beabsichtigte Änderung des Verfahrens vorstellen?

»Damit Arbeitslose bei den Händlern Geld bekommen, müssen sie einen Zettel mit einem Barcode vorlegen, den sie sich im Jobcenter oder der Arbeitsagentur abholen können. Dieser werde an der Kasse eingescannt und der angezeigte Betrag sofort ausgezahlt.«

Oder aber die Beträge werden – seien wir doch nicht naiv – mit den zwischenzeitlich getätigten Einkäufen in der „Auszahlungsstelle“ verrechnet. Denn die teilnehmenden Supermärkte werden genau auf diesen Mechanismus setzen und sich nicht nur als nebenberufliche Geldautomaten definieren wollen. Wofür sie betriebswirtschaftlich gesehen auch keinen Grund hätten als privatwirtschaftliche Unternehmen.

Und man achte auf die Formulierung: »Damit Arbeitslose bei den Händlern Geld bekommen, müssen sie einen Zettel mit einem Barcode vorlegen, den sie sich im Jobcenter oder der Arbeitsagentur abholen können.« Für die Betroffenen stellt sich das unterm Strich als eine Verschlechterung dar in vielen Fällen, denn bislang war es so, dass man direkt nach der Vorschuss-Bewilligung vor Ort sein Geld ausgehändigt bekam. Das mag mit Aufwand verbunden sein für die Agenturen und Jobcenter, man könnte aber auch argumentieren, dass das ihre ureigene Aufgabe ist in diesem Fall, denn wir sprechen hier nicht über die Auszahlung von Lotterie-Gewinnen, sondern über eine hoheitliche Aufgabe im Bereich der Sozialleistungen. Und die haben die Sozialleistungsträger zu erfüllen. Wollen sie aber aus Kostengründen nicht mehr, sondern nach der Logik des Outsourcing soll das übergeben werden an private Dienstleister.

Die übrigens und verständlicherweise dafür bezahlt werden wollen. Was der Deal mit  Cash Payment Solutions kosten wird, die das natürlich nicht für Gottes Lohn machen werden, wollte der BA-Sprecher nicht beziffern.

Foto: © Stefan Sell

Von Regelbedarfen im Hartz IV-System und der Armutsgefährdungsschwelle. Die Unterdeckung wird größer

Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat sich die Höhe der Regelleistungen, mittlerweile Regelbedarf genannt, im Hartz IV-System im Vergleich zu den Armutsgefährdungsschwellen angeschaut (vgl. Absolute und relative Lücke zwischen Regelbedarf (Hartz IV) und Armutsgefährdungsschwelle 2006-2016). Zur Armutsgefährdungsschwelle erfahren wir von Seiten der Amtlichen Sozialberichterstattung: »Die Armutsgefährdungsschwelle wird – entsprechend dem EU-Standard – bei 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) im jeweiligen Bundesland beziehungsweise in der jeweiligen Region festgelegt. Personen, deren Äquivalenzeinkommen unter diesem Schwellenwert liegt, werden als (relativ) einkommensarm eingestuft.« Das ist also keine von irgendwelchen Leuten ausgedachte Geldgröße, sondern die Abgrenzung erfolgt im Einklang mit internationalen Festlegungen. Immer wieder und gerne von interessierter Seite wird dieser Maßstab der relativen (Einkommens)Armut kritisiert.

Das kann und muss man mit Blick auf den Fachdiskurs entkräften: »Wenn ein neuer Bericht über Armut in Deutschland vorgelegt wird, entbrennt regelmäßig eine Diskussion darüber, was überhaupt unter Armut zu verstehen ist und wie Armut gemessen werden soll. Die Interpretationen gehen hier sehr weit. Dabei gibt es schon seit über 30 Jahren eine international anerkannte Methode für die Armutsmessung. Der Arbeitskreis Armutsforschung, in dem sich Wissenschaftler, Vertreter von Wohlfahrtsverbänden und andere Praktiker austauschen, hat in der folgenden »Erklärung zum Armutsbegriff« die derzeit gängigsten Kritikpunkte an der Methode der Armutsmessung aufgegriffen und ihnen fundierte Antworten gegenübergestellt.« Dazu diese Veröffentlichung:

Arbeitskreis Armutsforschung (2017): Erklärung zum Armutsbegriff, in: Soziale Sicherheit, Heft 4/2017

Zurück zu der neuen Veröffentlichung von Paul M. Schröder. Er hat sich die absolute und relative rechnerische Lücke zwischen Regelbedarf (Hartz IV) (ohne Kosten der Unterkunft und Heizung) und Armutsgefährdungsschwelle angeschaut (siehe seine Abbildung am Anfang dieses Beitrags).

