Die Branche der Arbeitnehmer unter Druck setzenden Betriebsrats- und Gewerkschaftsbekämpfungssanwälte wird selbst unter Druck gesetzt

Am 20. Juli 2015 hat die ARD eine Dokumentation zum Thema Mobbing, Sabotage, Kündigung – Betriebsräte im Visier der Arbeitgeber ausgestrahlt. Darin wurden  – anhand konkreter Einzelfälle – die sich ausbreitenden Praktiken einer Bekämpfung von Betriebsräten bzw. oftmals schon im Vorfeld der versuchten Gründung eines Betriebsrates kritisch beleuchtet.

„Die Unternehmer haben sich einen Raum geschaffen, in dem sie sanktions- und straflos agieren können“, konstatiert Werner Rügemer, Autor einer jüngst veröffentlichten Studie zum Thema. Und diese Studie zeigt: Angriffe auf Betriebsräte sind keine Einzelfälle, sondern ein längst praktiziertes System. Eine ganze Branche professioneller Dienstleister aus PR-Agenturen, Wirtschaftsdetekteien und Anwaltskanzleien ist entstanden, um gegen Betriebsräte vorzugehen, oder sie aus dem Unternehmen zu drängen.

Das Betriebsverfassungsgesetz gibt es seit 1952. Exakt wird hier festgelegt, wann und wie das Recht auf einen frei gewählten Betriebsrat besteht. Doch das Gesetz ist häufig nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt ist. „Also nach unserer Erfahrung ist es so, dass dieser Straftatbestand der Be- und Verhinderung von Betriebsräten der Straftatbestand in der Bundesrepublik Deutschland ist, der am allerwenigsten überhaupt verfolgt wird“, so Werner Rügemer.

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„Stärke. Vielfalt. Zukunft“? Der Bundeskongress 2015 der Gewerkschaft Verdi. Zur Notwendigkeit einer Diskussion über Autosuggestion, über die Frage nach dem, der erneut den Chef machen wird und natürlich: Wie weiter an der Dienstleistungsfront?

Nach
Leipzig ist sogar die Bundeskanzlerin angereist, um der zweitgrößten deutschen
Gewerkschaft, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, ihre Aufwartung
zu machen. Sie sprach zu den Delegierten des Bundeskongresses 2015, der dort
vom 20. bis zum 26. September stattfinden wird. Auf der Webseite der
Gewerkschaft kann man dazu lesen: »Unter dem
Motto „Stärke, Vielfalt, Zukunft“ bestimmen eine Woche lang 1.009 Verdi-Delegierte
in Leipzig die politische Ausrichtung von Verdi für die kommenden vier Jahre.
Weit über 1.000 Anträge müssen beraten werden – von der Gesellschaftspolitik
bis zur Berufspolitik, von der Friedenspolitik über Wirtschaftspolitik, TTIP
und Migrationspolitik bis zur Tarifpolitik.«

Mit
der „Stärke“ ist es allerdings so eine Sache. Keine andere Gewerkschaft scheint
so viel Stärke auszustrahlen wie Verdi, wenn man das misst an der Häufigkeit
von Arbeitskämpfen. Die meisten Streiks – neun von zehn – gehen auf das Konto
dieser Gewerkschaft und wir haben gerade Wochen und Monate hinter uns, in denen
mehrere Verdi-Streiks parallel gelaufen sind. Wir reden also über die
„Kampftruppe“ der Arbeiterbewegung und angesichts der Schlagzahl erblasst sogar
der Nimbus einer IG Metall – die übrigens, von eher folkloristisch angelegten
Warnstreiks in Tarifrunden abgesehen, in den vergangenen Jahren nicht mehr mit
einem großen Arbeitskampf hervorgetreten ist.

Wenn
man aber „Stärke“ daran misst, was am Ende rausgekommen ist, dann sieht es
schon ganz anders aus. Dann würde eine Bewertung die IG Metall oder auch die IG
BCE deutlich höher ranken müssen als Verdi. Man kann und muss es sogar
zuspitzen: Am aktuellen Rand sieht es richtig übel aus. Im laufenden Jahr 2015
gab es bereits 1,5 Mio. Streiktage und im Reich des Frank Bsirske ging die
Streiksonne nicht unter. Besonders in Erinnerung geblieben sind die großen
Streiks bei der Deutschen Post und im Sozial- und Erziehungsdienst (fast
überall verkürzend als Kita-Streik tituliert), dann ein lokaler, aber von
seiner Bedeutung weit über die Berliner Charité hinausweisender Arbeitskampf
des Pflegepersonals für mehr Personal (vgl. dazu den Beitrag Nicht
mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in
Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung
vereinbart
vom 1. Juli 2015) und die als never-ending-story daherkommende Auseinandersetzung
bei Amazon, die demnächst in eine neue Runde gehen wird. 

Die Ausstände bei der
Charité oder der Postbank führten immerhin zu Ergebnissen, mit denen die
meisten Beschäftigten zufrieden waren. Auch im öffentlichen Dienst und im
Sicherheitsgewerbe wurden ansehnliche Abschlüsse erreicht. Aber man kann es
drehen und wenden wie man will: Die beiden großen unbefristet angelegten Arbeitskämpfe
dieses Jahres bei der Deutschen Post sowie den Sozial- und Erziehungsdiensten
sind vom Ergebnis her gesehen ein Desaster: »In beiden Fällen hat die Führung
ihre Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum
völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern
eingeknickt«, so Pascal Beucker und Anja Krüger in ihrem Artikel Umsonst
gestreikt
. Diese Ergebnisse müssen auch vor dem Hintergrund gesehen werden,
dass man tief in die Streikkasse gegriffen hat – von weit mehr als 100
Millionen Euro für den Post- und „Kita“Streik ist die Rede.

