„Die Antwort ist simpel: Ungleichheit bringt uns um“. Und warum Gewerkschaften und ein ausgebauter Sozialstaat von der anderen Seite gelobt werden

Wir kennen sie alle, diese großen Debatten über die Zunahme der Ungleichheit in den „modernen“ Gesellschaften. Nicht ohne Grund ist das im wahrsten Sinne des Wortes furztrockene Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Pikten in den vergangenen Monaten landauf landab diskutiert, man muss sogar sagen: gehypt worden. Und immer wieder wurde und wird von Sozial- und anderen Wissenschaftlern darauf hingewiesen, dass die Zunahme der Ungleichheit, die damit einhergehenden gesellschaftlichen Polarisierungsprozesse in einen kritischen Bereich eingetreten sind. Und dann wird man in einer der reichsten und in vielen Bereichen immer noch erstaunlich gut funktionierenden Volkswirtschaft der Welt, also in Deutschland, mit Debatten konfrontiert, ob der Untergang des arbeitsmarktlichen Abendlandes bevorsteht, weil man zu Beginn dieses Jahres eine gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro – nun ja – für fast alle eingeführt hat. Und wenn denn bei uns noch über Gerechtigkeit diskutiert wird, dann versucht der Mainstream darauf hinzuweisen, dass wir längst die „unfruchtbare“ Fokussierung auf Verteilungsgerechtigkeit, die immer auch und unvermeidbar verbunden ist mit einer Debatte über Umverteilung, dadurch zu entsorgen, dass wir mittlerweile doch schon längst auf einer anderen Ebene angekommen sind, auf der es um die Chancengerechtigkeit geht. Oder gehen sollte, wenn es sie denn geben würde. Daran kann man gut begründet zweifeln (vgl. als aktuelles Beispiel dazu die Befunde und die Diskussion einer neuen Studie zum Thema Kinderarmut, die von der Bertelsmann-Stiftung vorgelegt worden ist: Kinderarmut. Leider nichts Neues. Ein weiteres Update zu den auseinanderlaufenden Lebenslinien der Kinder. Und zugleich eine ernüchternde Relation: 2 zu 1).
Vor diesem Hintergrund wird man gleichsam vor den Kopf gestoßen, wenn man als Vorbemerkung zu einem Interview mit einem international ausgewiesenen Epidemiologen zu lesen bekommt: »Zu den größten Einflussfaktoren für unsere Gesundheit zählt Verteilungsgerechtigkeit«, so der Epidemiologe Richard Wilkinson in dem Artikel „Die Antwort ist simpel: Ungleichheit bringt uns um“. Und er steigt gleich richtig ein in die notwendige Debatte über die desaströsen, eben zerstörerischen Auswirkungen von zu großer sozialer Ungleichheit.

»Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto größer sind die sozialen Probleme. Ungleiche Gesellschaften schneiden bei der Lebenserwartung schlechter ab, es gibt mehr Drogensüchtige, mehr psychische Erkrankungen wie Depression, mehr Kriminalität. Wie stark der Einfluss ist, sieht man in den Vereinigten Staaten: Die USA waren in den 1950er-Jahren eines der Länder mit der höchsten Lebenserwartung. Heute sind sie in der Statistik irgendwo zwischen Platz 25 und 30. Warum? Die Ungleichheit ist in den USA seit den 50er-Jahren explodiert.« Und so geht das in dem Interview weiter. Auf die schon etwas verzagte Frage nach den Ärzten und dem Niveau des Gesundheitssystems in den einzelnen Ländern richtet Wilkinson erneut den Blick auf den eigentlichen Punkt, wenn er sagt: »Es ist so wie im Krieg: Lazarette sind wichtig. Für die Zahl der Opfer in einer Schlacht sind sie aber nicht entscheidend.«

Nun kann man natürlich sofort argumentieren, dass das sicher bedauerlich ist für diejenigen Menschen, die abgekoppelt werden von der Entwicklung, aber die, denen es materiell gut geht, die vielleicht sogar in Reichtum leben, kann das herzlich egal sein. Individuell gibt es natürlich diese Konfiguration, aber soziologisch sieht es schon anders aus, wie Wilkinson erläutert – wohlgemerkt für Länder, die sich bereits auf einem bestimmten Wohlstandsniveau befinden:

»Es gibt in den USA und Großbritannien arme Regionen, in denen die Lebenserwartung um 20 Jahre niedriger ist als in wohlhabenden Gegenden. Das dürfte noch niemanden überraschen. Unzählige Studien zeigen aber, dass solche Ungleichheiten die Lebenserwartung in allen sozialen Schichten negativ beeinflussen. Es sieht also so aus, dass etwa 95 Prozent einer Gesellschaft gesünder leben, wenn mehr Gleichheit herrscht. In Gesellschaften mit großen materiellen Unterschieden ist die Angst der Menschen vor einem sozialen Absturz und damit auch der erwähnte soziale Stress größer: Also Reiche wie Arme fürchten sich mehr …  In ungleicheren Gesellschaften haben Menschen mehr Angst davor, wie andere sie beurteilen. Deshalb sind Depression und Schizophrenie verbreiteter. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Menschen in so einem Umfeld auch eher dazu neigen, sich besser darzustellen, als sie sind, um bestehen zu können. In ungleicheren Gesellschaften ist also auch Narzissmus verbreiteter. Vielleicht sollten wir uns bewusster werden, wie stark Dinge jenseits unserer individuellen Sphäre unser Wohlbefinden beeinflussen.«

Nun wird der eine oder die andere sicher sofort mäkelnd einwerfen: Auch wenn das richtig ist, was hier wieder einmal postuliert wird (wenn auch auf einer wirklich beeindruckenden empirischen Basis, die man beispielsweise in dem von Richard Wilkinson gemeinsam mit Kate Pickett verfassten Buch „Gleichheit ist Glück“ nachlesen kann. Vgl. hierzu auch die 2010 erschienene Zusammenfassung des Buches Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, verfasst von Liana Fix), stellt sich doch die Grundsatzfrage, was und eigentlich ob überhaupt man etwas tun kann gegen diese Entwicklung. Oder ist die nicht vielmehr „alternativlos“?

Da trifft es sich gut, wenn diejenigen, die zumindest auf partielle Gegengewichte verweisen, Unterstützung bekommen von Seiten, die ansonsten eher unverdächtig sind, den Ungleichheitsbekämpfungsansätzen bedingungslos folgen zu wollen. Zwei dieser Schützenhelfer sollen hier zitiert werden.

