Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte in Deutschland sind von 1991 bis 2014 real, also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, um zwölf Prozent gestiegen. Das hört sich gut an. Wie immer sollte man aber genauer hinschauen, vor allem, wenn mit Durchschnitten gearbeitet wird. Das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gemacht und herausgekommen ist dieser Befund: Zum einen war der Anstieg der verfügbaren Haushaltseinkommen deutlich geringer als der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in diesem Zeitraum, das real um 22 Prozent zugelegt hat. »Die Entwicklung verlief jedoch je nach Einkommensgruppe sehr unterschiedlich: Während die mittleren Einkommen um mehr als acht Prozent stiegen, legten die höchsten Einkommen um bis zu 26 Prozent zu. Die unteren Einkommen gingen hingegen real zurück«, so Markus M. Grabka und Jan Goebel in ihrer Studie Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit. Die ärmsten zehn Prozent der Haushalte mussten in den untersuchten Jahren von 1991 bis 2014 einen Einkommensverlust von acht Prozent hinnehmen. Dabei ergaben sich auch erste Anzeichen für eine wieder steigende Einkommensungleichheit. Diese war zunächst zwischen 1991 und 2005 gestiegen und stagnierte in den Jahren 2005 bis 2013 auf diesem Niveau, berichtet das DIW über die Studienergebnisse.
Erwerbstätigkeit schützt zwar nach wie vor am effektivsten gegen Einkommensarmut, allerdings sind auch immer mehr erwerbstätige Personen armutsgefährdet, so ein weiterer Befund aus der Studie. Menschen gelten dann als von Armut bedroht, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung haben. Im Jahr 2014 traf dies den in der Studie verwendeten SOEP-Daten zufolge auf 12,7 Millionen Menschen in Deutschland zu – knapp 16 Prozent der Bevölkerung. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche: 20 Prozent von ihnen sind von Armut bedroht.
Die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen – gemessen am Gini-Koeefizienten – hatte sich von 1991 bis 1999 kaum verändert, so Grabka/Goebel in ihrer Studie. In den Jahren von 1999 bis 2005 gab es dann einen starken Anstieg. Im Gegensatz zu den Markteinkommen war die Ungleichheit bei den verfügbaren Haushaltseinkommen von 2005 bis 2009 nur leicht rückläufig. Seit 2009 nimmt sie tendenziell wieder zu.
Auch das 90:10-Perzentilverhältnis, ein anderes Maß zur Messung von Ungleichheit, zeigt eine deutliche Zunahme, gemessen am verfügbaren Haushaltseinkommen.
Seit 1999 ist das reale verfügbare Einkommen der unteren 40 Prozent in Deutschland zurückgegangen, so auch der Hinweis bei Stephan Kaufmann in seinem Artikel Arme Haushalte verlieren immer mehr, Gutverdiener profitieren. Die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Entwicklung können gar nicht gering genug eingeschätzt werden – vgl. dazu die weiterführenden Hinweise in diesem Blog-Beitrag vom 16. März 2016: Wenn Ungleichheit und sogar Armut zum Top-Thema werden, weil Ökonomen sich der Sache annehmen. Bedenkenswerte Aspekte einer ökonomischen Kritik der Ungleichheit und ihre Grenzen.
Unterdessen sind auch mehr Menschen von Armut bedroht – gemessen am der offiziellen Armutsgefährdungsquote, also wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens hat. 12 Millionen Menschen seien das 2014 gewesen. Die Berechnungen des DIW basieren auf dem SOEP – auch die amtliche Sozialberichterstattung des Statistischen Bundesamtes informiert über Armutsgefährdungsquoten, auf Basis von Mikrozensusdaten. Die sind etwas niedriger als die DIW-Daten (weil das DIW auch den Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums zur Einkommensmessung bei der Einkommensberechnung berücksichtigt). Auf die seit langem bekannte überdurchschnittliche Betroffenheit von Armut bei Kindern und Jugendlichen wurde schon hingewiesen. Weitere Auffälligkeiten, die man der DIW-Studie entnehmen kann: Bemerkenswert ist der Anstieg des Armutsrisikos von Menschen im Rentenalter in Ostdeutschland. Von 2002 bis 2014 hat es sich von sieben auf 15 Prozent mehr als verdoppelt und ist nun höher als in Westdeutschland, wo das Armutsrisiko im selben Zeitraum zwischen zwölf und 14 Prozent schwankte. Dazu berichtet das DIW:
»Dass das Armutsrisiko in den neuen Bundesländern mittlerweile höher ist, war zu erwarten und rührt in erster Linie daher, dass in den vergangenen Jahren vermehrt Personen in den Ruhestand eingetreten sind, die aufgrund längerer Phasen von Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung geringere Altersbezüge erhalten als frühere Rentnerinnen und Rentner. Hinzu kommt, dass die betriebliche oder private Altersvorsorge in Ostdeutschland eine eher geringe Rolle spielt.«
Und ein weiterer Punkt wird hervorgehoben: »Am stärksten ist der Anteil der durch Armut Gefährdeten in der Gruppe der 25- bis unter 35-Jährigen gestiegen: in den Jahren 1994 bis 2014 um fast neun Prozentpunkte bis auf knapp 21 Prozent. Zwar muss man berücksichtigen, dass sich das Bildungsverhalten mit der Zeit verändert hat und immer mehr junge Menschen in dieser Altersgruppe studieren. Allerdings sind auch jene Personen in diesem Alter, die ein Erwerbseinkommen beziehen, zu einem um sieben Prozentpunkte höheren Anteil von Einkommensarmut betroffen als 20 Jahre zuvor.«
Die Zunahme der Armutsgefährdung in dieser Gruppe sollte im Zusammenspiel mit der Ungleichheitszunahme nicht nur zuungunsten der untersten, sondern bis hinein in die mittleren Einkommensgruppen als besonders problematisch erkannt werden.
