Sie fährt, sie fährt nicht, dann fährt sie wieder – aber jetzt soll sie eine ganze Woche zwangspausieren. Die Bahn. Denn die Lokführer-Gewerkschaft GDL will es offensichtlich wissen, wie weit man gehen kann. Da kommt vieles unter die Räder

Und täglich grüßt das Murmeltier. So in etwa lässt sich zusammenfassen, wie sich mittlerweile der Konflikt zwischen der Lokführer-Gewerkschaft GDL und der Deutschen Bahn für viele Menschen darstellt. Die Bahn fährt (mehr oder weniger), dann streikt die GDL zwei oder drei Tage, dann fährt sie wieder und nach einiger Zeit zurück auf Streik seitens der Lokführer. Und vor wenigen Tagen hat die GDL erneut die Verhandlungen mit der Bahn abgebrochen, das von der Bahn-Spitze vorgelegte Angebot sei keinesfalls akzeptabel. Man ahnte es schon – das Muster sollte sich wiederholen. Aber alles hat mal ein Ende und offensichtlich will es die GDL jetzt so richtig wissen, wie weit man gehen kann. Die Eilmeldungen überschlagen sich derzeit: Lokführer streiken sechs Tage langEine Woche Bahnstreik ab Montag oder Lokführer streiken die ganze nächste Woche, um nur drei davon zu zitieren.

Bahnreisende müssen sich von Dienstag an auf den bisher längsten Streik der Lokführer im Tarifkonflikt bei der Bahn einstellen. Der Ausstand soll im Personenverkehr sechs Tage lang von 5. Mai um 2.00 Uhr morgens bis 10. Mai um 9.00 Uhr dauern, teilte die Gewerkschaft am Sonntag in Frankfurt am Main mit. Im Güterverkehr soll bereits ab Montag um 15.00 Uhr gestreikt werden. Es wäre bereits der achte Streik in dem Tarifkonflikt. Um was es da geht? Das ist gar nicht so ein fach zu beschreiben.

Die Gewerkschaft hatte am Donnerstag das neue Tarifangebot des Unternehmens zurückgewiesen. Die Bahn hatte angeboten, die Löhne sollten vom 1. Juli an in zwei Stufen um insgesamt 4,7 Prozent steigen. Dazu komme eine Einmalzahlung von insgesamt 1.000 Euro bis zum 30. Juni. Die GDL fordert für die Beschäftigten fünf Prozent mehr Geld und eine Stunde weniger Arbeitszeit pro Woche.  Aber die Differenz zwischen Angebot und Forderung auf dieser Ebene ist noch nicht einmal der eigentliche Knackpunkt. Die GDL will nicht nur für Lokführer, sondern auch für Zugbegleiter und Rangierführer eigene Verträge abschließen. Dies strebt auch die größere, konkurrierende Gewerkschaft EVG an. Die Bahn will unterschiedliche Abschlüsse für dieselbe Berufsgruppe vermeiden.

Hinzu kommt – sicher ein Motiv für die für viele unerwartete Härte der Lokführer-Gewerkschaft: Die GDL befürchtet, unter die Räder des Terifeinheitsgesetzes zu geraten, das derzeit im Bundestag seinen Gang nimmt und das dann bald in Kraft treten könnte, so dass Streikaktionen der GDL möglicherweise nicht mehr zulässig wären. Die GDL unterstellt der Bahn, sie spiele auf Zeit und lasse die Gewerkschaft am ausgestreckten Arm verhungern, bis es zu der gesetzlichen Neuregelung gekommen ist. Vor diesem Hintergrund wäre die Eskalation der GDL aus deren Binnensicht ein durchaus logischer Schritt – allerdings, wie noch zu diskutieren sein wird – mit ganz erheblichen und teilweise unabsehbaren Konsequenzen. Auch für die GDL selbst, die scheinbar in den Selbstzerstörungsmodus gewechselt ist. Aber blicken wir zuerst noch einmal kurz zurück auf den bisherigen Stand vor der nun erfolgten Ankündigung des Mega-Streiks.

Eine gute Übersicht über das, was im vergangenen Jahr passiert ist, liefert der Artikel Deutsche Bahn AG. Tarifrunde 2014 des WSI-Tarifarchivs:

»Die Tarifrunde 2014 bei der Deutschen Bahn AG verlief besonders konfliktreich und war zum Jahresende auch noch nicht abgeschlossen. Ursache dafür waren die besonderen (tarif)-politischen Rahmenbedingungen in diesem Tarifbereich. Seit über zehn Jahren streiten zwei Gewerkschaften bei der Deutschen Bahn um Einfluss und Zuständigkeiten. Anders als in anderen Wirtschaftszweigen gibt es keine funktionierende Tarifkooperation, sondern lediglich einen seit 2008 befristet festgeschriebenen „Waffenstillstand“, der die Tarifkonkurrenz zwischen den beiden Gewerkschaften EVG (bis 2010: Transnet/GDBA) und GDL aber nicht befriedet hat.«

Schon im vergangenen Jahr hat das Agieren der GDL polarisiert:

»Die Streiks der GDL führten zu einer sehr kontroversen öffentlichen Debatte. Zum einen wurden die Arbeitsniederlegungen als unverhältnismäßig kritisiert. Der GDL und speziell ihrem Vorsitzenden Claus Weselsky wurde vorgeworfen, aus purem Organisations- und Machtinteresse heraus zu streiken … Rufe nach einer Begrenzung des Streikrechts im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge wurden laut. Auf der anderen Seite gab es auch explizit positive Stimmen, die die GDL für ihr Vorgehen ausdrücklich lobten …«

Aber auch im neuen Jahr ist der Konflikt weiter gegangen und nach einem weiteren „normalen“, das heißt hier zweitägigen Streik (vgl. dazu beispielsweise den Artikel Die Paralleluniversen von Bahn und GDL), steht nun der große Konflikt vor der Haustür. Die Gespräche seit Mitte vergangenen Jahres drehen sich immer wieder um dieselbe Frage: Welche Gewerkschaft darf welche Berufsgruppe im Bahn-Konzern vertreten? Denn neben der kleineren GDL, die übrigens keine DGB-Gewerkschaft ist, sondern unter den Fittichen des Deutschen Beamtenbundes segelt, gibt es noch die größere Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Die waren und sind bislang in einer sehr unkomfortablen Position, laufen sie doch immer im Windschatten der überaus öffentlichkeitswirksamen Aktionen der GDL und müssen zugleich zunehmend Anfragen der eigenen Mitglieder hinsichtlich ihres vergleichsweise sehr friedlichen Umgangs mit dem Arbeitgeber Deutsche Bahn zur Kenntnis nehmen – sicher auch ein Grund für solche Meldungen: Jetzt drohen auch die anderen Eisenbahner mit Streik. Irgendwie kommen die jetzt natürlich immer mehr in Zugzwang, gegenüber den eigenen Mitgliedern zu demonstrieren, dass sie auch noch da sind.

Bahnstreik und kein Ende? Das fragen sich viele Menschen. So auch die Überschrift eines Artikels, in dem über ein Gespräch mit dem Streikforscher Heiner Dribbusch von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung berichtet wurde. Auch Dribbusch verweist auf die direkt-indirekt fatalen Auswirkungen des laufenden Gesetzgebungsprozesses im Kontext der Tarifeinheit:

»Da das Gesetz noch vor der Sommerpause vom Bundestag verabschiedet werden soll, laufe der GDL aber auch langsam die Zeit davon. Insofern habe Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes zur Verhärtung beigetragen und vermutlich auch die Auseinandersetzung in die Länge gezogen. Denn die Bahn scheine auf Zeit zu spielen und zu hoffen, mit Hilfe des Tarifeinheitsgesetzes die GDL als Tarifvertragspartei letztlich ausschließen zu können. Ob dies in allen 300 Bahnbetrieben wirklich gelingen würde, sei zwar unklar. Aber das Management hoffe, zumindest die Verhandlungsposition der GDL nach einer Neuregelung zu schwächen. Die EVG wiederum zögere mit der Bahn zum Abschluss zu kommen, solange nicht klar ist, welche Zugeständnisse das Management der GDL macht. All dies verhindere eine schnelle Lösung.«

Schon beim letzten, zweitägigen Streik der Lokführer im April dieses Jahres lief die Anti-GDL-Berichterstattung auf Hochtouren. Neben den betroffenen Reisenden wurde diesmal besonders auf die – angeblichen und tatsächlichen – volkswirtschaftlichen Schäden abgestellt, die durch die Arbeitsniederlegungen der Lokführer hervorgerufen werden.

»Streikbedingte Schäden können von einstelligen Millionenbeträgen schnell auf bis zu 100 Millionen Euro Schaden pro Tag wachsen«, warnte Dieter Schweer, Mitglied der Hauptgeschäftsführung im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Besonders hart betroffen seien Branchen, die auf die Bahn angewiesen seien, etwa Chemie-Gefahrguttransporte, die Stahlindustrie oder die Autowirtschaft. Auch der Chefökonom des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Alexander Schumann, sprach am Mittwoch in »Bild« von einem bis zu 100 Millionen Euro großen Schaden durch den aktuellen 66-stündigen Streik im Güterverkehr«, so Rainer Balcerowiak in seinem diese Argumentation kritisierenden Artikel Kein Grund für Horrorszenarien. Er spricht von „Fantasiezahlen“ und sieht „Panikmache und Anti-GDL-Propaganda“ am Werke. Seine Begründung dafür:

»Ein Sprecher des DIHK räumte … ein, dass es »keine konkreten Zahlen gibt« und man auch keinerlei konkrete Angaben von einzelnen Branchen oder Betrieben über die möglichen Auswirkungen des Streiks habe. Vielmehr handele es sich um »Modellrechnungen« für den Fall eines längeren flächendeckenden Streiks im Güterverkehr. Für ein bis zwei Tage seien Firmen in der Lage, Produktionsausfälle weitgehend zu vermeiden. Kohle- und Stahlfirmen, die zu den Großkunden der Bahn zählen, besitzen nach eigenen Angaben sogar einen Puffer von fünf bis sieben Tagen. Zudem kann die Bahn trotz der Arbeitsniederlegung besonders terminsensible Großkunden weiter bedienen, weil sie nicht streikberechtigte verbeamtete Lokführer einsetzen kann.«

Auch der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) sieht derzeit keinen Grund für Horrorszenarien. »Erst nach drei Tagen wird es bei den meisten kritisch«, so wird deren Sprecher Gunnar Gburek in dem Artikel zitiert – eine Grenze, die allerdings bei dem nunmehr angekündigten Ausstand von einer Woche mehr als überschritten würde, was die neue Qualität dessen verdeutlicht, was wir seit heute zur Kenntnis zu nehmen haben.

