„Abrechnung“ mit einer, die schon weg ist und der Blick in ein unaufgeräumtes Politikfeld: Familienpolitik aus Sicht von Wirtschaftsforschern

Jahrelang wurde im Auftrag der Bundesregierung – schon begonnen von der damaligen Bundesfamilienministerin von der Leyen und fortgeführt von der noch, aber eigentlich schon nicht mehr Ministerin Schröder – von Wissenschaftlern an der Frage herumgedoktert, wie denn die vielen Maßnahmen und Leistungen der Familienpolitik einzuordnen seien, wie man sie zu bewerten hat. Und kurz vor der Wahl wurden dann die Schlussfolgerungen der Bundesregierung aus den vielen daraus entstandenen Studien gezogen und man verkündete der Öffentlichkeit verzückt, dass alles in Ordnung sei in der Familienpolitik und alle relevanten Leistungen irgendwie wirken und ihren Sinn haben. Das wiederum irritierte einen Teil der Wissenschaftler, die sich missverstanden fühlten und nun mit einer Art Gegendarstellung an die Öffentlichkeit getreten sind – nach der Bundestagswahl, was aber nicht per se gegen sie spricht, denn sie haben sich mit Leistungen beschäftigt, die hinsichtlich ihrer Einordnung von einer grundsätzlichen Bedeutung sind.

Die Medien haben das sofort aufgegriffen und in griffige Headlines verpackt – so auf Spiegel Online Lisa Erdmann und Annett Meiritz mit der Überschrift „Experten gegen Kristina Schröder: Fünf Ideen für eine bessere Familienpolitik„. Die beiden sprechen von einem »Tag der Revanche. Mehr als drei Monate haben die Forscher der Institute DIW, Ifo und ZEW darauf gewartet. Nun, kurz vor Ende der schwarz-gelben Koalition, präsentierten die Wirtschaftsforscher ihre Bilanz der Familienpolitik – und die bezeichnen sie an vielen Stellen als verfehlt. Um die Studie hatte es im Sommer Streit gegeben, denn Familienministerin Kristina Schröder hatte bei der Präsentation von Teilen des Gutachtens die Ergebnisse dreist geschönt, zum Teil sogar ins Gegenteil verkehrt.«

Hintergrund der Berichterstattung: Die Wirtschaftsforschungsinstitute DIW, ifo und ZEW haben ihre zentralen Resultate aus der Gesamtevaluation familienbezogener Leistungen vorgestellt. Die Pressemitteilung des DIW dazu ist kompakt überschrieben mit „Lehren aus der Gesamtevaluation der Familienpolitik: Kita-Ausbau und Elterngeld schneiden am besten ab„. Die Wissenschaftler haben die wichtigsten der insgesamt 156 Instrumente der deutschen Familienpolitik im Hinblick auf fünf Ziele untersucht: die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität der Familien, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die frühe Förderung von Kindern, die Erfüllung von Kinderwünschen und den Nachteilsausgleich zwischen den Familien. Dabei sind sie zu der nicht überraschenden Erkenntnis gekommen, dass die meisten Maßnahmen und Leistungen wenn, dann nur einzelne Ziele adressieren, oftmals andere der genannten Ziele konterkarieren.

So erhöht das Ehegattensplitting für manche Familien kurzfristig zwar das Haushaltseinkommen, ist aber der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht zuträglich. Deutlich besser schneiden die öffentlich finanzierte Kindertagesbetreuung und das Elterngeld ab. Sie verursachen keine oder kaum Zielkonflikte und sollten demzufolge ausgebaut werden, so kann man es in der Pressemitteilung des DIW lesen. Wer die ganze Argumentation nachvollziehen möchte, dem sei dieser Artikel empfohlen:

Holger Bonin, Anita Fichtl, Helmut Rainer, C. Katharina Spieß, Holger Stichnoth, Katharina Wrohlich: Zentrale Resultate der Gesamtevaluation familienbezogener Leistungen, in: DIW Wochenbericht, Heft 40/2013

Erdmann und Meiritz fassen die wichtigsten Punkte in ihrem Beitrag gut zusammen:
Kita-Ausbau hat oberste Priorität; Ganztagsschulen helfen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das Elterngeld ist gut, aber reformbedürftig; das Ehegattensplitting muss überarbeitet werden und schlussendlich: höheres Kindergeld ist Quatsch.

Und weiter können wir zu der Sichtweise der Wissenschaftler lesen: »Sie sehen den Schlüssel in einer guten, qualitativ hochwertigen und bezahlbaren Kinderbetreuung. Eine „Steigerung der Betreuungsquote für unter dreijährige Kinder“ bewirke „eine statistisch signifikante Erhöhung der Geburtenrate“, schreiben sie. Auch beim Elterngeld sehen sie entsprechende positive Effekte.« Das richte sich – so die beiden Autoren des Spiegel Online-Artikels – gegen die Position der Noch-Bundesfamilienministerin Schröder, denn die habe den Standpunkt eingenommen: „Ich bin sehr skeptisch, dass man Fertilität mit politischen Maßnahmen steuern kann“. Ohne die scheidende Ministerin hier in Schutz nehmen zu wollen, aber so ganz falsch ist das natürlich nicht. Was sie aber nicht sieht ist die Tatsache, dass im Ergebnis das Zusammenspiel der vielen Signale, die gerade an die (potenziellen) Mütter ausgesendet werden und die handfesten, nicht selten als familien- und vor allem kinderunfreundliche Strukturen die Entscheidungen beeinflussen können. Insofern kann dem Petitum der Wirtschaftsforscher, was beispielsweise den Stellenwert einer möglichst hochwertigen Kindertagesbetreuung angeht, nur zugestimmt werden – wohl aber wissend, dass auch das beste Betreuungsangebot möglicherweise nur eine geringe Auswirkung haben wird auf die „Fertilitätsrate“, was für ein unerotisches Wort. Wenn man beispielsweise berücksichtigt, dass viele Frauen, die zwar einen Kinderwunsch im Grunde äußern, aber keine haben, auf die Frage nach dem Warum an erster Stelle eben nicht fehlende Kinderbetreuung äußern, sondern man habe bislang eben noch keinen Partner gefunden, mit dem man sich das Kinderkriegen vorstellen kann, dann wird klar, dass es sehr schwer sein wird, die Geburtenrate durch irgendwelche Leistungen zu steigern. Auf das gesellschaftliche Klima kommt es an.

