Internationaler Frauentag oder Tag der Rosenindustrie. Anmerkungen zu einigen scheinbar trockenen Zahlen und was hinter ihnen steht

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg entstand das, was wir heute als „Internationaler Frauentag“ bezeichnen –  im Kampf um die Gleichberechtigung und das Wahlrecht für Frauen. Die Vereinten Nationen haben diesen Tag später zum Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden erhoben (1977). Natürlich gibt es eine eigene Website zum International Women’s Day. Zyniker bezeichnen ihn heute auch als Tag der Rosenindustrie, weil davon viele an diesem Tag abgesetzt werden (über die katastrophalen Bedingungen, unter denen heute Rosen hergestellt werden, um sie günstig z.B. in Deutschland absetzen zu können, informieren viele kritische Berichte, beispielsweise der Fernsehbeitrag Billig-Rosen: Afrikaner zahlen mit ihrer Gesundheit). Aber man darf und sollte an die Wurzeln erinnern, die vielen sicher nicht mehr bekannt sind: »Der erste Frauentag wurde … am 19. März 1911 in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz gefeiert. Mit der Wahl des Datums sollte der revolutionäre Charakter des Frauentags hervorgehoben werden, denn der Vortag, der 18. März, war der Gedenktag für die Gefallenen während der Märzrevolution 1848. Außerdem hatte auch die Pariser Kommune 1871 im März begonnen.«

Ein zentrales Thema ist immer wieder die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt – angesichts der Bedeutung der Erwerbsarbeit für eine eigenständige Lebensführung, für eine ausreichende soziale Absicherung bis hin zur Verwirklichung dessen, was man mit den Begriffen „Gleichstellung“ oder „Gleichberechtigung“ zu fassen versucht, ist das auch nicht überraschend. Und folgt man den aktuellen Presseberichterstattungssplittern, dann sieht das bei uns in Deutschland richtig gut aus. Aber Schein und Sein unterscheiden sich nicht nur von der Buchstabenzusammensetzung. 

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Immer diese Studien. Jetzt werden die Akademiker durch die mediale Niedriglohndebatte gezogen. Dabei ist die Neuigkeit ein alter, trotzdem bemerkenswerter Anteil

Seit Jahren wird in der Arbeitsmarktdebatte immer wieder das Stichwort „Niedriglohnbeschäftigung“ aufgerufen. Naturgemäß gehen die Vorstellungen darüber, ab wann ein „Niedriglohn“ beginnt – oder eben nicht – sehr weit auseinander. Was für die einen viel ist, mag für die anderen sehr wenig sein. Offensichtlich handelt es sich um ein letztendlich nur durch Festlegung auflösbares Dilemma. Eine solche gibt es auf der EU-Ebene und die verwendet man auch in der Arbeitsmarktforschung: Die „Niedriglohnschwelle“ ist definiert als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Median), wobei die Betonung auf Median und nicht dem arithmetischen Mittel liegt, das wir ansonsten oftmals bei der Durchschnittsbildung verwenden. Es handelt sich also – wie auch die Schwellenwerte in der Armutsforschung – um ein relatives Konzept. Die Armut im (relativ) reichen Deutschland ist eben eine andere als im (nicht nur relativ) armen Rumänien. Und so ist das auch mit dem Niedriglohn. Wer nun genauer wissen möchte, wie es um die Niedriglohnbeschäftigung bestellt ist in unserem Land, der kann und muss schon seit Jahren zu den jährlich wiederkehrenden Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) greifen, die das routiniert haben. Deren Zahlen werden dann immer wieder zitiert, wenn es um das Thema Niedriglöhne geht. Und auch jetzt wieder bezieht man sich auf das IAQ und mit einem lauten Echo wird die Message durch die Medien getrieben: „Hunderttausende Akademiker arbeiten für Niedriglöhne„, meldet die Süddeutsche Zeitung, sekundiert von Spiegel Online „Neue Studie: Hunderttausende Akademiker arbeiten zu Niedriglöhnen“ und die Frankfurter Rundschau spricht gar von „Lohndumping nach der Universität„. Die Ursprungsmeldung wurde übrigens von der Online-Ausgabe der WELT in die Welt gesetzt. Was ist passiert? Ein Generalangriff auf die akademischen Schichten? Schauen wir genauer hin.

Die absolute Kurzfassung lautet: „Mehr als 600.000 Akademiker bekamen 2012 Niedriglöhne gezahlt. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie. Besonders Frauen seien betroffen“, so die Süddeutsche Zeitung. Fast jeder zehnte Akademiker habe 2012 weniger als 9,30 Euro in der Stunde bekommen – da haben wir sie also, die „Niedriglohnschwelle“. Wer darunter verdient ist ein Niedriglöhner. Und weiter erfahren wir: 8,6 Prozent der Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss seien 2012 davon betroffen gewesen, in absoluten Zahlen waren das etwa 688.000 Menschen. Eine veritable Großstadt sozusagen. Und dann kommt eine wichtige Information:

„Es gibt seit Jahren eine konstante Gruppe von akademisch ausgebildeten Arbeitnehmern, die zu geringen Löhnen arbeiten“, wird die IAQ-Expertin Claudia Weinkopf in dem Spiegel Online-Artikel zitiert. Die Zahl schwanke seit Jahren grob zwischen sieben und fast zwölf Prozent. Da haben wir wieder das IAQ als Referenzpunkt – neben dem Hinweis, dass es sich hinsichtlich des Anteils eben nicht um eine Neuigkeit handelt, sondern um einen bereits seit Jahren beobachteten Anteilswert innerhalb der von Niedriglöhnen betroffenen Grundgesamtheit.