Die Hinweise auf die Schäden durch die Streikaktionen müssen auch vor dem Hintergrund gesehen werden, über eine solche Argumentation den Gesetzgeber zum Einschreiten zu bewegen. Noch vor der Ankündigung der neuen Streikaktionen findet man dann beispielsweise in der FAZ die folgende Kommentierung von Heike Goebel unter der bezeichnenden Überschrift: Ran ans Streikrecht! Auch sie sieht den Zusammenhang mit dem Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition, zieht allerdings eine „interessante“ Schlussfolgerung:

»An der Eskalation ist die große Koalition mitschuldig. Ihr Tarifeinheitsgesetz bedroht die Existenz der Sparten-Gewerkschaften, auch deswegen kämpft die GdL so rücksichtslos. Die Regierung sollte das Gesetz einstampfen und stattdessen das Streikrecht begrenzen, zumindest da, wo solche Konflikte das öffentliche Leben unter hohen Kosten für Dritte empfindlich stören. Eine gute Debattengrundlage sind die Vorschläge des CDU-Wirtschaftsflügels, die andere Länder erfolgreich anwenden: Streiks sollten erst nach einem Schlichtungsversuch erlaubt sein, es muss längere Ankündigungsfristen geben und höhere Abstimmungshürden.«

Genau diese Entwicklung wurde bereits kritisch in dem Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle vom 20. April 2015 behandelt.

Noch wesentlich weiter geht Werner Rügemer in seinem Beitrag DB im GdL-Streik: „Bewusst eine Sackgasse herbeiführen“: »Polizei- und Geheimdienstmethoden gegen streikbereite Gewerkschaften wie die GdL. Strategische Beratung durch Zürcher Union Busting-Institut SNI«, so beginnt sein Artikel, in dem er darauf hinweist, dass auch seitens der Deutschen Bahn „Union Busting“-Methoden Anwendung finden.

Man kann es drehen und wenden wie man will – bei einem Streik in der Größenordnung, wie ihn die GDL heute angekündigt hat, wird es erhebliche negative Auswirkungen geben müssen. Dazu und hier besonders relevant kommt hinzu: In den kommenden Tagen wird die gesamte mediale Aufmerksamkeit auf den Ausstand der in der GDL organisierten Lokführer gezogen werden und man braucht keine prognostische Expertise um vorauszusagen, dass die (ver)öffentliche Meinung massiv gegen die Aktion der GDL ausgerichtet wird. Auch für viele bislang Gutmütige wird der Rubikon diesmal überschritten sein.

Nun lebt die GDL nicht auf einer Insel, auch wenn man den Eindruck bekommen könnte, dass das bei der Führungsebene dort so ist. Denn es gibt noch andere Konfliktfelder in Arbeitsbereichen, die deshalb von großer Bedeutung sind, weil Streikaktionen in diesen Bereichen aufgrund der unmittelbaren Betroffenheit vieler Menschen eine ganz andere Wahrnehmung bekommen, als wenn beispielsweise die IG Metall bei einem Metallunternehmen streiken würden. Das kann für das Unternehmen bis zur Existenzfrage gehen, für die normale Bevölkerung wäre das nicht oder nur ganz am Rande relevant.

Völlig anders sieht das aus in Bereichen wie der Kindertagesbetreuung, der Paketzustellung oder der Pflege. Hier sind zumeist Millionen Menschen direkt oder indirekt betroffen. Und diese Bereiche werden deshalb an dieser Stelle erwähnt, weil wir hier gegenwärtig ebenfalls mit Streikaktionen konfrontiert wurden bzw. werden. Man denke nur daran, dass die Gewerkschaft ver.di die Erzieher/innen der kommunalen Kindertageseinrichtungen zur Urabstimmung über unbefristete Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen hat und wenn sie die erforderliche Zustimmung bekommen, dann sollte sich eigentlich ab Ende der nächsten Woche, also ab dem 8. Mai 2015, der Streikzug in Bewegung setzen (vgl. hierzu beispielsweise Kita-Streik der Erzieher startet wohl vielerorts am 8. Mai). Wohlgemerkt, in einem Bereich, der viele Eltern treffen wird, die einen Warnstreik von einem Tag locker wegstecken können, die aber erhebliche Probleme bekommen werden, wenn die Kitas mehrere Tage geschlossen bleiben. Für ver.di ergibt sich aus der heutigen Ankündigung der GDL, einen Mega-Streik durchzuführen, eine überaus unangenehme Lage, denn sie drohen mit ihrem Streikvorhaben unter die Räder eines durch den Lokführer-Streiks extrem negativ aufgeheizten Klimas in der Gesellschaft zu geraten, obgleich sie mit der GDL nichts zu tun haben.
Auch auf eine andere Großbaustelle muss an dieser Stelle hingewiesen werden: Die Pflege und die Pflegekräfte. Vor kurzem fand in Berlin an der Charité eine wichtige zweitägige Warnstreikaktion von Pflegekräften statt, deren Hauptforderung darin bestand und besteht, dass mehr Pflegekräfte verbindlich eingesetzt werden. Also mehr Personal und gar nicht einmal höhere Löhne (vgl. hierzu Ein krankes System: »Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus«. Oder „Gravierender Warnstreik“ an der Charité – 400 Operationen fallen aus sowie Diagnose: Heilung kaum mehr möglich).