A Big Safety Net and Strong Job Market Can Coexist. Just Ask Scandinavia – so ist ein Artikel in der New York Times überschrieben. Der Beitrag arbeitet sich ab an der bekannten These: Wenn Sozialleistungen generös und die Steuern hoch sind, dann macht sich das negativ bemerkbar bei der Erwerbsbeteiligung, also weniger Menschen werden arbeiten gehen. Zugespitzt formuliert kann man diese bei vielen Ökonomen (und anderen) weit verbreitete Haltung auch als Ausfluss einer Philosophie der „Schwarzen Pädagogik“ umschreiben, nach der die Menschen im Grunde faul sind und gezwungen werden müssen, sich auf den Arbeitsmarkt zu bewegen. Neil Irwin hat in seinem Artikel dann aber einer Irritation dieses Glaubensgebäudes parat:

»Some of the highest employment rates in the advanced world are in places with the highest taxes and most generous welfare systems, namely Scandinavian countries. The United States and many other nations with relatively low taxes and a smaller social safety net actually have substantially lower rates of employment … In short, more people may work when countries offer public services that directly make working easier, such as subsidized care for children and the old; generous sick leave policies; and cheap and accessible transportation … There is a solid correlation … between what countries spend on employment subsidies — like child care, preschool and care for older adults — and what percentage of their working-age population is in the labor force.«

Und nicht nur das, um zum zweiten Beispiel zu kommen – auch der Lebensstandard der breiten Massen wird entscheidend davon beeinflusst, wie stark die sind, die auch für viele Ökonomen aus dem Mainstream ein rotes Tuch darstellen: die Gewerkschaften.

So muss man dann so eine Überschrift zur Kenntnis nehmen: IWF-Studie stärkt die Gewerkschaften: »Der sinkenden Einfluss der Gewerkschaften in den Industrieländern verschärft nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) die soziale Ungleichheit. Die Kluft zwischen Normal- und Topverdienern sei dadurch gewachsen, heißt es in einer aktuellen Studie des IWF.«
Ist denn jetzt nicht einmal mehr auf einer der zentralen Agenturen des Neoliberalismus Verlass, wird sich der eine oder die andere konsterniert fragen.

Die Gesellschaft eines Landes teilt sich unter diesen Bedingungen auf in eine zunehmend dünner werdende Oberschicht, in der sich der Wohlstand anhäuft, während weite Teile der Bevölkerung mit sehr viel weniger Mitteln auskommen müssen, wenn der Einfluss der Gewerkschaften schwindet, so die beiden Wirtschaftswissenschaftlerinnen Florence Jaumotte und Carolina Osorio Buitron in ihrem Beitrag Power from the People, der in der Zeitschrift Finance & Development veröffentlicht wurde.

Und das hat alles auch was mit Deutschland zu tun. Nicht nur angesichts der Tatsache, dass auch bei uns in den zurückliegenden Jahren die Ordnungsfunktion der Gewerkschaften (wie auch der immer dazu gehörenden Arbeitgeberverbände) deutlich abgenommen hat und in vielen sogenannten Niedriglohnbereichen schlichtweg und nicht überraschend so gut wir gar nicht mehr vorhanden ist. Sondern auch, weil in einer Dienstleistungsgesellschaft die Arbeitgeber angesichts der vielen betriebswirtschaftlichen Besonderheiten immer bestrebt sein werden, die Kosten des Faktors Arbeit zu drücken, weil auch die Konkurrenz das tut. Außer, man zwingt die Unternehmen in das Korsett eines für alle Unternehmen geltenden Tarifvertrages. Beispielsweise über die Allgemeinverbindlichkeit dieses Regelwerks.

Dazu nur ein – allerdings höchst aktuelles – Beispiel. Der vor kurzem wiedergewählte grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hat einen Gastbeitrag verfasst für die Online-Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT. Unter der Überschrift: Die Tür macht auf! Geschäfte sollten an Sonntagen öffnen dürfen. Seine Argumentation erscheint auf den ersten Blick nicht unplausibel: »An keinem anderen Tag der Woche kaufen die Deutschen mehr ein als am Sonntag. Nicht in der Stadt, da hält das Gesetz die Türen der Händler geschlossen, aber im Internet. Dort wird ein Fünftel des Umsatzes an Sonntagen gemacht. Das Verbot der Sonntagsöffnung kostet den stationären Einzelhandel Kunden und Marktanteile.« Und nach einigen Ausführungen kommt er dann zu seinem Punkt: »Den Kommunen sollte das Recht gegeben werden, in ihren Innenstädten durch Satzung Gebiete festzulegen, in denen an Sonntagen die Geschäfte nach Ende der Gottesdienste öffnen dürfen … Zugleich sollte diese Möglichkeit im Gesetz auf die Innenstädte begrenzt werden. Das würde den Einzelhandel in den Zentren nicht nur gegen das Internet stärken, sondern auch gegen die Konkurrenz an den Rändern und Autobahnen.« Immerhin will er den Gottesdienst der Kirchen, den allerdings tendenziell eher weniger konsumfixierte Personen- und Altersgruppen (noch) besuchen, von der Ausweitung der Konsumzone bewahren, aber dann soll es eben losgehen können.

Es soll an dieser Stelle gar keine Diskussion geführt werden über das Pro und Contra zu diesem Vorschlag und es soll auch nicht hervorgehoben werden, dass es gerade in den gewerkschafttlichen Reihen erhebliche Widerstände gegen eine solche Ausweitung der Ladenöffnungszeiten geben würde und wird. Völlig unabhängig von der individuellen Positionierung dazu – hier geht es nur um einen Aspekt: Wenn man einen solchen Schritt machen würde, dann muss klar sein, dass das dazu führen muss, dass die Unternehmen in den Innenstädten noch mehr als bislang schon darauf schauen müssen, wie man die Personalkosten nach unten drücken kann, denn die Öffnungszeiten der Geschäfte werden ja nicht an anderer Stelle unter der Woche reduziert werden, so dass sich die Arbeitszeitbedarfe vergrößern. In diesem Kontext würde die Öffnung, die seitens der Wirtschaft sicher heftigst begrüßt werden würde, nur dann verantwortbar sein, wenn man gleichzeitig den Tarifvertrag für den Einzelhandel – der weit über einen Mindestlohn hinausgeht – für allgemeinverbindlich erklären würde, so dass sich alle, auch die nicht-tarifgebundenen Unternehmen an diesen halten müssten. Bis zum Jahr 2000 übrigens war das der Fall, bis dahin war der Tarifvertrag für alle Unternehmen im Einzelhandel allgemeinverbindlich – und seit der Aufhebung häufen sich die Fälle von Lohndumping in dieser Branche, denn jetzt macht es betriebswirtschaftlich durchaus Sinn, über das Drücken der Arbeitskosten zu versuchen, Vorteile gegenüber den Konkurrenzunternehmen zu realisieren.