Datenquelle sind die Berechnungen des IAQ, die seit Jahren regelmäßig vom Institut als „IAQ-Report“ veröffentlicht werden. Der bislang letzte, im Netz verfügbare Bericht stammt aus dem Juni 2013 und bezieht sich hinsichtlich der dort ausgewiesenen Werte noch auf das Jahr 2011:

Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2011 (= IAQ-Report 2013-01), Duisburg 2013

Dort findet man – wie angemerkt bezogen auf das Jahr 2011 – in der Zusammenfassung die folgenden Informationen:

Im Jahr 2011 arbeiteten 23,9% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter 9,14 € (bundesweite Niedriglohnschwelle). Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten betrug im Jahr 2011 knapp 8,1 Millionen. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor lagen auch im Jahr 2011 mit 6,46 € in West- und 6,21 € in Ostdeutschland weit unter der Niedriglohnschwelle. Nach Qualifikation differenziert ist das Niedriglohnrisiko zwischen 2001 und 2011 am stärksten für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung gestiegen und nach Arbeitszeitform für Vollzeitbeschäftigte. Mehr als jede/r fünfte Beschäftigte hätte bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € pro Stunde Anspruch auf eine Lohnerhöhung.

Hinsichtlich der Datenbasis für diese Aussagen kann man den Berichten auch entnehmen, dass sich die Forscher des IAQ auf der Basis des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) bewegen. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung, die bereits seit 30 Jahren läuft. Im Auftrag des DIW Berlin werden jedes Jahr in Deutschland über 20.000 Personen aus rund 11.000 Haushalten von TNS Infratest Sozialforschung befragt. Die Daten geben Auskunft zu Fragen über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit.

Wie immer im statistischen Leben spielt die Abgrenzung der Grundgesamtheit eine Rolle. Im Bericht für das Jahr 2011 schreibt das IAQ: »In früheren Analysen hatten wir auch Schüler/innen, Studierende und Rentner/innen ausgeschlossen mit der Begründung, dass diese typischerweise nur einen Nebenjob ausüben.« Mit Blick auf die aktuelle Mindestlohndebatte hatte man die aber im 2013 erstellten Report wieder aufgenommen. Sie merken an: »Ohne diese Gruppen lag die Niedriglohnschwelle mit 9,23 € pro Stunde etwas höher und der Niedriglohnteil betrug 24,6%.«

Das IAQ macht regelmäßig auch Aussagen zur Niedriglohnbeschäftigung nach Qualifikationsstufen.
Das für die allgemeine Niedriglohndebatte in Deutschland interessanteste Ergebnis hinsichtlich der Qualifikationsebenen findet sich in diesem Zitat: »Insgesamt bleibt es bei dem Befund, dass Niedriglöhne in Deutschland keineswegs überwiegend gering Qualifizierte oder Jüngere betreffen. Vielmehr ist die große Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten formal qualifiziert und stammt aus den mittleren Altersgruppen. Im Niedriglohnsektor werden auch keineswegs ausschließlich „einfache“ Tätigkeiten geleistet. Die im SOEP gestellte Frage, ob für die Ausübung der eigenen Tätigkeit eine Berufsausbildung oder eine höherwertige Ausbildung erforderlich ist, bejahten im Jahr 2011 mit 48,5% knapp die Hälfte aller Niedriglohnbeschäftigten.«

Und – das zeigt die Abbildung mit den Anteilswerten – auch Menschen mit einem Hochschulabschluss sind unter den Niedriglohnbeschäftigten vertreten.

Das bedeutet aber nicht – wie man aus der Titelei beispielsweise der Frankfurter Rundschau ableiten könnte – Lohndumping nach der Universität, denn das wissen wir schlichtweg nicht. Das könnte man nur dann behaupten, wenn man wüsste, wo und wie die Arbeitnehmer/innen mit Hochschulabschluss eingesetzt werden. Wenn aber – zugespitzt formuliert – alle in den Daten ausgewiesenen Hochschulabsolventen als Döner-Verkäufer, Putzhilfen oder Taxifahrer arbeiten würden, dann wären diese Beschäftigungen eine Erklärung für ihren Niedriglohnstatus. Anders würde sich der Fall darstellen, wenn die Hochschulabsolventen tatsächlich ausbildungsadäquat eingesetzt werden und dennoch weniger als die 9,30 Euro in der Stunde bekommen würden.

Diese Unterscheidung ist generell von Bedeutung, denn die aktuellen Irritationen, die von den hier zitierten Zahlen zu den Akademikern und ihrer Betroffenheit von Niedriglohnbeschäftigung über die Medienberichterstattung ausgelöst werden, resultieren aus der nicht passungsfähigen Verknüpfung von Akademiker und Niedriglohn in der Wahrnehmung vieler Beobachter (was aber auch gar nicht gegeben sein muss, wenn man wüsste, um welche Beschäftigungsfelder es sich handelt). Die gleiche Problematik haben wir bei der immer wieder gerne zitierten Statistik, dass die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bei den Akademikern am niedrigsten sei.