»2006, im ersten Kalenderjahr mit einer im ganzen Kalenderjahr bundeseinheitlichen monatlichen „Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts“ (inzwischen „Regelbedarf“) in Höhe von 345 Euro (Hartz IV), lag dieser „Regelbedarf“ (ohne Kosten der Unterkunft und Heizung) rechnerisch um 401 Euro (absolut) bzw. 53,8 Prozent (relativ) unter der amtlichen Armutsgefährdungsschwelle für Einpersonenhaushalte in Höhe von 746 Euro.

Der negative absolute und relative Abstand des vom Gesetzgeber bestimmten „menschenwürdigen Existenzminimums“ (ohne die Kosten der Unterkunft und Heizung) von der Armutsgefährdungsschwelle für Einpersonenhaushalte ist in den zehn Jahren von 2006 bis 2016 erheblich gewachsen. 2016 betrug der Regelbedarf in der „Regelbedarfsstufe 1“ monatlich 404 Euro und der rechnerische Abstand zur Armutsgefährdungsschwelle für Einpersonenhaushalte (969 Euro) 565 Euro (absolut) bzw. 58,3 Prozent (relativ).«

Nun wird der eine oder andere einwenden, dass die Hartz IV-Empfänger  doch nicht nur die Regelbedarfe bekommen, sondern die Jobcenter übernehmen auch die „angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung“. Das hat Schröder nicht vergessen, er führt dazu aus, dass die Lücke zwischen der Armutsgefährdungsschwelle und dem Regelbedarf in der „Regelbedarfsstufe 1“ die durchschnittlich anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung eines Einpersonenhaushalts deutlich übersteigt. Anders ausgedrückt: »der Regelbedarf plus durchschnittlich anerkannte Kosten der Unterkunft und Heizung liegt deutlich und zunehmend unter der Armutsgefährdungsschwelle für Einpersonenhaushalte.«

Interessant ist die folgende Rechnung, die auch die Abkoppelung des Regelbedarfs in der Grundsicherung von der Armutsgefährdungsschwelle aufzeigen kann:

»Allein bei einem unveränderten relativen Abstand des Regelbedarfs von der Armutsgefährdungsschwelle auf dem Niveau des Jahres 2006 (53,75 Prozent) hätte der Regelbedarf in der „Regelbedarfsstufe 1“ bis 2016 rechnerisch auf 448 Euro statt lediglich auf 404 Euro steigen müssen (46,25 Prozent von 969 Euro).«

Und die Aussichten sind trübe – trotz bzw. gerade wegen der nunmehr beschlossenen Anhebung der Hartz IV-Sätze. Dazu Schröder: »Der Bundesrat hat am 3. November 2017 … der „Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2018 (RBSFV 2018)“ zugestimmt. Der Regelbedarf in der „Regelbedarfsstufe 1“, der seit dem 1. Januar 2017 409 Euro beträgt, wird damit zum 1. Januar 2018 auf 417 Euro steigen. Die absolute und relative rechnerische Lücke zwischen Regelbedarf (Hartz IV) (ohne Kosten der Unterkunft und Heizung) und Armutsgefährdungsschwelle … wird damit voraussichtlich auch 2017 und 2018 weiter wachsen.« Das auch dadurch, dass nicht nur die Regelbedarfe an sich zu niedrig taxiert sind, sondern auch angesichts der Tatsache, dass die zugestandenen „angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung“, die ja nur einen (dann auch noch kleiner werdenden) Teil der Lücke zwischen Regelbedarf und Armutsgefährdungsschwelle schließen, die Hartz IV-Empfänger dergestalt unter Druck setzen, als dass sie nicht Schritt halten mit der Preisverschärfung in Verbindung mit einem eklatanten Angebotsmangel in vielen Regionen für bezahlbaren Wohnraum. Das führt dazu, »dass zahlreiche Grundsicherungsempfänger gezwungen sind, die nicht vom Jobcenter akzeptierten Mietanteile aus den Regelleistungen selbst zu tragen – schaut man sich die Differenz zwischen den bewilligten und den tatsächlichen Kosten der Unterkunft für Deutschland insgesamt an, dann kann man berechnen, dass die Hartz IV-Empfänger in diesem Jahr auf 594 Mio. Euro Wohnkosten sitzenbleiben. Bei vielen bedeutet das, dass sie aus ihrem Regelbedarf von (noch) 409 Euro pro Monat, der ja dafür nicht vorgesehen und schon für die laufenden Lebenshaltungskosten mehr als knapp kalkuliert ist, den Differenzbetrag decken müssen.« Vgl. dazu und weiterführend den Blog-Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017.