Es steht zu befürchten, dass die mehr als berechtigten Anliegen in diesen Arbeitsfeldern in den kommenden Tagen und Wochen unter die Räder geraten dessen, was in berechtigter wie auch hochgespielter Ablehnung des Lokführerstreiks im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen wird. Das wäre schade und kontraproduktiv.

Der Bahn und der GDL wie auch der EVG kann man wohl nur noch von außen helfen. Aber nicht im Sinne der Forderung nach einer Beschränkung des Streikrechts, sondern im Sinne einer echten Schlichtung. Sonst kommen die da nicht mehr raus.

Zwischen den Welten von BMW, Amazon, Erzieherinnen und Pflegekräften. Und dann auch noch diese Crowdworker. Renaissance und Dilemmata der Gewerkschaften

Heute ist der Tag der Arbeit. Für nicht wenige Menschen ist das einer dieser gesetzlichen Feiertage, die vor allem dann besonders positiv in Erinnerung bleiben, wenn man sie als Brückentag für ein verlängertes Wochenende benutzen kann, was in unsere Zeit der (Selbst)Optimierungsstrategien passt. Auf der anderen Seite ist es eine Art „Hochamt“ der Gewerkschaften. Auf Kundgebungen will man sich Gehör verschaffen und – wahrscheinlich noch weitaus bedeutsamer – den eigenen Zusammenhalt zelebrieren als Botschaft nach innen. Und das hat mittlerweile eine für heutige Zeiten fast schon „katholisch“ lang daherkommende Geschichte, den der 1. Mai 2015 steht auch unter dem Motto, dass es der 125. Maifeiertag der Arbeiterbewegung ist. Vor 125 Jahren gingen in Deutschland zum ersten Mal Arbeiter am 1. Mai auf die Straße. Damals beteiligten sich rund 100.000 Menschen an Streiks, Demonstrationen und sogenannten Mai-Spaziergängen. Sie forderten bessere Arbeitsbedingungen und die Einführung des Achtstundentags. Besonders viele Arbeiter demonstrierten 1890 in Hamburg, die Unternehmen reagierten mit Entlassungen und Aussperrungen.

Der 1. Mai 2015 steht unter dem Motto: „Die Arbeit der Zukunft gestalten wir!“ Aber wie wollen die Gewerkschaften das machen? Und wie ist es eigentlich um sie selbst bestellt, im Jahr 2015? Noch vor wenigen Jahren wurde ihr definitives baldiges Ableben prognostiziert, heute hat man durchaus mit Recht den Eindruck einer gewissen Revitalisierung dieser Institutionen. Und sind wir nicht subjektiv gesehen fast täglich betroffen von Streiks und den damit verbundenen Beeinträchtigungen? Grund genug, ein wenig genauer hinzuschauen.

Der Aufruf des DGB zum 1. Mai 2015 kommt nicht mit direkten Forderungen daher, sondern mit zahlreichen (Schein-)Fragen, bei denen sich die Antworten aus Sicht der Arbeitnehmer gleichsam von selbst ergeben:

Wollt Ihr Euch ein gutes Leben aufbauen – und nicht nur für die Arbeit leben?
Wollt Ihr, dass das Lohndumping aufhört und der gesetzliche Mindestlohn ohne Ausnahme gilt?
Wollt Ihr sichere Arbeitsplätze statt Leiharbeit, Werkverträge oder Minijobs?
Wollt Ihr flexibler arbeiten und mehr Zeit fürs Privatleben, ohne dass Ihr jederzeit verfügbar sein müsst?
Wollt Ihr, dass mehr auf Eure Gesundheit geachtet wird und der Arbeitsstress ein Ende hat?
Wollt Ihr mehr Unterstützung, um Euch weiterentwickeln und auch Neues wagen zu können?
Wollt Ihr, dass Ihr fit bis zur Rente arbeiten könnt – und die Rente auch wirklich zum Leben reicht?
Wollt Ihr im Betrieb mehr mitbestimmen, wie die Arbeit von heute und morgen aussieht?
Wollt Ihr, dass es endlich selbstverständlich wird, dass Frauen gleich viel verdienen wie Männer?
Wollt Ihr eine bessere Bildung und Ausbildung für Eure Kinder, bezahlbare Energie, Kitas und Schwimmbäder? Wollt Ihr, dass Arbeitslose nicht in Hartz IV abstürzen und Millionen Menschen in Armut leben müssen?
Wollt Ihr, dass die oberen Zehntausend einen angemessenen Beitrag für unser Gemeinwohl leisten?
Wollt Ihr eine offene und solidarische Gesellschaft, die Nazis und Rassisten keine Chance gibt?
Wollt Ihr in einem friedlichen und sozialen Europa leben?

Ja wer will das nicht, möchte man den Verfassern dieser Botschaft zurufen. Klar doch. Nun gut, zwischen Wollen und Können und zuweilen auch Dürfen gibt es nicht nur semantische Unterschiede.