Quelle: Weber, B. und Weber, E. (2013): Bildung ist der beste Schutz
vor Arbeitslosigkeit (= IAB-Kurzbericht 4/2013), Nürnberg, Abb. 1, S. 2

Die Abbildung aus der Veröffentlichung von Weber, B. und Weber, E. (2013): Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit (= IAB-Kurzbericht 4/2013) verdeutlicht diese gerne rezipierte Sichtweise – und die Unterschiede sind ja auch gewaltig: Während bei denjenigen, die über keinen Berufsabschluss verfügen, die Arbeitslosenquote bei fast 20% lag, also jeder vierte aus dieser Gruppe von registrierter Arbeitslosigkeit betroffen war, belief sich für das hier ausgewiesene Jahr 2011 die Quote bei den Akademikern lediglich auf 2,4%. Ein Vielfaches weniger als bei den Geringqualifizierten. Aber eines beantwortet diese beeindruckende Zahl von nur 2,4% offizieller Arbeitslosenquote unter den Akademikern natürlich nicht: Was machen die statt der Arbeitslosigkeit? Also wenn sie arbeiten – wo und wie arbeiten sie? Ausbildungsadäquat? Oder in einem ganz anderem Bereich, der nichts mit ihrem Studium zu tun hat? Darüber können wir schlichtweg nichts sagen. Das wäre aber schon von Bedeutung – beispielsweise auch im Kontext der allgemeinen Akademisierungsdebatte.

Also bleiben wir bei dem, was wir wissen: Auch ein Studium kann vor einer Niedriglohnbetroffenheit nicht vollständig schützen. Desweiteren sehen wir auch hier ein Abbild der geschlechtsbezogenen Spaltung des Arbeitsmarktes, denn: Den IAQ-Zahlen zufolge ist unter Akademikerinnen das Risiko, zu Niedriglöhnen zu arbeiten, fast doppelt so hoch wie unter Männern: Während 11,4 Prozent der Frauen mit Hochschulabschluss auf dem Niedriglohnsektor arbeiten, sind es bei den Männern nur 6,1 Prozent.

Und abschließend ein zweiter Aspekt, der zum Nachdenken Anlass geben sollte:

»Die Zahl der arbeitslosen Akademiker erhöhte sich 2013 im Jahresdurchschnitt gegenüber dem Vorjahr um 21.400 auf 191.100 Menschen … Dies sei ein Anstieg um 13 Prozent. Grund sei unter anderem die deutlich gestiegene Absolventenzahl.«

Die neuen Arbeitslosenzahlen aus dem „Jobwunderland“ Deutschland – und ein Verarmungsprogramm für Arbeitslose in den USA

Wie in jedem Monat wurden die aktuellen Arbeitsmarktzahlen von der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg verkündet. In ihrer Zusammenfassung schreiben die obersten Arbeitslosenverwalter der Republik: »Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist sehr stabil. Seine gute Grundverfassung zeigt sich an der weiter zunehmenden Kräftenachfrage: Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wachsen kontinuierlich … Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung haben im Dezember saisonbereinigt leicht abgenommen. Aber das geringe Maß, in dem Arbeitslose vom Beschäftigungsaufbau profitieren, offenbart strukturelle Probleme bei der Jobsuche” (S. 7).

In den Nachrichten und am Folgetag in den Tageszeitungen werden wir hören und lesen können: Die Zahl der Arbeitslosen im Dezember 2013 belief sich auf 2.872.783. Damit gab es 32.962 Arbeitslose mehr als vor einem Jahr. Nun handelt es sich bei dieser Zahl um die „registrierten“ Arbeitslosen. Soll heißen, daneben gibt es weitere Arbeitslose, die nur nicht als registrierte erfasst werden. Insofern wäre es natürlich korrekter, wenigstens die – von der BA offiziell in ihren Tabellenwerken auch ausgewiesene – Zahl der „Unterbeschäftigten“ zu zitieren. Das waren nach der amtlichen Statistik 3.713.692 Menschen und damit fast 841.000 Menschen mehr, als in der „Arbeitslosenzahl“ dargestellt (vgl. für eine genaue Aufschlüsselung die Abbildung von „O-Ton Arbeitsmarkt„). Aber hier soll nicht zum wiederholten Mal Klage geführt werden darüber, dass man die Zahl der „Unterbeschäftigten“ nicht zuerst nennt und dann die der registrierten Arbeitslosen, die Politik hat daran schlichtweg kein Interesse.

Und es soll hier auch nicht um die – durchaus zutreffende – kritische Einordnung der neuen Zahlen vom Arbeitsmarkt gehen, wie man sie beispielsweise in einer Presseerklärung der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, Brigitte Pothmer, finden kann, die unter der Überschrift „Arbeitsmarkt: Andrea Nahles muss strukturelle Probleme angehen“ schreibt:

»Insbesondere Langzeitarbeitslose bleiben trotz steigender Beschäftigtenzahlen auf der Strecke. Aber auch die Zahl der Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz ist wieder gestiegen. Das ist nicht nur problematisch für die Jugendlichen, darin liegt auch erheblicher volkswirtschaftlicher Sprengstoff. Jetzt machen sich die Versäumnisse der vergangenen Jahre bemerkbar. Es wurde zu wenig in die Arbeitslosen investiert und zu viel arbeitsmarktpolitische Kosmetik betrieben …  die Probleme am Arbeitsmarkt müssen grundsätzlich angegangen werden. Dafür sind vor allem mehr abschlussbezogene Qualifizierungen und ein Sozialer Arbeitsmarkt für besonders schwer Vermittelbare erforderlich. Unversorgte Schulabgänger dürfen nicht länger in Warteschleifen abgeschoben werden, sondern müssen echte Ausbildungsplatzangebote bekommen.«

Hier soll über Arbeitslose gesprochen werden, die wenige Tage nach Weihnachten in die weitere Verarmung gestoßen worden sind – über Arbeitslose in den USA. Heidi Moore hat im Guardian eine lesenswerte Analyse der aktuellen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten vorgelegt: „The GOP couldn’t be more wrong about cutting unemployment insurance„, so hat sie ihren Artikel überschrieben (GOP steht für „Grand Old Party“, gemeint sind die Republikaner in den USA): »If the government has any responsibility to its people, it’s not to force them into poverty when they have no other financial options«, so ihre zentrale Botschaft.