Bei aller Sympathie für die Forderungen der Wissenschaftler nach einem Ausbau qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung – sie folgen in ihrer Argumentation einer Philosophie, die man mögen kann, die aber nicht ohne Fragezeichen stehen gelassen werden kann: Ihr Plädoyer lässt sich weitgehend eindampfen auf die Forderung „Infrastruktur statt Geld“. So schreiben die Forscher zum Punkt Kindergeld nicht erhöhen: »Für Kindergeld und Kinderfreibeträge gibt der Staat jährlich fast 40 Milliarden Euro aus. Diese Maßnahmen, so stellen die Forscher fest, tragen zwar erheblich zur finanziellen Stabilität von Familien bei. Junge oder zukünftige Eltern können sich auf insgesamt rund 65.000 Euro freuen, auf die sich Kindergeld oder Kinderfreibetrag im Durchschnitt summieren. Sie bewirken jedoch hauptsächlich einen Einkommenseffekt und erhöhen den Wohlstand vor allem bei Familien im mittleren oder oberen Einkommensbereich.«

Sie erwecken den Anschein bzw. sie zielen darauf, dass man das eine gegen das andere in Stellung bringen könne. Aber was sie kritisieren, sind Umverteilungseffekte von Geldleistungen, die wie das Kindergeld eben nicht einkommensabhängig wie viele andere Leistungen sind. Nur am Rande – das bestehende System produziert verteilungspolitisch die skurrilsten Effekte: Kinder der reichen, dadurch auch viele Steuern zahlende  Oberschicht und oberen Mittelschicht bekommen anteilig gesehen durch das System der Kinderfreibeträge mehr für ihre Kinder als die Mutter an der Kasse eines großen Discounter.

Allerdings – und dafür wird hier geworben – sollte man nun nicht auch wieder das Kind mit dem Bade ausschütten, denn die Formel „Infrastruktur statt Geldleistungen“ ist verkürzt, blendet sie die vielen materiellen Probleme in den Familien im unteren Einkommensbereich zumindest teilweise einfach aus. Sinnvoller wäre die Überlegung, eine Kindergrundsicherung einzuführen, die den materiellen Sorgen vieler älterer Menschen im unteren Einkommensbereich entsprechen könnte, während zugleich die oberen Einkommensgruppen durch die Versteuerung der Kindergrundsicherung bis zum Stand dessen, was sie heute schon an Kinderfreibeträgen bekommen, nicht weiter zusätzliche Geldmittel erhalten würden.

Das Kreuz mit den Steuern: Parteipolitische Sirenenklänge und Ausschließeritis versus einer bedarfsorientierten Diskussion. Das Steuerthema vom Kopf auf die Füße stellen

Da waren so einige überrascht, als der amtierende Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) kurz nach der Wahl einen wohlpräparierten Pfeil in das noch die eigenen Wahlwunden leckende und desorientierte Lager der Sozialdemokratie abgefeuert hat: Er könne sich Steuererhöhungen vorstellen, wenn sie denn der Preis für eine große Koalition sein sollten, so wurde und wird es in den Medien kolportiert. Flankenschutz bekam er vom Generalsekretär der CDU, Hermann Gröhe, der den kritischen Wirtschaftsflügel seiner Partei einem Bericht zufolge auf einen höheren Spitzensteuersatz eingestellt habe, bis zu 49 Prozent seien denkbar. Auch das Bundesfinanzministerium prüfe die Anhebung des Spitzensteuersatzes – bezeichnenderweise ist der Artikel überschrieben mit „Schäuble will SPD mit höherer Reichensteuer ködern„. Auch wenn es hierbei primär um ein durchschaubares Manöver vor dem Hintergrund der anstehenden Koalitionsverhandlungen geht, so ist doch diese überraschend frühzeitig in Aussicht gestellte Kompromissbereitschaft innerhalb der Union mit großen Risiken behaftet, denn vor der Wahl hatte die Union höhere Steuern ausgeschlossen. Entsprechend sind die aktuellen Reaktionen: Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen lehnt höhere Steuern strikt ab. Und noch weiter positioniert sich der CSU-Chef Seehofer, der sogar sein Wort gibt: Steuererhöhungen werde es nicht geben: Horst Seehofer sagte der „Bild am Sonntag“, Steuererhöhungen kämen für seine Partei „nicht in Frage … Die Bürger haben darauf mein Wort“ (vgl. hierzu das Interview in der Bild am Sonntag: „Hier gibt Seehofer sein Steuer-Ehrenwort„).

Und nicht wirklich überraschend, man könnte auch sagen gut getimt ist die Tatsache, dass der neue SPIEGEL mit dem Steuerthema aufmacht – wobei man die Gestaltung des Titelblatts durchaus als das wahrnehmen kann, was es ist: Propaganda, die an die tiefergelegten emotionalen Schichten vieler Deutschen appelliert, bei denen Worte wie Steuern oder noch schlimmer Finanzamt nicht nur allergische Hautreaktionen auslösen, sondern zu schlimmeren Reaktionen führen. Unter der Überschrift „Die Wahrheit nach der Wahl“ behauptet der SPIEGEL: »Versprochen, gebrochen: Noch vor kurzem hat Kanzlerin Merkel höhere Steuern ausgeschlossen. Nun werden sie geplant, um die SPD in die Koalition zu zwingen. Für höhere Renten und bessere Pflege könnten bald auch die Sozialabgaben steigen.« Womit wir schon mittendrin wären in den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik.