Warum nur wundert man sich nicht, dass davon in dem Artikel des grünen Oberbürgermeisters nichts zu finden ist? Aber eigentlich wundert man sich nicht mehr.

Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“

Eine notwendige Vorbemerkung getreu dem Motto: Manchmal hilft der Blick ins Gesetz, in diesem Fall sogar in die Verfassung:


»Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden« (Artikel 9 Abs. 3 GG).

Die Rückversicherung auf das, was im Grundgesetz im Artikel 9 Absatz 3 normiert ist, macht Sinn vor dem Hintergrund, dass am heutigen 5. März 2015 im Deutschen Bundestag die erste Lesung des Gesetzes zur Tarifeinheit stattfinden wird. Der Bundestag selbst teilt uns dazu in seiner Vorschau auf die Plenarwoche mit: »Das Ziel, Tarifkonflikte mehrerer Gewerkschaften in einem Betrieb zu verhindern, verfolgt die Bundesregierung mit einem Gesetzentwurf (18/4062), der ab 12.30 Uhr auf der Tagesordnung steht. Es gehe darum, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern, schreibt die Bundesregierung. Diese wird aus ihrer Sicht gefährdet, wenn in einem Unternehmen mehrere Gewerkschaften für eine Berufsgruppe Tarifabschlüsse durchsetzen wollen und es dabei zu „Kollisionen“ kommt, die der Aufgabe der Ordnung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden können, begründet die Regierung ihren Vorstoß. Das Gesetz sieht nun vor, die Tarifeinheit in einem Betrieb im Falle von Konflikten nach dem Mehrheitsprinzip zu ordnen. Können sich Gewerkschaften mit sich überschneidenden Tarifverträgen nicht einigen, soll künftig nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat.«

Die Parlamentarier bekommen passend zur heutigen Behandlung des Gesetzentwurfs warme Worte des höchsten Arbeitgeberrepräsentanten des Landes mit auf den Weg: Arbeitgeberpräsident Kramer: Tarifeinheit sichert Tarifautonomie, so ist die Pressemitteilung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände überschrieben, der wir die folgende Botschaft entnehmen können:


»Ich appelliere an die Mitglieder des Deutschen Bundestags, den Gesetzentwurf für die Tarifeinheit zu unterstützen und damit die Tarifautonomie in Deutschland zu stärken … Die Wiederherstellung der Tarifeinheit ist ein wichtiger Beitrag, um die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern … Tarifkollisionen führen zu widersprüchlichen Regelungen, die sich im Betrieb nicht umsetzen lassen. Vielmehr tragen sie Streit in die Belegschaften.«


Nun könnte der eine oder die andere schon an dieser Stelle auf die Idee kommen, dass das irgendwie eine sehr einseitige Wahrnehmung dessen ist, was in vielen Betrieben passiert. Denn sind es wirklich (nur) miteinander konkurrierende Gewerkschaften, die zu „Tarifkollisionen“ führen? Was ist mit den vielen Unternehmen, die seit Jahren Teile ihrer Belegschaften „abschichten“ durch Auslagerung in Tochtergesellschaften mit einem anderen, niedrigeren Tarifgefüge? Man schaue sich derzeit nur als ein Beispiel von vielen die Aktivitäten der Deutschen Post DHL an – oder die von Karstadt, bei der Commerzbank und viele andere mehr. Und was ist mit der teilweise hyperkomplexen Nutzung ganz unterschiedlicher Beschäftigungs- und damit auch Lohnarrangements durch Leiharbeit und Werkverträge neben den (noch) tariflich abgesicherten Stammbelegschaften? Da sind die Unternehmen offensichtlich sehr wohl in der Lage, komplexe, sich unterscheidende, nicht selten erheblich miteinander konfligierende Beschäftigungsbedingungen zu managen. Und wird dadurch kein Streit in die Belegschaften getragen?

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass sich der Deutsche Bundestag heute mit einem Gesetzentwurf zur „Tarifeinheit“ befassen muss? Auf der Seite 50 des Koalitionsvertrages zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Dezember 2013 findet sich der folgende Auftrag an die Große Koalition: »Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken, wollen wir den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festschreiben. Durch flankierende Verfahrensregelungen wird verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung getragen.« Diese Vereinbarung muss vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung gesehen werden, denn die Tarifeinheit („ein Betrieb, ein Tarifvertrag“) wurde 2010 vom Bundesarbeitsgericht gekippt. Damals wurde das in den Medien beispielsweise unter der bezeichnenden Überschrift Artenvielfalt im Unternehmen eingeordnet: »Eine Firma – zwei Tarifverträge? Bisher war das nicht möglich. Doch jetzt sagt das Bundesarbeitsgericht: Das geht sehr wohl. Arbeitgeber und die großen Gewerkschaften sind entsetzt, denn kleine Gewerkschaften bekommen mehr Macht.«

Der Hinweis auf das Entsetzen nicht nur auf der Arbeitgeberseite, sondern auch bei den Gewerkschaften ist deshalb von Bedeutung, weil beide Tarifparteien dafür gesorgt haben, dass der bereits zitierte Passus in den Koalitionsvertrag gekommen ist. Beide Seiten wollten vom Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit, um die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Beschluss des 10. Senats vom 23.6.2010 – 10 AS 3/10 sowie Beschluss des 10. Senats vom 23.6.2010 – 10 AS 2/10) wieder zu korrigieren. In einer Pressemitteilung zu den beiden damaligen Entscheidungen hatte das Bundesarbeitsgericht ausgeführt: »Es gibt keinen übergeordneten Grundsatz, dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können.« Ganz offensichtlich soll es nun darum gehen, diesen übergeordneten Grundsatz zu schaffen, denn seit 2010 ist der Grundsatz dr Tarifeinheit gekippt und es gilt grundsätzlich die Tarifpluralität.

Allerdings hat die seit langem laufende Debatte über das Für und Wider einer gesetzlichen Regelung der „Tarifeinheit“ hinlänglich aufzeigen können, dass es eine Vielzahl an praktischen Problemen bei einer möglichen Umsetzung geben würde.