Schauen wir uns ihre Argumentation genauer an:

Wie verbessert man die wirtschaftliche Lage? Nach Auffassung einiger republikanischer Mitglieder des Kongresses dadurch, dass man 1,3 Millionen Menschen tiefer in die Armut treibt, beginnend ab dieser Woche, durch die Streichung der verlängerten Bezugsdauer von Arbeitslosenunterstützung. Aber die Argumente für die Kürzung halten einer genauen Prüfung in keiner Hinsicht stand. Stattdessen würde die amerikanische Wirtschaft weitaus besser mit einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes fahren (vgl. hierzu beispielsweise den kurzen Beitrag des Vorstandsvorsitzenden der Investmentgesellschaft PIMCO, Mohamed El-Erian: „Extending Unemployment Benefits Makes Good Economic Sense Too„, auch neuere Studien kommen zu diesem Befund, vgl. hierzu aktuell The Council of Economic Advisers and the Department of Labor: The Economic Benefits of Extending Unemployment Insurance, Washington, December 2013).

Heidi Moore analysiert und seziert vier „Mythen“ der Republikaner:

Myth 1: Cutting unemployment benefits forces the unemployed to get off their couches and bootstrap themselves into good jobs

Dieses Argument mag in einer Wirtschaft zutreffend sein, die sich in einer guten Verfassung befindet, nicht aber in einer Situation, in der es viel zu wenig Arbeitsplätze gibt. Die USA haben derzeit über 10 Millionen Arbeitslose, davon mehr als 4 Millionen Menschen, die seit mehr als sechs Monaten arbeitslos sind (= Langzeitarbeitslose nach der amerikanischen Definition). Hinzu kommt fast eine weitere Million Menschen, die so frustriert sind, dass sie sich von der Arbeitssuche zurückgezogen haben. 8 Millionen Menschen befinden sich in befristeten Niedriglohnjobs, weil sie derzeit keine unbefristete Vollzeitbeschäftigung finden können. Es ist die schlimmste Arbeitsmarktlage seit der Rezession der späten 1970er und der frühen 1980er Jahre.

Außerdem ist das „Bootstrapping“, also das „sich selbst helfen“, nicht für jeden möglich. Die Fähigkeit dazu ist determiniert von der Klasse, dem Bildungsstand und der Rasse. Studien haben zeigen können, dass diejenigen, denen es gelingt, sich selbst zu helfen, meistens aus einer privilegierten Situation kommen: Sie sind meistens weiß, Haben eine College-Ausbildung und leben in Zwei-Verdiener-Familien. Und wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, in der ein College-Abschluss immer weniger wert ist. Mittlerweile arbeiten zweimal so viele College-Absolventen in Jobs nur in Mindestlohnjobs wie noch vor fünf Jahren und fast jeder achte neue College-Absolvent ist arbeitslos.

Myth 2: Extending unemployment benefits will be a drag on the economy

Die Annahme ist hier, dass die Kürzung von Unterstützungsleistungen dazu führt, dass die Wirtschaft wieder boomt und dass die Menschen schneller einen neuen Job finden. Das ist eine nette Fantasie, aber das funktioniert so nicht. North Carolina hat schon vor sechs Monaten versucht, die Leistungen zu kürzen, als der Staat knapp bei Kasse war. Das Ergebnis? Es haben nicht mehr Menschen einen neuen Arbeitsplatz gefunden, sondern 95.000 Personen haben den Arbeitsmarkt verlassen.

Myth 3: Unemployment benefits should be extended only after the government can cut other programs to „afford“ it

Viele Republikaner sind der Auffassung, dass eine verlängerte Hilfe für Arbeitslose nur dann gewährt werden sollte, wenn an anderer Stelle im Haushalt Leistungen eingespart werden. Heidi Moore hat hier drei zentrale Anmerkungen:

  1. Haushaltsdefizite haben nur eine kleine oder gar keine Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum, auf die Erträge am Aktienmarkt oder den Wert des Dollar. Im Gegenteil ist es weitaus zerstörerischer, in der jetzigen Situation die Defizite nach unten zu fahren.
  2. Verlängerungen des Arbeitslosengeldbezuges in der Vergangenheit – wie beispielsweise die fünf Verlängerungen während der Bush-Zeit – wurden immer ohne eine Gegenfinanzierung durch die Kürzung anderer Sozialleistungen im Haushalt vorgenommen.
  3. Der Kongress hat in der Vergangenheit keine Kompetenz bewiesen, den Haushalt zügig und umfänglich aufzustellen und zu genehmigen.

Myth 4: obless aid is only a handout that does nothing to solve the underlying economic trouble

Arbeitslosenunterstützung ist kein Almosen, sondern wird von den Arbeitgebern finanziert. Es ist nicht die primäre Aufgabe der Arbeitslosen Unterstützung, die Wirtschaft anzukurbeln. Hier ist die Wirtschaftspolitik gefordert.

Sie beendet ihren Artikel so:

»There is no reason not to extend benefits, and every reason to prevent over a million Americans from losing what little cushion they have. If the government has any responsibility to its people, it’s not to force them into poverty when they have no other financial options.«

Gute Nachrichten vom Arbeitsmarkt zum Jahresbeginn. Was will man mehr? Vielleicht etwas genauer hinschauen

Das  sind endlich mal positive Schlagzeilen: „Zahl der Beschäftigten erreicht Rekordhoch„, meldet Spiegel Online und die FAZ titelt – fast – synchron: „Zahl der Erwerbstätigen auf Rekordhoch„.
Die Abbildung verdeutlicht die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland seit dem Jahr 2005 – wenn man denn diese misst an der Zahl der „Erwerbstätigen“, wie die FAZ richtigerweise im Titel vermerkt hat.