Zum
Post-Streik schreiben sie: »Vom 11. Juni bis zum 6. Juli hatten die
Postbeschäftigten gestreikt – ihr erster unbefristeter Ausstand seit mehr als
20 Jahren. Sie wehrten sich dagegen, dass die Paketzustellung in deutlich
schlechter zahlende Tochtergesellschaften ausgesourct werden soll, in die DHL
Delivery GmbHs. Die ausgelagerten Beschäftigten sollten unters Dach des
Haustarifvertrags zurück … Man erreichte allerdings: nichts.« Also nichts
hinsichtlich des eigentlich zentralen Ziels, das Outsourcing der
Paketzustellung in die Billigtochter zu verhindern. Entsprechend kritisch fiel mein
Beitrag dazu aus: Das
Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die,
die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post
vom 6. Juli
2015. Man muss diese krachende Niederlage auch vor dem Hintergrund sehen, dass Verdi
gerade in diesem Bereich (noch) einen sehr hohen Organisationsgrad hat.
Und
mindestens vergleichbar desaströs ist der vorläufige Ausgang des Streiks im
Sozial- und Erziehungsdienst. Da war zum einen im Juni der Schlichtungsspruch –
dazu der Beitrag Wenn
man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das
Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein
echtes Dilemma für die Gewerkschaften
vom 24. Juni 2015. Die bodenlose
Enttäuschung bei den – mit einer von der Gewerkschaftsspitze hinsichtlich
substanzieller Veränderungen im Tarifgefüge vorher auch transportierten hohen
Erwartungshaltung motivierten – Streikenden führte dann zu einem Doppel-Schlag
für die Verdi-Spitze, denn die Mitglieder haben den Schlichtungsspruch, der ja
mit Zustimmung der gewerkschaftlichen Verhandlungsführer zustande gekommen ist,
in einer Mitgliederbefragung schlichtweg zurückgegeben. Mit der Folge, dass Verdi
nun wieder gezwungen sein wird, unter noch weitaus schlechteren Bedingungen als
im Sommer in Verhandlungen und damit verbunden Arbeitskampfmaßnahmen
einzusteigen. Wohl wissend, dass sich die Gegenseite, also die kommunalen
Arbeitgeber, in aller Ruhe auf das Schlichtungsergebnis zurückziehen können,
denn auch wenn jetzt erneut gestreikt wird, dann sicher nicht mehr in der Form
wie vor der Schlichtung und sicher auch nicht mehr mit der Sympathiewelle, die
es in der ersten Phase zumindest in der nicht direkt vom Streik betroffenen
Öffentlichkeit gegeben hat. Auch wenn man den Fachkräften wirklich alles Gute
wünscht und ihnen einen Erfolg wirklich gönnen würde – von außen betrachtet
scheint das ein von vornherein verlorener Krieg zu sein, wenn man jetzt
nochmals die Leute in einen Arbeitskampf jagt.
Man
muss es so sagen – der Ausgang der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsspruch,
dessen Annahme die Gewerkschaftsspitze empfohlen hat, ist vor diesem komplexen
Hintergrund ein organisationspolitischer Super-Gau für Verdi. Anders
gesprochen: Was man jetzt auch macht, es kann nur falsch sein, entweder
enttäuscht man die Mitglieder oder man geht (ohne wirkliche Motivation auf der
Fürhunsgebene) in einen erneuten Arbeitskampf, der dann den Mitgliedern soweit
man das sehen kann eine veritable Niederlage bereiten wird. Verdi kann nur froh
sein, dass man hinsichtlich des bereits erwähnten Streiks bei der Deutschen
Post die Mitglieder gar nicht erst hat abstimmmen lassen über das, was da
(nicht) raus gekommen ist.

Bereits
am 8. August 2015 habe ich ein unangenehmes, aber nun mal notwendiges Thema in
meinem Blog-Beitrag Die
Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum
Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das
„Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene
angesprochen:

»Was
folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer
gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen
Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen – auch wenn das jetzt sicher
manche nicht gerne hören möchten – sollte sich jede echte politische
Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für
schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt
Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut
als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere
Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er
dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft,
überschreiten wird bei einer Wiederwahl – man muss schon die Frage stellen,
warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei
derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den
Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den
Ruhestand.«

Man
könnte die zweite der Schlussfolgerungen, also die Verantwortungsübernahme
seitens des Vorsitzenden nun einfach beantworten mit einem Blick auf das
Personaltableau der Gewerkschaft: Pascal Beucker hat das sehr kritisch unter
der Überschrift Ausgelaugte
Gewerkschaft
auf den Punkt gebracht: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine
schlechte Figur ab – konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in
Sicht.« Und weiter schreibt er:

»Das
Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll Optimismus verbreiten: „Stärke.
Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion … Um es deutlicher zu
formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen Krise. Das
Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit der Gründung
von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden StellvertreterInnen Andrea
Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und ausgelaugt. Doch
hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten könnten, sind nicht
in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer Gegenkandidatur rechnen.«

Insofern
wird es a) zu einer Wiederwahl von Frank Bsirske kommen, aber b) gibt es
dennoch mit Blick auf das gewerkschaftliche Ganze gute Gründe, wenigstens über
die nicht-realisierbare, aber im Raum stehende Forderung nach Übernahme der
politischen Verantwortung zu diskutieren, um c) dann aber den Blick zu weiten
und die besonderen Herausforderungen und strukturellen Probleme, denen sich Verdi
ausgesetzt sind, nicht aus den Augen zu verlieren und sie in den Mittelpunkt der
eigentlichen gewerkschaftspolitischen Diskussion zu stellen.
Interessant
ist ein Blick auf die Pressestimmen zum Verdi-Bundeskongress, denn auch hier
geht es immer wieder um den Vorsitzenden. Noch nie hatte Verdi einen anderen
Vorsitzenden als Frank Bsirske. Ein Wahlergebnis unter 90 Prozent gilt trotz aller
Unruhe auch innerhalb der Gewerkschaft unwahrscheinlich. Es wäre Bsirskes
fünfte Amtszeit, so Pascal Beucker und Anja Krüger in ihrem Artikel Umsonst
gestreikt
. Gerade Beucker hatte schon in der Vergangenheit kritisch berichtet,
offenbar mit Konsequenzen. Nach einer Aufzählung der zahlreichen Baustellen
berichten sie: »Wie das alles wohl Verdi-Chef Bsirke sieht? Mehrere Monate bemühte
sich die taz um ein Interview. „Ich habe nach wie vor keinen Terminvorschlag“,
teilte der Leiter der Verdi-Pressestelle am 1. September mit.«
Alfons
Frese weist in seinem Artikel Der
ewige Vorsitzende
auf einen pikanten Nebensapekt der anstehenden Wiederwahl
hin:

»Der
Vorsitzende wird am Ende der kommenden Wahlperiode 67 Jahre alt sein; gegen die
Rente mit 67 haben die Gewerkschaften gewettert wie sonst nur gegen Leiharbeit.
Und Ursula Engelen-Kefer war erst 62, als sie einst von Bsirske und anderen
Gewerkschaftsfürsten mit dem Hinweis auf das Alter aus der DGB-Spitze entfernt
wurde. Aber Bsirske wird eben nicht alt.«