Es muss an dieser Stelle ausschließlich aus Gründen einer quellenkritischen Bewertung dieser Diskussion darauf hingewiesen werden, dass die Aussage, der Bundesfinanzminister Schäuble könne sich Steuererhöhungen vorstellen, eine sehr „flexible“ Interpretation seiner Aussagen aus einem Interview der ZEIT darstellt: Auf die Frage, ob er Steuererhöhungen (in einer neuen Koalition) grundsätzlich ausschließe, sagte Schäuble: „Nochmals: Wir sollten jetzt schauen, wie die Gespräche laufen. Wir werden Koalitionsverhandlungen nicht über die Öffentlichkeit führen. Ich persönlich bin der Meinung, dass der Staat keine zusätzlichen Einnahmequellen benötigt“, so die Darstellung in einem Artikel der FAZ. Insofern ist es dann auch konsequent, dass der Minister sich über das Regierungsorgan „Bild-Zeitung“ an die Öffentlichkeit gewandt hat: ”„Der Staat hat kein Einnahmeproblem. Es gibt keinen Grund, die Steuern zu erhöhen. Darum gilt weiterhin das, was wir vor der Wahl gesagt haben: keine Steuererhöhungen«, so wird er in dem FAZ-Artikel zitiert.

Aber die tagespolitischen Aktivitäten sollen hier nicht weiter verfolgt werden, sondern eine grundsätzliche Frage gehört in den Raum geworfen: Was würde eine systematische Steuerpolitik ausmachen? Neben der Berücksichtigung der komplexen Wirkungen und vor allem der Nebenwirkungen der unterschiedlichen Steuerarten sollte es nach der hier vertretenen Auffassung vor allem um eine Systematik gehen, die von der Instrumentalfunktion der Einnahmenseite ausgeht, was aber bedeuten würde, dass man in einem ersten Schritt die Bedarfe bestimmt und quantifiziert, für deren Deckung dann entsprechende Finanzmittel erforderlich wären, wenn man denn die Bedarfe decken muss bzw. will – oder das eben auch nicht, was dann aber wieder eine politische Frage ist. Das ist gemeint, wenn hier dafür plädiert wird, das Steuerthema vom Kopf auf die Füße zu stellen:

Also 1. die Bedarfe diskutieren und definieren und 2. die dafür notwendigen Mittel quantifizieren und 3. dann über die Art und Weise der konkreten Finanzierung (also direkte oder indirekte Steuern, Sozialversicherungsbeiträge usw.) diskutieren.

Zur Illustration des dringend notwendigen rationalen Diskurses über die Ausgestaltung der Einnahmenseite in ihrer Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedarfen soll im Folgenden als aktuelles Beispiel die massive Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur dargestellt werden, denn dieses Beispiel steht – nur stellvertretend und leider keineswegs solitär – für eine Tatsache, die sich jetzt und in den vor uns liegenden Jahren bitter rächen wird: Ganz offensichtlich wurde in der deutschen Volkswirtschaft in den vergangenen Jahren in einem erheblichen Umfang eine Verhaltensweise an den Tag gelegt, die man bezeichnen muss als „von der Substanz leben“. Man kann das auch wesentlich nüchterner ausdrücken: Die Tatsache, dass beispielsweise die Bruttoinvestitionen der kommunalen Ebene in den vergangenen Jahren unter den Abschreibungen lag, verdeutlich dem Ökonomen, dass wir tatsächlich von der Substanz gelegt haben, denn offensichtlich ist noch nicht einmal der Werteverzehr kompensiert worden, geschweige denn sind gesamtwirtschaftlich gesehen echte Neuinvestitionen im Sinne zusätzlicher Investitionen vorgenommen worden. Nun muss man sich die vermiedenen Ersatzinvestitionen vorstellen wie ein Haus, in das man aus Geldmangelgründen jahrelang nichts investiert, Reparaturen aufschiebt usw. – irgendwann aber wird eine dicke Rechnung kommen, der man dann nicht mehr wird ausweichen können, es sei denn, man gibt die Funktionsfähigkeit des Hauses insgesamt auf. Und seien wir ehrlich – in vielen Städten, natürlich vor allem in den westdeutschen Kommunen, sind wir mit einem massiven Investititionsstau konfrontiert, bei einer Infrastruktur, die oftmals in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren geschaffen wurde und von der große Teile jetzt das Endstadium ihrer technischen Lebensdauer erreicht haben.

Wer das konkreter haben möchte, der möge ein Blick werfen auf diesen Tatbestand: „Jede zweite Brücke der Kommunen ist marode„, so meldet es Spiegel Online: Viele Verkehrswege in Deutschland sind in die Jahre gekommen, besonders schlecht steht es um die Brücken. Laut einem neuen Gutachten ist jedes zweite von 66.714 Bauwerken marode, für deren Erhalt die Kommunen zuständig sind – und wir reden hier noch gar nicht von den ganzen Autobahnbrücken, bei denen ebenfalls vergleichbare Werte gemessen wurden und die in die Zuständigkeit des Bundes fallen.
Straßen, Brücken, Bahnhöfe, Wasserstraßen, Schienen – zusammengerechnet ist Deutschlands Verkehrsinfrastruktur 778 Milliarden Euro wert. Allerdings beklagen Experten „eine substantielle Vernachlässigung der Investitionen in die Erhaltung und Qualitätssicherung der Verkehrsinfrastruktur“. Dies lässt sich einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entnehmen: Uwe Kunert und Heike Link: Verkehrsinfrastruktur: Substanzerhaltung erfordert deutlich höhere Investitionen, in: DIW Wochenbericht Nr. 26/2013, S. 36 ff. Die Wissenschaftler liefern deutliche Zahlen: »Die Analyse zeigt, dass in der Vergangenheit jährlich knapp vier Milliarden Euro zu wenig für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur aufgewendet wurden. Geht man von mindestens dieser Investitionslücke für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur auch in den kommenden Jahren aus und berücksichtigt man darüber hinaus den aufgrund der jahrelangen Vernachlässigung aufgelaufenen Nachholbedarf, so dürfte der zusätzliche jährliche Investitionsbedarf bei mindestens 6,5 Milliarden Euro liegen.«

Zurück zu den Brücken in kommunaler Zuständigkeit. Mehr als 30.000 sind marode und ein guter Teil nicht mehr reparierbar, so auch die Berichterstattung in der Online-Ausgabe der Welt. Beide Artikel beziehen sich auf eine neue Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIfU). Konkret hatten sich die Forscher die Brücken in kommunaler Hand angesehen. Das sind genau 66.714 Bauwerke. Für eine Stichprobe wurden mehr als 2.000 Brücken in 456 Städten, Gemeinden und Landkreisen ausgewählt. Ein zentrales Ergebnis lautet, »dass bei rund 15 Prozent „Ersatzneubaubedarf“ bestehe: Der Zustand sei so schlecht, dass nur Abriss und Neubau in Frage komme. Betroffen seien häufig kleine Kommunen unter 20.000 Einwohnern, wo aber fast 70 Prozent der Brücken stünden, sowie Städte und Gemeinden im Osten. Dort wurden nach der Wende vor allem große Verkehrswege saniert und neu gebaut, kleinere wurden nicht beachtet.«

