Deutschland, am Jahresende 2023: Im Dezember 2023 lebten in 2.897.000 Bedarfsgemeinschaften 5.473.000 Personen, die einen Anspruch auf Regelleistungen nach dem SGB II hatten. Hinter dieser einen großen Zahl von fast 5,5 Millionen Menschen, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind, verbergen sich nicht nur 5,5 Millionen Einzelschicksale, sondern auch extrem unterschiedliche Fallkonstellationen, die zu einer Hilfebedürftigkeit geführt haben. In der öffentlichen und diese formatierenden medialen Diskussion muss man als unbedarfter Beobachter aber den Eindruck bekommen, als sind alle Hartz IV- bzw. neudeutsch „Bürgergeld“-Empfänger Arbeitslose, genauer: Erwerbsarbeitslose und das Hauptproblem des „neuen“ Bürgergeldes besteht darin, dass es keine „Anreize“ geben würde, irgendeine Erwerbsarbeit aufzunehmen oder dass sogar Jobs hingeschmissen werden, weil man mit dem Bürgergeld angeblich besser, vor allem angenehmer leben könne. In diesem höchst selektiven Kontext, der viele Millionen Hilfebedürftige und deren Lebenslagen komplett ignoriert, passt dann die Forderung nach einer (Wieder-)Verschärfung der Sanktionen, also der Leistungsminderungen in der Grundsicherung. Besonders populär, weil auf den ersten Blick für viele nachvollziehbar ist die Forderung, dass die Ablehnung einer angebotenen Erwerbsarbeit und die damit einhergehende Verlängerung des steuerfinanzierten Leistungsbezugs zu einer „knallharten“ Sanktionierung führen müsse, damit man sich nicht von Faulenzern und den Sozialstaat missbrauchenden Menschen an der Nase durch den Ring ziehen lassen muss und damit die Solidargemeinschaft geschützt wird vor einer Über-Inanspruchnahme aus „niederen“ Beweggründen.
Insofern kann es nicht überraschen, dass am Jahresende 2023 dem Druck der veröffentlichten Debatte scheinbar nachgegeben wurde und der zuständige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, mit dem wieder 100 Prozent – Sanktionen bei sogenannten „Totalverweigerern“ eingeführt werden sollen. Dabei muss man zur Kenntnis nehmen, dass der gesetzgeberische Vorstoß in Richtung „Voll-Sanktionierung“ unter diesem bezeichnenden Titel veröffentlicht wurde:
➔ Entwurf eines Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024. (Beitrag BMAS Abteilung II „Arbeitsmarkt“). Referentenentwurf, Bearbeitungsstand: 28.12.2023
Offensichtlich geht es hier um einen der Klimmzüge, mit denen die amtierende Bundesregierung versucht, im Nachgang zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 zur Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushalts 2021 und der dort genutzten Umgehung der Schuldenbremse fehlendes Geld für den Bundeshaushalt 2024 zusammenzukratzen.
Milliarden aus der Beitragskasse sind schon verbucht und jetzt noch 170 Millionen Euro durch schärfere Sanktionen im Bürgergeld-System? Potemkinsche Zahlenhuberei
Ein höchst realer „Sparbetrag“ für den Bundeshaushalt 2024 im Milliardenhöhe ist bereits eingepreist worden – aber nicht durch Sparmaßnahmen bei den Bundesausgaben, sondern durch einen Griff in die Beitragskasse der Arbeitslosenversicherung, dessen Trägerin die Bundesagentur für Arbeit ist, denn die muss aus Beitragsmitteln insgesamt 5,2 Milliarden Euro (!) an den Bund abdrücken: In den Worten der Bundesregierung: Die Bundesanstalt für Arbeit muss »zum Ende der Jahre 2024 und 2025 jeweils Zahlungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro und zum Ende der Jahre 2026 und 2027 jeweils Zahlungen in Höhe von 1,1 Milliarden Euro an den Bund« abführen. Zu diesem erneuten Raubzug auf Kosten der Beitragszahler, die die Rechnung zu bezahlen haben, vgl. ausführlicher den Beitrag Der Griff in die Beitragskasse der Arbeitslosenversicherung: Wenn Haushaltstrickser Luftbuchungen und einen nicht nur kosmetischen Schaden produzieren. der hier am 18. Dezember 2023 veröffentlicht wurde. Hier wird also nichts gespart, sondern nach dem klassischen Modell der Verschiebebahnhöfe nutzt man die zwangsversicherten Beitragszahler zur Finanzierung von Aufgaben, die aus Steuermitteln hätten finanziert werden müssen.