Freses
Auffassung nach hat „der Herbst des Patriarchen längst begonnen“ und zitiert
ungenannte Arbeitgeber mit der Feststellung: „Fehleinschätzungen sind zu
Bsirskes Markenzeichen geworden“. Bsirske »hat es indes nicht vermocht, in den
vergangenen Jahren einen potenziellen Nachfolger neben sich groß werden zu
lassen« und Frese stellt die Frage: » Aber wo ist die Strategie? Was hat er noch vor? Diese
Fragen sollte Bsirske in Leipzig beantworten können.«
Auch
die Artikel-Überschrift von Stefan Sauer – Verdis
Abwehrkämpfe
– klingt defensiv. Angesichts der jüngsten Misserfolge wirke
Verdi „wie ein manövrierunfähiger Tanker auf hoher See“, so Sauer hier allerdings
das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln
zitierend, um dann gleich ausgleichend eine andere Stimme heranzuziehen: »Weniger
interessengebundene Wissenschaftler gelangen zu weniger negativen
Einschätzungen. „Eine Gewerkschaft, die viel streikt, verbucht naturgemäß nicht
nur Siege. Sie muss auch Niederlagen einstecken“, sagt Britta Rehder, die an
der Uni Bochum Arbeits- und Organisationsforschung lehrt.« Ansonsten zählt auch
er die zahlreichen offenen Baustellen auf und enthält sich einer weiteren
Bewertung.
Ganz
anders hingegen Stefan von Borstel, der seinen Artikel markig überschrieben hat
mit Frank
Bsirske hat Ver.di in den Sand gesetzt
. Seine Wahrnehmung der Szenerie: »Ver.di-Meister
Bsirske steht auf einmal als banger Zauberlehrling da, der die Geister, die er
rief, nicht mehr bändigen kann.« Borstel erinnert an die unbestreitbaren
Leistungen des Vorsitzenden, um dann ein „Aber“ nachzuschieben: »Bis heute ist
es ihm gelungen, seine bunte Truppe aus mehr als 1000 Berufen, vom
Schleusenwärter über die Krankenschwester bis zur Verkäuferin, weitgehend
zusammenzuhalten … Doch Ver.di ist ein schrumpfender Riese, rund ein Drittel
der Mitglieder haben sich seit der Fusion verabschiedet.« Es wird schneller
gestreikt – auch um Mitglieder zu werben – und die Streiks werden auch
rücksichtsloser, so die Wahrnehmung von Borstel, der auf eine neue und
zunehmend konfliktträchtige Baustelle hinweist: »… auch zwischen den
Industriegewerkschaften im DGB und Ver.di knirscht es gewaltig. Zunehmend
kommen sich die Gewerkschaften ins Gehege, wer welche Arbeitnehmer in welchen
Betrieben organisieren darf. Die Grenzen zwischen den Wirtschaftszweigen
verschwimmen, Produktion und Dienstleistung wachsen zusammen. Die mächtige IG
Metall beansprucht die komplette „Wertschöpfungskette“ für sich.«

Auch
wenn man in den Medien natürlich immer gerne zur Personalisierung neigt, was ja
immer auch ein Mittel der Vereinfachung ist – Stefan von Borstel hat in seinem
Artikel selbst auf strukturelle Dilemmata hingewiesen mit denen die
Gewerkschaft Verdi konfrontiert ist, so die Abgrenzungsfragen zu den
Industriegewerkschaften oder diese Aspekte: »Liberalisierung und Privatisierung
haben die Gewerkschaft in ihren Kernbereichen getroffen: im Öffentlichen
Dienst, der Energiewirtschaft und bei den Ex-Staatsmonopolisten Post und
Telekom. Vom wachsenden Dienstleistungssektor hat Ver.di indes kaum profitiert:
In Callcentern oder bei Zeitarbeitern gelingt es nicht, viele neue Mitglieder
zu werben.«
An
dieser Stelle kann man auch Alfons Frese mit seinem Artikel Der
ewige Vorsitzende
nochmals aufrufen:

»Tatsächlich
hat sich Verdi, 2001 als vereinte Dienstleistungsgewerkschaft durch den
Zusammenschluss von ÖTV, HBV, IG Medien, Postgewerkschaft und DAG entstanden,
vor allem quantitativ verändert: Es gibt heute rund 800 000 Mitglieder weniger
als damals. Der Schwund hat auch strukturelle Ursachen. Im Einzelhandel stehen
zum Beispiel die Namen Schlecker und Praktiker für Pleiten und massenhaften
Arbeitsplatzabbau; Privatisierungen haben dem öffentlichen Dienst, der Telekom
und der Post zu schaffen gemacht, die goldenen Jahre in der Finanzbranche sind
vorbei, und in Wachstumsbranchen wie der Pflege bekommt Verdi auch deshalb kein
Bein an die Erde, weil die keine gewerkschaftliche Tradition haben. Richtig ist
aber auch: Der enorme Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung
in den vergangenen Jahren fand vor allem im Dienstleistungsbereich statt. Und
offensichtlich bekommt Verdi diese Leute nicht annähernd organisiert.«

Hinzu
kommen weitere organisationspolitische Besonderheiten, beispielsweise die – im
Vergleich zu anderen, „homogeneren“, aber auch zentralistischer ausgerichteten
Gewerkschaften wie die IG Metall – überaus heterogene Mitgliederschaft wie auch
Funktionärsebene, wo es einen nicht geringen Einfluss linker Kräfte gibt, die
sicher auch mit dazu beitragen, dass Verdi neben engen tarifpolitischen Zielen
weitere, darüber hinausreichende Anliegen meint, mit Arbeitskampfmaßnahmen
adressieren zu können bzw. zu müssen.
Wie
sieht die „Gegenseite“, also das Arbeitgeberlager, die Situation bei Verdi.
Hagen Lesch, der Gewerkschaftsexperte beim Arbeitgeber-Institut der deutschen
Wirtschaft (IW), bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: In
Seenot
. Verdi vermittelt den Eindruck eines Tankers in Seenot. Natürlich
leht auch Lesch den Finger auf die offene Wunde: »Zwischen 2011 und 2014 führte
die Organisation nach eigenen Angaben 642 Arbeitskämpfe. In diesem Jahr sollen
laut Verdi-Chef Frank Bsirske bereits 1,5 Millionen Arbeitstage durch
Verdi-Streiks ausgefallen sein. Nach IW-Rechnungen gingen seit 2006 mehr als
drei Viertel aller in Deutschland amtlich registrierten Ausfalltage auf das
Konto von Verdi. Gebracht haben die Streiktage aber eher wenig.« Seine
Empfehlung an den Gewerkschaftskongress: »Mangelhaftes Erwartungsmanagement und
fehlende Ausstiegsstrategien bei erfolglosen Endlosstreiks – darüber sollten
die Delegierten beim Bundeskongress also selbstkritisch diskutieren.«
Auf
die innerorganisatorischen Besonderheiten bei Verdi geht auch Dietrich
Creutzburg in seinem Kommentar „Tarifpolitik oder Klassenkampf“ in der
Print-Ausgabe der FAZ vom 18.09.2015 ein:

»Verdi
ist vielmehr eine in jeder Hinsicht schwierige Organisation. Das liegt an einer
Struktur, die den Bundesvorstand oft wie ein hilfloses Koordinationsbüro
eigensinniger Landesbezirke und Fachbereiche erscheinen lässt. Darunter blüht
ein gewerkschaftliches Selbstverständnis, das Träume von Klassenkampf und
Systemwechsel über die zielgerichtete Analyse eigener tarifpolitischer
Versäumnisse stellt. Um noch einen politischen Vergleich zu bemühen: Die 2001
durch eine Fünferfusion gegründete Gewerkschaft Verdi funktioniert in der
Praxis etwa so, wie man sich eine Partei vorstellen könnte, die durch
gleichberechtigten Zusammenschluss von SPD, Grünen und Linken entsteht … Es
ist nicht zufällig das Bild der Linkspartei – vor allem jener Strömungen dort,
die kein Interesse an politischer Verantwortung haben, weil sich die eigene
Weltsicht nur in der Opposition aufrechterhalten lässt. Verdi ist mittlerweile
in etlichen Gliederungen eine Spielwiese für solche politischen Funktionäre.«

Aber Creutzburg sieht nicht nur diese innere Dimension der Gewerkschaft: 

