Um es gleich voran zu stellen: Es gibt nicht lösbare Dilemmata. Man kann und muss sich diese bewusst machen, aber man wird das eine nicht zugunsten des anderen aufheben können und umgekehrt. Die Armutsforschung und gerade die armutspolitische Debatte wären hier als Beispiel zu nennen: Da gibt es zum einen den Blick von oben auf die großen Zahlen, mit denen man versucht, eine überaus komplexe und zugleich immer viele Einzelfälle umfassende gesellschaftliche Problematik wie „die“ Armut quantitativ abzubilden. Das führt dann nicht nur zu den immer wiederkehrenden und letztendlich nicht beantwortbaren Fragen nach dem Muster: Wie viele Menschen sind denn nun arm? Sondern auch zu einem unvermeidbaren methodischen Streit, ob man überhaupt Armut richtig misst, was dann gerne im politischen Streit über die Zahlen instrumentalisiert wird. Wir haben das jüngst erst wieder erleben müssen im Umfeld des nach langen Geburtswehen veröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Und zum anderen sind da Millionen Einzelfälle, bei deren genauerer Betrachtung jedem klar wird, dass wir mit Armut und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben konfrontiert sind – und jeder der davon Betroffenen kann sich aber auch gar nichts davon kaufen, dass es „uns“ angeblich immer besser geht oder gar, dass es bei uns doch eigentlich gar keine „richtige“ Armut geben würde. Mit diesem Dilemma sind nicht nur wir konfrontiert – sondern auch die Menschen in Österreich.
Altersarmut
Die imaginären Standardrentner-Werte werden gefoltert, bis sie gestehen. Drohende Altersarmut wird weggerechnet
Die rentenpolitische Diskussion hat in den vergangenen Monaten wieder an Fahrt aufgenommen. Dabei wurde – auch durch Kampagnen aus dem gewerkschaftlichen Lager befeuert – das Augenmerk auf das weiter sinkende Rentenniveau gelenkt. Immer offensichtlicher wird auch dem normalen Bürger, mit was für einer gewaltigen Mechanik er es zu tun bekommt, wenn man sich die bestehende Rentenformel zu Gemüte führt und sie dahingehend befragt, was denn für eine Rente zu erwarten ist, wenn man sie so lässt, wie sie ist und zugleich die vor vielen Jahren beschlossene Absenkung des Rentenniveaus nicht korrigiert. Aber jeder Eingriff im Sinne eines Aufhaltens oder gar einer Umkehrung der Niveauabsenkung würde Geld kosten. Und da überrascht es angesichts eines umlagefinanzierten und aus lohnabhängigen Beiträgen gespeisten Systems nicht, wenn interessierte Kreise genau das verhindern wollen. Da trifft es sich immer gut, wenn man Schützenhilfe aus dem wissenschaftlichen Raum bekommt, die man ins Feld führen kann, wenn es um die erkennbar gestiegene Besorgnis einer zunehmenden Altersarmut aufgrund der Konstruktionsprinzipien der gegenwärtigen gesetzlichen Rentenversicherung geht.
Arm und Reich gehen getrennte Wege. Zunehmende Einkommensungleichheit, ansteigendes Armutsrisiko und die besondere Rolle der zunehmenden Lohnungleichheit
Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte in Deutschland sind von 1991 bis 2014 real, also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, um zwölf Prozent gestiegen. Das hört sich gut an. Wie immer sollte man aber genauer hinschauen, vor allem, wenn mit Durchschnitten gearbeitet wird. Das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gemacht und herausgekommen ist dieser Befund: Zum einen war der Anstieg der verfügbaren Haushaltseinkommen deutlich geringer als der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in diesem Zeitraum, das real um 22 Prozent zugelegt hat. »Die Entwicklung verlief jedoch je nach Einkommensgruppe sehr unterschiedlich: Während die mittleren Einkommen um mehr als acht Prozent stiegen, legten die höchsten Einkommen um bis zu 26 Prozent zu. Die unteren Einkommen gingen hingegen real zurück«, so Markus M. Grabka und Jan Goebel in ihrer Studie Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit. Die ärmsten zehn Prozent der Haushalte mussten in den untersuchten Jahren von 1991 bis 2014 einen Einkommensverlust von acht Prozent hinnehmen. Dabei ergaben sich auch erste Anzeichen für eine wieder steigende Einkommensungleichheit. Diese war zunächst zwischen 1991 und 2005 gestiegen und stagnierte in den Jahren 2005 bis 2013 auf diesem Niveau, berichtet das DIW über die Studienergebnisse.
