Etwas mehr Licht auf die Umrisse der Menschen, die kommen. Zuwanderung von Flüchtlingen und EU-Ausländern nach Deutschland im Spiegel der Statistik

In dem Beitrag „Gute“ und andere Flüchtlinge, diese und solche Migranten? Differenzierungen bei Immanuel Kant, in der Bevölkerung und ihre mögliche Bedeutung für die (Nicht-)Integration vom 28. Mai 2016 wurde hier darauf hingewiesen, dass die bisherige Datenlage zu der nur scheinbar trivialen Frage, wie viele Menschen denn nun in den zurückliegenden Monaten zu uns gekommen sind, gar nicht so berauschend ist, wie man denken mag: »Überall kann man lesen oder hören, im vergangenen Jahr, also 2015, seien 1,1 Million Flüchtlinge zu uns gekommen. Diese Zahl wird abgeleitet aus den Bruttoerfassungen im sogenannten EASY-System, das der Erstverteilung von Asylbegehrenden dient. Nun ist das bekanntlich mit der Erfassung immer schon so eine Sache, besonders schwierig wird das natürlich in Ausnahmesituationen, wie wir sie im vergangenen Jahr erlebt haben, als täglich tausende Neuankömmlinge den deutschen Staatsboden betreten haben und zu registrieren waren.«

Letztendlich steht dahinter das Grundproblem, das wir auch aus anderen Bereichen kennen: Brutto ist nicht gleich netto. Der Migrationsforscher Herbert Brückner vom IAB hat den eben nicht trivialen Unterschied verdeutlicht an einer überschlägigen Berechnung, ausgehend von den (immer noch) genannten 1,1 Mio. Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen seien. Unter Berücksichtigung der nicht-erfassten Zuzüge abzüglich der Doppelzählungen, Weiterreisen sowie der unterschiedlichen Ausreisen kommt er auf eine Größenordnung von 777.000 Menschen, die man als Nettozuwachs bei der Flüchtlingsbevölkerung ansetzen könne.« So die damalige, noch gar nicht so alte Irritation.
Nunmehr aber liegen neue Daten vor und zumindest die statistischen Bilder, die wir von den Umrissen der Menschen zeichnen können, die zu uns gekommen sind, bekommen in der letzten Zeit immer mehr Konturen. Denn es sind ja nicht nur die Flüchtlinge, die gekommen sind (und von denen derzeit nur noch einige wenige hier eintreffen), sondern wir müssen auch eine erhebliche „Binnenwanderung“ innerhalb der EU in Rechnung stellen, also die Zuzüge (wie auch die Fortzüge) von EU-Ausländern nach bzw. aus Deutschland.

Beginnen wir mit dem Blick von ganz oben auf das Zuwanderungsgeschehen des vergangenen Jahres. Datengrundlage hierfür ist die Berichterstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das »vierteljährlich den Wanderungsmonitor (veröffentlicht), der Informationen über den Aufenthalt ausländischer Staatsbürgerinnen und -bürger in Deutschland zum Zweck der Erwerbstätigkeit enthält. Dabei wird auch Bezug auf die Zuwanderung insgesamt genommen, um den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit besser in den Gesamtkontext des Wanderungsgeschehens einordnen zu können. Das Bundesamt greift für den Wanderungsmonitor auf statistische Auswertungen aus dem Ausländerzentralregister (AZR) zurück.«

In diesem Kontext hat das BAMF zum einen die Übersicht Erwerbsmigration nach Deutschland 2015 veröffentlicht, zum anderen das Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Bürgern nach Deutschland 2015.

Im vergangenen Jahr (2015) sind 1.810.904 ausländische Staatsangehörige nach Deutschland zu- und 568.639 abgewandert. Der Wanderungssaldo belief sich auf 1.242.265 Menschen. Wir hatten in den vergangenen Monaten vor allem die Zuwanderung der Flüchtlinge im Blick und deren Bedeutung wird ja auch erkennbar, wenn man sich anschaut, wie der Wanderungssaldo der Staatsangehörigen aus Nicht-EU-Staaten nach oben schießt.

Aber auch die Zuwanderung von Staatsangehörigen anderer EU-Staaten ist angestiegen und hat 2015 im Saldo mit 382.449 einen neuen Höchststand erreicht. Mit So viele EU-Ausländer wie nie ziehen nach Deutschland oder Zuwanderung von EU-Bürgern nach Deutschland auf Rekordhoch sind die entsprechenden Meldungen überschrieben.