Einstecken und behalten oder angeben und anrechnen lassen? Wenn sich Sozialgerichte mit dem Trinkgeld für Hartz IV-Empfänger beschäftigen

Zwei Dinge vorweg: Es wird ja immer wieder über die „Klageflut“ berichtet, mit der die Sozialgerichte im Hartz IV-Bereich konfrontiert sind (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Weiterhin mindestens Vollbeschäftigung. Für die Sozialgerichte von unten bis nach oben. Auch, aber nicht nur durch Hartz IV-Verfahren vom 12. Februar 2017). Sehr oft wird dabei kritisiert, dass die Kläger wegen angeblicher „Pillepalle-Beträgen“ vor Gericht ziehen würden. Auf der anderen Seite wird am SGB II, also dem Gesetzeswerk das Grundsicherungssystem betreffend, ebenfalls immer wieder kritisiert, dass dort derart kleinkrämerisch ausgestaltete Anrechnungsregelungen und Prüfungen vorgenommen werden, dass man gleichsam in kafkaeske Situationen gezwungen wird. Und das treibt dann wieder viele Betroffene in die Resignation oder in wütende Gegenreaktionen. In diesen Tagen werden wir erneut Zeugen der Ausformungen dieses eigenartigen Systems. Um was geht’s?

Die Botschaft scheint eindeutig daherzukommen: Trinkgeld muss mit Hartz IV verrechnet werden. »Hartz-IV-Aufstockern, die in ihrem Job Trinkgeld bekommen, darf der Betrag von staatlichen Leistungen abgezogen werden. Das entschied das Sozialgericht Landshut (Az.: S 11 AS 261/16).« Hintergrund ist der folgende Sachverhalt: »Geklagt hatte eine Hartz-IV-Bezieherin, die auch als Kellnerin tätig war. Zusätzlich zu ihrem Lohn erhielt sie monatlich Trinkgelder in Höhe von durchschnittlich 25 Euro. Das Jobcenter berücksichtigte bei der Frau den ihr zustehenden Freibetrag, rechnete aber neben dem Lohn auch das Trinkgeld als Einkommen mindernd auf ihre Hartz-IV-Leistungen an.«

Das wollte die Betroffene nicht akzeptieren und hat Klage eingereicht: »Die Trinkgelder dürften nicht als Einkommen angerechnet werden, meinte sie. Denn nach dem Gesetz seien freiwillige Zuwendungen anderer Personen nicht als Einkommen zu berücksichtigen, wenn dies „grob unbillig“ wäre. Die Höhe der steuerfreien Trinkgelder sei zudem sehr gering.«

Offensichtlich bezieht sich die Klägerin auf § 11a Abs. 5 SGB II, der Paragraf steht unter der Überschrift „Nicht zu berücksichtigendes Einkommen“. Schaut man sich den Absatz 5 an, dann findet man dort die folgende Formulierung:

Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit
1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder
2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.