Aber die beiden eigentlich entscheidenden Punkte sind ganz andere, es geht hier um grundsätzliche Einwände gegen das geplante bzw. nunmehr als Entwurf vorliegende Gesetz, die bei einer entsprechenden Würdigung nur dazu führen können, dass man den ganzen Ansatz des Gesetzes als einen – möglicherweise historischen – Irrweg bezeichnen muss:

1. Die vielbeschworene Tarifeinheit mag historisch ihren Platz gehabt haben – und grundsätzlich spricht aus strategischen Gründen viel für ein einheitliches Vorgehen der Arbeitnehmerseite -, aber mit der betrieblichen Realität hat das immer weniger zu tun. Dieser Argumentationsstrang stellt nicht nur ab auf das beobachtbare professionelle Spiel vieler Unternehmen mit einer „multiplen (Nicht-)Tariflandschaft“, in der die Arbeitnehmer in ganz unterschiedliche Konfigurationen eingepasst werden. An dieser Stelle nur ein Hinweis auf die betriebliche Realität: Im vergangenen Jahr – und demnächst wieder? – stand ja vor allem der Konflikt bei der Bahn und die Konkurrenzbeziehung zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der zum DGB gehörenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und der Konflikt wurde immer als Beispiel zitiert für die angebliche Notwendigkeit einer Neuregelung der Tarifeinheit. Eine Berufsgruppe, zwei Tarifverträge – na und?, so die nur scheinbar provozierende Frage von Sabine Hockling in ihrem Artikel aus dem November 2014. Sie verweist in einem ersten Schritt auf die Argumentation der Unternehmensseite: »Die Bahn lehnt es prinzipiell ab, mehrere Tarifverträge für dieselbe Berufsgruppe einzugehen. Denn das bedeutet für sie einen höheren organisatorischen Aufwand: Unterschiedliche Löhne und Zuschläge müssen verwaltet werden, verschiedene Regelungen zu Arbeits- und Ruhezeiten erschweren die Dienstplangestaltung. Auch drohen aus Sicht der Bahn Konflikte innerhalb der Belegschaft, wenn die Angestellten unter verschiedenen Bedingungen arbeiten.« Das scheint prima facie nachvollziehbar, aber:

»Private Verkehrsbetriebe haben – anders als die Bahn – bereits Erfahrung damit, wie es ist, wenn ihre Angestellten mit von unterschiedlichen Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträgen leben müssen. Bei privaten Wettbewerbern der Deutschen Bahn seien parallele Tarifverträge von EVG und GDL eher die Regel als die Ausnahme, sagt Engelbert Recker, Chef von Mofair, dem Verband privater Nahverkehrsunternehmen.

„Man kann alles regeln – wenn man kein Prinzip aus seiner Haltung macht.“ Schwierigkeiten, etwa durch abweichende Arbeitszeiten oder Pausenregelungen, gibt es laut Recker in der Praxis nicht. „Das ist nur eine Frage der betrieblichen Organisation.“«

Es geht aber nicht nur um die Unternehmensseite, sondern auch um inner- bzw. zwischengewerkschaftliche Konflikte, die ein etwas anderes Licht werfen auf die nach außen so beschworene Tarifeinheit.

Beispielhaft hierfür ist der Konflikt zwischen den beiden DGB-Gewerkschaften IG Metall und ver.di. In dem Artikel Wetzels Brandbrief wird das beschrieben am Beispiel des Logistikdienstleisters Stute Logistics. Dort wurde von Gewerkschaftern versucht, mit Unterstützung der IG Metall eine Betriebsratswahl zu organisieren. Gleichzeitig hat ver.di versucht, bei Stute-Standorten Betriebsratswahlen einzuleiten, denn für die Logistik ist formal ver.di zuständig und nicht die IG Metall. Man muss wissen, dass der Hamburger Stute-Standort einst von Airbus ausgegliedert wurde und darauf bezieht sich nun die Argumentation, dass deshalb auch die IG Metall zuständig sei, weil es sich gleichsam um eine Art „verlängerte Werkbank“ handelt. Diese Perspektive ist aus Metallsicht durchaus schlüssig, denn wenn immer mehr Tätigkeiten, die in der Vergangenheit von der Stammbelegschaft ausgeübt wurden, auf Dritte unter Nutzung von Werk- und Dienstverträgen verlagert werden, dann kann man schon nachvollziehen, dass die IG Metall sich nicht beschränken will auf die kleiner werdenden Stammbelegschaften, sondern möglichst die gesamte Wertschöpfungskette, zumindest aber die unmittelbar vor- oder nachgelagerten Bereiche tarifvertraglich einzufangen, was aber kollidiert mit der Zuordnung der Logistikunternehmen, um die es hier vor allem geht, unter das Dach der Gewerkschaft ver.di.

Zurück zum Fallbeispiel Stute Logistics. Der ver.di-Sprecher Christoph Schmitz wird in dem Artikel so zitiert:

»Die IG Metall ist bei Stute wie eine Spartengewerkschaft aufgetreten«, kritisierte Schmitz. »14 Jahre lang hat sie dort keine Tarifforderungen gestellt. Erst nach dem ver.di-Abschluss hat sie an ausgewählten Standorten eine Auseinandersetzung für einen Haustarifvertrag begonnen.« Und das mit Macht. Die Metallergewerkschaft – die über weitaus größere Ressourcen verfügt als ver.di – warb an den Stute-Standorten Bremen, Hamburg-Finkenwerder, Hamburg-Hausbruch und Stade etliche Mitglieder, organisierte fünf Warnstreiks und erreichte daraufhin einen Haustarifvertrag, der den Beschäftigten monatlich 150 Euro mehr und bis Ende 2015 befristete Einmalzahlungen von weiteren 100 Euro monatlich bescherte. Ver.di zog nach und unterschrieb eine gleichlautende Vereinbarung, bei der die Einmalzahlungen allerdings auf einen Schlag überwiesen werden können.«

Unabhängig von der Bewertung des konkreten Sachverhalts – er steht stellvertretend für das Problem, dass es auch innerhalb der etablierten Gewerkschaften grundsätzlich – und so könnte eine These lauten: zunehmend – keine klaren und eindeutigen Zuordnungen zu einer „zuständigen“ Gewerkschaft gibt bzw. geben kann. Hinzu kommt mit einer gewissen Ironie: Die Devise „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ ist aus Sicht der IG Metall genau die Zieldimension, die hier anvisiert wird, denn der vorgelagerte Kontraktlogistiker wird durch die werkvertragliche Einbettung in den Gesamtzusammenhang zu einem „Quasi-Teil“ des Betriebs, den man nun nach seiner Auslagerung wieder unter die industriegewerkschaftlichen Fittiche zu nehmen versucht, was aber wie gesehen zu Konflikten mit anderen Gewerkschaften führt bzw. führen kann. Die Welt ist komplexer als die Theorie.