Ein weiterer „Sparbeitrag“ soll nun aus dem Grundsicherungssystem generiert werden (und gleichzeitig kann man damit der öffentlichen Debatte über angebliche bzw. tatsächliche Missbräuche im Bürgergeldsystem entsprechen und ein „hartes Durchgreifen“ signalisieren):
»In der Grundsicherung für Arbeitsuchende entstehen durch die Regelung des Leistungsentzugs bei nachhaltiger Arbeitsverweigerung Minderausgaben beim Bürgergeld in Höhe von rund 170 Millionen Euro jährlich. Davon entfallen rund 150 Millionen Euro auf den Bund und 20 Millionen Euro auf die Kommunen.«
So der Referentenentwurf, der sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet und dann dem Bundeskabinett zur Beschlussfassung vorgelegt werden muss.
Hier wird eine wahrhaft potemkinsche Zahlenhuberei vorgelegt, was schon mehr ist als Dreistigkeit oder der Versuch einer Umsetzung der bekannten Strategie: Frechheit siegt. Denn man muss sich verdeutlichen, was hier mal eben so in einem Referentenentwurf von den Regierungsbeamten niedergeschrieben wurde. Dazu Harald Thomé, der auch den Referentenentwurf öffentlich zugänglich gemacht hat:
»Die Regierung kalkuliert mit Einsparungen von 170 Mio. EUR durch Sanktionen, in Zahlen übersetzt bedeutet das 150.000 Vollsanktionen pro Jahr.«
(Quelle: Harald Thomé, Newsletter Nr. 43/2023, 31.12.2023)
150.000 Vollsanktionen pro Jahr? Kann man mit so einer Größenordnung ernsthaft rechnen? Kann man nicht, aber man kann es ja mal versuchen, in der Hoffnung, dass keinem wirklich auffällt, das hier mit völlig aufgeblasenen Werten operiert wird.
Aber vorweg: Ist das alles nicht offensichtlich verfassungswidrig? Hatte nicht das Bundesverfassungsgericht in einem seiner wegweisenden Urteile bereits im Jahr 2019 verkündet, dass nur Sanktionen, also Leistungsminderungen, von maximal 30 Prozent, zugleich mit Restriktionen hinsichtlich der Dauer der Sanktion und der Korrektur der Leistungsminderung versehen, zulässig seien? Hat es so nicht. Dazu ausführlicher die Darstellung in dem Beitrag Sanktionen im SGB II: Es dürfen doch nur maximal 30 Prozent gekürzt werden, hat das Bundesverfassungsgericht gesagt. Hat es nicht vom 31.12.2023, der wichtig ist für ein Verständnis dessen, was das Bundesarbeitsministerium (BMAS) nun im neuen Gesetzentwurf plant, denn dort orientiert man sich an den „Schlupflöchern“, die das BVerfG in seinem Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 gelassen bzw. eröffnet hat.
Zahlen zu den Sanktionen in der Hartz IV- und seit 2023 „Bürgergeld“-Welt
Über das Thema Sanktionen wurde hier in den vergangenen Jahren in zahlreichen Beiträgen berichtet.
Zu den rechtlichen Grundlagen im SGB II wird seitens der BA ausgeführt: »Rechtsgrundlage für die Leistungsminderungen von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB) bildet § 31 SGB II in Verbindung mit § 31a und §31b SGB II bzw. § 32 SGB II. ELB und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden oder zu verringern. Dabei müssen ELB an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken und insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung erstellen (bis 30.06.2023) bzw. den Aufforderungen im Zusammenhang mit einem Kooperationsplan nachkommen (ab 01.07.2023). Kommen ELB ihren Mitwirkungspflichten nicht nach, so können als Rechtsfolge Leistungsminderungen eintreten. Grundsätzlich wird im SGB II unterschieden nach Leistungsminderungen wegen Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II und Leistungsminderungen wegen Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II.«
Eine der semantischen Modifikationen beim Übergang aus der Hartz IV- in die Bürgergeld-Welt bestand darin, dass man nun von Leistungsminderungen statt Sanktionen spricht: Die rechtlichen Rahmenbedingungen zu Leistungsminderungen wegen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten im SGB II gelten grundsätzlich mit Inkrafttreten des Bürgergeld-Gesetzes ab 01.01.2023. Damit wurden die bisherigen Regelungen zu Sanktionen im SGB II ersetzt, folglich hat man jetzt eine Leistungsminderungsstatistik statt der bisherigen Sanktionsstatistik.