Die meisten Zuwanderer aus EU-Staaten kamen demnach mit 174.779 Menschen aus Rumänien, gefolgt von Polen (147.910) Bulgarien (71.709) und dem jüngsten EU-Mitglied Kroatien (50.646). Damit stammen fast vier Fünftel (533.000) der im vergangenen Jahr zugezogenen EU-Ausländer aus den osteuropäischen Staaten. Neben Rumänien, Bulgarien und Kroatien sind das Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn.
Dies verdeutlicht einmal mehr die Anziehungskraft Deutschlands gerade auch im europäischen Raum mit seiner Freizügigkeit.
Mit gut 100.000 Menschen weitere 15 Prozent aus den südeuropäischen Staaten Griechenland, Italien, Portugal und Spanien in die Bundesrepublik. Mit Ausnahme Italiens hat sich die Zuwanderung aus diesen Staaten, die durch die Schulden- und Finanzkrise angestiegen war, damit zuletzt wieder abgeschwächt.
Insgesamt leben in Deutschland 4,1 Millionen der laut der Statistikbehörde Eurostat insgesamt 18,5 Millionen EU-Migranten. Es folgen Großbritannien (3,1 Millionen), Frankreich (2,2), Spanien (2) und Italien (1,8).

Und auch die Bundesagentur für Arbeit stellt seit Juni 2016 detailliertere Statistiken die Menschen mit einem Fluchthintergrund betreffend zur Verfügung, hier gab es ja bislang nur sehr rudimentäre Daten: Migration und Arbeitsmarkt, so heißt die Seite der BA-Statistik.
Mit dem Berichtsmonat Juni 2016 beginnt die Berichterstattung über Personen im Kontext von Fluchtmigration, die bei Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind (vgl. auch die Hintergrundinformation Geflüchtete Menschen in den Arbeitsmarktstatistiken – Erste Ergebnisse). Als Personen im Kontext von Fluchtmigration oder kurz „Geflüchtete“ bzw. „Flüchtlinge“ werden Asylbewerber, anerkannte Schutzberechtige und geduldete Ausländer gezählt. Geflüchtete Menschen werden seit Juni 2016 auch in den Arbeitsmarktstatistiken detaillierter ausgewiesen.

Für die arbeitsmarktliche Einordnung der Zuwanderung relevant ist weiterhin der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) herausgegebene Zuwanderungsmonitor, vgl. beispielsweise die aktuelle Ausgabe für Juni 2016. Dort findet man Daten zur Erwerbsbeteiligung, zur Arbeitslosigkeit und zur Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen in den einzelnen Zuwanderergruppen.

Man kann aus den nun vorliegenden Daten einige wichtige grundsätzliche Ableitungen machen. Ganz offensichtlich ist die enorme Zuwanderung am aktuellen Rand, wobei man berücksichtigen muss, dass hinter den im Wanderungssaldo ausgewiesenen Zahlen weitaus höhere Bruttozahlen stehen. Beispiel: Wenn festgestellt wird, dass es 2015 einen Wanderungssaldo von 1,242 Mio. Ausländern gegeben hat, dann stehen dahinter 1,81 Mio. Zuzüge nach Deutschland sowie 567.000 Fortzüge aus Deutschland. Das sind schon erhebliche Zahlen, mit denen natürlich einige gerade auch sozialpolitische Herausforderungen verbunden sind, man denke hier nur an die Wohnraumversorgung oder gerade mit Blick auf die Zuwanderung der EU-Ausländer Aspekte der arbeitsmarkteichen Integration.

Die Zuwanderung wird ja nicht nur in Großbritannien von einem Teil der Bevölkerung negativ gesehen bzw. als Bedrohung empfunden. Auch in Deutschland sind die gesellschaftlichen Spannungen angestiegen, primär scheinbar fokussiert auf die Flüchtlinge vor allem aus Syrien und anderen Ländern, tatsächlich aber oftmals verwoben mit einer problembehafteten Wahrnehmung der Zuwanderung von EU-Bürgern, die ja aufgrund der Freizügigkeitsbestimmungen eine ganz andere Qualität hat als die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. An die Oberfläche gespült wird das  dann oftmals in skandalisierenden Berichten, beispielsweise über „Armutszuwanderung“ von Bulgaren und Rumänen oder die „Flucht in die deutschen Sozialsysteme“. Seltener bis gar nicht wird die andere Seite der Medaille den „besorgten“ Bürgern präsentiert, also die Tatsache, dass – wenn wir mal bei Rumänien und Bulgarien bleiben – Tausende dort ausgebildeter Ärzte und Ärztinnen bei uns in Deutschland arbeiten und manche Krankenhäuser (gerade im Osten des Landes) schließen müssten, wenn sie nicht auf ausländische Ärzte zurückgreifen könnten. Eine andere Form der „wohlstandskluftbedingten“ Zuwanderung wird nie als Problem thematisiert, weil zahlreiche deutsche Haushalte davon handfest profitieren – gemeint ist die Beschäftigung von geschätzt 150.000 bis 200.000 Haushalts- und Pflegekräften im Rahmen der sogenannten „24-Stunde-Pflege“ von Pflegebedürftigen in deren Haushalten.