Dieser Bezugnahme wollte das Sozialgericht nicht folgen. Im SG Landshut, Urteil v. 27.09.2017 – S 11 AS 261/16 finden wir hierzu die folgende Begründung:

»Trinkgeld ist Arbeitslohn. Zum Arbeitslohn gehören alle Vorteile, die für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG)). Dies gilt auch für die Zuwendung eines Dritten, wenn diese ein Entgelt „für“ eine Leistung bildet, die der Arbeitnehmer im Rahmen des Dienstverhältnisses für seinen Arbeitgeber erbringt, erbracht hat oder erbringen soll. Voraussetzung ist, dass sie sich für den Arbeitnehmer als Frucht seiner Arbeit für den Arbeitgeber darstellt und im Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis steht … Trinkgeld i.S. des § 3 Nr. 51 EStG ist eine dem dienstleistenden Arbeitnehmer vom Kunden oder Gast gewährte zusätzliche Vergütung, die eine gewisse persönliche Beziehung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Dritten voraussetzt. Trinkgeld ist eine freiwillige und typischerweise persönliche Zuwendung an den Bedachten als eine Art honorierende Anerkennung seiner dem Leistenden gegenüber erwiesenen Mühewaltung in Form eines kleineren Geldgeschenkes … Zum Begriff des Trinkgelds gehört es demnach, dass in einem nicht unbedingt rechtlichen, jedenfalls aber tatsächlichen Sinne Geldfluss und honorierte Leistung korrespondierend einander gegenüberstehen, weil die durch die Zuwendung „belohnte“ Dienstleistung dem Leistenden unmittelbar zugutekommt. Faktisch steht der Trinkgeldempfänger damit in einer doppelten Leistungsbeziehung und erhält korrespondierend dazu auch doppeltes Entgelt, nämlich das Arbeitsentgelt seitens seines Arbeitgebers und das Trinkgeld seitens des Kunden.«

Alles klar? Man kann das auch so ausdrücken: Trinkgeld ist Teil der Entlohnung und muss deshalb angerechnet werden nach den geltenden Bestimmungen.

Und für die Freunde der Untiefen juristischer Denkgebilde kommt dann noch so ein Satz: »Dadurch, dass ein Bürger seinen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen ohne oder mit weniger staatlichen Hilfen bestreiten kann, wird das Trinkgeld vielmehr aufgewertet.« Also bei einem Aufstocker müssen wir folglich von einem „veredelten“ Trinkgeld ausgehen. Na ja.

Die Klägerin kann in Berufung gehen – aber die Botschaft scheint eindeutig, das wurde in dem Artikel mit der Überschrift Trinkgeld muss mit Hartz IV verrechnet werden entsprechend zum Ausdruck gebracht.

Aber ist das wirklich so sicher? Unabhängig, was der juristische Laie, also der normalen Mensch, so denkt, lohnt auch hier ein Blick in die Rechtsprechung, denn das Thema Trinkgeld war schon mal Gegenstand einer sozialgerichtlichen Klärung. Mit einem erstaunlichen Ergebnis. Denn in dem anderen Fall kam das andere Sozialgericht zu einer ganz anderen Entscheidung.

Dazu müssen wir in das vergangene Jahr zurückgehen und einen Blick werfen in diese Entscheidung: SG Karlsruhe Urteil vom 30.3.2016, S 4 AS 2297/15. Und da finden wir einen Leitsatz, den jeder verstehen kann: »Die Anrechnung von Trinkgeld ist nach § 11 a Abs. 5 SGB II grundsätzlich ausgeschlossen, sofern die Höhe des Trinkgeldes ca. 10 % der nach dem SGB II zustehenden Leistungen oder einen monatlichen Betrag von 60 EUR nicht übersteigt.«

Klare Ansage. Wie kommen die Karlsruher Sozialrichter zu diesem Ergebnis? Im Karlsruher Fall ging es um eine alleinerziehende Mutter, die als aufstockende Friseurin gearbeitet hat. Offensichtlich, folgt man der Sachverhaltsdarstellung des Gerichts, hatte das beklagte Jobcenter bei der Anrechnung des Arbeitseinkommens 60 Euro pro Monat „aufgeschlagen“:

»Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bei der Tätigkeit einer Friseurin mit 60 Arbeitsstunden pro Monat die Einnahme eines monatlichen Trinkgeldes in Höhe von 60,- EUR anzunehmen sei. Gehe man davon aus, dass ein Kunde pro Arbeitsstunde bedient werde und je Kunde 1,- EUR Trinkgeld gezahlt werde, ergebe sich dieser weitere Betrag, der als Arbeitseinkommen anzurechnen sei.«

Warum haben die das gemacht? Man muss wissen, dass das Jobcenter in der vorherigen Leistungsbewilligungsperiode die „Kundin“ nach Trinkgeld befragt, aber keine Antwort bekommen hatte – und letztlich von einer Anrechnung von Trinkgeld absah. Das hat man nun durch die „geschätzte“ Trinkgeldbestimmung offensichtlich korrigieren wollen.