Schauen wir uns einmal die quantitative Entwicklung der Sanktionen bzw. Leistungsminderungen in der Hartz IV- bzw. Bürgergeld-Welt in den vergangenen Jahren einmal genauer an.
In der SGB II-Statistik werden nach dem Bestandskonzept leistungsberechtigte Personen mit Leistungsminderungen am Bestand gemessen (Leistungsminderungsstatistik). Andererseits werden auch die im Berichtszeitraum neu ausgesprochenen Leistungsminderungen über ein Bewegungskonzept (nur Zugänge) gemessen (neu festgestellte Leistungsminderungen). Hier die Zahl der jeweils in einem Monat neu verhängten Sanktionen im SGB II:
Und wer eine Jahressummen-Darstellung bevorzugt:
Zu den in den Abbildungen erkennbaren Auffälligkeiten: Zum einen gab es einen Einbruch der Sanktionszahlen im Nachgang zum Urteil des BVerfG vom 5. November 2023. So gab es im Jahr 2019 jeden Monat bis einschließlich November 2019 gut 70.000 neu verhängte Leistungsminderungen. Im Dezember 2019 ging diese Zahl auf unter 42.000 zurück und im Januar 2020 waren es dann nur noch 25.000 Sanktionen. Dann kam die Corona-Pandemie und ein lange Zeit anhaltender Ausnahmezustand, der natürlich auch die Arbeit der Jobcenter beeinträchtigt hat. Im Juli 2020 wurde dann ein erster Tiefstand erreicht mit deutschlandweit nur noch 2.700 neuen Sanktionen. Einen zweiten Einbruch der im Vergleich zu früher sowieso schon niedrigen Sanktionszahlen gab es dann im Jahr 2022 – diesmal nicht als Pandemie-Folge, sondern aufgrund eines „Sanktionsmoratoriums“, das im Vorfeld des Übergangs vom Hartz IV- zum Bürgergeldsystem erlassen wurde.
➔ „Sanktionsmoratorium“: Unmittelbar vor Einführung der Leistungsminderungen galten im Zeitraum von Juli 2022 bis Dezember 2022 im Rahmen des Sanktionsmoratoriums nach § 84 SGB II (in der Fassung vom 19.06.2022) eingeschränkte Regeln für Sanktionen. Danach waren in der Zeit als Rechtsfolge nur noch Sanktionen bei Meldeversäumnissen (§ 32 SGB II), jedoch nicht mehr bei Pflichtverletzungen (§ 31a SGB II) möglich. Das erste Meldeversäumnis hatte in der Zeit im Sinne einer Verwarnung noch keine Leistungsminderung zur Folge, erst jedes weitere Meldeversäumnis innerhalb des Moratoriums-Zeitraums führte zur Sanktionierung. Mit dem Sanktionsmoratorium sollte die Zeit bis zum Inkrafttreten des Bürgergeldgesetzes überbrückt werden, mit dem zum Januar 2023 die Mitwirkungspflichen neu geregelt* wurden.