Es wird also – nicht wirklich überraschend, aber eben mit einer sehr verzerrenden Wirkung – selektiert nach dem Nutzen der Zuwanderung. Problematisiert und zuweilen auch medial aufgeblasen werden die Fallkonstellationen, bei denen man den Eindruck vermitteln kann, hier kommen Menschen, um uns was „wegzunehmen“. Ist allerdings das Gegenteil der Fall, dann wird da kaum oder gar nicht drüber gesprochen. Und damit auch nicht über die Verwerfungen, die das in den Ländern verursacht, aus denen die oftmals gut qualifizierten, auf alle Fälle nutzbringenden Arbeitskräfte kommen.

Das hier angesprochene Grundproblem ist eines der ungleichen Verteilung und der daraus resultierenden Anreize, die zu Gewinnern und Verlierern führen. Als Beispiel sei hier diese Meldung aufgerufen: Grexit der anderen Art. »Mehr als 500.000 Menschen sind im Zuge der Finanzkrise seit 2008 aus Griechenland ausgewandert. Die meisten von ihnen sind jung und gut ausgebildet«, so die Quintessenz des Artikels. über ein Land, das insgesamt 11 Mio. Anwohner hat. »Laut einer Studie der griechischen Zentralbank wanderten zwischen 2008 und 2013 rund 427.000 Griechen im Alter zwischen 15 und 64 aus. 2014 kamen laut den Erhebungen der griechischen Statistikbehörde noch einmal knapp 90.000 hinzu.« Und auch das ist nicht überraschend: »Es seien hauptsächlich gut ausgebildete Menschen, die Griechenland verlassen. Der Großteil der Auswanderer ist zwischen 20 und 30 Jahre alt. Das hat einen einfachen Grund: Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen übertrifft zurzeit 50 Prozent. Die meisten Auswanderer gehen nach Großbritannien, Deutschland und in die Vereinigten Arabischen Emirate, heißt es im Bericht.« Nun hat es Migration in Form von (temporärer) Auswanderung immer schon gegeben. »Die Auswanderungswelle habe einen qualitativen Unterschied im Vergleich zu der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals wanderten rund eine Million Griechen hauptsächlich nach Deutschland und Belgien als Industriearbeiter aus. Diesmal seien es Ärzte und Ingenieure sowie andere gut ausgebildete junge Menschen, die das Land verlassen.«

Das wird natürlich ein Land wie Griechenland nicht nur schwächen, sondern möglicherweise auf Dauer schwer schädigen. Dem stehen auf der anderen Seite Profiteure gegenüber, zu denen in vielen Fällen auch und gerade Deutschland gehört. Man schaue sich einfach nur die Abbildung mit der Altersverteilung der Zuwanderer nach Deutschland, die 2015 aus EU-Staaten gekommen sind, an. Fast jeder Dritte ist zwischen 25 und 35 Jahre alt und damit in einer für den Arbeitsmarkt hoch interessanten Altersgruppe.

Das alles kann man den vielen Statistiken entnehmen, die nun sukzessive ausdifferenziert werden und ein immer genaueres Bild von den Umrissen der Zuwanderung erlauben. Was weiterhin offen bleibt sind die gesellschaftspolitischen Debatten über das, was man aus diesen Zahlen ableiten kann. Die kann man zumindest etwas mehr faktenbasiert führen. Von der Frage, ob man das gut oder schlechter findet, ob man das will oder nicht, entlastet einen die Statistik aber nicht.