»Es
gibt viele Gründe dafür, dass die Tariflandschaft gerade um Verdi herum
zunehmend einem Scherbenhaufen gleicht. Natürlich finden sich vor allem dort
kleinteilige Dienstleistungsbranchen, die tarifpolitisch viel schwerer zu
bearbeiten sind als die Autoindustrie für die IG Metall. Bedenklich ist aber,
dass sich bei Verdi auch in früher soliden Tarifbereichen die Unfälle häufen.
Dazu zählt, dass der Flächentarif im Einzelhandel zerfällt. Große
Warenhausgruppen, Globus und Real, treten aus dem Tarifvertrag aus, weil ihnen
seine ganze veraltete Struktur nicht mehr passt. Und wie sollte eine Einigung
auf moderne Regeln fürs Internetzeitalter gelingen, wenn Verdi vor allem an den
Ladenschluss denkt?«

Und
dennoch – eine Alternative zu Bsirske sieht er nicht: »Tatsächlich spricht
einiges dafür, dass Verdi im Chaos versinken würde, stünde er nicht mehr zur
Verfügung.«
Vor
diesem Hintergrund ist es müßig, sich weiter an nicht-auflösbaren
Personalfragen abzuarbeiten. Die richtig große Baustelle wird sein, mit welchen
Strategien es der Gewerkschaft gelingen kann, ihre angesichts der zunehmenden
Dienstleistungsbeschäftigung so wichtige Ordnungsfunktion auf dem Arbeitsmarkt
auch überhaupt ausüben zu können. Dabei geht es angesichts der enormen Breite
der Branchen und Berufsfelder um schwierige Fragen. Auch neue Prioritäten
müssen gesetzt werden, die zugleich bei einem Blick auf die innere
Konfiguration die herkulische Aufgabe verdeutlichen, vor der Verdi steht – so
beispielsweise die anstehende Organisation der Pflegekräfte und irgendwann
einmal, die Betonung liegt angesichts der realen Verhältnisse und der damit
verbundenen strukturelle Besonderheiten auf irgendwann einmal, auch eine
Konfrontation im Pflegebereich, wo der Deckel nur aufgrund der individuellen
Atomisierung der Pflegekräfte derzeit noch mehr oder weniger auf dem Topf
gehalten werden kann. Gerade mit Blick auf den Pflegesektor war und ist ja auch
der Ausgang des Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst von so entscheidender strategischer
Bedeutung, denn die Beschäftigten in den Kitas und in den
Behinderteneinrichtungen und in den Jugendämtern stehen vor vergleichbaren
strukturellen Hemmnissen, was einen Arbeitskampf angeht, wie die Pflegekräfte.
Der kurze Ausflug eines Teils der Pflegekräfte an der Berliner Charité in einen
unbefristeten Arbeitskampf wird sich möglicherweise rückblickend als ein
wichtiges erstes Pflänzchen einer notwendigen Entwicklung erweisen.
Aber
nach allen Erfahrungen gerade der letzten Zeit sollte Verdi sehr sorgfältig und
überlegt umgehen mit der Ressource Arbeitskampf, diese einbetten in eine
realistische Strategie und die eigenen Leute nicht in Schlachten schicken,
deren Anlass man zwar gut nachvollziehen kann, deren Ausgang aber aufgrund
schlechter Rahmenbedingungen des Feldes vorherbestimmt ist in Richtung
Niederlage. Das kann sich mal ergeben, ohne Frage, aber man sollte das nicht
als Dauerzustand perpetuieren.
Verdi wird sich in Leipzig selbst feiern dafür, dass man den gesetzlichen Mindestlohn durchbekommen hat. Aber aus tarifpolitischer Sicht wird eines der großen zukünftigen Anliegen sein müssen, wie man bei der Frage der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen weiter kommt, deren Erleichterung zwar im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbart worden ist, was allerdings immer noch kaum bis gar nicht wirklich mit Leben gefüllt wird. Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge vom 5. August 2015. 
Foto: © ver.di

An sich ein guter Tag für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörige. Mehr Leistungen und – diskussionsbedürftige – Weichenstellungen. Gleichzeitig twittert der #Pflegestreik mit sich selbst

Mit einem umfassenden Reformanspruch geht das Pflegestärkungsgesetz II einher, das vom Bundeskabinett am heutigen Mittwoch angeschoben wurde. Mehr Hilfe für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, so hat der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Erläuterungen seines Ministeriums zur Pflegerform überschreiben lassen. Das Gesetz soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten und es enthält auch den – gefühlt seit Jahrzehnten angekündigten – neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der mit einem neuen Begutachtungsverfahren zum 1. Januar 2017 kommen soll. Bereits Anfang 2015 wurde mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Unterstützung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgeweitet und jetzt wird noch mal was nachgelegt. Und keiner soll behaupten, es gehe hier um Peanuts: Insbesondere Menschen mit Demenz und psychischen Störungen eine bessere Pflege erhalten. Sie haben künftig Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die bislang drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Bis zu 500.000 Menschen können nach Angaben des Ministers mittelfristig durch die Reform zusätzliche Unterstützung erhalten. Auch die pflegenden Angehörigen werden bedacht: »Wer für die Pflege aus dem Beruf aussteigt, erhält künftig von den Pflegekassen dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Bislang werden Beiträge nur während der maximal sechsmonatigen gesetzlichen Pflegezeit übernommen. Auch werden betreuenden Angehörigen in Zukunft höhere Ansprüche an die gesetzliche Rentenkasse gutgeschrieben«, kann man dem Artikel Bundeskabinett beschließt grundlegende Pflegereform entnehmen.

»Finanziert wird die zweite Stufe der Reform mit einer erneuten Anhebung des Beitragssatzes um 0,2 Beitragssatzpunkte zum 1. Januar 2017. Bereits zu Beginn dieses Jahres war er mit Inkrafttreten des ersten Pflegestärkungsgesetzes um 0,3 Punkte gestiegen. Beide Erhöhungen bringen zusammen rund fünf Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen«, kann man dem Artikel Demenzkranke haben Anspruch auf höhere Leistungen entnehmen.

Es gibt auch kritische Stimmen: Zum großen Wurf hat es wieder nicht gereicht, kommentiert Wolfgang Prosinger. Neben den unbestreitbar positiven Aspekten der neuen Pflegereform identifiziert er die folgenden Schwachstellen:

»Die Entlastungen für die Angehörigen sind jedenfalls entschieden zu gering ausgefallen. Und eine Aufstockung des Personals für die stationäre oder ambulante Pflege ist ganz und gar nicht in Sicht … Auch das unsinnige, weil irreführende Bewertungssystem von Pflegeheimen ist nicht abgeschafft worden, genauso wenig wie das nicht gerade humane System der Pflege im Minutentakt. Ebenso wenig hat sich das Gesundheitsministerium an die Aufwertung des Berufs der Altenpfleger herangetraut. Aufwertung hieße auch bessere Bezahlung. Der physische und psychische Einsatz von Pflegern und deren beschämende Entlohnung stehen noch immer in einem krassen Missverhältnis zueinander.«

Damit spricht Prosinger tatsächlich einige diskussionsbedürftige Punkte an.