Das wird natürlich alles Geld kosten, viel Geld. Konkrete Diskussionen zur Mittelbeschaffung laufen bereits. Zur Sanierung des bundesweiten Verkehrsnetzes wollen die Bundesländer den Weg für einen Milliardenfonds ebnen. Im Gespräch sei ein Volumen von fast 40 Milliarden Euro bis 2028. Pro Jahr sollen – unabhängig von der aktuellen Haushaltslage bei Bund und Ländern – zwischen 2,7 und 3 Milliarden Euro in Projekte fließen. Der Sanierungsbedarf sei immens und Folge einer jahrzehntelange Vernachlässigung von Straßen, Brücken, Schienen und Wasserwegen. Entsprechende Vorschläge wurden von einer Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Verkehrsministers Kurt Bodewig (SPD) für die Verkehrsministerkonferenz erarbeitet. Zur Gegenfinanzierung plädiert die Kommission auch für eine intensive Nutzung der „Instrumente der Nutzerfinanzierung“, die Lkw-Maut ist hier das prominenteste Beispiel.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass das Beispiel über die marode, unterfinanzierte Verkehrsinfrastruktur nur ein Beispiel aus dem Reigen der Handlungsfelder darstellt, in denen es große Investitionsbedarfe gibt – man denke hier nur an die Finanzierung der Energiewende. Dass es allein schon in diesen „harten“ Infrastrukturbereichen derart enorme Investitionsbedarfe gibt, muss den Sozialpolitiker skeptisch stimmen, denn natürlich gibt es bei der Frage, wo und wofür das immer knappe Geld eingesetzt werden soll, eine Konkurrenz zwischen den einzelnen Handlungsfeldern des Staates und damit seiner Ausgaben. Sollen die Steuermilliarden für neue Verkehrswege oder für eine bessere Vergütung der Pflegekräfte und der Erzieherinnen ausgegeben werden? Genau so wird natürlich diskutiert. Und vor diesem Hintergrund muss man dann eben auch deutlich machen, aber wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass es das Problem einer ausgeprägten Unterfinanzierung auch in vielen sozialen Arbeitsfeldern gibt, man denke hier an Pflege oder Bildungseinrichtungen, schon mit Blick auf das Leben von der Substanz – und wir reden dann immer noch nicht von den erheblichen zusätzlichen Ausgaben, die mobilisiert werden müssten, wenn man neue Aufgabenstellungen umsetzen will. Als Stichwort mag hier der Hinweis auf die Umsetzung der Inklusion (nicht nur) im Schulsystem genügen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte kurz vor der Bundestagswahl mit Blick auf die steuerpolitische Debatte versucht, mit einer medienwirksamen Inszenierung den Investitionsbedarf im Sozialbereich aus Sicht eines Wohlfahrtsverbandes in eine Zahl zu pressen: In der Pressemitteilung „Paritätischer fordert Steuererhöhungen für Bildung und Soziales: Expertise belegt Milliardenbedarf bei sozialen Leistungen“ kommt man zu dem Ergebnis, dass »jährlich mindestens rund 35 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen notwendig (seien), um drängende soziale Projekte umzusetzen«. Man hat versucht, mit einer Expertise den »Mindestinvestitionsbedarf für insgesamt acht sozialpolitische Handlungsfelder von der Bildung bis zur Pflege« zu ermitteln. »Die drei größten Ausgabenblöcke stellen die Bereiche Armutsbekämpfung, Pflege und Teilhabe von Menschen mit Behinderung dar. Mit zusammen über 20 Mrd. Euro pro Jahr machen sie allein 58 Prozent der ermittelten Gesamtsumme von 35 Milliarden Euro jährlich aus. Für die gesamte nächste Legislaturperiode ergibt sich ein zusätzlicher Finanzbedarf von insgesamt 142 Mrd. Euro. Wichtige unbestrittene Herausforderungen wie der Ausbau der Kindertagesbetreuung oder die Förderung der Mobilität sind dabei auf Grund der unzureichenden Datenlage noch gar nicht berücksichtigt.« Politik kann sich nicht mehr vor der Verteilungsfrage drücken – so die zentrale Quintessenz des Wohlfahrtsverbandes, der eine stärkere Besteuerung von Einkommen und Vermögen fordert.

Fazit: Mit der Behauptung, der Staat habe kein Einnahmenproblem (sondern ein Ausgabenproblem, obgleich das dann nie an konkreten Beispielen belegt wird, wo man denn überall mehrere Milliarden Euro einsparen könne), aber auch nicht mit einer Forderung nach ordentlich mehr Steuergeld, weil so viel zu tun sei, wird man der Komplexität des Themas gerecht werden können. Und natürlich muss man bei der Frage Steuererhöhung ja oder nein (und dann vor allem auch welche) immer berücksichtigen müssen, dass aufgrund der selbst gesetzten Schuldenbremsen auf Bundes- und Landesebene die Flucht in eine zusätzliche Verschuldung immer schwieriger wenn nicht ganz unmöglich wird. Insofern wäre zu fordern, dass wir systematisch, also ausgehend von einer echten Analyse der Bedarfe, den notwendigen Finanzbedarf abzuschätzen und dann zur Diskussion zu stellen versuchen.