Das deutsche „Jobwunder“ und seine Kelleretagen: „Arbeit auf Abruf“ auf dem Vormarsch. Den möglichen Endpunkt – „Null-Stunden-Verträge“ – kann man schon auf der Insel besichtigen

Das Spielzeug mag bei dem einen oder anderen Kind für glückliche Augen sorgen, aber bei denen, die das an die Frau oder den Mann bringen müssen, geht es weniger strahlend zu. Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben, so hat Anette Dowideit ihren Artikel überschrieben. In den Läden von Toys“R“Us sind neun von zehn Mitarbeiter Teilzeitbeschäftigte mit flexibler Arbeitszeit. Oft ist das Gehalt so gering, dass die Beschäftigten aufstockende Leistungen vom Jobcenter aus dem Grundsicherungssystem beziehen müssen. »90 Prozent aller Angestellten dort haben nach Informationen der „Welt am Sonntag“ flexible Teilzeit-Verträge. Diese garantieren den Angestellten lediglich eine Mindeststundenzahl. Erst über zusätzliche Mehrstunden, mit denen die Betroffenen jedoch nicht verlässlich planen können, kommen sie auf ein volles Gehalt … Nach Angaben der Gewerkschaft Ver.di führe die flexible Teilzeit dazu, dass es unter den rund 1.700 Angestellten in den 65 Toys“R“Us-Filialen eine signifikante Zahl an Aufstockern gebe. Diese müssen ihr Gehalt mit staatlichen Sozialleistungen aufbessern«, so Dowideit in ihrem Artikel.  Und sie benennt auch die, von denen man schon eher glückliche Augen erwarten darf: »Für Arbeitgeber sind solche kapazitätsorientierten Verträge attraktiv, da sie – gerade im hart umkämpften Einzelhandel – helfen, die Personalkosten gering zu halten. Sie verhindern, dass Mitarbeiter bezahlt werden müssen, wenn die Läden leer sind, während in Spitzenzeiten keine zusätzlichen Kräfte eingestellt werden müssen.«

Arbeitsverträge mit „flexiblen Einsatzzeiten“ seien schon heute in all jenen Branchen ein Thema, die von unplanbaren Nachfrageschwankungen abhängen, wie Gastronomie und Tourismus etwa. Und sie sind auch nicht ein neues Phänomen.

Aber es geht hier um die behauptete Expansion dieser Beschäftigungsform. Bereits im vergangenen Jahr konnte man dazu den Beitrag KAPOVAZ, Arbeit auf Abruf – ein ganz mieses Teilzeitmodell von Markus Krüsemann lesen:

»Über den Anteil der Beschäftigten, die Arbeit auf Abruf leisten, liegen abweichende Angaben vor. Ein WSI-Report vom November 2014 geht davon aus, dass mittlerweile acht Prozent der Betriebe in Deutschland Arbeit auf Abruf nutzen. Von dem Modell wären dann etwa 5,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten betroffen. Andere, auf Arbeitgeberbefragungen beruhende Quellen nennen auch höherer Anteilswerte. Abrufarbeit ist insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Bereich Wasserversorgung, im Handel, Gast- und Baugewerbe sowie im Verkehrsbereich verbreitet.«

Bei der von Krüsemann zitierten WSI-Studie handelt es sich um diese Veröffentlichung: Nadine Absender et al.: Arbeitszeiten in Deutschland. Entwicklungstendenzen und Herausforderungen für eine moderne Arbeitszeitpolitik. WSI-Report 19, Düsseldorf, November 2014. Dort findet man auf der Seite 38 Beispiele aus der betrieblichen Praxis zur „Arbeit auf Abruf“.
Krüsemann schildert in seinem Beitrag Beispiele wie eine Regalauffüllerin im Einzelhandel oder die Nutzung des Instruments bei der Deutschen Post.

Doch mittlerweile gehen die Zahlen der Inanspruchnahme der Arbeit auf Abruf offensichtlich nach oben, wie Anette Dowideit in einem weiteren Artikel berichtet: Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder:

»Bundesweit sind bereits etwas über anderthalb Millionen Menschen betroffen von den „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeiten“, kurz Kapovaz. Dies hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auf Anfrage der „Welt“ berechnet.«

Und zahlreiche Unternehmen (nicht nur) aus dem Handel bedienen sich dieser Arbeitszeitgestaltung:

»Neben Toys“R“Us nutzen auch andere Handelsketten das Instrument, das dem Unternehmen Flexibilität verschafft und den Angestellten häufig an den Rand des Existenzminimums drängt. Kik zum Beispiel – ein entsprechender Arbeitsvertrag liegt der Redaktion vor. Auch Esprit, H&M und die süddeutsche Bekleidungskette Breuninger arbeiteten bereits mit ähnlichen Konstruktionen.«

