Die bewusst Vergessenen: Die Lkw-Fahrer bleiben bei der Reform des EU-Entsenderechts auf der Strecke

»Was sind das für Menschen, die da am Wochenende in einem Industriegebiet darauf warten, weiterfahren zu können, weit weg von zu Hause? In was für einer Welt leben sie? In einer Welt aus dreckigen Straßengräben und Wellblechindustriehallen, aus überfüllten Rastplätzen und überteuerten Currywürsten, aus verdreckten Toiletten und Kondomen in der Ecke?«
Diese Fragen haben Svenja Beller und Roman Pawlowski in ihrem Artikel Leben am Rand aufgeworfen.

Mehr als siebzig Prozent der Güter werden in Deutschland mit Lastwagen transportiert. Würden sie nicht mehr fahren, würde schnell gar nichts mehr funktionieren. Die Supermärkte wären leer, die Tankstellen auch. Eine Dystopie. Und doch sind Lastwagen für die meisten Menschen nur ein Ärgernis. Zu viele, zu langsam, und wenn dann noch einer zum Elefantenrennen ansetzt, ist es ganz vorbei mit der Geduld der anderen in ihren kleinen Autos. „Wir sind Menschen, keine Tiere“,  so wird ein Lkw-Fahrer im dem Beitrag von Svenja Beller und Roman Pawlowski zitiert. 

Und das Arbeitnehmer eher wie Menschen und nicht als Arbeitstiere behandelt werden, das ist auch Anliegen der anstehenden Reform des Entsenderechts. Darüber wurde hier in diesem Beitrag vom 25. Oktober 2017 berichtet: Ein Fortschritt bei der Eindämmung von Lohndumping. Oder? Die EU, die Entsenderichtlinie, ein Kompromiss – und seine Ambivalenz. Während in vielen Medien der „Kampf gegen Sozial- und Lohndumping“ hervorgehoben wurde, findet man in dem Blog-Beitrag auch diesen Hinweis: »… ein Bereich wurde übrigens vollständig ausgeklammert: Beim Speditionsgewerbe sollen vorerst weiterhin die Regeln der alten EU-Entsenderichtlinie gelten. Neue Regelungen sollen zu einem späteren Zeitpunkt in einer Reform einer EU-Richtlinie zum Transportsektor festgehalten werden.«

Einer der wenigen, die das aufgegriffen haben, ist Hermannus Pfeiffer in seinem Artikel Schlechter Lohn für gute Fahrt: »Entsandte Beschäftigte aus ärmeren EU-Ländern verdienen an ihren Einsatzorten oft viel weniger als einheimische Kollegen – für Lkw-Fahrer soll das auch so bleiben.« Er hebt die besonders miese Situation der Fahrer aus Osteuropa hervor, die mittlerweile mehr als ein Drittel der Warentransporte auf deutschen Autobahnen erledigen.

»Die allermeisten Fahrer befördern für deutsche Unternehmen Waren innerhalb Deutschlands – angestellt sind sie aber bei Firmen, die in östlichen EU-Ländern ihren Sitz haben. Eigentlich sieht die EU-Entsenderichtlinie von 1996 vor, dass die Mindestlöhne des Aufnahmelands für »entsandte« Arbeitnehmer gelten. Doch die Logistik-Wirklichkeit sieht anders aus: Die Fahrer erhalten statt des deutschen Mindestlohns Tagespauschalen und Spesen von 40 oder 50 Euro.

Problematisch sind zudem die Arbeitsbedingungen. Dominique John vom DGB-Projekt »Faire Mobilität« berichtet von Gesprächen mit etwa tausend osteuropäischen Fahrern. »Wir beobachten eine besorgniserregende Systematik.« Die allermeisten Fahrer transportierten westeuropäische Waren in Westeuropa und lebten dafür monatelang am Stück in ihren engen Lkw-Kabinen am Rande der Autobahnen.«

Und er behauptet: »Die „Kabotage“ wird vom Zoll kaum kontrolliert. Zwar erlauben die EU-Regeln nur drei Transporte innerhalb von sieben Tagen für Fahrzeuge, die im Ausland gemeldet sind, aber in Deutschland fahren. Doch die Praxis sieht so aus, dass Lkw-Flotten, die in Polen, Rumänien oder Bulgarien gemeldet sind, bis zu einem halben Jahr in Deutschland stationiert bleiben – im Auftrage hiesiger Logistikunternehmen wie Amazon.«

Da ist er wieder, dieser sperrige Begriff aus der nach außen so dynamischen und modernen Welt der Logistik: „Kabotage“. In einem Beitrag bereits aus dem Jahr 2013 findet man diese Hinweise:

»Seit 2010 gibt es eine Verordnung der EU-Kommission und die lässt »Kabotagebeförderungen im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung erst nach vollständiger Entladung des Fahrzeuges zu. Zudem kann innerhalb von drei Tagen nach der Einfahrt mit einem unbeladenen Fahrzeug in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates eine Kabotagebeförderung durchgeführt werden. Dies setzt voraus, dass zuvor eine grenzüberschreitende Beförderung in einen anderen Mitgliedstaat stattgefunden hat, und dass insgesamt die 7-Tage-Frist eingehalten wird«, so die Erläuterungen des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG). Auch wenn das wieder mal typisch kompliziert rüberkommt, so kann man dem schon entnehmen, dass Kabotage zwar möglich, aber zugleich auch begrenzt ist. Noch. Denn Ziel der EU-Kommission ist es, die grenzüberschreitenden Verkehre vollkommen frei zu geben. Problem: Die Kabotagefahrten sind schon heute schwer zu kontrollieren.«

Das ist in der Wirklichkeit der Speditionsunternehmen und der bei ihnen beschäftigten Menschen ein echtes Problem. Dazu aus dem Artikel Kabotage und Kostenvorteile. Osteuropäer setzen sächsische Transporteure zunehmend unter Druck aus dem April 2016: »Von der Euphorie, die noch Anfang der 90er-Jahre im sächsischen Transportgewerbe herrschte, ist nicht mehr viel zu spüren. Inzwischen kämpften viele Mittelständler dort nur noch ums Überleben«, so Wieland Richter, Präsident des Landesverbands des Sächsischen Verkehrsgewerbes (LSV). Beklagt wird „eine grassierende Fehlentwicklung im europäischen Straßengüterverkehr, die auch in Deutschland zu massiven Wettbewerbsverzerrungen führt.“ Die Osteuropäer umgingen mit wochenlangen Kettentouren und illegalen Kabotage-Fahrten bewusst die EU-Verordnung 1072/2009. „Es ist das Schlimme, dass man die Kabotage in diesem Umfang nicht kontrollieren kann.“

Das wird offensichtlich auch an anderer Stelle als Problem wahrgenommen: EU-Länder wollen gegen illegale Kabotage vorgehen. Die EU-Kommission plant neue Initiativen im Straßenverkehr, so der Artikel Verstärkte Kontrollen. »Um Wettbewerbsverzerrungen zu begegnen, wollen neben Frankreich inzwischen Italien, Österreich und jetzt auch Spanien verstärkt gegen illegale Kabotage vorgehen. Die EU-Kommission hatte für das erste Halbjahr 2017 neue Initiativen im Straßenverkehr angekündigt.« Was da geplant ist, kann man in Umrissen diesem Artikel entnehmen.

Dahinter steht auch der Druck aus einzelnen Mitgliedsstaaten der EU. Aus Österreich beispielsweise wird berichtet:

»Eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien im Auftrag der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) und der Gewerkschaft Vida hatte gezeigt, dass der Anteil von Kabotagefahrten in Österreich gemessen am Gesamtanteil der Binnenverkehre bei etwa 20 Prozent liegt. Zumindest drei Prozent der Binnenverkehre seien illegale Kabotagefahrten. Dadurch entstehe dem Staat und den Sozialversicherungssystemen jährlich ein Schaden von rund 500 Millionen Euro.«

„Im Wettbewerb gegen Preisdumping-Konkurrenz aus Billiglohnländern bleiben heimische Frächter immer öfter auf der Strecke“, bilanziert Alexander Klacska von der Wirtschaftskammer Österreich.

Im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass wir innerhalb der EU ein enormes Wohlstandsgefälle haben, das zahlreiche Lkw-Fahrer aus Osteuropa zwingt bzw. dazu treibt, sich unter Bedingungen zu verkaufen, die aus unserer Sicht unvorstellbar sind, muss man davon sprechen, dass wir mittlerweile „Wildwest“-Zustände auf unseren Straßen als Normalfall haben. Dazu bereits der Beitrag Von wegen Trucker-Mythos. Die Lkw-Fahrer als letztes Glied einer hoch problematischen Verwertungskette vom 30. Juli 2017.

Eine rasant wachsende Problematik wird von Hermannus Pfeiffer in seinem Artikel angesprochen unter Bezug auf den Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL):

»Ganz „unterm Radar“ durch, klagt der BGL, fahren die „Polen-Sprinter“. Rechtliche Einschränkungen wie bei schweren Lastwagen gelten für Nutzfahrzeuge bis 3,5 Tonnen Gesamtgewicht nicht. Die Speditionen benötigen daher keine Lizenz, mit der die persönliche Eignung der Fahrer und deren Fachkunde nachgewiesen wird. „In den vergangenen Jahren sind immer mehr dieser Fahrzeuge aus den östlichen EU-Staaten mit Ein-Mann-Schlafkabine quer über dem Fahrerhaus in Deutschland und Westeuropa unterwegs“, sagt ein BGL-Sprecher in Frankfurt. Fahrer dieser sogenannten Topsleeper blieben für viele Wochen oder gar Monate fern ihrer Familien stationiert.«