Dass das nicht sofort Steuererhöhungen bedeuten muss, sondern dass man zuweilen auch innerhalb des bestehenden Systems erhebliche Steuereinnahmeverbesserungen erreichen kann, zeigen abschließend diese beiden aktuell diskutierten Beispiele:

Der neue SPIEGEL thematisiert auch die entgangenen Steuereinnahmen in unserem gegebenen System: „Steueroase Deutschland“: »Weil in den Finanzämtern Fahnder und Prüfer fehlen, entgehen dem Staat Milliarden. Viele Länder wollen lieber die Wirtschaft fördern, als ihre Steuerbehörden
in Ordnung zu bringen. Die Steuer-Kleinstaaterei kommt das Land teuer zu stehen.« Es wird darauf hingewiesen, dass im »vergangenen Jahr ist die Zahl der Einsätze deutscher Steuerfahnder drastisch gesunken (ist). 2012 rückten die Fahnder nach Recherchen des SPIEGEL knapp 24.000 Mal aus, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen. Das sind rund 14 Prozent weniger Einsätze als noch im Jahr zuvor … In Baden-Württemberg etwa fielen die Besuche der Fahnder bei Steuersündern um ein Viertel, Hessen verzeichnete gar ein Minus von einem Drittel. In Nordrhein-Westfalen reduzierten die Fahnder ihre Einsätze um rund 17 Prozent.« Kurzum, Deutschland hat Züge einer Steueroase und in diesem Kontext ist das zweite Beispiel dann nur konsequent:

Die Bundesregierung blockiert eine Reform in Europa, die die Geldwäsche mittels Briefkastenfirmen erschweren soll – so die Botschaft in dem Artikel „Schonzeit für das Paradies„. Das Problem ist, dass »bei den derzeit laufenden Verhandlungen über die Neufassung des EU-Geldwäschegesetzes im Brüsseler Ministerrat stellen sich ausgerechnet die Vertreter der Bundesregierung gegen den nach Meinung von Fachleuten wichtigsten Reformvorschlag: Die europaweite Einrichtung von Unternehmensregistern einschließlich der Pflicht, darin die im Finanzjargon so genannten „beneficial owners“, also die „wirtschaftlich Berechtigten“ zu nennen, denen die Gewinne aus den jeweiligen Firmen zufließen.«

Man muss sich klar machen, was das bedeutet. »Weil es diese Verpflichtung bisher nicht gibt, können Steuerhinterzieher und Geldwäscher ungehindert mit Briefkastenfirmen operieren, deren tatsächlicher Eigentümer verborgen bleibt. Das gilt auch in Deutschland. Zur Eintragung eines Unternehmens im hiesigen Handelsregister reichen die Angaben über das Eigentum an den Gesellschaftsanteilen, auch wenn diese bei einer ausländischen Firma liegen, deren Eigentümer nicht genannt sind. Vor allem wegen dieser Lücke nimmt Deutschland einen der vorderen Plätze auf dem „Schattenfinanzindex“ der Organisation Tax Justice Network (TJN) ein …« Mit seinem Verhalten »stellt sich die Bundesregierung pikanterweise auf die Seite der als Steuerfluchtzentren bekannten Länder Luxemburg, Malta und Niederlande, die sich ebenfalls gemeinsam mit fünf weiteren der 28 EU-Staaten gegen die Registerpflicht aussprachen« und durch das Gewicht Deutschlands fehlt den Befürwortern die notwendige qualifizierte Mehrheit. Schade, dass darüber kaum bzw. nur partiell berichtet wird.

Auf alle Fälle sollte deutlich geworden sein – man muss nicht reflexhaft sofort nach Steuererhöhungen rufen, wenn es noch so viel Spielraum im bestehenden System gibt.
Unbestritten aber bleibt die Aufgabe, jetzt endlich eine ordentliche Bilanzierung der Investitionsbedarfe vorzulegen – und zwar der Investitionsbedarfe in Beton wie auch in Menschen. Erst dann ließe sich eine vernünftige steuerpolitische Diskussion führen, die dann auch eine Chance hätte, die Akzeptanz höherer Belastungen in der breiten Bevölkerung herzustellen. Denn wenn die bislang unterfinanzierten Bedarfe in vielen sozialpolitischen Handlungsfeldern so sind, wie von vielen Seiten immer wieder behauptet wird, dann werden die dafür notwendigen Mittel nicht nur durch eine Besteuerung von einigen wenigen Millionären aufzubringen sein. Denn für deren Belastung bekommt man schnell 80 bis 90 Prozent Zustimmung. Es wird dann die Brieftasche der bereiten Masse treffen und da ist die Zustimmung dann besonders herstellungsbedürftig.

Betriebliche Altersversorgung in der kritischen Diskussion – die „zweite Säule“ der Alterssicherung tut sich schwer

Wenn über Lage und Zukunft der Altersvorsorge diskutiert wird, dann geht es meistens um die gesetzliche Rentenversicherung. Das ist auch verständlich, denn natürlich bildet die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung für die meisten Menschen in diesem Land die dominierende Hauptsäule der Alterssicherung. Aber das System der Alterssicherung in Deutschland ist weitaus komplexer und heterogener aufgestellt. Neben der auch in Zukunft entscheidenden ersten Säule, also der Rente aus der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung, gibt es zwei weitere Säulen der Alterssicherung. Die private Altersvorsorge, mittlerweile mit Milliardenbeträgen aus Steuermitteln gefördert, wird unter dem Stichwort „Riester-Rente“ in der Öffentlichkeit immer wieder und zunehmend kritisch diskutiert. Aber neben der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente sowie der (staatlich geförderten) privaten Altersvorsorge gibt es mit der betrieblichen Altersvorsorge eine eigene Alterssicherungssäule, die man zum einen hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine ergänzende Einkommensfunktionalität nicht unterschätzen sollte, die zum anderen aber auch – man denke hier beispielsweise an das Wahlprogramm der SPD – immer wieder im Mittelpunkt von Vorschlägen für eine Weiterentwicklung des Alterssicherungssystems steht. Der Grundgedanke ist ja nicht verkehrt: Die Alterssicherung der Menschen sollte im Idealfall nicht nur auf einer einzigen Säule stehen, sondern durch den Zufluss aus mehreren Quellen kann man die Alterssicherung für die Betroffenen auf ein breiteres Fundament stellen. Wie bei der Ausgestaltung eines allgemeinen Vermögensportfolios auch geht es hier also um die Realisierung von positiven Effekte einer Risikodiversifikation.