Ein Aspekt, der bei der Bewertung dieser Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht vergessen werden sollte, bezieht sich auf die (potenziellen) Auswirkungen hinsichtlich der betrieblichen Mitbestimmung, denn man kann sich vorstellen, welches Druckmittel die Arbeitgeber gegen ihre derart beschäftigten Mitarbeiter haben, wenn diese beispielsweise einen Betriebsrat gründen wollen. Man könnte dann schlichtweg das Vorenthalten der „Mehrarbeit“, die normalerweise aber vorausgesetzt und seitens der betroffenen Arbeitnehmerinnen aus eingeplant ist, einsetzen, um die Betroffenen von solchen Aktivitäten „abzuhalten“. Und das wäre faktisch nicht illegal, denn der eigentliche Arbeitsvertrag enthält ja eine deutlich niedrigere Stundenzahl, die man erfüllen muss seitens des Arbeitgebers, aber auch nicht mehr.

Da ist noch Luft drin aus Arbeitgebersicht: »Tatsächlich ruft die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bereits nach einer Lockerung der derzeitigen gesetzlichen Vorgaben für solche Verträge: Die Ankündigungsfrist von zurzeit vier Tagen, wann ein Mitarbeiter zum Dienst eingeteilt werde, müsse verkürzt werden, sagte ein BDA-Sprecher auf Anfrage«, berichtet Anette Dowideit in ihrem Artikel Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben.

Gleichsam der Endpunkt dieser Entwicklung wären dann (aus Arbeitgebersicht) konsequenterweise „Null-Stunden-Verträge“, also die totale Flexibilisierung der Inanspruchnahme und zugleich Zugriffsmöglichkeit auf die betroffenen Arbeitnehmer. Die gib es bereits, in Großbritannien. Und dort werden sie intensiv genutzt und sind zugleich Gegenstand einer sehr kritischen Debatte. Die sogenannten „zero-hours contracts“ wurden auch hier schon thematisiert, beispielsweise am 14. März 2014 in dem Blog-Beitrag Schon mal was von „Nullstundenverträgen“ gehört? sowie durchaus passend am 1. Mai 2014 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“: Ein „Arbeitgeber-Traum“ und ein Albtraum für Arbeitnehmer am Tag der Arbeit – ein Blick in das Land der „Null-Stunden-Arbeitsverträge“.

Das ist in Großbritannien wirklich kein Nischenproblem mehr: So kann man dem Guardian am 9. März 2016 diesen Artikel entnehmen: UK workers on zero-hours contracts rise above 800,000. Ganz offensichtlich expandiert diese Beschäftigungsform auf der Insel enorm: »The number of workers on zero-hours contracts has increased by more than 100,000 over the past 12 months to exceed 800,000 for the first time, official figures show.«

Auch in Großbritannien kann man erkennen, dass diese besonders ungleichgewichtige Beschäftigungsform dort praktiziert wird, wo „schwache“ Beschäftigtengruppen entsprechend genötigt werden können, also in bestimmten Branchen und bei einem sehr hohen Frauenanteil und bei einem schwachen bis nicht vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad:

»Zero-hours contracts are disproportionately offered to more vulnerable workers with weak bargaining power in sectors such as hotels and food services, health and social work.«

Auch Krüsemann hatte in seinem Beitrag auf die Entwicklung in Großbritannien hingewiesen und das Problem auf den Punkt gebracht:

»Da vertraglich nicht einmal eine Mindestbeschäftigungszeit festgelegt wird, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, Arbeit anzubieten, gearbeitet wird nur dann, wenn Arbeit anfällt. Und natürlich wird auch nur für die Arbeit gezahlt, die auch geleistet worden ist. Wenn gar keine Arbeit anfällt, gehen die Beschäftigten auch beim Lohn leer aus.«

Ralf Wurzbacher greift das Thema ebenfalls auf in seinem Artikel Kapovaz für Arme:

»Ganz soweit ist man hierzulande (noch) nicht. Bei fehlender Vereinbarung zum Arbeitsumfang gelten grundsätzlich mindestens zehn Stunden bezahlte Wochenarbeitszeit als gesetzlich verpflichtend. Außerdem müssen laut Teilzeit- und Befristungsgesetz Einsatzzeiten vier Tage im voraus festgelegt werden.«

Allerdings, so Wurzbacher, gibt es immer wieder Hinweise, dass diese Vorschrift in der Praxis nicht eingehalten wird. Besonders schwer treffe es dabei die sogenannten Minijobber, deren Lage doppelt prekär sei. Zur fehlenden sozialen Absicherung und dem geringen Verdienst käme bei Kapovaz im Minijob noch die Ungewissheit über Einsatzzeiten und die am Monatsende bezahlte Gesamtstundenzahl.

