Karlsruhe statt Bierzelt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) irrlichtert in der eskalierenden Debatte über das Bürgergeld. Verfassungsrechtliche Nachhilfe wäre angezeigt

Wir haben in den vergangenen Monaten eine teilweise abgründige Debatte über das „Bürgergeld“ – eine vor allem semantisch wohlklingende Umetikettierung dessen, was man früher „Hartz IV“ nannte – erleben müssen. Mit teilweise abstrusen Modellberechnungen, was die einen angeblich kriegen und die anderen angeblich nicht. Mit der unter die Leute gebrachten Botschaft, dass alle Bürgergeld-Empfänger arbeitslos sind und es sich mit einem Netflix-Abo und einem Flachbildfernseher ausgestattet auf der heimischen Couch in den voll von den Jobcentern bezahlten Mietwohnungen bequem machen und den vielen Menschen, die von ihrer Hände Arbeit mit überschaubaren Arbeitseinkommen über die Runden kommen müssen, den Mittelfinger zeigen. Schnell hat man mit der entsprechenden medialen Unterstützung gemerkt, dass man damit ganz viele Menschen so richtig in Wallung bringen kann und in diesem Kontext folgerichtig war dann auch eine Eskalation mit immer radikaleren Forderungen bis hin zu einer grundlegenden Infragestellung des Bürgergeldes und damit der Grundsicherung, also dem letzten Auffangnetz der sozialen Sicherung in unserem Land.

In diesem Klima finden besonnene Stimmen überhaupt kein Gehör mehr und eine differenzierte Diskussion der tatsächlich vorhandenen Konstruktionsprobleme nicht nur der Grundsicherung nach SGB II, sondern auch der vielen selbst von Experten nicht mehr durchschaubaren Effekte aus hyperkomplex ausdifferenzierten einzelnen Leistungssystemen mit einem Wirrwarr an Sprüngen und Brüchen bei dem, was die Leute (nicht) an Geld bekommen, ist nur noch auf der Ebene der Papiere aus der Fachdiskussion ansatzweise möglich, die aber neben den eigenen Durchdringungsproblemen den weiteren Nachteil haben, dass sie immer nur systembedingt mit einem Zeitverzug produziert werden (können), so dass die dann aktuelle Debatte in Zeiten einer sich radikalisierenden Aufmerksamkeitsökonomie schon längst eine andere Sau, die gerade durch das mediale Dorf getrieben wird, ins Visier genommen hat. Aber viele der – vor allem extrem vereinfachten – Botschaften, die man vorher in den Raum gekippt haben, bleiben beim Publikum hängen und werden dort abgelagert, so dass man sie aufgrund der Anschlussfähigkeit beim nächsten Mal schnell wieder abrufen und politisch nutzbar machen kann.

➔ Zu dem angesprochenen Wirrwarr an Sprüngen und Brüchen sei hier nur beispielhaft auf den Beitrag Geringverdienende im Leistungsbezug: monetäre Anreize und aktive Unterstützung für eine bessere Arbeitsmarktintegration von Kerstin Bruckmeier und Enzo Weber hingewiesen, der am 2. April 2024 publiziert wurde – und dort auf die instruktive Abbildung „Verfügbares Einkommen und Grenzbelastung bei steigendem Bruttoeinkommen für einen beispielhaften Paarhaushalt mit zwei Kindern“, wo die effektive Grenzbelastung unter Berücksichtigung von Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag, Kindergeld, Sozialversicherungsbeiträge und Einkommenssteuer dargestellt ist. Der Verlauf der effektiven Grenzbelastung für den Bruttoerwerbseinkommensbereich von 0 bis 5.000 Euro steht einer Achterbahnfahrt in nichts nach. Und zu der ebenfalls angesprochenen und teilweise aus dem Ruder gelaufenen Debatte, dass sich Erwerbsarbeit gegenüber dem Bürgergeld-Bezug angeblich nicht lohnen würde, vgl. aus der Vielzahl an fundierten Ausarbeitungen beispielsweise den Beitrag »Arbeiten lohnt sich nicht mehr« war gestern – »Mehr Arbeiten lohnt sich nicht« lautet das neue Mantra von Johannes Steffen, der im Januar 2024 veröffentlicht wurde.

Man kann und muss darüber diskutieren, ob und wenn ja welche möglicherweise problematischen Effekte innerhalb des Grundsicherungssystems und davon in den Bereich der Erwerbsarbeit ausstrahlend zu beobachten und ggfs. korrigiert werden sollten.

Was aber nicht geht: eine grundsätzliche Infragestellung der Grundsicherung als Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums. Und das dann auch noch mit einer völlig verfehlten „Begründung“ den Menschen zu servieren, so dass der eine oder andere glauben könnte, das ließe sich auch tatsächlich umsetzen.