Doch die betriebliche Altersvorsorge wird auch zunehmend kritischer gesehen und ihre Stabilität und vor allem ihr möglicher Beitrag für eine sichere Altersvorsorge werden hinterfragt. So schreibt Thomas Öchsner in seinem Beitrag „Der große Graben“ in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 26.09.2013 (nicht online verfügbar): »Die Unternehmen legen immer weniger Kapital für Betriebsrenten zurück. In der Belegschaft gibt es eine Kluft zwischen Alt und Jung: Je länger ein Mitarbeiter schon dabei ist, desto besser ist seine Altersvorsorge.«

Die von Öchsner in seinem Artikel zitierten Daten geben zur Beunruhigung Anlass:
»2002 finanzierten die Arbeitgeber noch mehr als jede zweite Betriebsrente vollständig aus eigenen Mitteln. Zehn Jahre später traf dies nur noch auf 27 Prozent dieser Versorgungsleistungen zu.«
Anfang September meldete der SPIEGEL „Lufthansa will an Betriebsrenten ran“:

»Die Lufthansa steuert auf einen neuen Konflikt mit ihren Beschäftigten zu. Diesmal geht es um die Altersversorgung von mehr als 60.000 Mitarbeitern im Fluggeschäft des Konzerns, aber auch bei Ablegern wie der Catering- oder der Techniksparte. Langjährige Flugbegleiter konnten bisher mit rund 1000 Euro Zusatzrente pro Monat rechnen, Kapitäne sogar mit bis zu 4000 Euro. Die Details sind in einem eigenen Tarifvertrag geregelt. Den will die Geschäftsführung zum 31. Dezember kündigen, um Kosten zu sparen. Stattdessen soll ein neues, abgespecktes Betriebsrenten-Modell erarbeitet werden. Neue Vorschriften zur Rechnungslegung und die anhaltende Niedrigzins-Politik der Europäischen Zentralbank hatten dazu geführt, dass die Lufthansa ihre Pensionsrückstellungen in der Bilanz kräftig aufstocken musste. Den Angestellten drohen durch den Plan herbe Einschnitte.«

Öchsner fasst diese – eben nicht nur auf die Lufthansa begrenzte – Entwicklung so zusammen: » Die Neigung der Unternehmen, aus der Firmenkasse Geld für Betriebsrenten zurückzulegen, schwindet nicht nur bei der Lufthansa. Auch in anderen Konzernen heißt bei diesen sogenannten Direktzusagen die Devise: sparen, kürzen oder ganz abschaffen.«

Hier manifestiert sich ein grundsätzliches Problem, das von Lutz Reiche unter der Überschrift „Die 156-Milliarden-Euro-Lücke“ im Februar dieses Jahres in der Online-Ausgabe des „manager magazin“ thematisiert worden ist:

»Das Zinstief schlägt voll auf die Bilanzen der Dax-Konzerne durch. Zwischen ihren Pensionszusagen und dafür reserviertem Vermögen klafft eine Lücke von 156 Milliarden Euro … Die Deckungslücken in den Pensionsplänen von Dax- und MDax-Konzernen haben sich zum Ende 2012 drastisch vergrößert. Der Grund: Der historisch niedrige Rechnungszins ließ den Wert laufender und künftiger Betriebsrenten deutlich anschwellen.« Trotzdem solle man sich – so die Berufsoptimisten bzw. die am weiteren Absatz interessierten Akteure – keine Sorgen um die betriebliche Altersvorsorge machen, denn so Reiche in seinem Artikel: »… große Unternehmen (gehen) zusehends dazu über, ihre Pensionszusagen stärker an die Entwicklung der Kapitalmarktzinsen zu koppeln. Das heißt, der Beschäftigte und künftige Betriebsrentner trägt das Anlagerisiko stärker mit. Towers-Watson-Experte Jasper spricht in diesem Kontext von „modernen Pensionszusagen“, deren Deckungsgrad auch bei nervösen Kapitalmärkten eher stabil bleibe.«

Öchsner zitiert in seinem Artikel Ulrich Birk, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Bamberg, der mit Blick auf die Unternehmen, die überhaupt eine betriebliche Altersvorsorge anbieten, von einer „Drei-Klassen-Gesellschaft“:

»Unten befinden sich die neu hinzugekommenen, meist jüngeren Beschäftigten, die in den letzten Jahren ins Unternehmen eingetreten sind. Sie gehen oft ganz leer aus, müssen selbst in eine Pensionskasse, Pensionsfonds, Direktversicherung oder einen Riester-Vertrag einzahlen, um sich für den Ruhestand ein zusätzliches finanzielles Polster aufzubauen. In der Mitte sind diejenigen, die schon vorher dabei waren. Sie haben noch Anspruch auf eine Betriebsrente, können aber womöglich keine weiteren oder nur noch geringere Ansprüche sammeln als die zuvor ins Unternehmen gekommenen Kollegen. Ihre Betriebsrente wird nicht mehr so großzügig ausfallen wie bei den Älteren und den Betriebspensionären. Diese stehen ganz oben, ihnen geht es tendenziell noch am besten.«

Auch die Zahlen liefern Hinweise für eine skeptische Einschätzung: Die Anzahl der sogenannten Anwartschaften auf eine betriebliche Altersversorgung (BAV) ist von 14,6 Millionen im Jahr 2001 auf 19,6 Millionen 2011 gestiegen. Hört sich erst einmal gut an. Deshalb sogleich das „aber“: In ihrem „Alterssicherungsbericht 2012“ lässt die Bundesregierung selbst schreiben: Der Zuwachs an Anwartschaften wurde vor allem in den Jahren von 2001 bis 2005 registriert – »… und hat in den letzten Jahren deutlich an Dynamik verloren. Der prozentuale Anteil der Beschäftigten mit BAV-Anwartschaften dürfte sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts kaum mehr erhöht haben« (Alterssicherungsbericht 2012, S. 84)