Die Zuspitzung auf das, was man will, ist das eine. Die Realität auf den Arbeitsmärkten ist natürlich oftmals eine ganz andere. Man kann das exemplarisch entfalten, wenn man sich nur einige wenige große Herausforderungen, denen sich die Gewerkschaften ausgesetzt sehen, etwas genauer anschaut.

In allen Festreden am heutigen Tag der Arbeit wird mit Sicherheit die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar dieses Jahres als ein großartiger Erfolg der Gewerkschaftsbewegung gefeiert werden. Es geht an dieser Stelle gar nicht darum, darauf hinzuweisen, dass noch vor einigen Jahren große Teile der Gewerkschaftsbewegung, vor allem die starken, einflussreichen Industrie-Gewerkschaften, die Einführung eines vom Staat gesetzten gesetzlichen Mindestlohns als Eingriff in die Tarifautonomie abgelehnt haben. Insofern kann und muss man in Teilen die Tatsache, dass wir neben den schon seit längerem existierenden Branchen-Mindestlöhnen nun auch eine allgemeine gesetzliche Lohnuntergrenze bekommen haben, auch interpretieren als Ausdruck einer fundamentalen Schwäche von Gewerkschaften in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, denn die Alternative zu einem solchen, vom Staat gesetzten Mindestlohn wäre ja die Definition von Lohnuntergrenzen durch die Tarifvertragsparteien. Dafür nun wiederum gibt es nicht nur einen, sondern zahlreiche Gründe, aber unbestreitbar bleibt die Tatsache, dass der Organisationsgrad der Gewerkschaften gerade in den Niedriglohnbereichen des Arbeitsmarktes (immer noch) erschreckend niedrig ist.

Der allerdings viel  wichtigere Punkt für die vor uns liegenden Monate und Jahre ist die gerade nicht die Fokussierung auf den Mindestlohn, der ja – nicht mehr, aber auch nicht weniger – „nur“ eine allgemeine Lohnuntergrenze im Sinne einer Sicherungsvorschrift nach unten darstellt, sondern weitaus bedeutsamer wäre für die Gewerkschaftsbewegung etwas, was neben der Einführung des Mindestlohns ebenfalls im Koalitionsvertrag der großen Koalition verankert worden ist: Gemeint ist die Vereinfachung und stärkere Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Aus gewerkschaftlicher Sicht wie auch darüber hinaus aus einer ordnungspolitischen Sicht auf die Machtverhältnisse auf vielen Arbeitsmärkten wäre dieses Instrument weitaus schärfer und zugleich wichtiger als die Engführung der Perspektive auf eine Lohnuntergrenze, die natürlich alles das, was oberhalb von ihr liegt und passiert, nicht beeinflusst bzw. nicht beeinflussen kann. Genau das ist aber der Unterschied, wenn ein Tarifvertrag allgemein verbindlich erklärt wird, denn dann gelten die im Tarifvertrag festgelegten Strukturen über die gesamte Belegschaft „von unten nach oben“ – und dann mit Gültigkeit bei Allgemeinverbindlichkeit für alle Unternehmen, auch die nicht tarifgebundenen Betriebe. Der Tarifvertrag regelt ja nicht nur die unterste Tariflohngruppe, sondern die gesamte Tarifstruktur wird hier abgebildet. Man darf gespannt sein, ob und was in der vor uns liegenden Zeit in diesem Bereich (noch) passieren wird.

Zum Wesenselement von Gewerkschaften gehört die Möglichkeit, die eigenen Forderungen – wenn es denn nicht anders geht – auch mithilfe von Arbeitskampfmaßnahmen, also Streiks, durchzusetzen. Nur wenn Gewerkschaften diese letzte Möglichkeit der Eskalation einer Verhandlung haben und realistisch mit ihr drohen bzw. sie Realität werden lassen können, werden sie von der anderen Seite, also den Arbeitgebern, wirklich ernst genommen. Und wenn man in den vergangenen Monaten ausschließlich die Medienberichterstattung verfolgt hat, dann muss man den Eindruck gewinnen, den subjektiv viele Bürger mit Sicherheit sofort teilen würden, dass sich Deutschland zu einem „Streikland“ entwickelt hat. Wie so oft ist die Realität komplexer. Ist Deutschland ein Streikland? Subjektiv ja, objektiv nein, so müsste die halbwegs korrekte Antwort lauten. Subjektiv ja deshalb, weil mittlerweile neun von zehn Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich stattfinden und dabei vor allem in öffentlichkeitsnahen Dienstleistungsbereichen, man denke hier an die Arbeitskämpfe der Piloten der Lufthansa, der Lokführer bei der Deutschen Bahn oder – höchst aktuell – vor dem Hintergrund der derzeit laufenden Urabstimmung der Gewerkschaftsmitglieder ein möglicherweise in wenigen Tagen beginnender großer, unbefristeter Arbeitskampf bei den Erzieherinnen, die in kommunalen Kindertageseinrichtungen arbeiten, was natürlich erhebliche Auswirkungen haben muss und wird auf das tägliche Leben von vielen Menschen. Und die Berichterstattung über die Folgen solcher Streikaktionen werden dann die subjektiven Eindrücke weiter verstärken und verfestigen. Objektiv nein deshalb, weil die nüchterne Sicht auf die Entwicklung der Arbeitskämpfe und des durch Streiks ausgefallenen Arbeitsvolumens zu einem anderen Befund führt. Nehmen wir das vergangene Jahr 2014: Während sich die Gesamtzahl der Konflikte kaum veränderte, gingen das Streikvolumen und die Zahl der an Streiks Beteiligten im Vergleich zu 2013 deutlich zurück. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die Republik stand still im vergangenen Jahr. Wegen kleinen, aber kampfstarken Gewerkschaften und vieler Streiks. Wirklich? vom 04.03.2015.

