Wir haben in den vergangenen Monaten eine teilweise abgründige Debatte über das „Bürgergeld“ – eine vor allem semantisch wohlklingende Umetikettierung dessen, was man früher „Hartz IV“ nannte – erleben müssen. Mit teilweise abstrusen Modellberechnungen, was die einen angeblich kriegen und die anderen angeblich nicht. Mit der unter die Leute gebrachten Botschaft, dass alle Bürgergeld-Empfänger arbeitslos sind und es sich mit einem Netflix-Abo und einem Flachbildfernseher ausgestattet auf der heimischen Couch in den voll von den Jobcentern bezahlten Mietwohnungen bequem machen und den vielen Menschen, die von ihrer Hände Arbeit mit überschaubaren Arbeitseinkommen über die Runden kommen müssen, den Mittelfinger zeigen. Schnell hat man mit der entsprechenden medialen Unterstützung gemerkt, dass man damit ganz viele Menschen so richtig in Wallung bringen kann und in diesem Kontext folgerichtig war dann auch eine Eskalation mit immer radikaleren Forderungen bis hin zu einer grundlegenden Infragestellung des Bürgergeldes und damit der Grundsicherung, also dem letzten Auffangnetz der sozialen Sicherung in unserem Land.
Hartz IV
Die „Neue Grundsicherung“ der CDU: Alter Wein in alten Schläuchen
Die vergangenen Monate werden als ein weiteres Beispiel in die Sozialgeschichtsschreibung eingehen, wie man es schaffen kann, mit einer massiven Kampagne, die verengt wird auf wenige scheinbar plausible Aspekte, die zugleich mit einem hohen Empörungspotenzial versehen sind, ein ganzes soziales Sicherungssystem entstellen kann. Nach Monaten des medialen Dauerfeuers muss der an sich außenstehende Beobachter den Eindruck bekommen, dass die Menschen, die „Bürgergeld“ beziehen, aus einer Ansammlung von Erwerbsarbeitsverweigerern und/oder soziale Hängematten-Bewohner besteht, die es sich gut gehen lassen im scheinbar bedingungslosen Bezug von steuerfinanzierten Leistungen. Und Millionen Menschen, die tatsächlich „hart arbeiten“ gehen (müssen), wird dann ein nicht unerheblicher Teil des selbst erwirtschafteten Einkommens wieder aus der Tasche gezogen, um diese Leute in ihrer Bürgergeld-Wohlfühlzone finanzieren zu können. Wenn das so sein sollte, dann kann man verstehen, dass nicht wenige ein Anziehen der Daumenschreiben durchaus nachvollziehen und unterstützen können.
Zahlen bitte! Sanktionen im Hartz IV- bzw. im Bürgergeld-System. Und potemkinsche „Einsparungen“ mit den geplanten Verschärfungen der Sanktionen im SGB II
Deutschland, am Jahresende 2023: Im Dezember 2023 lebten in 2.897.000 Bedarfsgemeinschaften 5.473.000 Personen, die einen Anspruch auf Regelleistungen nach dem SGB II hatten. Hinter dieser einen großen Zahl von fast 5,5 Millionen Menschen, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind, verbergen sich nicht nur 5,5 Millionen Einzelschicksale, sondern auch extrem unterschiedliche Fallkonstellationen, die zu einer Hilfebedürftigkeit geführt haben. In der öffentlichen und diese formatierenden medialen Diskussion muss man als unbedarfter Beobachter aber den Eindruck bekommen, als sind alle Hartz IV- bzw. neudeutsch „Bürgergeld“-Empfänger Arbeitslose, genauer: Erwerbsarbeitslose und das Hauptproblem des „neuen“ Bürgergeldes besteht darin, dass es keine „Anreize“ geben würde, irgendeine Erwerbsarbeit aufzunehmen oder dass sogar Jobs hingeschmissen werden, weil man mit dem Bürgergeld angeblich besser, vor allem angenehmer leben könne. In diesem höchst selektiven Kontext, der viele Millionen Hilfebedürftige und deren Lebenslagen komplett ignoriert, passt dann die Forderung nach einer (Wieder-)Verschärfung der Sanktionen, also der Leistungsminderungen in der Grundsicherung. Besonders populär, weil auf den ersten Blick für viele nachvollziehbar ist die Forderung, dass die Ablehnung einer angebotenen Erwerbsarbeit und die damit einhergehende Verlängerung des steuerfinanzierten Leistungsbezugs zu einer „knallharten“ Sanktionierung führen müsse, damit man sich nicht von Faulenzern und den Sozialstaat missbrauchenden Menschen an der Nase durch den Ring ziehen lassen muss und damit die Solidargemeinschaft geschützt wird vor einer Über-Inanspruchnahme aus „niederen“ Beweggründen.
Sanktionen „mit Augenmaß“. Das befürwortet eine Mehrheit in der Bevölkerung, so eine Studie
»Sanktionen in der Grundsicherung, also die vorübergehende Absenkung der finanziellen Leistungen für Grundsicherungsbeziehende, sind ein kontrovers diskutiertes Instrument. Die Befunde einer IAB-Befragung zeigen, dass auf der einen Seite Sanktionen eine relativ breite gesellschaftliche Akzeptanz genießen. Auf der anderen Seite sollte das Existenzminimum nach fast einhelliger Auffassung der Befragten unangetastet bleiben«, so Matthias Collischon et al. in ihrem Beitrag Eine Mehrheit in der Bevölkerung befürwortet Sanktionen mit Augenmaß. Angesichts der wieder einmal eskalierenden und zu gesetzgeberischen Aktivitäten führenden Debatte über die Sanktionierung von erwerbsfähigen Leistungsbeziehern im Grundsicherungsstem ist das ein interessanter Aspekt aus der Forschung. Aber wie kommen die Wissenschaftler zu dieser Einschätzung der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung?
Sanktionen im SGB II: Es dürfen doch nur maximal 30 Prozent gekürzt werden, hat das Bundesverfassungsgericht gesagt. Hat es nicht
Im Kontext der vom Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) angekündigten (Wieder)Einführung von 100 Prozent-Sanktionen (unter Ausklammerung der Kosten für die Unterkunft, die davon unberührt bleiben sollen) im nunmehr zum Bürgergeld umbenannten Hartz IV-System wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass doch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Sanktionierung von maximal 30 Prozent für zulässig erklärt habe. Dem ist aber nicht so – der vollständige Entzug von Leistungen wurde auch vom höchsten deutschen Gericht als Möglichkeit in den politisch gestaltbar Raum gestellt. Man muss das hier angesprochen Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 des BVerfG zu Sanktionen im Sozialrecht nur genau lesen.