In einem ergänzenden Beitrag unter der Überschrift „Regierung soll nachhelfen“ zitiert Öchsner auch Forderungen seitens der Wirtschaft zur Weiterentwicklung der BAV. So wird Alexander Erdland, Präsident des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), zitiert mit der Forderung, die zukünftige Bundesregierung solle der betrieblichen Altersversorgung neue Impulse geben, vor allem bei der so genannten Entgeltumwandlung. Danach dürfen zum Beispiel Arbeitnehmer in Westdeutschland bis zu 2.784 Euro jährlich steuer- und sozialversicherungsfrei von ihrem Bruttogehalt in eine betriebliche Altersvorsorge investieren. Allerdings ist gerade die Entgeltumwandlung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven durchaus in der Kritik (vgl. beispielsweise neben vielen anderen den Beitrag „Betriebsrenten: Wankt auch diese Säule der Altersvorsorge?“ im Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ 24.10.2012 oder den Beitrag „Betriebsrente: Faule Versprechungen für Arbeitnehmer“ im Politikmagazin Monitor am 13.12.2012). Zum einen ist eine Entgeltumwandlung nach Auffassung der Kritiker gerade nicht ein so eindeutig positives Geschäft für den Arbeitnehmer, zum anderen werden den Sozialversicherungen je nach Inanspruchnahme erhebliche Finanzmittel entzogen. Dass sich die BAV für die Arbeitnehmer rechnet, wird beispielsweise von Ulrich Birk ganz anders gesehen:

»Vergleichsberechnungen zeigen jedoch, dass dies für Durchschnittsarbeitnehmer mit einem Bruttomonatseinkommen von 3.000 – 4.000 € in der Regel nicht mehr stimmt. Der Arbeitnehmer fährt bei Entgeltumwandlung in der Regel nicht mehr besser als bei einer privaten Altersvorsorge zB über ein Festgeldsparen bei einer Bank oder bei Abschluss einer privaten Rentenversicherung. Der Grund liegt darin, dass die Förderquote von rund 50 % in der Ansparphase durch Abzüge von über 50 % in der Auszahlungsphase ab 2040 (100%ige nachgelagerte Versteuerung der Betriebsrenten, Zahlung des vollen Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeitrages, Einrechnung der Minderung der Rente aus der GRV) wieder zunichte gemacht wird«, so Ulrich Birk« in „Studie zur Entgeltumwandlung. Eingehen auf die Kritik der Versicherungswirtschaft“.

Man kann es drehen und wenden wie man will, aber auch die betriebliche Altersvorsorge sollte realistisch eingeschätzt werden – sie wird eine ergänzende Bedeutung haben gerade in den mittleren und oberen Einkommensgruppen. Aber die extrem unterdurchschnittliche Beteiligungsraten der unteren und der Niedrigst-Einkommen – also gerade der Personen, für die eigentlich die ergänzende Funktion einer Betriebsrente am wichtigsten wäre – verdeutlichen die sozialpolitische Nicht-Funktionalität dieser Säule des Alterssicherungssystems.

Mehr als nur ein Blick in die Glaskugel: IAB-Prognose zur Arbeitsmarktentwicklung 2013/14 – und einige Schlussfolgerungen für die Arbeitsmarktpolitik

Regelmäßig veröffentlicht das zur Bundesagentur für Arbeit gehörende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine Prognose der Arbeitsmarktentwicklung. Einen detaillierten Blick auf die – wahrscheinliche – Arbeitsmarktentwicklung im laufenden und im kommenden Jahr liefert der neue IAB-Kurzbericht 18/2013 mit dem Titel „Arbeitslosigkeit sinkt trotz Beschäftigungsrekord nur wenig“ von Johann Fuchs, Markus Hummel, Christian Hutter, Sabine Klinger, Susanne Wanger, Enzo Weber, Roland Weigand und Gerd Zika. Die Vorhersage der Arbeitsmarktentwicklung ist natürlich eine höchst komplexe Angelegenheit, die von vielen schwer bestimmbaren Faktoren beeinflusst wird. Die wichtigsten Annahmen und Befunde in aller Kürze:
Für 2013 und 2014 geht das IAB davon aus, dass die BIP-Wachstumsraten bei 0,6 Prozent und 1,8 Prozent liegen werden.
Zur Arbeitslosigkeit schreiben die Autoren: Nach einem geringen Anstieg in diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit 2014 wieder sinken, wenn auch nur leicht um 40.000 auf 2,9 Mio. Personen – wobei man hier wieder anmerken muss, dass damit die registrierte Arbeitslosigkeit gemeint ist, die man als Untergrenze der tatsächlichen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit verstehen sollte.
Mit Blick auf die Erwerbstätigkeit überbringen die Wissenschaftler erfreulich daherkommende Nachrichten aus dem deutschen „Jobwunderland“: »In diesem und im nächsten Jahr erwarten wir Zuwächse von je 240.000 Personen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entwickelt sich noch stärker und erreicht ein neues Allzeithoch.«
Das Arbeitsangebot – gemessen am Erwerbspersonenpotenzial – wird sich weiter vergrößern, denn aufgrund der starken Zuwanderung und einer leicht steigenden Erwerbsbeteiligung geht das IAB von einem Wachstum um 220.000 Personen im Jahr 2013 und um fast 120.000 im Jahr 2014 aus.

Und dann kommt in der Zusammenfassung des IAB zu den eigenen Prognosen eine interessante und hier besonders hervorzuhebende Aussage:

»Mit einem starken Rückgang der Arbeitslosigkeit ist vorerst nicht mehr zu rechnen, strukturelle Probleme werden deutlicher. Um die Beschäftigungschancen wieder zu erhöhen, sollte die Arbeitsmarktpolitik auf eine wirksame Qualifizierungsstrategie fokussiert werden und der steigenden Bedeutung des harten Kerns der Arbeitslosigkeit Rechnung tragen.«

Immer wieder – auch in den Beiträgen hier im Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ – wird darauf hingewiesen, dass wir in den vergangenen Jahren, die ja gekennzeichnet waren durch eine insgesamt sehr positive Arbeitsmarktentwicklung und mithin also eigentlich optimale Rahmenbedingungen, gleichzeitig eine Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem (SGB II) beobachten mussten.