2. Aber der zentrale Haupteinwand gegen das Gesetz zur Tarifeinheit ist von fundamentaler Bedeutung für die Arbeitsbeziehungen und für das höchst komplexe Gebilde des letztendlich verfassungsrechtlich nur sehr allgemein und konkreter dann durch „Richterrecht“ strukturierten Streikrechts. Der Arbeitskampf bzw. das damit verbundene Drohpotenzial ist von zentraler Bedeutung innerhalb der ansonsten sicher nicht zugunsten der Arbeitnehmer überaus asymmetrisch ausgestalteten Arbeitsbeziehungen. Und an dieser Stelle kann man nur noch einmal darauf hinweisen, dass in den zurückliegenden Monaten zahlreiche Stellungnahmen aus ganz unterschiedlichen Lagern die Verfassungswidrigkeit des geplanten Gesetzes herausgestellt haben. Nach dieser Auffassung wird zu stark in ein Grundrecht eingegriffen. Aus der Flut an Veröffentlichungen zu dieser These vgl. nur den bereits Anfang 2014 publizierten Beitrag Schwarz-rotes Streikverbot von Detlef Hensche oder „Öffentlichkeit wird getäuscht“, ein Interview mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Dieterich: »Es sei eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit, wenn die Bundesregierung behaupte, das Streikrecht werde nicht angetastet.«

In diesem Kontext auch sehr interessant ein Interview mit der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts  Ingrid Schmidt, die vor Einschränkungen des Streikrechts und der Koalitionsfreiheit per Gesetz warnt: Gewerkschaftsfreiheit in Gefahr. »Sie warnt davor, den Grundsatz der Tarifeinheit – „ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ – per Gesetz festzuschreiben. Denn dadurch werde der Wettbewerb der Gewerkschaften um den besten Tarif in jedem Unternehmen verhindert.« Es geht deshalb um einen schwerwiegenden Eingriff in die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit. Auch mehrere Gutachten liegen mittlerweile vor, viele bestätigen die These von der behaupteten Verfassungswidrigkeit des Unterfangens.

Selbst der mehr als seriösen Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages hat sich mit der Materie befasst. Darüber berichtet die grüne Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmecke in einem Beitrag auf ihrer Webseite, denn sie hat dem Dienst die Frage einer verfassungsrechtlichen Bewertung des Gesetzentwurfs gestellt: Tarifeinheit – Ministerin sollte Gesetzentwurf zurückziehen.

»Laut dem Gutachten ist davon auszugehen, dass die gesetzliche Tarifeinheit die Koalitionsfreiheit nicht ausgestaltet, sondern dass es sich dabei um ein Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG handelt. Es ist ein Eingriff, weil die Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht das Abschließen von Tarifverträgen und Arbeitskämpfe schützt. Eingriffe in Grundrechte können zwar möglich sein, aber nur wenn sie gerechtfertigt sind. Das Ziel des Gesetzes – also die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern – reicht dafür aber nicht aus. Auch andere Begründungen für das Gesetz – also Zunahme von Arbeitskämpfen, Ordnungsfunktion der Tarifeinheit oder Betriebsfrieden – sind keine Gründe für ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit.

Auch die Betroffenheit Dritter bei Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge (z.B. Verkehr) kann nicht als Rechtfertigungsgrund für die gesetzliche Tarifeinheit dienen, denn die Bundesregierung lehnt in der Begründung des Gesetzes genau dies – also eine Regelung ausschließlich im Bereich Daseinsvorsorge – ab. Alles in allem besteht also Zweifel, dass das Gesetz verfassungskonform ist.«

Die vielen unterschiedlichen Einwände haben den Gang der Dinge bislang nicht aufhalten können – und die federführende Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) läuft sehenden Auges in das offene Messer. Ein äußerst unangenehmes offenes Messer, denn zum einen gibt es durchaus sehr plausible Annahmen, dass das Gesetz, sollte es denn endgültig verabschiedet werden, vor dem Bundesverfassungsgericht gestoppt wird, zum anderen aber wird sich möglicherweise eine Sozialdemokratin als diejenige herausstellen, die das Streikrecht von Gewerkschaften im Kern beschnitten hat. Das wird der SPD – man denke an die Erfahrungen mit Hartz IV – sicher nicht gut tun.

Dietrich Creutzburg hat das Grundproblem thematisiert in seinem Artikel Nie wieder Lokführer-Streiks?

»Das Tarifeinheitsgesetz … stellt … allerdings nur neue Regeln für den Fall einer sogenannten Tarifkollision auf – während es das eigentliche Streikrecht jedenfalls nicht ausdrücklich begrenzt. Von einer Tarifkollision ist die Rede, wenn zwei konkurrierende Gewerkschaften jeweils unterschiedliche Tarifverträge für ein und dieselbe Berufsgruppe in einem Betrieb durchgesetzt haben oder durchsetzen wollen. Dann soll, so die Stoßrichtung des Gesetzes, dem Arbeitgeber nicht zugemutet werden, das er am Ende tatsächlich unterschiedliche Tarifverträge innerhalb einer Berufsgruppe anwenden muss.

Falls sich die Gewerkschaften nicht untereinander auf ein abgestimmtes Vorgehen einigen können, soll daher notfalls – auf Antrag betroffener Tarifparteien – die Mehrheitsregel entscheiden: Diejenige Gewerkschaft, die im betroffenen Betrieb die meisten Mitglieder hat, soll mit ihrem Tarifvertrag den Vorrang erhalten. Die Minderheitsgewerkschaft, die in vielen Fällen die Berufsgewerkschaft sein wird, muss dann zurückstecken und erhält nur das Recht, den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft „nachzuzeichnen“, damit zumindest dieser auch für ihre Mitglieder gilt.«
Mit diesem Mechanismus behauptet die Bundesregierung einen Weg gefunden zu haben, den Vorwurf eines direkten Eingriffs in das Streikrecht entkräften zu können und damit natürlich auch der Angreifbarkeit des Gesetzes von dieser Seite aus. Aber dem ist nicht so:
»Mittelbar hat diese Regel allerdings auch Auswirkungen auf Streiks. Denn nach der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte (gesetzliche Regeln zu Arbeitskämpfen gibt es in Deutschland nicht) sind Streiks üblicherweise als unverhältnismäßig anzusehen, wenn damit etwas durchgesetzt werden soll, das gar nicht zulässig ist oder nicht angewendet werden kann. Das wäre für Tarifverträge einer Minderheitsgewerkschaft mit einiger Wahrscheinlichkeit der Fall. Die große Koalition setzt darauf, dass die Rechtsprechung im Ergebnis die Berufsgewerkschaften diszipliniert. Mehr noch: Sie hofft, dass alle Beteiligten gerichtliche Konflikte scheuen werden – und die konkurrierenden Gewerkschaften sich deswegen künftig lieber gleich im Voraus auf gemeinsame Tarifforderungen verständigen, um solche Tarifkollisionen zu vermeiden … Die größte Wirkung des Gesetzes wird voraussichtlich eine Unsichtbare sein: In Unternehmen und Branchen, in denen es bisher noch keine Berufsgewerkschaften gibt, werden potenzielle Gründer neuer Berufsgewerkschaften entmutigt – schließlich müssten sie gewissermaßen aus dem Nichts eine Mehrheit aus dem Boden stapfen, um nicht von der Kollisionsregel gebremst zu werden.«