Auf die Spitze getrieben: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dreht verfassungswidrige Kapriolen im Bierzelt bzw. auf dem Parteitag

Offensichtlich scharf auf den schnellen Szenenapplaus im aufgeheizten Bierzelt – gemeint ist hier der Parteitag der CSU – war der bayerische Ministerpräsident Söder (CSU), der sich hat hinreißen (?) lassen, diese Forderung ins sowieso schon aufgewühlte Publikum zu werfen: „Und wer noch nie eingezahlt hat, der kann auch kein Bürgergeld bekommen“. Jawoll. Endlich mal eine handfeste Forderung. Und hat diese Botschaft sogleich über die Twitter-Nachfolgeplattform X verbreiten lassen:

Da reibt man sich erstaunt die Augen und grübelt: Hat der Ministerpräsident hier was durcheinander gebracht? Verwechselt er etwa Sozialversicherungen, die tatsächlich (allerdings in unterschiedlicher Intensität je nach Sozialversicherungszweig) vorleistungsabhängig gewährt werden, mit der bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe, denn um eine solche handelt es sich bei dem „Bürgergeld“? Wahrscheinlich hat er das schon ganz bewusst aufmerksamkeitsheischend (und wohl wissend, dass das ein Schmarrn ist – wobei Söder aus Franken kommt und die dortigen Einheimischen sprechen hier von „Gschmarri“, wenn es um das das Äußern von „Schmarrn“ geht) in den Saal geworfen. Hier aber verlässt der Herr Ministerpräsident den Boden der Verfassung und stellt seinen Anhängern eine politische Möglichkeit in Aussicht, die schlichtweg verfassungswidrig wäre.

Und das ist keine Behauptung von irgendwelchen Kritikern aus dem Lager derjenigen, die nicht zur Fangruppe des Herrn Söder gehören, sondern die Verfassungswidrigkeit ergibt sich aus Urteilen des dafür zuständigen Bundesverfassungsgerichts:

Karlsruhe ganz klar: Das „Hartz IV“-Urteil aus dem Jahr 2010 als Text 1 des Nachhilfematerials für Herrn Söder

Am 9. Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) diese Pressemitteilung veröffentlicht: Regelleistungen nach SGB II („Hartz IV- Gesetz“) nicht verfassungsgemäß. Die Ausführungen beziehen sich auf diese Entscheidung des Ersten Senats: BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09.

Darin stellen die obersten Richter den Charakter einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe an den Anfang, wenn sie schreiben, dass die Leistungen der Grundsicherung »nur gewährt (werden), wenn ausreichende eigene Mittel, insbesondere Einkommen oder Vermögen, nicht vorhanden sind.« Und dann lohnt sich ein Blick in die Leitsätze der damaligen Entscheidung:

1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.

(Quelle: BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09; Hervorhebungen nicht im Original)

In anderen Worten: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Gewährleistungsrecht steht jedem Menschen zu, der bedürftig ist, unabhängig davon, ob der Mensch jemals irgendetwas wo auch immer „eingezahlt“ hat. Die Leistungen müssen „jedem Hilfebedürftigen“ seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sichern. Dazu ist der Staat verpflichtet und dieses Grundrecht ist „dem Grunde nach unverfügbar“, der Staat kann also nicht einfach über dieses Grundrecht nach welchen Belieben auch immer verfügen und es aus welchen Gründen oder Motiven auch immer beispielsweise schreddern oder gar abschaffen.

Das wird auch in einer zweiten Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts deutlich.

Das Urteil des BVerfG zum Asylbewerberleistungsgesetz aus dem Jahr 2012 als Text 2 des Nachhilfematerials für Herrn Söder

Im Juli 2012 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 eine weitere hier einschlägig relevante grundsätzliche Entscheidung getroffen. Die dazu gehörende Pressemitteilung des Gerichts wurde so überschrieben: Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig. In dieser Entscheidung ging es primär um die damalige im Vergleich zum SGB II abgesenkte Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: »Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sind. Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.«

Der hier höchst relevante Punkt aus der damaligen Entscheidung lautet:

»Art. 1 Abs. 1 GG begründet den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht. Dieses Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Maßgeblich für die Bestimmung entsprechender Leistungen sind die Gegebenheiten in Deutschland, dem Land, in dem dieses Existenzminimum gewährleistet sein muss. Das Grundgesetz erlaubt es nicht, das in Deutschland zu einem menschenwürdigen Leben Notwendige unter Hinweis auf das Existenzniveau des Herkunftslandes von Hilfebedürftigen oder auf das Existenzniveau in anderen Ländern niedriger als nach den hiesigen Lebensverhältnissen geboten zu bemessen. Desgleichen erlaubt es die Verfassung nicht, bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen pauschal nach dem Aufenthaltsstatus zu differenzieren; der Gesetzgeber muss sich immer konkret an dem Bedarf an existenznotwendigen Leistungen orientieren.«

Und an anderer Stelle: »Auch migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren

Quelle: BVerfG (2012): Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig, Pressemitteilung Nr. 56/2012 vom 18. Juli 2012

Alles, was gesagt werden muss zu den irrlichternden Ausführungen des Herrn Söder, ist vor Jahren bereits in aller Klarheit gesagt worden. Ein Herr Müller oder Meier muss das nicht wissen, aber ein bayerischer Ministerpräsident muss das sehr wohl nicht nur wissen, sondern er kann nicht einfach so Forderungen in den öffentlichen Raum stellen, die schlichtweg verfassungswidrig sind.