Nehmen wir die von vielen begrüßte Ankündigung, das bisherige System der Pflegestufen zu ersetzen durch ein System der Pflegegrade Bisher haben wir vier Pflegestufen (also eigentlich drei plus der so genannten „Pflegestufe 0“ bei Feststellung einer erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Das soll durch fünf Pflegegrade abgelöst werden. Zum neuen System und seinen Unterschieden zum Status Quo erfährt man vom Ministerium: »In Zukunft werden körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen erfasst und in die  Einstufung einbezogen. Mit der Begutachtung wird der Grad der Selbstständigkeit in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und – mit unterschiedlicher Gewichtung – zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt.« Vereinfacht gesagt: „Gleichbehandlung“ der Einschränkungen und damit weg von der bisherigen Engführung auf einen rein somatischen Pflegebedürftigkeitsbegriff und zweitens weg von der Defizit- und hin zur Ressourcenorientierung („Grad der Selbständigkeit“). Das hört sich erst einmal gut an. Aber es lohnt sich, hier einmal genauer und durchaus auch kritisch hinzuschauen. Das Versprechen des neuen Systems lautet ja, dass es jetzt darum geht, die (noch verbliebene) Selbständigkeit zu taxieren und daran die Hilfeleistung zu taxieren.

Letztendlich ist das aber auch nur die andere Seite dessen, was bislang als „defizitorientierter“ Ansatz kritisiert wurde, denn es gilt: Das Begutachtungssystem wird auch in Zukunft die zentrale Aufgabe haben, Bedarfe und aus deren Grad abgeleitet dann die entsprechenden Hilfevolumina zuzuteilen (oder eben auch zu begrenzen oder zu verweigern). Und was soll jetzt wirklich anders sein als vorher? Die Einschränkungen und ihre Intensität lösen eine entsprechende Einstufung und damit verbundene Mittel aus.

Nur wenige Beiträge in der Pflegedebatte greifen diese Punkte kritisch-ablehend auf. Ein Beispiel wäre der Artikel Warnung vor dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aus dem Pflege-Selbsthilfeverband. Dort findet man die folgenden Hinweise:

»Im Ergebnis hat dieser Ansatz jedoch den Effekt, dass sich jene finanziell belohnt sehen, die Pflegebedürftigkeit verstärken, hingegen andere bestraft sehen, die sich erfolgreich um Aktivierung und Wiedererlangung der Selbstständigkeit bemühen. Nach wie vor wird Pflege, die den Bedürftigen bedürftiger werden lässt besser bezahlt als solche die seine Selbstständigkeit fördert. Wie das alte, so wirkt auch das neue Verfahren entgegen der eigentlichen Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetztes: Es fördert den Pflegebedarf und behindert Prävention, Aktivierung und Rehabilitation.«

Und auch bei einem anderen Hoffnungspunkt wird in dem Artikel Wasser in den Wein gegossen – bei der Hoffnung, dass mit dem neuen Pflegebedürfigkeitsbegriff endlich die zerstörerische „Minutenpflege“ abgeschafft wird. Für das „aber“ an dieser Stelle wird ein ausgewiesener Pflege-Experte zitiert:

»Heinz Rothgang von der Universität Bremen … spricht von jähen Enttäuschungen, die vorprogrammiert seien. „Der Wissenschaftler räumte mit weiteren Mythen rund um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf. So führe dieser nicht, wie vielfach erhofft, zur Abschaffung der so genannten Minutenpflege.“«

Viele kritische Stimmen heute in den Medien haben darauf hingewiesen, dass eines der drängendsten Probleme im Bereich der Pflege nicht adressiert wird mit der Gesetzgebung – der Personalmangel und die Frage, ob und wie es gelingen kann, ausreichend Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Nun könnte man an dieser Stelle sehr viel empirisch gesichertes Material anführen, das zu einer Bestätigung der Skepsis beitragen würde.

Aber man kann es auch anders machen und lediglich einen Satz zitieren, der dem Artikel Wirtschaft sucht Arbeitskräfte: Diese Branchen hoffen auf die Flüchtlinge entnommen ist. »Die deutsche Wirtschaft sieht in dem Zustrom von Flüchtlingen vor allem Chancen: Viele Unternehmen wollen gut qualifizierte Asylbewerber einstellen – etwa als Bäcker oder Stuckateure. Wenn die Politik sie lässt«, können wir dort lesen. Und welche Branchen sich besondere Hoffnungen machen. Aus allen Ecken werden positive Erwartungen laut. Und dann am Ende des Artikels dieser eine Satz:

»Nur in den Pflegeberufen sind die Arbeitsbedingungen nach Ansicht des zuständigen Verbandes so schlecht, dass sie auch für Flüchtlinge unattraktiv seien.«

Den sollte man sich ausschneiden, um das in den Worten einer tradierten Arbeitstechnik zu benennen. Mehr muss man gar nicht sagen oder schreiben.

Und die Pflegekräfte selbst? Die machen tagaus tagein ihren Job, sie arbeiten oftmals unter skandalös schlechten Bedingungen. Wenn sie denn aufbegehren, dann erfolgt das eher im Modus der „Privatisierung“, also als individuelle Reaktion, beispielsweise durch Flucht aus dem Arbeitsfeld Pflege, durch Bemühungen, durch Aufstieg den Bedingungen an der Pflegefront zu entkommen, bei nicht wenigen anderen durch Krankheit und innerer Kapitulation.

Und ein Teil der Pflegekräfte twittert sich den Frust über die real existierenden Arbeitsbedingungen aus der Seele. Schon seit längerem – und heute war wieder so ein Höhepunkt – wird unter dem Hashtag #Pflegestreik versucht, zum einen auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch immer wieder daran zu erinnern, was wäre, wenn die Pflege mal streiken würde. Und viele wollen genau das, sie fordern ihn ein, den Pflegestreik.

Dann aber auch wieder aggressiv-empörte Reaktionen auf die wahrgenommene Nicht-Reaktion des Themas in den Medien und der Politik. Man wird einfach nicht gehört. Durchaus naheliegend die Vermutung: man wird nicht für voll genommen. Denn bei allen Problemen aus Sicht der Betroffenen – der Laden läuft doch (noch). Keine Ausfälle, keine katastrophalen Zustände aufgrund eines für die Öffentlichkeit offensichtlichen Personalmangels und wenn der mal an die Oberfläche kommt, dann kann man das als Einzelprobleme kleinschreddern.

In dieser Gemengelage könnte man durchaus zur der logischen Schlussfolgerung kommen, dass es dann wohl wirklich an der Zeit ist, durch einen echten Arbeitskampf der Welt zu zeigen, welche katastrophalen Auswirkungen ein Streik des Pflegepersonals hätte. Und im Prinzip hätten die Pflegekräfte eine gewaltige Schlagkraft bei einem flächendeckenden Streik, denn innerhalb kürzester Zeit würde in unserer Gesellschaft in Millionen von Familien vieles zusammenbrechen.
Im Prinzip heißt aber eben auch – nicht unbedingt in der Realität. Denn die Pflegekräfte sind durchaus mit zahlreichen analogen Rahmenbedingungen konfrontiert wie die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen oder den Jugendämtern oder den Jugendhilfeeinrichtungen, die erst vor kurzem erste Erfahrungen sammeln konnten mit einem unbefristeten Streikversuch. Und letztendlich gescheitert sind, wenn man das aktuelle Desaster um den von den Gewerkschaftsmitgliedern mit großer Mehrheit abgelehnten, von der Gewerkschaftsspitze vorher bei den Verhandlungen aber durchgewunkenen Schlichterspruchs betrachtet und der leider erwartbaren Reaktivierung in Form punktueller, tageweiser Streiks, die den Arbeitgebern noch weniger weh tun werden als die mehrwöchigen Streikaktionen vor der Schlichtung. Irgendwann wird man das abbrechen.