Wie dem auch sei – sollte das Gesetz die parlamentarischen Hürden nehmen, dann wird es mit Sicherheit in Karlsruhe landen, vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Ausgang dieses Verfahrens – bekanntlich ist es schon bei einem „normalen“ Gericht wie auf hoher See, wo man letztendlich in Gottes Hand ist – mag offen sein, wenn auch mit einem höheren Erwartungswert für ein Scheitern. Creutzburg versucht eine noch gleichgewichtige Prognose: »Zwei Gutachten zum Tarifeinheitsgesetz, die im Vorfeld geschrieben wurden, sind besonders prominent. Eines stammt aus der Feder des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio und wertet das Gesetz als unzulässig. Das andere stammt aus der Feder des ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier und gelangt zum gegenteiligen Ergebnis.«

Unabhängig davon hat man den Eindruck, dass hier, ob bewusst oder eher unbewusst, hinsichtlich des Streikrechts die Büchse der Pandora geöffnet werden soll. Während sich die Kanzlerin und die Union zurückhalten und mit dem Thema nicht infiziert werden, muss die Bundesstreikministerin Nahles die ganze Paketlast tragen und folgerichtig wird sich auch die Kritik auf sie und die SPD fokussiert. Und die Gewerkschaften, die anfangs in einem Bündnis mit den Arbeitgebern die neue große Koalition in die Richtung getrieben haben, die nun mit der 1. Lesung des Gesetzes im Bundestag weiter beschritten wird, sehen sich mittlerweile einer belastenden Polarisierung in Befürworter und Gegner ausgesetzt, ein veritabler Spaltpilz in der Gewerkschaftsbewegung. Ob sich das dafür wirklich lohnt? Wohl kaum.

Die kollektiv-schöne und die individuell-willkürliche Seite der Arbeitsverhältnisse – und die Realitäten dazwischen. Oder: Was der Tarifabschluss in der Metallindustrie mit Privatdetektiven zu tun hat

In der vergangenen Wochen hat es immer wieder hier und da Warnstreiks der in der IG Metall organisierten Arbeitnehmer gegeben – und nun wurde nach fünfzehnstündigen Verhandlungen ein erstes Tarifergebnis erzielt. 3,4 Prozent mehr Geld ab April 2015 bei einer Laufzeit von zwölf Monaten, eine Einmalzahlung von 150 Euro für die drei Monate Januar bis März 2015, erste Schritte in Richtung geförderter Bildungsteilzeit sowie eine verbesserte Altersteilzeit, so lassen sich die wichtigsten Bausteine des Abschlusses für die 800.000 Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg  – mit bundesweiter Pilotfunktion – zusammenfassen. Diese Regelungen werden erwartbar gelten für die bundesweit 3,7 Millionen Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie. Damit sind mögliche Streiks in dieser zentralen Industriebranche vom Tisch. Die Gewerkschaft kann mit diesem Ergebnis angesichts der drei zentralen Ausgangsforderungen – mehr Geld (die Forderung belief sich auf 5,5 Prozent), eine bessere Altersteilzeitregelung und als neues Instrument die Einführung einer geförderten Bildungsteilzeit – zufrieden sein. Die Beschäftigten kommen angesichts der derzeitigen und für die kommenden Monaten erwartbar niedrigen Inflation zu einem ordentlichen Reallohnanstieg. Beim Thema Altersteilzeit sei es gelungen, den bestehenden Tarifvertrag zu verbessern.
„Die Beschäftigten in den unteren Entgeltgruppen würden besser gestellt. Sie kommen nun auf circa 90 Prozent ihres Nettoentgelts und können sich so den verdienten Ausstieg aus dem Arbeitsleben leisten“, so wird Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall, zitiert. Die Arbeitgeber wollten die Anzahl der Anspruchsberechtigten reduzieren, es bleibt aber bei der bisherigen Vier-Prozent-Quote. Am wenigsten erreichen konnte die IG Metall bei der neuen Komponente einer geförderten Bildungsteilzeit. Hier konnte man die grundsätzliche Blockade der Arbeitgeberseite aufbrechen, aber noch nicht wirklich mehr. Wobei das auch nicht überraschend ist, denn der Widerstand gegen dieses neuartige Instrument auf der Arbeitgeberseite ist aus durchaus nicht von der Hand zu weisenden Gründen (noch) stark ausgeprägt und auch der Gewerkschaft war klar, dass sie ihre Mitglieder kaum zu einem großen Arbeitskampf hätte motivieren können, wenn ein Tarifabschluss nur an der Bildungsteilzeit gescheitert wäre, denn das ist auch für viele Arbeitnehmer keine Herzensangelegenheit – anders als mehr Geld und Ausstiegsoptionen vor dem Rentenalter.

Der neue Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie steht stellvertretend für mehrere volkswirtschaftlich und sozialpolitisch relevante Aspekte. Zum einen verdeutlicht er die Vorteile einer (noch) funktionierenden Tarifautonomie. Arbeitgeber und Gewerkschaften wissen – meistens – am besten, wo der Kompromisspunkt liegt zwischen den je für sich berechtigten Interessen der Unternehmen und der Beschäftigten, gerade bei den flächendeckenden Tarifverträgen in einzelnen Branchen wird überwiegend ein vertretbarer Kompromiss innerhalb des nie auflösbaren Dilemmas zwischen Betriebs- und Volkswirtschaft aufgrund des Doppelcharakters der Löhne ausgehandelt.