»Pakete, Baustoffe, Handelsgüter: Sie fahren, was kommt, und müssen sich nicht an die vorgeschriebenen Ruhezeiten halten. Transportunternehmen und Gewerkschaften klagen über unfaire Konkurrenz durch sogenannte Polensprinter«, so auch Helmut Bünder in seinem Artikel Sozialdumping durch „Polensprinter“.  Das wurde übrigens schon vor Jahren thematisiert, vgl. beispielsweise Osteuropäische Kleinlaster: Angriff von unten aus dem Juli 2014.

Wir haben es in dieser so wichtigen Branche offensichtlich immer mehr auch mit kriminellen Machenschaften zu tun. Wer das ganz handfest, praktisch und bebildert braucht, dem sei das hier empfohlen:

Camion-Pro-Dokumentation „Die Spur des Geldes“ über das organisierte Verbrechen in der osteuropäischen Transportwirtschaft: »Organisiertes Verbrechen, Sozialdumping an der Grenze zum Menschenhandel, gigantische Schäden für die osteuropäischen Volkswirtschaften und Steuer- und Sozialversicherungsverluste in hohen dreistelligen Millionenbeträgen für den deutschen Staat, das Versagen des deutschen Zolls und die Verwicklung von deutschen Großlogistikern in das internationale Sozialdumping: Was Camion Pro Vorstand Andreas Mossyrsch, getarnt als deutscher Transportunternehmer, Anfang 2016 in Bukarest aufdeckte, hat es in sich. In dem … Dokumentarfilm „Die Spur des Geldes“ zeigt Camion Pro nun erstmals die gesamten Ergebnisse der monatelangen, verdeckten Recherchen.

30 Prozent der LKW auf deutschen Autobahnen kommen inzwischen aus Osteuropa. Dass dabei nicht alles mit rechten Dingen zugehen kann, war vielen Insidern schon lange klar. Camion Pros Dokumentarfilm „Die Spur des Geldes“ gibt erstmals einen Einblick in das wahre Ausmaß der Wirtschaftskriminalität in der osteuropäischen Transportwirtschaft. Die Zustände, die Camion Pro offenlegt, sind selbst für Fachleute schockierend. Das organisierte Verbrechen mischt dabei offenbar in industriellen Größenordnungen kräftig mit. Die Fahrer arbeiten meist illegal und zu frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen. Die Menschen haben keine ordentliche Sozialversicherung und meist kaum Möglichkeiten, ihre Rechte wahrzunehmen. Das berichten Insider, die bei „Einstellungsgesprächen“ von Andreas Mossyrsch mit versteckter Kamera aufgenommen wurden … „Was hier abläuft, ist organisiertes Verbrechen und Wirtschafts-Zuhälterei“, so Andreas Mossyrsch … n der Dokumentation „Die Spur des Geldes“ weist Camion Pro nach, dass viele osteuropäische Unternehmen im industriellen Stil Steuern und Sozialversicherungsbeiträge umgehen, Papiere fälschen oder die Lkw-Technik manipulieren. Die Nutznießer und Profiteure sind oft große deutsche Logistiker, die ihre Aufträge an Billigspediteure in Osteuropa abgeben und diese mit Dumpingpreisen abspeisen. Offenbar unterlassen es Regierungen in Europa, diesen Verhältnissen Einhalt zu gebieten. Osteuropäische Staaten profitieren wirtschaftlich davon.«

Die Profiteure sitzen nicht nur in Osteuropa, sondern auch bei und unter uns. Natürlich profitieren viele Unternehmen auch in Deutschland oder Frankreich von den Dumpingpreisen in der Logistik-Branche, wie sie auch generell aus dem massiven Kostendifferential, das man über die Entsendearbeitnehmer nutzen kann, Gewinn ziehen. Da ist es dann auch nur konsequent, dass seitens der Wirtschaftsverbände große Ablehnung artikuliert wurde gegenüber den schon als Kompromiss ausgestalteten Beschluss der Arbeit- und Sozialminister der EU-Staaten, die EU-Entsenderichtlinie an einigen Stellen etwas zu schärfen. Und irgendwie ist es dann auch „konsequent“, mit dem Speditionsgewerbe einen Kernbereich des Sozial- und Lohndumping mit vielen Überschneidungen zur Wirtschaftskriminalität gleich aus dem reformierten Entsenderecht auszuklammern und eine „eigenständige“ Regelung in den Raum zu stellen. Dann kann man an geeigneter Stelle intensiv intervenieren, damit da nicht etwa was rauskommt, das befürchten lässt, dass die Fahrer irgendwann einmal richtig ordentlich behandelt werden.