Und die Pflege hat nicht nur vergleichbare Strukturprobleme wie die Sozial- und Erziehungsdienste, bei ihr sehen die noch krasser aus. Denn es handelt sich eben nicht um „klassische“ Streikmaßnahmen gegen Unternehmen, die die Streikfolgen unmittelbar und sofort zu spüren bekommen in der eigenen Schatulle. Anders ausgedrückt: Sowohl für Kitas wie auch für Pflegeeinrichtungen gilt der Tatbestand, dass man mit den Streiks die Eltern/Kinder bzw. die Pflegebedürftigen und deren Angehörige primär treffen würde, obgleich die Arbeitgeber gemeint sind. Die hingegen sind in einer wesentlich besseren Situation als privatwirtschaftliche Unternehmen, weil sie nur dann wirklich unter Druck geraten würden, wenn die gar nicht gemeinten, tatsächlich aber getroffenen Dritten ihre Wut gegen sie richten würden und nicht gegen die Streikenden.

Damit das nicht missverstanden wird – wenn man sich in der gegebenen Machtkonfiguration bewegt, dann wäre ein aufrüttelnder Arbeitskampf in der Pflege längst überfällig. Die berühmte „Eine-Million-Euro-Frage“ lautet hingegen: Wie bekommt einen solchen organisiert? Und wie verhindert man ein Desaster wie im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste. Das sind keine trivialen Fragen, aber sie müssen a) gestellt und b) bearbeitet werden. Denn das zeigen leider auch die Erfahrungen des Streiks der Sozial- und Erziehungsdienste: Wenn man das machen will oder meint zu müssen, dann hat man eigentlich nur einen Schuss frei und gerade deshalb sollte man sich vorher auf einer realistischen Basis klar sein darüber, wie man wieder raus kommen kann, wenn man irgendwo reingeht. Beispielsweise in einen Arbeitskampf.

Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen

Derzeit läuft in der Öffentlichkeit die Debatte über die
Bewertung der Ergebnisse der Mitgliederbefragungen zum Schlichterspruch im
Streik des Sozial- und Erziehungsdienstes. Sowohl bei ver.di wie auch bei der
GEW wurde der mit fast 70% abgelehnt – und das sorgt jetzt für viel Diskussion.

Pascal Beucker kommentiert in der taz mit Blick auf den Ende
September anstehenden Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, wo Frank Bsirske
für eine fünfte Amtszeit als Gewerkschaftschef kandidiert, sehr kritisch unter
der Überschrift Ausgelaugte
Gewerkschaft
: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab –
konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.«

Und weiter: »Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll
Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion
… Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen
Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit
der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden
StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und
ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten
könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer
Gegenkandidatur rechnen.«


Beucker trifft einen zentralen wunden Punkt, wenn er über
die eigentliche Notwendigkeit personeller Konsequenzen schreibt:

»Dafür spricht die dramatisch schlechte Figur, die die
Verdi-Spitze zuletzt in gleich zwei zentralen Arbeitskämpfen abgegeben hat: im
Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst und in der Auseinandersetzung bei
der Post. Das Ergebnis war das gleiche. In beiden Fällen hat die Führung ihre
Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum
völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern
eingeknickt.«

Er weist zudem darauf hin, dass hinter vorgehaltener Hand
spekuliert wird, dass der Gewerkschaftsspitze die Streikkosten, die auf 100
Mio. Euro geschätzt werden für die beiden großen Streiks, also bei der
Deutschen Post und den Sozial- und Erziehungsdiensten, schlichtweg zu teuer
geworden sind. Immerhin hat die Gewerkschaft ver.di allein in diesem Jahr bis
Juli 2015 nach Angaben von Bsirske auf einer Pressekonferenz am 10.08.2015 insgesamt
1,5 Mio. Streiktage bewältigen müssen. Die Ausführungen von Bsirske auf dieser
Pressekonferenz (vgl. dazu einen Ausschnitt als Video von Phoenix) sind
sehr aufschlussreich, weite Teile muss man werten als Versuch einer
Verteidigung gegen die durchaus naheliegende Überlegung, ob er nicht die
politische Verantwortung übernehmen sollte und müsste angesichts der
katastrophalen Bilanz der letzten großen Arbeitskämpfe (vgl. in diese Richtung
auch meinen Beitrag Die
Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum
Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das
„Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene
vom 8. August 2015).
Das sei – so Bsirske heute  gegenüber der
Presse– „völlig absurd“ und im übrigen bewertet er den völlig überhasteten
Abbruch des Streiks bei der Post als „absoluten Erfolg“ (vgl. hierzu aber
meinen Beitrag Das
Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die,
die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post
vom 6. Juli
2015 mit einer ganz anderen Einschätzung). Man kann nur hoffen, dass sich die
Gewerkschaftsbasis gegen einen möglicherweise jetzt von oben verordneten Zustand
der organisationspolitischen Friedhofsruhe wehren wird.
Ganz anders hingegen muss diese Kommentierung gelesen werden
– und sie sollte aufmerksam gelesen werden von allen, die sich mit
gewerkschaftlichen Rechten, zu denen natürlich das Streikrecht gehört,
beschäftigen: Unter der sympathieheischenden Überschrift Verlierer
sind die Kinder
versucht Rainer Blasius in der FAZ zum einen, vor einer
Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen zu warnen (»Das alles wird auf dem
Rücken der Kinder ausgetragen, für die das Kita-Personal fürsorglich da sein
will«). Am Ende kommt er dann aber zum eigentlichen Anliegen – und man muss sich seine Formulierung in aller Ruhe zu Gemüte führen:

»Das unbotmäßige Verhalten der Gewerkschaften zeigt darüber
hinaus, dass das Streikrecht für öffentlich Tarifbeschäftigte neu geregelt
werden muss. Im Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem Kitas zählen, müssen
Arbeitskämpfe eingeschränkt werden, damit das Wohl der Kleinsten besser
geschützt wird.«

Hier wird etwas offensiv vorangetrieben, was sich seit der
Debatte über den Lokführerstreik der GDL sowie den Arbeitskampfaktionen der
Pilotengewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa immer stärker im politischen Raum
konturiert (vgl. dazu den Beitrag Bayern
legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das
Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen
Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“
vom 10. Juli
2015).
Wie es im Fall der Sozial- und Erziehungsdienste – es sei an
dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um einen
Aufwertungsstreik der Kita-Beschäftigten handelt, sondern auch die Fachkräfte
beispielsweise in der Jugend- und Behindertenhilfe betroffen sind, die bei der
Schlichtung übrigens völlig leer ausgegangen sind – nun weitergehen wird, kann
man naturgemäß zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Verdi-Chef Bsirske hat
bereits „unkonventionelle Streikmaßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn die nun
folgenden Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern keine Verbesserung des
Schlichtungsergebnisses bringen sollten, was ja mehr als plausibel ist, denn
warum sollten sich die Arbeitgeber in irgendeiner Form bewegen? Die
Formulierung „unkonventionell“ kann darauf hindeuten, dass es keine
unbefristeten Streiks mehr geben wird in einzelnen Einrichtungen, sondern eher
tageweise Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden werden. Vgl. dazu auch das Interview des Deutschlandunks mit Gabriele Schmidt, Landesvorsitzende von Verdi in Nordrhein-Westfalen: „Wir werden zu neuen Streikformen greifen“, wo man allerdings keine substanziellen Hinweise findet, was das denn sein kann – „unkonventionelle Streikformen“. Sie diagnostiziert nur, dass man bislang nicht wirklich hat durchdringen können:

»Wir haben jetzt am Wochenende beraten, dass wir mit der Streikstrategie, mit der wir angefangen haben, so nicht weiterkommen. Wir haben den Streik ja begonnen, haben dauerhaft aufgerufen. Das hat zum Ergebnis geführt, dass wir so keinen zufriedenstellenden Tarifkompromiss erreichen konnten.
Wir haben 2009 mit einer tageweisen Streikstrategie auch sehr lange gestreikt und haben festgestellt, das ist nicht die glücklichste Streikvariante, und wir haben am Wochenende diskutiert, dass wir andere Streikvarianten brauchen.«

Allerdings muss man sehen, dass die Rahmenbedingungen für
neue Arbeitskampfmaßnahmen nicht besser geworden sind – eher ist vom Gegenteil auszugehen.
Dass die anfängliche Sympathiewelle in den Medien und bei vielen Bürgern bei
einer zweiten Welle niedriger ausfallen wird, das muss man annehmen. Aber hinzu
kommen die weiterhin ungelösten strukturellen Dilemmata, mit denen der
berechtigte Aufwertungskampf der Sozial- und Erziehungsdienste konfrontiert
ist:
  • Zum einen handelt es sich um einen „arbeitgeberfreundlichen“
    Arbeitskampf, denn anders als ein Streik bei einem Automobilhersteller oder
    einem anderen „normalen“ Unternehmen werden die kommunalen Arbeitgeber nicht
    direkt getroffen, sondern primär die Eltern (und ihre Kinder). Der ansonsten
    mit einem Streik verbundene massive ökonomische Druck auf den Arbeitgeber ist
    somit ausgeschaltet bzw. wenn überhaupt, dann nur indirekt erfahrbar, wenn die
    primär Betroffenen den Druck auf die kommunal Verantwortlichen richten würden,
    nicht aber auf die Streikenden selbst, was aber bereits am Ende der
    Streikaktionen vor der Schlichtung zu erleben war.
  • Zum anderen werden sich die kommunalen Arbeitgeber aus zwei
    für sie durchaus substanziellen und in deren Binnenraum auch nachvollziehbaren
    Gründen nicht bewegen in Richtung auf größere, spürbare Verbesserungen im
    Vergleich zu dem, was der Schlichterspruch enthält. Zum einen muss hier das
    strukturelle Grundproblem der Fehlfinanzierung der Kita-Systeme in den
    Bundesländern angesprochen werden, also die Tatsache, dass der größten
    Kostenblock auf die Kommunen entfällt, während der Bund viel zu wenig an der
    Regelfinanzierung beteiligt ist. Solange das „föderale Finanzierungsdilemma“
    nicht aufgelöst wird in Richtung auf eine deutlich stärkerer anteilige
    Bundesfinanzierung an den laufenden Kosten der Kitas, die im Wesentlichen
    Personalkosten sind, wird sich an der Blockadehaltung der Kommunen, von denen
    sich viele in einer überaus prekären Haushaltslage befinden, nichts ändern
    (können). Zum anderen leisten die kommunalen Arbeitgeber auch deshalb so einen
    Widerstand gegen eine strukturelle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste
    im Tarifgefüge (denn darum geht es ja, nicht um eine „normale“ Tarifsteigerungsrunde),
    weil ein wirkliches Entgegenkommen hier zu schweren Verwerfungen im gesamten
    Tarifgefüge führen würde mit der plausiblen Folge, dass dann auch andere
    Berufsgruppen im öffentlichen Dienst eine entsprechende Anpassung einfordern
    werden.

Außerdem ist eine weitere Besonderheit zu berücksichtigen,
die pessimistisch stimmt: Die Streikaktionen können sich nur auf den Bereich
der kommunalen Kitas beziehen, allerdings sind fast zwei Drittel der
Kita-Plätze in Hand der „freien Träger“, wobei die beiden Kirchen die größten
Player darstellen. Und die dort beschäftigten Fachkräfte dürfen – auch wenn sie
es wollten – gar nicht streiken.

Fazit: Auch wenn man die Aufwertungsforderung absolut
unterstützt und eine entsprechende Bewegung nach oben nur wünschen mag, in der
Gesamtschau sieht die Lage überaus schwierig aus und die
Erfolgswahrscheinlichkeit geht eher gegen Null. Allerdings war das auch schon
Anfang des Jahres vor Beginn der unbefristeten Streikaktionen die bekannte
Ausgangslage und man muss zu dem Ergebnis kommen, dass die Führungsebene der
Gewerkschaft strategisch eine kapitale Fehleinschätzung an den Tag gelegt hat.
Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt,
lautet eine der fundamentalen Weisheiten im Militärgewerbe, die sich aber auch
auf Arbeitskämpfe übertragen lässt. Man kann nur hoffen, dass die
Gewerkschaften die Erfahrungen aus diesem Jahr gründlich reflektieren und
letztendlich sollte man auch deutliche Konsequenzen ziehen, allein schon
deshalb, weil ansonsten innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Frustrations-
und Rückzugseffekte eintreten könnten und werden.

Zugleich sollte man denjenigen, die diese objektiv nur als
Niederlage zu bezeichnende Entwicklung nutzen wollen, um darauf aufbauend ihre
eigentlichen Ziele, also eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen voranzutreiben (was man auch sehen muss im
Kontext mit der faktischen Einschränkung des Streikrechts für Berufs- und Spartengewerkschaften
im Gefolge des „Tarifeinheitsgesetzes“), die rote Karte zeigen. Im Interesse
aller Gewerkschaften.

Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene

War da nicht noch was? Genau, die Schlichtung im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste, in der Öffentlichkeit oftmals fälschlicherweise verkürzt auf „Kita-Streik“, aber es haben nicht nur die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen di Arbeit niedergelegt, sondern auch die Sozialarbeiter beispielsweise in der Jugend- oder Behindertenhilfe, die aber in der öffentlichen Berichterstattung so gut wie gar nicht vorgekommen sind.

Heute findet in Fulda die vierte bundesweite Streikdelegiertenkonferenz der Gewerkschaft ver.di statt und dort wird der Verdi-Chef Frank Bsirske das Ergebnis der seit Wochen laufenden Mitgliederbefragung über eine Annahme oder Ablehnung des Schlichterspruchs vorstellen und mit den Delegierten sicherlich sehr kontrovers diskutieren. Vgl. dazu auch den Artikel Die nächste Runde droht. Alfons Frese schreibt darin: »Die Verdi-Mitglieder haben über den Schlichterspruch im Kita-Streit abgestimmt. Jetzt wird wieder verhandelt – und womöglich gestreikt. Verdi-Chef Bsirske sitzt in der Klemme.«

„In der Klemme“ ist noch nett ausgedrückt. Nicht nur der Streik der Sozial- und Erziehungsdienste – als unbefristeter Arbeitskampf begonnen, nicht um ein paar Prozente im bestehenden Tarifsystem, sondern mit dem Ziel einer strukturellen Aufwertung der Fachkräfte im Tarifgefüge durch eine deutliche Höhergruppierung – ist krachend gescheitert, wenn man den Schlichterspruch, der bei langer Laufzeit nur kosmetische Anhebungen vorsieht und die Sozialarbeiter sogar leer ausgehen lässt, annehmen würde bzw. wird, denn die Führungsspitze von ver.di plädiert genau dafür (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24. Juni 2015).