*) Seit der Neufassung der Regelungen im Kontext der Einführung des Bürgergeldes zum Januar 2023 bestimmen sich Umfang und Dauer der Leistungskürzung vor allem durch die Häufigkeit der Pflichtverletzung: Bei der ersten Pflichtverletzung erfolgt eine Minderung des Bürgergeldes um 10% für einen Monat, bei der zweiten Pflichtverletzung um 20% für zwei Monate und bei jeder weiteren Pflichtverletzung um 30% für drei Monate. Liegt die letzte Pflichtverletzung mehr als ein Jahr zurück, wird erneut mit der Zählung begonnen. Die Leistungsminderung muss aufgehoben werden, sobald der Leistungsberechtigte seine Pflicht erfüllt bzw. Bereitschaft zur Pflichterfüllung erklärt (frühstens nach einem Monat) – auch das ist eine der Konsequenzen aus dem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2019. Liegt ein Meldeversäumnis vor, beträgt die Minderung 10% für einen Monat. In der Summe liegen die Minderungen bei max. 30%.
Wie viele wurden und werden denn sanktioniert?
Über viele Jahre, bis zum Urteil des BVerfG und der ab dem Frühjahr 2020 wütenden Corona-Pandemie, wurden zehntausende Leistungsempfänger teilweise über Monate und einige auch zu 100 Prozent sanktioniert. So wurden in den Jahren 2017 und 2018 jeweils knapp 80.000 Menschen sanktioniert – pro Monat. Aber diese großen Zahlen sind zu relativieren an der Grundgesamtheit der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Wenn man das macht, dann bekommt man die „Leistungsminderungsquote“ in Prozent.
Viele Jahre lag die Sanktionsquote zwischen 4 und 5 Prozent (als durchaus „hart“ sanktioniert wurde, was damals immer wieder für viel Kritik gesorgt hat), am aktuellen Rand ist diese Quote mit unter einem Prozent deutlich niedriger. Man muss also zur Kenntnis nehmen, dass es immer schon nur eine kleine Minderheit der Leistungsberechtigten war, die sanktioniert wurde.
Hier die Monatsbetrachtung der Leistungsminderungsquote:
Hinweis: Die Sanktionsquote in der Abbildung bezieht die Leistungsminderungen auf die „arbeitslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“, nicht auf alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Das berücksichtigt, dass sich manche Minderungsgründe nur auf arbeitslose ELB beziehen können. Die hier dargestellte Quote setzt die Anzahl arbeitsloser ELB mit mindestens einer zum Stichtag gültigen Leistungsminderung zur Anzahl aller arbeitslosen ELB in Relation. Vgl. auch die methodischen Anmerkungen.
Methodische Anmerkungen: Von der „Leistungsminderungsquote“ und der „jährlichen Leistungsminderungsverlaufsquote“:
➔ Die Leistungsminderungsquote setzt die Anzahl der ELB eines Berichtsmonats mit mindestens einer gültigen Leistungsminderung zur Anzahl aller ELB eines Berichtsmonats in Beziehung. Im Zähler sind nur die ELB mit mindestens einer zum Stichtag wirksamen Leistungsminderung enthalten. Im Nenner sind alle ELB zum Stichtag enthalten. Dabei ist zu beachten, dass die Nennergröße auch einen Anteil von ELB enthält, die nicht verpflichtet sind, eine Arbeit aufzunehmen, weil ihnen eine Arbeitsaufnahme nicht zumutbar ist. Dies ist z. B. bei Alleinerziehenden mit Kindern unter 3 Jahren oder ELB, die noch die Schule besuchen, der Fall. Dementsprechend kommt für diesen Personenkreis die Mehrzahl der möglichen Minderungsgründe nicht in Betracht. In diesen Fällen kann beispielsweise keine Leistungsminderung aufgrund der Weigerung, eine Arbeit aufzunehmen oder eine Maßnahme anzutreten, ausgesprochen werden. Bei der Betrachtung der Höhe dieser Quote muss also berücksichtigt werden, dass die Grundgesamtheit im statistischen Sinne nicht voll ausschöpfbar ist.
➔ Ergänzend zur Leistungsminderungsquote der jeweiligen Berichtsmonate wird zudem in Zeitreihen als Jahreswert die jahresdurchschnittliche Leistungsminderungsquote ausgewiesen. Die jährliche Leistungsminderungsverlaufsquote ermöglicht es, anders als die monatliche sowie die jahresdurchschnittliche Leistungsminderungsquote, Aussagen über das Ausmaß der Leistungsminderungen wegen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten von ELB innerhalb eines Jahres zu treffen. Sie sagt also aus, wie hoch der Anteil der ELB ist, deren Leistungen gemindert wurden, weil sie im Zeitraum eines Jahres gegen Mitwirkungspflichten verstoßen haben. Für die Ermittlung der jährlichen Leistungsminderungsquote wird die Menge aller ELB im Bestand, die zu mindestens einem Stichtag im Jahr eine Leistungsminderung hatten, ins Verhältnis gesetzt zur Menge aller ELB, die mindestens zu einem Stichtag im Jahr im Bestand waren.