Seien wir ehrlich – wenn die meisten Menschen lesen, dass im nunmehr vergangenen Jahr 232.000 neue „Jobs“ geschaffen worden sind oder die Zahl der „Beschäftigten“ einen Höchststand erreicht hat, dann denken viele an „normale“ oder halbwegs normale Jobs, nicht wenige gehen von einer vollzeitigen und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung aus. Die hat tatsächlich gerade am aktuellen Rand der Arbeitsmarktentwicklung auch zugenommen. Aber hinter den 232.000 zusätzlichen Erwerbstätigen, die uns das zurückliegende Jahr gebracht haben, kann sich eben vieles verbergen, das auch abweichen kann von der „Normalitätsvorstellung“, die bewusst oder unbewusst in den Köpfen der Menschen herumspukt (übrigens aus guten Grunde).

Hintergrund der Artikel ist eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes – übrigens die erste des neuen Jahres: „Anstieg der Erwerbs­tätigkeit im Jahr 2013 verlangsamt„, so die Bundesstatistiker. Die weisen gleich am Beginn darauf hin, dass der Anstieg der Erwerbstätigenzahlen im Jahr 2013 allerdings nur noch halb so hoch ausgefallen ist wie in den beiden Jahren zuvor, was man auch der Abbildung entnehmen kann.

Neben der damit verbundenen abnehmenden Wachstumsdynamik auf dem Arbeitsmarkt muss eine nüchterne Analyse die hier zugrunde gelegte Basis für Beschäftigung – also die „Erwerbstätigkeit“ – einer kritischen Analyse unterwerfen. Denn diese Größe hat das Problem, dass sie sehr ungleiche Tatbestände eindampft auf einen statistisch Beschäftigten. Das kann aber in der Realität ein normal, also vollzeitig Beschäftigter sein genau so wie eine ausschließlich geringfügig, also auf 450-Euro-Basis, beschäftigte Person. Alles wird gleich 1 gesetzt, egal ob kleine Teilzeit oder volle Vollzeit.

Wenn man das weiß, dann wird man in einem ersten Schritt versuchen, eine nach Vollzeit und Teilzeit differenzierte Betrachtung vorzunehmen. Beschränken wir uns dabei auf die Arbeitnehmer, dann zeigt die zweite Abbildung die auseinanderlaufende Entwicklung seit 1991 auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Zahl der Teilzeit-Arbeitnehmer ist von 5,8 Mio. Personen im Jahr 1991 auf 12,8 Mio. im Jahr 2012 explodiert, während die Zahl der Vollzeit-Beschäftigten von 29,4 Mio. auf nur noch 24,3 Mio. im Jahr 2012 zurückgegangen ist.
Diese gespaltene Entwicklung manifestiert sich übrigens auch auf einer zweiten Betrachtungsebene – den Arbeitsstunden, mit denen das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen gemessen wird, und das differenziert nach Vollzeit und Teilzeit.

Man muss sich das vor Augen führen: Das Arbeitsvolumen, das über Vollzeit-Arbeitsplätze generiert wird, lag 2012 und liegt auch heute deutlich unter dem Niveau des Jahres 1991, während hingegen das teilzeitige Arbeitsvolumen einen ordentlichen Sprung nach vorne gemacht hat.
Hier zeigen sich fundamentale Verschiebungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die ich im November 2013 in dem Blog-Beitrag „Das deutsche „Jobwunder“ zwischen glücksuchenden Zuwanderern, tollen Kopfzahlen und der eigenen Realität an den Rändern, die immer weiter in die Mitte wachsen“  so beschrieben habe: »… in den letzten 20 Jahren (hat) die sozialversicherte Teilzeit kontinuierlich zugenommen, während die Zahl der Vollzeitplätze rückläufig war. So haben sich die Teilzeitjobs mehr als verdoppelt, während etwa drei Millionen Vollzeitjobs in diesem Zeitraum per Saldo verloren gingen.  Aktuell üben lediglich 69,5 Prozent aller Erwerbsfähigen noch eine sozialversicherte Beschäftigung aus, gegenüber 76,8 Prozent vor 20 Jahren. Einen sozialversicherten Vollzeitjob übt nur noch gut die Hälfte aller Erwerbstätigen aus, gegenüber einem Anteil von gut zwei Dritteln 20 Jahre zuvor.«

Insofern kann es nicht überraschen, dass wir aktuell hinsichtlich des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens  erst wieder auf dem Niveau angekommen sind, dass bereits bei der Jahrtausendwende vorhanden war – allerdings mit vielen „zusätzlichen Jobs“, wenn man diese nur an den Köpfen zählt.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, eine Teilzeitarbeit ist aber eben immer noch besser als gar keine Erwerbsarbeit. Das ist angesichts dessen, was wir wissen über die verheerenden Folgen erzwungener und nicht -freiwilliger Erwerbslosigkeit sicher auch absolut so. Aber eben nicht beispielsweise in unseren sozialen Sicherungssystemen, die in einem doppelten Sinne auf das Vollzeitarbeitsverhältnis fokussiert sind. Zum einen hinsichtlich der betroffenen Arbeitnehmer zumindest beim Arbeitslosengeld und vor allem bei der umlagefinanzierten Rente, denn hier wird die vorhergehende bzw. den gesamten Lebenslauf abbildenden Erwerbsbiografie überführt in die monetären Leistungen aus diesen Systemen. Zum anderen gilt die Fokussierung auf das Vollzeit(normal)arbeitsverhältnis auch deshalb, weil nur darüber ausreichend lohnbezogene Beitragsmittel generiert werden (können), um die Ausgaben refinanzieren zu können. Das wird zunehmend schwieriger und deshalb kommen die „klassischen“ Sozialversicherungssysteme auch immer stärker unter Druck, den man eben nur phasenweise überbrücken kann durch gleichfalls „klassische“ Sparmaßnahmen.