Es muss an dieser Stelle leider auch noch auf die zweite ebenfalls krachende Niederlage in einem aktuellen Arbeitskampf hingewiesen werden, gemeint ist der Streik bei der Deutschen Post DHL, wo man das eigentliche Ziel, eine Verhinderung bzw. wenigstens eine Abschwächung der Auslagerung der Zustellung in Billigtöchter des eigenen Unternehmens (DHL Delivery), nicht ansatzweise erreicht hat und mit einem mager daherkommenden Ergebnis den ebenfalls unbefristet begonnenen Streik abgebrochen hat nach einem Verhandlungstreffen mit dem Konzern in Bad Neuenahr-Ahrweiler (vgl. dazu meinen kritischen Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).

Was steht heute also an in Fulda auf der Streikdelegiertenversammlung?
»Kommt der Ende Juni nach zähen Verhandlungen, Streiks und einer Schlichtung erreichte Tarifkompromiss zum Tragen, oder geht das ganze Theater von vorne los, weil die Erzieherinnen und Sozialarbeiter das Ergebnis ablehnen?«, so Alfons Frese in seinem Artikel.
Und weiter:

»Wenn die Mehrheit zugestimmt hat, ist alles gut. Wenn nicht, hat Bsirske ein Problem. „Dann hängen wir am Fliegenfänger“, heißt es im Umfeld des Verdi-Vorsitzenden.«

Ein leider schönes Bild, bringt es doch das ganze Dilemma auf den Punkt. Die Gewerkschaft hat sich mit der Zustimmung ihrer Unterhändler zu dem Schlichtungsspruch in eine letztendlich unauflösbare Situation manövriert, sollte die Basis diesem Votum nicht folgen, denn warum sollten die kommunalen Arbeitgeber das Fass neu aufmachen, haben sie doch bereits die – natürlich nur unter „größten Bauchschmerzen“ erfolgte – Annahme des Schlichterspruchs verkündet, zugleich aber darauf hingewiesen, dass mehr nicht drin ist (zugleich steht der Verhandlungsführer der Arbeitgeber tatsächlich vor einer Ablehnungsfront vor allem der ostdeutschen Kommunen, die seinen Bewegungsspielraum gegen Null verengen).

Wenn die Verdi-Mitglieder aber dem Votum der Gewerkschaftsspitze, die offensichtlich die Panik ergriffen hat, nicht folgen, müsste man konsequenterweise eigentlich die abgekühlten Arbeitskampfmaßnahmen nach den Sommerferien wieder aufnehmen.
Die unrühmliche Rolle des Verdi-Vorsitzenden Bsirske verdeutlicht auch dieses Zitat aus dem Artikel von Frese:

„Wir müssen abwägen, ob wir es uns zutrauen können, durch weitere Streikwochen substanziell mehr zu erreichen.“ In dem Fall müsste man aber „gegen die Schlichtungsempfehlung und erhebliche Teile der Öffentlichkeit anstreiken“, warnte der Verdi-Chef seine Basis.

Wer hat denn seine Leute – auch für der Sache gewogene Leute überstürzt daherkommend – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Maßgabe, nur so lasse sich die angestrebte substanzielle Aufwertung der Berufe erreichen? Der heilige Geist oder die Führungsebene der Gewerkschaft? Wobei man an dieser Stelle der Vollständigkeit halber anmerken muss, dass es neben Verdi auch noch die GEW gibt, die ebenfalls gestreikt hat – und die offensichtliche Nicht-Synchronisation des gewerkschaftlichen Vorgehens wäre ein eigenes Thema.

Wenn man in einen unbefristeten Streik geht, dann muss man doch eine klare Vorstellung haben, wie und vor allem womit mindestens man da wieder rauskommen will. Es handelt sich um die schärfste Waffe der Gewerkschaften im Arbeitskampf und man sollte diese auch so nur verwenden. Die gleiche offensichtliche Nicht-Strategie bei der Post und das gleiche fatale Ergebnis – eine Niederlage.
Wie auch immer die Sache heute ausgeht – unabhängig davon sind die Auswirkungen für die gewerkschaftliche Sache desaströs. Wenn man – wie es die Spitze der Organisation will – dem Schlichterspruch zustimmt, dann werden sich viele Aktive enttäuscht abwenden und sicher werden auch viele, die während des Streiks eingetreten sind, die Gewerkschaft wieder verlassen. Auf der anderen Seite wird eine Wiederaufnahme des Arbeitskampfes tatsächlich sehr schwierig bis unmöglich sein, nachdem man die Bewegung, die sich vor Ort im Streik entfaltet hat, abrupt ab- bzw. ausgebremst hat durch die mehrwöchige Abkühlphase über die Mitgliederbefragung, die natürlich auch deshalb so lange angelegt war, um die Leute am Ende dann doch wieder auf Linie zu bekommen.

Was folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen – auch wenn das jetzt sicher manche nicht gerne hören möchten – sollte sich jede echte politische Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft, überschreiten wird bei einer Wiederwahl – man muss schon die Frage stellen, warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den Ruhestand.

Nachtrag: Mittlerweile sind die Abstimmungsergebnisse der befragten Mitglieder der beiden Gewerkschaften veröffentlicht worden: Ver.di-Basis lehnt Schlichterspruch ab: »Insgesamt lehnten 69,13 Prozent der Ver.di-Mitglieder im Sozial- und Erziehungsdienst den Schlichterspruch ab« und von der GEW wird gemeldet: Mitgliederbefragung abgeschlossen: Enttäuschung, Wut und Realismus: »31,2 Prozent der befragten GEW-Mitglieder wollen den Schlichterspruch annehmen, 68,8 Prozent sprechen sich dagegen aus.«

Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Dilemma mit den an sich sehr hohen Ablehnungswerten seitens der GEW-Mitglieder in der Pressemitteilung der Gewerkschaft: »Das von der Satzung geforderte Quorum für eine Urabstimmung – mindestens 75 Prozent müssen für den Streik stimmen – wurde klar verfehlt. Gleichzeitig lehnt eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden das Verhandlungsergebnis ab. Jetzt müssen die GEW-Gremien das Ergebnis politisch bewerten und das weitere Vorgehen beraten.« Anders ausgedrückt: Der erforderliche hohe Anteilswert von 75 Prozent für einen Streik wurde nicht erreicht, auf der anderen Seite einen Tarifabschluss auf der Basis von fast 70 Prozent Ablehnung? Es wird spannend bleiben, wie die beiden Gewerkschaften mit dieser Gemengelage umgehen werden.