Das muss natürlich auch im Kontext einer zunehmenden Lohnungleichheit gesehen werden. An dieser Stelle passt der Hinweis auf eine andere neue Studie, die in diesen Tagen vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen veröffentlicht wurde:
➔ Thomas Haipeter (2017): Lohnfindung und Lohnungleichheit in Deutschland. IAQ-Report 2017-01, Duisburg: Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ), Januar 2017
Darin wird berichtet: Die Lohnentwicklung der letzten beiden Jahrzehnte zerfällt in zwei Phasen, rückläufige Löhne bis zur Finanzmarktkrise und einen tendenziellen Lohnanstieg danach, der aber den Einbruch der Lohnquote nicht vollständig auffangen konnte. Und dann der hier besonders wichtige Punkt aus der Zusammenfassung der IAQ-Studie:
»Die Lohnungleichheit in Deutschland hat in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen. Am unteren Rand der Lohnskala finden sich immer mehr Beschäftigte in prekären und niedrig bezahlten Tätigkeiten, und am oberen Ende der Lohnskala konnten die Beschäftigten in hochqualifizierten Tätigkeiten und Führungspositionen (und insbesondere die Top-Manager in den Vorstandsetagen) teilweise hohe Einkommenszuwächse erzielen. Der Reallohnrückgang vor der Finanzmarktkrise zeigt, dass der Nettoeffekt dieser Entwicklungen für die abhängig Beschäftigten insgesamt in dieser Phase negativ war.
Eng damit zusammen hängen die Fragmentierungs- und Erosionstendenzen der Tarifregulierung, dem Zentrum der Lohnkoordinierung in Deutschland. Die Tarifbindung nimmt stetig ab; inzwischen ist nur noch die Hälfte der Beschäftigten überhaupt im Geltungsbereich der Flächentarifverträge. Die tarifvertragsfreien Zonen mit niedrigeren Entgelten breiten sich aus. Zudem funktioniert die Lohnkoordinierung zwischen den Branchen nicht mehr; die Lohnentwicklung zwischen den organisationsstarken Industriebranchen und den Dienstleistungsbranchen entkoppelt sich zunehmend. Und schließlich werden auch die Tarifverträge selber poröser; Tarifabweichungen auf der einen und Auslagerungen von Tätigkeitsbereichen auf der anderen Seite sorgen dafür, dass Entgeltniveaus auch und gerade im Kernbereich des Industriesektors durchlöchert werden und abnehmen … Der Staat hat zwar mit dem gesetzlichen Mindestlohn die Lohnerosion nach unten begrenzen können, für eine umfassende Koordinierung kann er hingegen nicht sorgen. Dies bleibt Aufgabe der Tarifvertragsparteien.« (Haipeter 2017: 21 f.)
In diesem Zusammenhang passt dann auch der Hinweis auf den WSI-Verteilungsbericht 2016, der unter der Überschrift „Soziale Mobilität nimmt weiter ab“ veröffentlicht wurde. Die Einkommensverteilung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verfestigt. Vor allem in Ostdeutschland ist die Durchlässigkeit zwischen Einkommensklassen seit der Wiedervereinigung stark rückläufig. Die Einkommensreichen können sich ihrer gehobenen sozialen Lage immer sicherer sein. Wer hingegen einmal arm ist, für den wird es immer schwieriger, diese defizitäre Situation zu überwinden. Immer mehr Menschen werden so dauerhaft an den Rand der Gesellschaft gedrängt, so das WSI.
In kaum einem anderen OECD-Land seien die Chancen, aus den niedrigeren Einkommensgruppen aufzusteigen so schlecht wie in Deutschland, heißt es in der Studie. „Die Verfestigung der Armut ist besonders problematisch, denn aus der Forschung wissen wir: Je länger eine Armutssituation andauert, desto stärker schlägt sie sich auf den Alltag durch“, so die Studienautorin Dorothee Spannagel. »Zwischen 1991 und 1995 schafften es in Gesamtdeutschland rund 47 Prozent der Armen, in die untere Mitte aufzusteigen. Von 2009 bis 2013 gelang dies nur noch 36 Prozent. Auch für Personen direkt oberhalb der Armutsgrenze sind die Aufstiegschancen gesunken, während ihr Risiko, in Armut abzurutschen, gewachsen ist – und zwar ungeachtet der guten Konjunktur, der Reallohnzuwächse und der Rekordbeschäftigung«, so eine Zusammenfassung des Berichts.
Das alles verheißt nichts Gutes für die offensichtlich zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen in unserem Land.