Fazit: Wir sehen in Deutschland ohne Zweifel eine  positive Erwerbstätigenentwicklung, die aber im Kern ein Produkt der expandierenden Teilzeit-Ökonomie darstellt. Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht gesprochen über das Thema Niedrig- und Niedrigstlöhne, vor allem in den Bereichen, aus denen positive Entwicklungen für den Arbeitsmarkt berichtet werden: den Dienstleistungen. Und wenn sich Zwangs- oder freiwillige Teilzeit paart mit niedrigen Löhnen, dann wird es aussichtslos für bestimmte Personengruppen. Und wir reden hier nicht über eine vernachlässigter kleinen Größenordnung. Jeder vierte deutsche Arbeitnehmer arbeitet zu einem Lohn, der im unteren Bereich angesiedelt ist. Drei von vier Betroffenen haben eine Berufsausbildung absolviert oder ein Studium.  Aber darüber kann man mit allgemeinen Phrasen gut hinwegdreschen und das Ende des arbeitsmarktlichen Abendlandes aufgrund von „sagenhaften“ Mindestlöhnen in Höhe von 8,50 Euro an die Wand malen.

Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt

Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben –  bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei. Derartige  Überlegungen in der Konzernzentrale werden durch Meldungen wie diese sicher befördert: »Mit Streiks im Weihnachtsgeschäft will Verdi die Unternehmensführung des Versandhändlers Amazon an den Verhandlungstisch zwingen«, berichtet Stefan Sauer in seinem Artikel „Verdi erhöht Druck auf Amazon„.

»Für den weltweit größten Versandhändler Amazon kommen die Arbeitsniederlegungen, zu denen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Montag in den Logistik-Zentren Bad Hersfeld und Leipzig aufrief, zur Unzeit.  Das Vorweihnachtsgeschäft ist längst angelaufen, die Zahl der Bestellungen erreicht Jahreshöchststände,  man ist auf reibungslosen Betrieb angewiesen.« Immerhin schwelt der Konflikt mit Amazon schon seit April dieses Jahres – und es gibt keine erkennbare Bewegung auf Seiten von Amazon. Bereits an 14 einzelnen Tagen hat ein Teil der Belegschaften in den beiden Verteilzentren Bad Hersfeld und Leipzig die Arbeit niedergelegt. Die Gewerkschaft kämpft um die Übernahme des hessischen Tarifvertrags für den Versandeinzelhandel, was das Unternehmen rundheraus ablehnt, weil man sich als Logistikdienstleister versteht und Tarifverträge sowieso nicht mag.

Der geforderte Einzelhandelstarif hätte deutliche Auswirkungen auf das Lohngefüge: »Immerhin liege der Tarif in der niedrigsten Lohngruppe für Ungelernte mit 11,69 um 10 Prozent über denen bei Amazon gezahlten Normallöhnen.  Das tarifliche Weihnachtsgeld von mindestens 1.250 Euro übersteige die von Amazon gewährten 400 Euro um mehr als das Dreifache.« Allerdings muss auch der Gewerkschaftssprecher einräumen, dass sich Amazon in den beiden letzten Jahren bewegt hat: »So stiegen die Löhne seit 2011 um 17 Prozent, zuletzt am 1. September  auf immerhin 10,01 Euro, Weihnachtsgeld werde überhaupt zum ersten Mal gezahlt.« Sicher auch ein Teil der Motivation auf Seiten von Amazon war und ist es dabei, der Gewerkschaftskampagne Wind aus den Segeln zu nehmen und das strukturelle Problem der Gewerkschaft gerade bei Amazon, genügend kampfbereite Mitglieder in den Belegschaften zu finden, zu verstärken bzw. wenigstens zu stabilisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass dort viele einen Job gefunden haben, die entweder aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen und/oder die um ihre Ersetzbarkeit in der Amazon-Maschinerie wissen. Bei Amazon in Bad Hersfeld ist nur ein Fünftel der Beschäftigen gewerkschaftlich organisiert. Hinzu kommt, dass Amazon stets in der Vorweihnachtszeit mehrere tausend Hilfskräfte zusätzlich einstellt, die an Arbeitskampfmaßnahmen kein Interesse haben, so Stefan Sauer in seinem Beitrag. Um den Ausflug in die aktuelle Frontberichterstattung abzurunden: Sauer weist in seinem Artikel drauf hin, dass es durchaus Alternativen gibt zu der Vergütung bei Amazon, »wenn etwa das Gehaltsniveau des weltweit zweitgrößter Versandhändlers, der Otto Group, erreicht würde.  Amazons größter Konkurrent mit weltweit 53.000 Mitarbeitern unterwirft sich nämlich seit Jahren dem Einzelhandelstarifvertrag – und bezahlt mittlerweile sogar mehr. Das Credo der Hamburger lautet: Gut bezahlte Mitarbeiter sind motivierte Mitarbeiter und die nützen dem Unternehmen.«