„Sozialpopulismus“? Wenn der Generalsekretär der Caritas positives Denken einfordert und zugleich viele Arbeitnehmer in Richtung Grundsicherung im Alter marschieren müssen
Um das gleich an den Anfang dieses Beitrags zu stellen: Sozialpolitik ist Politik und die ist niemals „wertfrei“, „objektiv“, „neutral“ – sie kann es nicht sein. Die Ambivalenz von Sozialpolitik kann man daran verdeutlichen, dass sie einerseits immer höchst normativ sein muss, was man schon daran erkennen kann, dass eine der wichtigsten Bauelemente jeder Sozialpolitik ein bestimmtes Menschenbild ist, ob nun bewusst oder eher unbewusst, dass dem (Nicht-)Handeln zugrunde gelegt wird. Zum anderen aber haben sozialpolitische Maßnahmen immer auch eine funktionale Dimension, beispielsweise die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in einer Gesellschaft, die selbst von denen zugestanden werden muss, die sich auf der Sonnenseite des Lebens befinden und denen ansonsten die Lebenslagen der unteren Hälfte der Gesellschaft völlig egal sind.
Im öffentlichen Diskurs gibt es nun hinsichtlich der sozialpolitischen Themen eine gewisse Aufgabenteilung, die sich zuweilen auch reflexhaft verfestigt hat. Da sind dann beispielsweise „die“ Wohlfahrtsverbände, die für sich selbst eine „Anwaltsfunktion“ reklamieren. Und die dann oftmals von der Gegenseite zu hören bekommen, sie würden soziale Probleme „dramatisieren“bzw. „skandalisieren“, um sich im Kampf um mediale Aufmerksamkeit zu positionieren – oder gar, sie würden das nur machen, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, die mit ihren Einrichtungen und Diensten verbunden sind, abzusichern.
Das sinkende Rentenniveau mal auf bayerisch. Haltelinien mit „Schummelsoftware“ modelliert. Und die private Altersvorsorge bröckelt weiter
In der rentenpolitischen Diskussion wird von den kritischen Geistern völlig zu Recht auf die zentrale Stellschraube Rentenniveau hingewiesen, das sich bekanntlich seit Jahren auf der Rutschbahn nach unten befindet (vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag Das Rentenreformdiskussionskarussell dreht sich. Die Umrisse der Folgen einer hilflos-konfusen Rentenpolitik werden erkennbar vom 1. November 2016 sowie den Beitrag Das große Durcheinander um Rentenniveau, Niveau der Renten, Rente als Wahlkampfthema. Und eine rechnerische Gewissheit mit fatalen Folgen vom 8. Oktober 2016). Man kann es hin und her wenden wie man will – wenn man an dieser Stellschraube nicht zu korrigieren gedenkt, dann wird es für einen Teil der Altersrentner mehr als zappenduster aussehen.
Und die Einschüsse in Richtung auf eine deutlich steigende Altersarmut (ja, nicht bei allen, aber bei vielen von denen, die nicht nur im Erwerbsleben das Pech hatten, überschaubare oder niedrige Verdienste zu haben, sondern die auch keine anderen spürbaren Einkommensquellen im Alter ihr eigen nennen können), kommen näher. Schauen wir dazu in den die Tage vom DGB Bayern veröffentlichten Rentenreport Bayern 2016, also einem Bundesland, das sicher nicht als Armenhaus der Republik charakterisiert werden kann.