Vor diesem Hintergrund klagte die Betroffene mit der Begründung »dass die Annahme von monatlich erzieltem Trinkgeld in Höhe von 60,- EUR falsch sei. Zudem seien Trinkgelder kein Arbeitsentgelt, da sie ohne Anerkennung einer Rechtspflicht freiwillig von Dritten bei einem bestimmenden Mindestmaß an persönlicher Beziehung gewährt würden, weswegen § 11a Abs. 5 SGB II einschlägig sei. Jedenfalls sei eine fiktive Anrechnung nicht rechtmäßig, zumal auch Arbeitszeiten anfielen, in denen keine Kundschaft vorhanden sei. Es könne zudem nicht generell unterstellt werden, dass jeder Kunde oder jede Kundin 1,- EUR Trinkgeld gebe.«

Das Sozialgericht hat der Klage hinsichtlich des Trinkgeldes entsprochen, mit dieser Begründung:

»Trinkgeldeinahmen erfüllen grundsätzlich die Voraussetzungen des Befreiungstatbestandes nach § 11a Abs. 5 SGB II … Trinkgeldzahlungen sind regelmäßig Zuwendungen eines anderen, zu deren Erbringung keine rechtliche Pflicht besteht. Nach der Legaldefinition in § 107 Abs. 3 Satz 2 der Gewerbeordnung (GewO) ist Trinkgeld ein Geldbetrag, den ein Dritter ohne rechtliche Verpflichtung dem Arbeitnehmer zusätzlich zu einer dem Arbeitgeber geschuldeten Leistung zahlt. Auch eine sittliche Verpflichtung zur Zahlung von Trinkgeld dürfte in den meisten Fällen nicht vorliegen … Am ehesten dürfte davon auszugehen sein, dass Trinkgeldzahlungen bei guten Dienstleistungen üblich, aber nicht verpflichtend sind, und zwar auch nicht sittlich-verpflichtend … Trinkgeld ist … letztendlich nichts anderes als eine Art „Spende“ und damit nicht verpflichtend, weil die Trinkgeldvergabe keinen Bestandteil des geschlossenen Vertrages im juristischen Sinne darstellt … Dementsprechend wird das Trinkgeld auch als eine freiwillige Zahlung des Käufers oder Kunden an den Angestellten eines Dienstleisters, die über den Kaufpreis hinaus oder als eigenständige Zahlung geleistet wird, definiert …, und zwar ohne „den mindesten Anspruch, weder dem Recht noch der Billigkeit nach“.«

Bleibt noch offen, wie denn das SG Karlsruhe – anders als aktuell das in Landshut – zu dem Befund kommt, dass eine Anrechnung „grob unbillig“ wäre, denn das fordert ja der § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II:

»Die Annahme grober Unbilligkeit stützt die Kammer darauf, dass der von dem Kunden mit der Zahlung beabsichtigte Dank bzw. die gewollte Motivation der Klägerin weitestgehend ins Leere laufen würde, wenn das Trinkgeld auf der Seite der Klägerin keine Erhöhung ihrer Einnahmen zur Folge hätte. Die Anerkennung einer gelungenen Dienstleistung durch die Gabe des Trinkgelds würde – abgesehen von der freundlichen Geste der Gabe des Geldgeschenks – jedenfalls wirtschaftlich völlig entwertet. Der Gesetzgeber hat bei der Schaffung der Regelung des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II im Übrigen gerade als Indiz für die gewollte Anrechnungsfreiheit genannt, dass die Zuwendung erkennbar nicht auch zur Deckung des physischen Existenzminimums verwendet werden soll (BT-Drucks. 17/3404, S. 94). Es dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass Kunden im Friseursalon das Trinkgeld nicht in der Absicht geben, dass physische Existenzminimum der Beschäftigten zu sichern. Auch würden wohl kaum noch Kunden Trinkgeld geben, wenn sie wüssten, dass das Geld vollständig auf das Jobcenter umgeleitet wird.«