Außerdem hat die IG Metall erneut unter Beweis gestellt, dass sie eine wortgewaltig auftretende, zugleich aber auch eng an die betrieblichen Realitäten angekoppelte Industriegewerkschaft ist, die verantwortungsvoll agiert. Natürlich beschwören die Arbeitgeberfunktionäre im Nachgang, dass man unter dem Druck drohender Arbeitskampfmaßnahmen über die „Schmerzgrenze“ des eigentlich Vertretbaren hinausgehen musste, aber angesichts der Lage in der Branche insgesamt können die meisten Unternehmen sicher mit dem nunmehr gefundenen Tarifergebnis leben, ansonsten hätte es nicht so schnell eine Einigung gegeben. Ein weiterer Aspekt: Das Tarifergebnis verdeutlicht auch, wie wichtig und nützlich ein ordentlicher Organisationsgrad der Beschäftigten einer Branche in einer Gewerkschaft ist bzw. sein kann – für die Beschäftigten.

In welchem Ausmaß auch immer – aber es ist durchaus plausibel, dem vergleichsweise zu anderen Branchen (noch) hohen Kollektivierungsgrad in der Metallindustrie einen eigenständigen Anteil an den positiven Merkmalen, die diese Branche auszeichnen, zuzuschreiben: »Rund 3,7 Millionen Menschen erwirtschafteten 2013 in knapp 24.000 Betrieben einen Jahresumsatz von rund 999 Milliarden Euro. Das Jahresbruttoeinkommen der Beschäftigten beträgt im Schnitt rund 50.000 Euro. Fast immer sind die Arbeitsverhältnisse laut Arbeitgeberverband unbefristet (95,5 Prozent) und Vollzeit (93,3 Prozent). 17 Prozent der Beschäftigten sind akademisch ausgebildet und weitere 60 Prozent ausgebildete Fachkräfte. Nur noch rund ein Fünftel ist angelernt. Dieser Anteil wird weiter schrumpfen, erwarten IG Metall und Arbeitgeber«, können wir einem Artikel entnehmen. Und gerade zum letzten Punkt liefert der neue Tarifabschluss ebenfalls Belege, wie sinnvoll eine tarifliche Strukturierung sein kann, denn wenn auch die von der IG Metall geforderte Bildungsteilzeit allenfalls embryonal verwirklicht wird, so hat man sich auf der anderen Seite auf Modelle zur Weiterbildung von Un- und Angelernten verständigt.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat passend zum neuen Tarifabschluss in diesen Tagen eine Analyse der Lohnentwicklung in den vergangenen Jahren vorgelegt, aus der auch die nebenstehende Abbildung entnommen wurde: Reallöhne erstmals wieder höher als im Jahr 2000. »14 Jahre hat es gedauert: Ende 2014 lagen die durchschnittlichen Bruttolöhne je Beschäftigtem preisbereinigt um 1,4 Prozent höher als 2000 … Schwierige wirtschaftliche Rahmenbedingungen und die Deregulierung am Arbeitsmarkt hatten … (in den 2000er Jahren) die Entwicklung der Arbeitseinkommen gebremst. Der Niedriglohnsektor wuchs. Am Tiefpunkt der Entwicklung im Jahr 2009 hatten die realen Bruttolöhne um 4,3 Prozent niedriger gelegen als 2000«, so die Wissenschaftler des WSI. Und dann der hier entscheidende Punkt: »Stärker sind die Tariflöhne und -gehälter gestiegen. Sie waren 2014 real um 10,9 Prozent höher als im Jahr 2000. Meist beobachteten die Experten des WSI-Tarifarchivs in diesem Zeitraum eine negative Lohndrift. Das heißt: Die Bruttoeinkommen, in die unter anderem auch die Löhne der nicht nach Tarif bezahlten Arbeitnehmer einfließen, blieben hinter den Tarifeinkommen zurück.« Diesen Befund kann man in der Abbildung sehr gut erkennen. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sank die Tarifbindung. Ein wichtiger Grund dafür, dass Steigerungen bei den Tariflöhnen nur zum Teil auf die Bruttoverdienste durchschlugen, so der WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck.

Viele Arbeitnehmer in anderen Branchen sollten die Erfahrungen, die man hier gesammelt hat, als Anregung verstehen, sich selbst stärker (wieder) in den Gewerkschaften zu organisieren, denn nur, wenn der Organisationsgrad eine kritische Masse erreicht, können die Gewerkschaften ihre Rolle überhaupt ausüben.

Nun wird sich der eine oder die andere fragen, was denn der Tarifabschluss der IG Metall mit Privatdetektiven zu tun hat, wie es der Titel des Blog-Beitrags in den Raum stellt. Es geht dabei um ein – scheinbar – völlig anderes Thema aus der Arbeitswelt, mit dem wir in diesen Tagen konfrontiert wurden und das die individuelle Seite des Arbeitsverhältnisses in einem unangenehmen Bereich beleuchtet, also gleichsam das andere Ende des Spektrums, denn bisher haben wir uns mit der kollektiven Seite am Beispiel des neuen Tarifabschlusses auseinandergesetzt: Observation durch einen Detektiv mit heimlichen Videoaufnahmen, so trocken – wie so oft – hat das Bundesarbeitsgericht seine Pressemeldung zu einem neuen Urteil (8 AZR 1007/13) überschrieben.

Die Entscheidung der obersten Arbeitsrichter: »Ein Arbeitgeber, der wegen des Verdachts einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit einem Detektiv die Überwachung eines Arbeitnehmers überträgt, handelt rechtswidrig, wenn sein Verdacht nicht auf konkreten Tatsachen beruht. Für dabei heimlich hergestellte Abbildungen gilt dasselbe. Eine solche rechtswidrige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann einen Geldentschädigungsanspruch („Schmerzensgeld“) begründen.«
Zuerst ein Blick auf den konkreten Sachverhalt, der dem Urteil des BAG zugrunde liegt:

»Die Klägerin war bei der Beklagten seit Mai 2011 als Sekretärin der Geschäftsleitung tätig. Ab dem 27. Dezember 2011 war sie arbeitsunfähig erkrankt, zunächst mit Bronchialerkrankungen. Für die Zeit bis 28. Februar 2012 legte sie nacheinander sechs Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, zuerst vier eines Facharztes für Allgemeinmedizin, dann ab 31. Januar 2012 zwei einer Fachärztin für Orthopädie. Der Geschäftsführer der Beklagten bezweifelte den zuletzt telefonisch mitgeteilten Bandscheibenvorfall und beauftragte einen Detektiv mit der Observation der Klägerin. Diese erfolgte von Mitte bis Ende Februar 2012 an vier Tagen. Beobachtet wurden ua. das Haus der Klägerin, sie und ihr Mann mit Hund vor dem Haus und der Besuch der Klägerin in einem Waschsalon. Dabei wurden auch Videoaufnahmen erstellt. Der dem Arbeitgeber übergebene Observationsbericht enthält elf Bilder, neun davon aus Videosequenzen. Die Klägerin hält die Beauftragung der Observation einschließlich der Videoaufnahmen für rechtswidrig und fordert ein Schmerzensgeld, dessen Höhe sie in das Ermessen des Gerichts gestellt hat. Sie hält 10.500 Euro für angemessen.«

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in diesem Fall: »Die Observation einschließlich der heimlichen Aufnahmen war rechtswidrig. Der Arbeitgeber hatte keinen berechtigten Anlass zur Überwachung.« Der zentrale Punkt der Entscheidung: Ohne konkreten Verdacht sei die Überwachung eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. »Dadurch sind die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt, ebenso die arbeitsrechtliche Relevanz der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arztes. Ihr ist erst einmal grundsätzlich Glauben zu schenken, solange keine Tatsachen dagegen sprechen. Für Arbeitgeber, die einen Angestellten verdächtigen, „krank zu feiern“, wird es riskanter, ihn beschatten zu lassen«, so Henry Bernhard in einem Beitrag für den Deutschlandfunk. Es ist ein heikles, gleichsam vermintes Gelände, in dem man sich bewegt. Das „Sowohl-als-auch“-Dilemma kann man dem Interview „Ein Bauchgefühl rechtfertigt keine Spionage“ mit der Arbeitsrechtlerin Monika Birnbaum entnehmen.

Heribert Prantl spricht in seiner Kommentierung Gesetz aus der Altsteinzeit von einem „erfreulich klaren Urteil“ des Bundesarbeitsgerichts. Er ordnet das so ein:

»Dieser gerichtliche Schutz ist notwendig, weil der Gesetzgeber säumig ist. Praktiken, wie sie in den vergangenen Jahren eingerissen sind, hätten längst per Gesetz verboten werden müssen. Seit den Lidl-Bahn-Telekom-Skandalen vor etwa fünf Jahren weiß die Öffentlichkeit, wovor der Datenschutz schützen muss; aber der Gesetzgeber hat nichts getan: Der Datenschutz muss davor schützen, dass Angestellte auf dem Klo und in den Umkleidekabinen ihrer Firma von Videokameras gefilmt werden. Der Datenschutz muss davor schützen, dass die Chefs den Telefon- und Telekommunikationsverkehr ihrer Angestellten umfassend und systematisch abhören, kontrollieren und auswerten lassen. Der Datenschutz muss davor schützen, dass Personalchefs Dossiers über die Macken und Krankheiten ihrer Beschäftigten anlegen.
Aber nichts davon findet man bis heute im Datenschutzgesetz. Dieses Gesetz stammt von 1977; das ist, wenn es um Informationen geht, die Altsteinzeit. Eine Transformation ins 21. Jahrhundert hat das Gesetz nie erfahren; die Novellierung von 2009 war unzureichend. Der Arbeitnehmerdatenschutz ist daher bisher eine Sache der Gerichte geblieben.«

Und damit spricht er eine wichtige Dimension an, die wiederum verdeutlicht, dass es hier einen Link gibt zum kollektiven Ende des Arbeitsverhältnisses: Der Schutz der Arbeitsverhältnisse in ihrer Gesamtheit in einem Unternehmen ist sein Thema und damit der Schutz des an sich im Nachteil befindlichen Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Und angesichts der tatsächlichen Überwachungsexzesse in vielen Unternehmen in den vergangenen Jahren kann man dem nur zustimmen. Keine Frage. Aber auch Prantl deutet ein grundsätzliches Problem an, wenn er schreibt: »Gewiss: Bisweilen gibt es Grund zum Misstrauen. Aber Überwachungsmaßnahmen ohne konkrete Anhaltspunkte sind und bleiben unzulässig.« Das ist ja auch die Argumentation des Bundesarbeitsgerichts. Aber was bedeutet das nun konkret – und zwar für den Arbeitgeber, der gerade nicht willkürlich einen Arbeitnehmer abstrafen will, sondern der vielleicht sogar begründet den konkreten Verdacht hat, dass ein Mitarbeiter betrügerisch handelt, in dem er oder sie eine Arbeitsunfähigkeit vortäuscht? Und seien wir ehrlich – natürlich gibt es diese Fälle, die dann übrigens nicht nur zu Lasten des Arbeitgebers, sondern auch der anderen Arbeitnehmer im Unternehmen gehen. Wann liegt denn ein „konkreter Verdacht“ vor, der eine – grundsätzlich übrigens nicht verbotene Überwachung durch einen Privatdetektiv – rechtfertigen würde?

Man darf gespannt sein, ob das in einer annähernd handhabbaren Art und Weise konkretisiert wird. Unabhängig davon zeigt sich an dieser Stelle die Sinnhaftigkeit einer gleichsam zweiten Ebene der Kollektivierung auf der Arbeitnehmerseite. Denn neben den Gewerkschaften, die auf der tarifvertraglichen Ebene unterwegs sind, gibt es – grundsätzlich – die Betriebsräte in den Unternehmen. Und die sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz nicht nur verpflichtet, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten, sondern auch vertrauensvoll mit dem Unternehmen zusammenzuarbeiten. Und hierzu könnte auch gehören, dass der Arbeitgeber bei aus seiner Sicht berechtigten konkreten Zweifeln am Tun eines einzelnen Arbeitnehmers zur Aufklärung des Sachverhalts mit dem Betriebsrat zusammenzuarbeiten, um den ansonsten naheliegenden Verdacht eines willkürlichen Handelns gegen eine bestimmte Person zu entkräften.

Allerdings zeigt sich an dieser Stelle wieder einmal ein Schaden der Entwicklung der vergangenen Jahre: Die Zahl der Beschäftigten und der Betriebe, in denen es einen Betriebsrat gibt, hat in den vergangenen Jahren abgenommen und immer mehr Arbeitgeber verfolgen auch aktiv die Strategie, das gesetzlich verankerte Recht, einen Betriebsrat ins Leben zu rufen, mit allen Mitteln zu blockieren. Das rächt sich dann an anderer Stelle. Man kann eben nicht alles haben.

Foto: Screenshot von der Webseite der IG Metall am 24.02.2015