Die Unterschiede zwischen den beiden Quoten waren und sind erheblich. Beispiel 2018: Die jahresdurchschnittliche Sanktionsquote (bezogen auf alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten) betrug 3,2 Prozent – die jährliche Sanktionsverlaufsquote hingegen wurde seitens der BA mit 8,6 Prozent ausgewiesen.
Weigerung, eine Erwerbsarbeit anzunehmen – nur einer der Sanktionsgründe
Nun wird in der aktuellen Diskussion die (Wieder)Verschärfung der Sanktionen vor allem bzw. ausschließlich mit Blick auf eine ganz bestimmte Teilgruppe geführt – die sogenannten „Totalverweigerer“, also Leistungsberechtigte, die eine angebotene Erwerbsarbeit ablehnen bzw. sich der Aufnahme einer solchen zu entziehen versuchen. Das war aber auch in der Vergangenheit immer nur ein Teil der Sanktionierten und dabei noch nicht einmal die Mehrheit:
Der derzeit aktuellste Monat in der Leistungsminderungsstatistik der BA ist der August 2023. In diesem Monat wurden von den Jobcentern insgesamt 26.600 Leistungsminderungen neu verhängt – aus unterschiedlichen Gründen, die in der offiziellen Statistik so ausgewiesen werden:
Weniger als 2.200 neue Sanktionen entfielen – nicht nur – auf die Weigerung, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen. Darin enthalten sind auch Fälle, in denen Bürgergeldempfänger beispielsweise eine Maßnahme abgebrochen oder nicht angetreten haben.
Und wie hat sich über die Jahre die Zahl der vollsanktionierten Personen entwickelt?
Und was plant man nun, um 150 Millionen Euro durch vollsanktionierte Leistungsberechtigte nicht aus der Bundeskasse ausgeben zu müssen?
Abschließend wieder zurück zu dem bislang als Referentenentwurf vorliegenden gesetzgeberischen Verschärfungen des Sanktionsrechts. »In der Grundsicherung für Arbeitsuchende entstehen durch die Regelung des Leistungsentzugs bei nachhaltiger Arbeitsverweigerung Minderausgaben beim Bürgergeld in Höhe von rund 170 Millionen Euro jährlich. Davon entfallen rund 150 Millionen Euro auf den Bund und 20 Millionen Euro auf die Kommunen.« So die Zielsetzung im Entwurf aus dem BMAS. Wie soll das funktionieren?
In den Erläuterungen zu den vorgesehenen gesetzlichen Veränderungen im SGB II wird ausgeführt:
»Aus den Jobcentern gibt es Praxisberichte, dass einige wenige Beziehende von Bürgergeld zumutbare Arbeitsaufnahmen beharrlich verweigern und somit bewusst ihre Hilfebedürftigkeit aufrechterhalten beziehungsweise nicht vermindern. Der soziale Rechtsstaat ist darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt. Über die mit dem Bürgergeld-Gesetz zum 1. Januar 2023 in Kraft getretene Neuregelung hinaus, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG 1 BvL 7/16, Randziffer 209) auch einen vollständigen Wegfall der Leistungen in bestimmten Fallkonstellation als möglich erachtet. Diese Möglichkeit wird mit dieser Regelung nunmehr gesetzlich ausgestaltet.«
➔ Zu den im Entwurf angesprochenen Voraussetzungen nach dem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2019 vgl. ausführlicher mit entsprechenden Nachweisen den Beitrag Sanktionen im SGB II: Es dürfen doch nur maximal 30 Prozent gekürzt werden, hat das Bundesverfassungsgericht gesagt. Hat es nicht vom 31.12.2023.