Hinter diesen Zahlen besteht nicht nur die Tatsache, dass die Arbeitskampfaktivitäten in Deutschland im internationalen Vergleich seit langem und auch aktuell im unteren Drittel angesiedelt sind, wir also aus dieser Perspektive von einem „streikarmen“ Land sprechen müssen, sondern mit Blick auf die weitere Entwicklung der Gewerkschaften von besonderer Bedeutung ist die Auseinanderentwicklung zwischen den klassischen Industrie-Gewerkschaften und dem, was im Dienstleistungsbereich passiert. In früheren Zeiten, in denen weitaus mehr gestreikt wurde und deutlich mehr Arbeitsstunden durch Streiks ausgefallen sind, fanden diese Auseinandersetzungen oft und überwiegend im Industriebereich statt, mit der Folge, dass die ökonomischen Auswirkungen für die betroffenen Unternehmen in der jeweiligen Branche teilweise überaus massiv waren, die allgemeine Öffentlichkeit davon aber wenig bis gar nichts mitbekommen hat. Mittlerweile, wie bereits erwähnt, finden fast alle Streikaktionen im Bereich der Dienstleistungen statt, vor allem im Bereich personenbezogener Dienstleistungen, deren Ausfall dann sofort von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Vor allem die Gewerkschaft ver.di bestreitet ein Großteil dieser Arbeitskampfmaßnahmen, zugleich belastet durch eine unglaubliche Heterogenität der Anlässe, der Branchen bzw. der Unternehmen, wo gestreikt wird. Das reicht dann von unternehmensbezogenen Arbeitskampfmaßnahmen wie denen bei Amazon, über die bei anderen Unternehmen wie beispielsweise der Deutschen Post DHL und reicht hinein in wiederum ganz anders strukturierten Branchen wie die kommunal betriebenen Kindertageseinrichtungen oder den Krankenhäusern, wobei die Verbindung zwischen den Kitas und den Krankenhäusern vor allem darin zu sehen ist, dass beide Bereiche im wesentlichen bzw. ausschließlich öffentlich finanziert werden, also aus Steuer- und/oder Beitragsmitteln und hier neben „klassischen“ Lohnforderungen zum einen Ziel der Aktivitäten eine Aufwertung der Berufsbilder ist (wie bei den Erzieher/innen) bzw. der Kampf um mehr Personal (gerade aktuell bei den Pflegekräften). Wenn man in dieser heterogenen Gemengelage nach einer Gemeinsamkeit der beobachtbaren Streikaktivitäten bzw. der parallel laufenden Konflikte sucht, dann kann man zuspitzend formuliert sagen, dass die Gewerkschaft ver.di in zahlreiche Scharmützel bis hin zu heftigen Auseinandersetzungen in einer sich zerfasernden (Nicht-)Tariflandschaft eingebunden ist. Dabei geht es immer wieder darum, zum einen überhaupt tarifvertragliche Regelungen umsetzen zu können bzw. in der Vergangenheit ausgehandelte Tarifverträge vor ihrem Rück- und damit Abbau zu schützen. Oftmals reduziert sich das Ziel auf eine Vermeidung bzw. eine Abschwächung von Lohndumping in den betroffenen Bereichen.

Trotz alle Schwierigkeiten und Probleme – man muss auch sehen, dass es so etwas wie eine – euphemistisch formuliert – Renaissance von Gewerkschaften gibt bzw. geben kann. Die Entwicklung generell nach unten ist gestoppt und gerade auch jüngere Leute beginnen wieder, sich stärker in den Gewerkschaften zu engagieren. Man kann das studieren an der Entwicklung des Organisationsgrades der Erzieher/innen, der noch vor wenigen Jahren hundsmiserabel war und seit einiger Zeit ordentliche Zuwächse erkennen lässt. Man erlebt eine massive „Politisierung“ der Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen und das wirkt sich positiv aus auf die Bereitschaft, sich auch gewerkschaftlich zu engagieren.