Die Flexibilisierung zugunsten der Arbeitgeber schreitet offensichtlich voran. Das geht über die skizzierte „Arbeit auf Abruf“ hinaus, Anette Dowideit spricht in ihrem Artikel Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder einen weiteren Punkt an, der ebenfalls dem gleichen Mechanismus folgt: Externalisierung von Arbeitgeberrisiken auf die Beschäftigten.

Das kann man auch über bestimmte Tochtergesellschaftskonstruktionen erreichen. Dazu schreibt sie:

»Die Möbelhauskette XXXL etwa, die überall in Deutschland riesige Läden betreibt, stellt ihre Verkäufer bei Tochtergesellschaften des Möbelkonzerns an. Die bekommen dann von der Betreiberfirma des jeweiligen Möbelhauses einen Auftrag.
Wird dieser Auftrag gekündigt, ist die Beschäftigungsgesellschaft insolvent – und die Mitarbeiter können auf einen Schlag betriebsbedingt gekündigt werden.«

Das wurde ebenfalls hier schon mit einem eigenen Beitrag „gewürdigt“: Arbeitnehmer entsorgen: Multi-Outsourcing der Beschäftigten in Zombie-Gesellschaften. Ein Beispiel aus der Welt der Möbelhäuser vom 20. März 2016.

Nun könnte man meinen, dass solche Entwicklung die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles nicht ruhen lässt und das bereits eifrig gegrübelt wird, ob und wie man was dagegen machen kann. Da muss man aber enttäuscht werden, wenn es stimmt, was Dowideit berichtet:

»Ministerin Nahles will jedoch weder Kapovaz-Verträgen noch Tochtergesellschaftskonstruktionen etwas entgegensetzen. Man sehe keinen Handlungsbedarf, teilt das Ministerium zum Thema Arbeit auf Abruf mit.«

Man sieht nichts. Ministerielle Dunkelheit hat sich ausgebreitet. Das irgendwie kennt man derzeit auch aus so einigen anderen sozialpolitisch relevanten Feldern.

Ein unendliches Thema mit handfesten Konsequenzen: Vom „Wert“ der Arbeit und einem Verdienstgefälle zwischen solchen und anderen Berufen

Am 19. März dieses Jahres werden wir wieder konfrontiert mit dem Equal Pay Day. Erneut wird um diesen Tag herum berichtet werden über die (tatsächliche oder angebliche) „Lohnlücke“ zwischen den Geschlechtern. Für die Akteure, die das auf die Tagesordnung bringen (wollen), stellt sich die Sache so da: »Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts verdienten Frauen im Jahr 2014 durchschnittlich 21,6 Prozent weniger als Männer. Rechnet man den Prozentwert in Tage um, arbeiten Frauen 79 Tage, vom 1. Januar bis zum 19. März 2016, umsonst.« Und scheinbar bekommen sie Schützenhilfe vom Statistischen Bundesamt, die haben beispielsweise im vergangenen Jahr zur gleichen Zeit so eine Pressemitteilung abgesetzt: Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern in Deutschland weiter­hin bei 22 %. Auf solche Differenzen kommt man, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass »Frauen mit einem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von 15,83 Euro weiterhin 22 % weniger als Männer (20,20 Euro)« verdienen. Bevor sich jetzt die Kritiker sogleich in Stellung bringen: Auch und gerade die offiziellen Statistiker wissen, dass die Wirklichkeit komplexer ist, sprechen sich doch bei den 22 Prozent von einem „unbereinigten“ Gender Pay Gap. Dann muss es auch einen wie auch immer „bereinigten“ geben, der mit 7 Prozent ausgewiesen wird, also schon deutlich kleiner, aber immer noch vorhanden. Dazu muss man wissen, dass bei der „Bereinigung“ der ja auch naheliegende Einwand berücksichtigt wird, dass man doch bitte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen solle, denn wenn Frauen beispielsweise unterdurchschnittlich, Männer hingegen überdurchschnittlich häufig in besser bezahlten Führungspositionen arbeiten, dann muss das Auswirkungen haben auf die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern. 

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