Grundsätzlich soll unter bestimmten Bedingungen – auf die es dann bei einer Umsetzung entscheidend ankommen wird – eine vollständige Leistungsminderung wieder möglich gemacht werden, davon ausgenommen sind allerdings die Kosten der Unterkunft, die bleiben unangetastet.
Die zentrale Änderung soll im § 31 a SGB II (Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen) vorgenommen werden. Dort soll ein neuer Absatz 7 angefügt werden – den muss man wie immer sehr genau lesen:
(7) Abweichend von Absatz 4 Satz 1 entfällt der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich willentlich weigern, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen. Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss tatsächlich und unmittelbar bestehen.
Und ergänzend wird im § 31 b SGB II (Beginn und Dauer der Minderung) im Ansatz 3 formuliert:
(3) In den Fällen des § 31a Absatz 7 wird die Minderung aufgehoben, wenn die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme nicht mehr besteht, spätestens aber mit dem Ablauf eines Zeitraums von zwei Monaten.
Mit Blick auf eine mögliche konkrete Umsetzung dieser Neuregelungen in den Jobcentern sollte man die folgenden Begrifflichkeiten beachten:
➔ Wenn sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte „willentlich weigern“, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen. Übrigens ist im Referentenentwurf, der sich ja explizit auf die Ausführungen in BVerfG 1 BvL 7/16, Randziffer 209 bezieht, die man nun umsetzen wolle, lediglich von „zumutbarer Arbeit“ die Rede (also jede Arbeit, es sei denn, die ist sittenwidrig). Da fehlt aber etwas, wenn man sich schon auf die Ausführungen des BVerfG bezieht. Dort heißt es: »Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern … Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.« Die Verfassungsrichter sprechen bewusst nicht nur von einer zumutbaren Arbeit, sondern die muss auch existenzsichernd sein. Dieses Kriterium fehlt aber im vorliegenden Entwurf.
➔ Und dann: Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss „tatsächlich und unmittelbar“ bestehen. Was bedeutet das in der Praxis? Offensichtlich reicht ein abstraktes Arbeitsangebot nicht aus, sondern tatsächlich und unmittelbar muss das vorliegen. Was soll das bedeuten? Ein konkreter Arbeitsvertrag als Angebot mit einem fixierten Anfangsdatum? Wie dem auch sei, ein Arbeitgeber, der (angeblich oder tatsächlich) Leute sucht und dem Jobcenter zurückmeldet, dass Herr Müller oder Herr Abdullah offensichtlich keine Lust auf Arbeit hat, ist dann die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme tatsächlich und unmittelbar? Man kann an dieser Stelle schon aufhören, was die Praktikabilität einer solchen auf den Weg gebrachten Neuregelung angeht.
Nun könnte man zynisch argumentieren, dass von den Produzenten dieses Regelwerks gar nicht an eine reale Umsetzung gedacht ist, sondern dass die theoretische Möglichkeit als Antwort auf die aufgeheizte Debatte der vergangenen Monaten zu verstehen ist, gleichsam eine primär polit-psychologisch motivierte symbolische Gesetzgebung.
Wenn da nicht diese 170 Millionen Euro an „Einsparungen“, davon 150 Millionen im Bundeshaushalt, wären. Um die zu „erwirtschaften“, muss man nach den Schätzungen von Harald Thomé 150.000 (!) Vollsanktionen pro Jahr verhängen. Wie soll das auch im Lichte der in diesem Beitrag präsentierten allgemeinen Sanktionszahlen und ihrer Entwicklung über die Jahre gelingen? Dann müsste man mit diesem schärfsten Schwert des Sanktionsrechts ein „Blutbad“ unter den Leistungsberechtigten anrichten, was wiederum konfligiert mit der im Referentenentwurf zitierten Einschätzung aus den Jobcentern, »dass einige wenige Beziehende von Bürgergeld zumutbare Arbeitsaufnahmen beharrlich verweigern und somit bewusst ihre Hilfebedürftigkeit aufrechterhalten beziehungsweise nicht vermindern.«
Folglich muss es sich bei der genannten „Einsparung“ – ob von vornherein geplant oder im zu erwartenden Ergebnis – um eine reine Luftbuchung handeln, um die Forderungen des Finanzministers Lindner (FDP) auf dem Papier einer Befriedigung zuzuführen.