Auf der anderen Seite stehen die großen, „alten“ Industrie-Gewerkschaften, die in der Vergangenheit oftmals aufgefallen sind durch heftige und nicht selten auch erfolgreiche Streikaktionen.  Und es ist noch gar nicht solange her, dass die IG Metall  eine ganze Reihe an Warnstreikaktionen durchgeführt hat, die allerdings nicht ausgeweitet werden mussten, weil man relativ schnell eine Einigung mit den Arbeitgebern gefunden hat. „Richtig“ gestreikt hat diese große, starke Traditionsgewerkschaft in den vergangenen Jahren nicht mehr. Noch krasser ist die Situation bei der IG BCE. Es war den Medien eine eigene Berichterstattung wert, als vor kurzem bei den Tarifverhandlungen der Eindruck entstand, dass möglicherweise Streikaktionen in Aussicht stehen könnten. Man muss das so formulieren, weil man im Bereich der Chemieindustrie damit tatsächlich eine Art „Neuland“ betreten hätte, denn – das muss man sich einmal vorstellen – die Chemie-Gewerkschaft hat das letzte Mal vor 44 Jahren einen Streik organisiert und durchgeführt. Etwas zynisch formuliert hätte man der Gewerkschaft in diesem Jahr durchaus die Empfehlung geben müssen, wenigstens eine oder zwei große Warnstreikwellen in den Unternehmen der Chemie-Industrie zu organisieren, damit die hauptberuflichen Gewerkschaftsfunktionäre überhaupt wieder einmal lernen, wie man einen Streik organisiert, denn nach 44 Jahren ist allein aus biologischen Gründen so gut wie keiner mehr da, der diese Erfahrung noch hat, man müsste sich also aus anderen Gewerkschaften Hilfestellung holen.

Das heißt aber nun nicht, dass die Industrie-Gewerkschaften keine Probleme haben bzw. auf Streikaktionen nicht angewiesen wären. Ganz im Gegenteil. Aber der skizzierte Befund verdeutlicht zum einen, dass auch nach außen rhetorisch sich als sehr kämpferisch gebende Gewerkschaften wie die IG Metall zur Kenntnis genommen haben bzw. nehmen müssen, in welchem (harten) wettbewerblichen Umfeld sich die Betriebe befinden, in denen die meisten ihrer Mitglieder arbeiten. Hier wäre ein Streik tatsächlich die allerletzte Option, die in Erwägung gezogen werden würde. Die Konfliktfelder der Industrie-Gewerkschaften sind anders als im Dienstleistungsbereich weniger klassische Niedriglöhne bzw. Lohndumping, sondern die Ausfransungen  ihrer Tarifverträge von den Randbereichen beginnend bis hinein in die Kernbereiche der Unternehmen, in denen sie mit ihren Tarifvertrag (noch) die Regelungshoheit haben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass das Thema Werkverträge bzw. Dienstverträge für die IG Metall eine besondere Bedeutung hat und die strategische Ausrichtung der Organisation darauf abstellt, dass die den kleiner werdenden Stammbelegschaften zuliefernden Bereiche, die wenn überhaupt, dann oftmals unter andere, billigere Tarifverträge beispielsweise der Logistik fallen,  (wieder) unter die Fittiche des Metalltarifvertrags geholt werden. Beispielhaft dafür steht die Ankündigung von BMW, in Zukunft bei den Zulieferern und den Dienstleistern, mit denen man kontinuierlich zusammenarbeitet, zu verlangen, dass sie nach „IG Metall-Tarif“ bezahlen müssen. Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen muss, dass es eben nicht „den“ IG Metall-Tarif gibt, sondern diese Gewerkschaft hat zahlreiche Tarifverträge mit ganz unterschiedlichen Vergütungsniveaus abgeschlossen, das reicht dann von dem, was für das Handwerk vereinbart wird bis hin zu den wirklich üppigen Tarifen der Kernbelegschaften der deutschen Automobilindustrie.

Bereits die bisher beschriebenen, gleichsam „klassischen“ Herausforderungen gewerkschaftlicher Arbeit sind komplex und führen auch innerhalb des Gewerkschaftslagers zu zahlreichen Konflikten, am deutlichsten erkennbar in den durchaus zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den Industrie-Gewerkschaften und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di über nur scheinbar formale Zuständigkeitsfragen.

Aber so richtig kompliziert und derzeit nur mit großen Fragezeichen zu versehen ist der Anspruch der Gewerkschaften, bestimmte Teilbereiche der Arbeitswelt der Zukunft organisieren zu wollen. Industrie 4.0, Crowdworker – ganz unterschiedliche Sprachspielereien versuchen, sich den Entwicklungen, die dahinter stehen, zu nähern. Das alles wird derzeit auf die Tagesordnung der Gewerkschaften gesetzt. Um was für gewaltige Herausforderungen es sich hier handelt, kann man sich klar machen, wenn man das, was man derzeit als Erfolg feiert,  in Relation setzt zudem, was mit Blick auf die Zukunft eigentlich zu regeln wäre. Gemeint ist auf der einen Seite der Mindestlohn, der gleichsam Ausdruck der „alten“ Arbeitswelt ist, denn es handelt sich um einen Stundenlohn, also eine Vergütung bezogen auf die definierbare Arbeitsleistung in einer Zeiteinheit, was voraussetzt, dass es abgrenzbare Arbeitsorte und Arbeitszeiten gibt. Genau das aber ist bei dem, was man unter so schillernden Begriffen wie Crowdworker diskutiert, gerade nicht der Fall. Nicht umsonst spricht der DGB-Vorsitzende hier von einem modernen Tagelöhnertum, sogar den Begriff „Leibeigenschaft“ nimmt er in den Mund. Hier gibt es, wenn überhaupt, Lösungsansätze nur in einer embryonalen Form. Das ist kein Vorwurf an die Adresse der Gewerkschaften, sondern liegt in der Natur der Sache begründet.