Nach Auffassung der Sozialrichter in Karlsruhe muss man sehen, dass das »SGB II … auf vielfältige Weise auf Motivations- und Leistungsanreize (setzt), womit es nicht vereinbar wäre, eine so verbreitete Sitte wie die Gabe von Trinkgeld für gelungene Dienstleistungen auf dem Weg über den Erlass von Kürzungsbescheiden auszuhebeln.«

Das SG Karlsruhe hat nun den pragmatischen Weg einer grundsätzlichen Nichtanrechnung von solchen Zuwendungen (wie dem Trinkgeld) über einen pauschalen Betrag vorgeschlagen in Höhe von 60 Euro pro Monat. Wie kommen die nun auf diese Hohe? Haben sie gewürfelt? Nein, sie beziehen sich dabei auf eine frühere Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG):

»Das BSG hat bezeichnenderweise in einem anderen Zusammenhang einen Zuwendungsbetrag von 60,- EUR als „gering“ bezeichnet und unter Außerachtlassung des Zuwendungsgrundes eine Anrechnung bei einer Zuwendung ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – B 8 SO 12/11 R –, SozR 4-3500 § 84 Nr 1, BSGE 113, 86-92, SozR 4-3500 § 5 Nr 1, Rn. 20), woraus sich ein „brauchbarer Orientierungswert“ ergeben könnte (so Kokemoor, SGb 2014, 613, 619 mit dem Vorschlag, bis zu dieser Höhe die Anrechnungsfreiheit anzunehmen, und darüber hinaus in Abhängigkeit vom Einzelfall weitere Freibeträge zuzulassen).«

Und eine Besonderheit im Karlsruher Fall war ja die Tatsache, dass das Jobcenter offensichtlich einen monatlichen Trinkgeldzufluss geschätzt und in Anrechnung gebracht hat, was mal wieder die Phantasiepotenziale in bestimmten Jobcentern offenbart. Dazu das SG: »Die Kammer weist darauf hin, dass ihr in der langen Beschäftigung mit dem SGB II kein Fall erinnerlich ist, in dem bei einem Leistungsbezieher fiktives oder tatsächliches Trinkgeld angerechnet worden ist.« Es sei, so das Gericht, ein massives »Problem der Gleichbehandlung …, wenn eine Vorschrift nur in Einzelfällen, dann aber in aller Härte und mit der Anrechnung fiktiven Einkommens, angewendet wird.«
Und der Gesetzgeber wird gleich mit in die Haftung genommen und aufgefordert, eine Klarstellung vorzunehmen, »da die Voraussetzungen des § 11a Abs. 5 SGB II insbesondere durch die doppelte Anknüpfung an extrem ausfüllungsbedürftige Begriffe wie „Sitte“ … und „Billigkeit“ in der Praxis der Rechtsanwendung offenkundig mit großer Unsicherheit verbunden sind.«

Und nun? Die Argumentation des SG Karlsruhe erscheint dem „billig“ denkenden Nicht-Juristen irgendwie nicht nur sympathischer, sondern auch fundierter und die Schutzfunktion des Sozialrechts erkennbar abbildend. Aber das SG Landshut sieht das völlig anders. Nun bleibt also nichts weiter, als eine Klärung dieses Widerspruchs durch die nächsthöhere Instanz herbeizuführen, also muss die Frage auf der Ebene der Landessozialgerichtsbarkeit und schlussendlich vielleicht beim Bundessozialgericht behandelt werden (müssen). Und schon haben wir ein weiteres Beispiel, wie ein System aus sich selbst heraus immer wieder Nachschub generiert für das, was von einigen als Klageflut kritisiert wird. Wir müssen uns den Job eines Sozialrichters als einen sehr sicheren vorstellen, selbst ohne Verbeamtung ist das wie lebenslänglich.

Foto: © Stefan Sell