Das Thema Arbeitsbedingungen umfasst aber nicht nur die Lohnfrage. Dazu sei hier auf ein interessantes Interview mit dem französischen Journalisten Jean-Baptiste Malet hingewiesen, das unter dem Titel „Die Roboter von Amazonien“ veröffentlicht worden ist. Der 26-Jährige hat sich für mehrere Wochen als Arbeiter ins Amazon-Versandlager von Montélimar geschleust. „Work hard. Have fun. Make history“, so lautet der Slogan, der in allen Amazon-Lagerhallen der Welt plakatiert ist, wobei lediglich der erste Teil zutreffend sei. Malet sieht ein totalitäres Arbeitssystem, das wir allerdings auch aus anderen US-amerikanischen Unternehmen kennen mit dieser eigenartigen künstlich hergestellten bzw. erzwungenen Laune:

»Vor Arbeitsbeginn feuern die Manager die Arbeiter in euphorischen Reden an, „sich selbst zu übertreffen“. Sie sollen „Top Performer“ werden, denen dann alle applaudieren müssen. Und all das, obwohl es sich um eine anstrengende, unangenehme, unqualifizierte Arbeit handelt, die man nur sehr schwer länger als fünf Jahre durchhält.«

Die »Produktivität (der Arbeitnehmer) wird gespeichert. Und sie erhalten schriftliche Mahnungen, wenn sie sich nicht mehr steigern. Sie werden vorgeladen und müssen über ihre vermeintliche Langsamkeit Rechenschaft ablegen – oder gleich ihre Sachen packen … Die Arbeiter werden ständig überwacht – durch einen kleinen Scancomputer, mit dem sie die Waren einlesen und die Standorte der Artikel abfragen. Die Maschine hängt an einem WLAN-Netzwerk und teilt dem Chef die exakte Position jedes Arbeiters mit. Auch der Arbeitsrhythmus und die Produktivität werden sekundengenau aufgezeichnet.«

Malet beschreibt seinen befristeten Arbeitsalltag bei Amazon so:

»Es gibt dort zwei Arten von Jobs: Die „Picker“ sammeln die verschiedenen Produkte ein, die die „Packer“ dann einpacken. Ich habe als Picker in der Nachtschicht gearbeitet, von 21.30 Uhr bis 4.50 Uhr bin ich oft mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Mein Stundenlohn lag bei 9,72 Euro brutto. Vor jeder Schicht kündigten die Manager die Produktivitätsziele an, im Schnitt sollte ich zwischen 120 und 130 Artikel pro Stunde erreichen.«

Die folgenden Ausführungen von Malet geben einen tieferen Einblick in diese „neue Arbeitswelt“, die irgendwie uralt daherkommt:

»Man begegnet nicht mehr wirklich Kollegen, sondern abgestumpften Robotern, die aussehen wie Menschen. Amazon verwendet das sogenannte 5S-Management in seinen Lagern. Dieses System stammt aus Japan und lässt sich auf Deutsch mit 5A übersetzen: Aufräumen, Aussortieren, Anordnungen befolgen, Arbeitsplatz sauber halten – und „Anomalien signalisieren“. Das kann ein Karton sein, der einen Eingang verstopft – aber auch zwei Kollegen, die die Regeln missachten. Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt. Sie ist ein Mittel, um in der Hierarchie aufzusteigen. Das vergiftet das Klima unter den Arbeitern total …«

Malet wird in dem Interview natürlich auch konfrontiert mit dem berühmten Arbeitsplatz-Argument, Amazon schaffe doch Beschäftigung und dann nicht selten auch für Menschen, die vorher arbeitslos waren.

»Jedes Mal, wenn Amazon bei einer Lagereröffnung lokal Stellen „schafft“, zerstört das Unternehmen gleichzeitig unzählige Arbeitsplätze im traditionellen Handel der Umgebung. Meine Studien zeigen, dass Amazon für dieselbe Anzahl an verkauften Büchern 18-mal weniger Arbeiter braucht als ein unabhängiges Buchgeschäft.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, ja, schlimme Entwicklungen da in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, aber wir haben doch so viele schöne Jobs für die mit den weißen Kragen, die in klimatisierten Büros arbeiten dürfen, auf deren Work-Life-Balance Rücksicht genommen wird, denen man PE-Maßnahmen und sogar zunehmend Gesundheitsmanagement zukommen lässt. Also die schöne Seite der modernen Arbeitswelt. Wer sich hier etwas irritieren lassen will, der möge sich den lesenswerten Artikel „Willkommen in der Bürofabrik“ von Dieter Schnaas anschauen: »Der Fortschritt ist keine Schnecke, sondern ein Huhn – meinen Forscher, die unter “Office Innovation” die Unterbringung ihrer Mitarbeiter in “Bürolandschaften mit Raumgliederungselementen” verstehen.« Schnaas spricht zutreffend von einer „Proletarisierung der Büroarbeit“ und sinniert über die Zukunft geistiger Legebatterien. Mit einem semantischen Zynismus macht der Verfasser eine tour d’horizon durch die angeblich schöne neue Büro-Arbeitswelt. Aber vorweg zu den Grundlagen:

»Heute …, nach dem Fall der Mauer und dem Vergehen der Sowjetunion, hält sich der zivilisierte Teil der Menschheit im ideologischen Abklingbecken auf, frisch geimpft mit dem kosmopolitischen Geist von Good Governance, Globalization und Green Sustainability – und vertraut auf andere, auf strahlend weiße Fortschrittskonzepte, wie sie etwa liberale Ökonomen, Amazon-Apple-Designer, Genetiker und Reproduktionsmediziner propagieren. In diesen Konzepten ist viel von der Entfesselung kreativer Kräfte die Rede und von der Bildung, Pflege und Vermehrung des  Humankapitals, von den wunderbaren Möglichkeiten des präimplantationstechnischen Feintunings und den Segnungen algorithmischer Assistenzsysteme, die uns kognitiv entlasten, indem sie uns die schöne, neue Konsumwelt unseren Vorlieben gemäß, wie auf dem Tablett servieren. Diese Konzepte erzählen uns von digital-individuellen, selbstbestimmten, unternehmerischen Café-Latte-Personen, die viel auf ihre Flexibilität halten – und von jungen Arbeitsathleten, für die “die Vereinbarkeit von Familie und Beruf” ein Kinderspiel ist, weil ein Laptop überall da und jederzeit plug-and-play-bereit ist, wo sich der ursprünglich petrischal aufgezüchtete Nachwuchs gerade effektiv frühbildet.«

Nach dieser semantischen Aufwärmphase wird der Verfasser konkreter: Das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart beherbergt ein “multidisziplinäres Forscherteam” im “Competence Center Workspace Innovation” an Konzepten zur Optimierung unserer Arbeitswelten. Und was sagen die zum „Büro der Zukunft“? »Das Büro der Zukunft zeichne sich durch “kollaborative Arbeit in Teambüros”, “räumliche  Flexibilität bei der Arbeitsplatzauswahl”, durch “Bereiche, die zur Kreativität anregen und Inspiration ermöglichen” und durch “Zonen” aus, in denen “Recreation bereitgestellt” wird.« Hört sich doch toll an.
Schnaas hat eine andere Lesart parat:

»Ins Normaldeutsche übersetzt heißt das: Großraumbüros ohne festen Arbeitsplatz,  aber mit geteilter Chaise-Lounge für den gezielten Geistesblitz und mit Ruhebezirken für den effektiven Fünf-Minuten-Schlaf sind so ziemlich genau das, was sich deutsche Spitzenforscher unter dem “Büro der Zukunft” vorstellen.«

Schnaas arbeitet sich ab an einem knapp vierminütigen Werbefilm für die Bürowelt der Zukunft aus dem „Office Innovation Center“ – und er weiß erst einmal nicht wohin mit seiner Fassungslosigkeit:
»Die gleichzeitige Verheiligung des kreativ arbeitenden Individuums und seine totale Degradierung zu einem Kosten- und Produktionsfaktor, zu einer zahlenhaften, vermessbaren, buchhalterischen Größe, machen einen schier sprachlos.«

Seine Fassungslosigkeit bezieht sich vor allem darauf, dass auf die Entproletarisierung der Arbeiterschaft nun die Proletarisierung der Büroarbeit folgen soll. Denn darum gehe es doch ei der »Implementierung von Kollektivarbeitsflächen: um die Standardisierung von Denkprozessen zur Erzielung von Skaleneffekten, um das Heben von Produktivitätsreserven durch das Ausmerzen von Störfaktoren. Anders gesagt: Früher, im Industriekapitalismus, ging die körperliche Gesundheit der Arbeiter vor die Hunde. Heute, im Wissenskapitalismus, dem linierte Fachkompetenz heilig und Bildung ein Gräuel ist, geht der Geist zugrunde.«

Nun will er den Stuttgarter Forschern kein Unrecht tun und weist darauf hin, dass das eine oder andere Einzelbüro, in dem “konzentriertes selbständiges Arbeiten” möglich ist, durchaus vorgesehen sei. Aber auch hier schnell wieder Wasser in den Wein, wir ahnen es schon: Diese Einzelbüros sind exklusiv für besonders funktionelle Mitarbeiter reserviert. Auch hier wieder eine gelungene Kommentierung:

»Es sind Spitzenkräfte, die Subordinierten den  Aufbau gutnachbarschaftlicher Verhältnisse empfehlen und sie beim Herausgehen bitten, doch freundlichst die Türe zu schließen. Es sind Chefs, die viel von den Vorzügen “flacher Hierarchien” halten, solange sie die Funktionstüchtigkeit des Großraumheeres erhöhen – und solange ihre eigene Befehlsgewalt  einen büroräumlich-stattlichen Ausdruck findet.«

Der Liberale Dieter Schnaas regt sich auf – und zwar über die

»… Unverschämtheit, mit der die “liberale Elite” wochentags das Gegenteil von dem exekutiert, von dem sie sonntags unredlich spricht. Sie redet gern in höchsten Tönen von der “Freiheit des Individuums” – und richtet es im Arbeitsalltag zu einem möglichst monoton schnurrenden Wegarbeiter ab. Nachdenken, Zögern, Zaudern, das alles sind für einen ausgezeichneten Büroproletarier keine Qualitäten, sondern Funktionsstörungen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die “cubicle offices” als “trading rooms” besonders von Finanzdienstleistern geschätzt werden: Die Börsen sind heute ja geradezu sprichwörtlich als exklusive Bezirke definiert, in denen die Mitarbeiter auf alles Menschliche (Gefühle) verzichten, um die Optimierung abstrakter Zwecke auf die Profitspitze zu treiben.«

Ein ätzender, aber zutreffender Text. Wer das, was Schnaas hier angesprochen hat, auf einer visuellen Ebene braucht, dem sei an dieser Stelle ganz besonders der Film „Work Hard – Play Hard“ von Carmen Losmann (2011) empfohlen, der in eindringlichen Bildern den Terror, weil Menschenfeindlichkeit „moderner“ Arbeitswelten anzuleuchten versucht.