Wie dem auch sei – es gibt nicht „die“ Gewerkschaften und deren Herausforderungen. Wir müssen schon genauer hinschauen und differenzieren.

Zum Abschluss bei aller Fokussierung auf Deutschland und zugleich auch als Mutmacher für die Teile der Gewerkschaftsbewegung, die sich vor allem in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes den Auseinandersetzungen stellen müssen, dabei aber auch immer konfrontiert sind mit dem Probleme der niedrigen Organisationsgrade auf der Seite der Arbeitnehmer: Vielleicht sollte man sich auseinandersetzen mit der auf den ersten Blick gerade hinsichtlich von Gewerkschaften abenteuerlich daherkommende Aufforderung Von den USA lernen. So ist der Artikel von Ingar Solty überschrieben: »Ausgerechnet in den gewerkschaftsfeindlichen Vereinigten Staaten ist eine Massenstreikbewegung im Niedriglohnsektor entstanden. Im Visier befinden sich vor allem die Fast-Food-Konzerne.« Und mit Niedriglohnsektoren kennen wir uns ja mittlerweile auch in Deutschland sehr gut aus.

Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle

Am 5. März 2015 wurde der Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ veröffentlicht. Am Ende des Textes findet man die Formulierung, man kann »den Eindruck (gewinnen), dass hier, ob bewusst oder eher unbewusst, hinsichtlich des Streikrechts die Büchse der Pandora geöffnet werden soll.« Lassen wir nun das noch nett formulierte „ob bewusst oder eher unbewusst“ einfach weg und einigen uns auf „bewusst“. Beleg für diese Zuordnung: »Der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ein Streikverbot für die kleineren Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes gefordert. Das geht aus einem Positionspapier hervor, das der Wirtschaftsflügel an den Vorsitzenden der Unionsfraktion Volker Kauder geschickt hat«, kann man dem Artikel Tarifeinheitsgesetz: Unionspolitiker fordern Streikverbot für kleine Gewerkschaften entnehmen. Und dieses Papier lässt die Katze sprichwörtlich aus dem Sack und legt die Karten offen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), deren Ministerium den Gesetzentwurf vorgelegt hat, hat stets bestritten, dass das Streikrecht für die kleineren Gewerkschaften in einem Betrieb durch die geplanten Maßnahmen eingeschränkt werden soll. Kritiker haben das immer bezweifelt und darauf hingewiesen, dass es durch die Ausgestaltung im Gesetzentwurf für die kleinere Gewerkschaft ein faktisches Streikverbot geben würde.

Aber das reicht den Vertretern des Wirtschaftsflügels der Union offensichtlich nicht, sie sprechen sogar von einer „Mogelpackung“, weil die Unzulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen zur Durchsetzung eines nicht anwendbaren Tarifvertrags in der Begründung „versteckt“ sei, aber als Kernbestandteil explizit in des Gesetzestext eingebaut werden sollte. Und wenn man schon mal dabei ist, dann kann man auch gleich den anderen, also den „normalen“ Gewerkschaften eins auf die Finger geben:

»Zudem fordern die Unionspolitiker, dass das Streikrecht im Bereich der „Daseins­vorsorge“ eingeschränkt wird, beim Luft- und Bahnverkehr zum Beispiel, aber ebenso im Erziehungswesen, der Energie- und Wasserversorgung und der medizinischen Versor­gung. Für diese Bereiche sollen künftig „spezifische Verfahrensanforderungen“ gelten, zum Beispiel ein obligatorisches Schlichtungsverfahren nach Scheitern von Tarifverhandlungen oder die Pflicht, einen Streik vier Tage vorher anzukündigen.«

Das Papier des Wirtschaftsflügels der Union ist erfrischend deutlich: „Der Ergänzungsvorschlag für die Daseinsvorsorge erfasst Streikfälle mit besonderer Breitenwirkung“. Die sollen in die Mangel genommen werden.

Dazu passt dann leider auch der Artikel Ziel: Kampf dem Arbeitskampf von Claudia Wrobel. Sie berichtet von einem „Hearing zum Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes“, zum dem der Deutsche Beamtenbund und Tarifunion (dbb) in Berlin geladen hatte. Die  Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU hatten keine Vertreter zu dem Symposium geschickt. An anderer Stelle, in der Realität der Gesetzgebung, sind die wesentlich aktiver: Im Dezember vergangenen Jahres wurde der Gesetzentwurf im Kabinett behandelt und bereits ab 1. Juli soll das Tarifeinheitsgesetz nach dem Willen der Koalitionäre in Kraft treten. Am 4. Mai wird es Thema einer Anhörung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales sein. Wrobel notiert am Ende ihres Artikels, dass viele an dem Symposium Teilnehmenden oft »bemerkten …, dass es der Bundesregierung vor allem darum gehe, die Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) einzuschränken. Allerdings traue sie sich nicht, dies öffentlich zuzugeben.« Da passt dann die Ankündigung der GDL, in dieser Woche erneut zu streiken, wie die Faust aufs Auge.

Fazit: Spätestens an dieser Stelle sollten die Gewerkschaften, die weiterhin an dem Gesetzgebungsvorstoß – scheinbar zu ihren Gunsten – festhalten, aufwachen und begreifen, dass sie möglicherweise und nicht ganz unplausibel am Ende des Prozesses mit heruntergelassenen Hosen da stehen werden.