Nehmen wir zur Illustration die kritische Berichterstattung von „O-Ton Arbeitsmarkt„. Unter der Überschrift „Langzeitarbeitslose: Verlierer des deutschen Arbeitsmarktes“ wird beispielsweise berichtet: »Während die Zahl der Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung (SGB III) in den letzten Jahren stark gesunken ist, hat sich bei den Langzeitarbeitslosen (SGB II) daher auch deutlich weniger getan. Ihre Zahl hat sich seit 2009 von etwa 2,2 auf rund zwei Millionen Menschen verringert, ein Minus von 10 Prozent. Die Zahl der Kurzzeitarbeitslosen im SGB III hingegen reduzierte sich zeitgleich von rund 1,2 Millionen auf etwa 900.000 Personen um ganze 24 Prozent … Wenn die Arbeitssuche bei den „Hartz IV“-Arbeitslosen dennoch glückt, ist das Arbeitsverhältnis häufig nicht von Dauer …« Zugleich wird darauf hingewiesen, dass die Zahl der registrierten Arbeitslosen nur eine Teilgruppe darstellt unter den erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern. Und schaut man sich die genauer an, die ergeben sich erschreckende Befunde, die konturieren können, was mit „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit gemeint ist. Zu den erwerbsfähigen Leistungsempfängern erfahren wir: »Ende des Jahres 2012 waren es rund 4,4 Millionen Menschen. Gegenüber 2009 (4.909 Millionen im Jahresdurchschnitt) hat sich ihre Zahl um lediglich 13 Prozent verringert. Ganze 2,1 Millionen dieser erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, insgesamt 49 Prozent, waren im Dezember 2012 bereits seit mehr als vier Jahren abhängig von „Hartz IV“-Leistungen.«
Die angesprochene Diskrepanz zwischen den an sich guten (ökonomischen) Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt und der Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit wird auch in der IAB-Studie thematisiert: »Die … beschriebene Diskrepanz zwischen den Entwicklungen von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit offenbart, dass die Konjunktur zuletzt nicht kräftig genug war, um strukturelle Schwierigkeiten beim weiteren Abbau von Arbeitslosigkeit zu kom­pensieren« (Fuchs et al. 2013: 5). Die gespaltene Entwicklung wird von den IAB-Wissenschaftlern so formuliert: »Die Beschäftigung hat bis zuletzt ihren Aufwärts­trend fortgesetzt … Einen wesentlichen Beitrag hat das noch immer steigende Erwerbsper­sonenpotenzial geleistet, vor allem die hohe Zuwan­derung. Demgegenüber stagniert die Arbeitslosigkeit seit Längerem mit leicht ungünstiger Tendenz, weil die Chancen zur Beendigung von Arbeitslosigkeit gesunken sind« (Fuchs et al. 2013: 9).

Die IAB-Forscher gehen davon aus, dass es strukturelle Ursachen sind, die einen weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit erschweren. Problematisch bleibt nach Auffassung des IAB die Mismatch-Arbeitslosigkeit, die dadurch entsteht, dass für arbeitslose Personen z. B. in einem bestimmten Beruf, einer Branche oder einer Region keine Vakanz vorhanden ist, und umgekehrt.

Was tun? Es werden folgende Handlungsfelder für die zukünftige Arbeitsmarktpolitik skizziert (S. 12):

»Arbeitslose: In der Arbeitsmarktpolitik sollte der Trend stärker in Richtung nachhaltiger und individueller Maßnahmen sowie intensiver Betreuung gehen.«

Wohl wahr, genau das fordern die Kritiker der Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre schon seit langem. Gut, dass es jetzt auch so vom IAB formuliert wird. Was das praktisch bedeutet? Beispielsweise endlich wieder in stärkerem Maße die – eben auch erst einmal in the short run – teureren Umschulungsmaßnahmen zu fördern, die einen Berufsabschluss ermöglichen, der eine wichtige Eintrittskarte auf dem deutschen Arbeitsmarkt darstellt.

Aber das IAB greift auch einen Kritikpunkt aus dem Umfeld der Debatte über das deutsche „Jobwunder“ auf, der sich auf die Qualität der neuen Jobs bezieht:

»Beschäftigte: Dieser Aspekt erhält besondere Re­levanz, da es im letzten Jahrzehnt bei deutlichem Abbau der Arbeitslosigkeit auch zu einem deutlichen Aufbau von Beschäftigung niedrigerer Qualität kam. Will man strukturelle Probleme gerade im unteren Segment des Arbeitsmarktes angehen, so ist nicht nur der Einstieg, sondern auch der Aufstieg im Arbeits­markt essenziell … Weiterbildung, aber auch Betreuung sowie Verstetigung von Beschäfti­gung gehören zu einer Strategie, die von staatlicher Seite unterstützt und wesentlich unter Mitwirkung der Arbeitgeber vorangebracht werden sollte.«

Und auch die jungen Menschen fehlen nicht in dem Aufriss der Aufgaben an die Arbeitsmarktpolitik der vor uns liegenden Monate:

»Junge Generation: Strukturproblemen begegnet man am besten, bevor sie entstehen … Großes Potenzial liegt … noch in der Verbesserung der Chancen bildungsferner Gruppen. Die Ungleichheit verfestigt sich hier von Beginn an bis zum Abschluss des Bildungsweges. Der stärkste Hebel liegt in der frühzeitigen Förderung gerade von Kindern aus sozial benachteiligten Schichten. Die Arbeitsmarktpolitik kann einen Beitrag leisten, indem sie – in Zusam­menarbeit mit den Unternehmen – die Bemühungen für abschlussorientierte Maßnahmen im Hinblick auf eine zweite Chance für junge Erwachsene ohne Berufsabschluss noch weiter verstärkt.«

Alles natürlich in einem Fazit noch sehr allgemein gehalten, aber es ist wichtig, dass diese Punkte in dieser Veröffentlichung des IAB platziert worden sind. Bleibt zu hoffen, dass das Eingang findet in die nun anstehenden Koalitionsverhandlungen.

Das Kreuz mit den Zahlen, aber nicht nur Zahlenspielerei – auch Österreich streitet über „offene“ und „versteckte“ Arbeitslose

In diesen wechselhaften Zeiten ist es schon fast ein Wert an sich, wenn man sich auf ein ewig wiederkehrendes Ritual verlassen kann – gemeint ist an dieser Stelle die allmonatliche Berichterstattung über die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland. Aber mit dem Begriff „die Arbeitslosen“ fängt das Problem schon an.

So verkündete beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit für den August 2013 die folgende Botschaft: „Im August ist die Zahl der Arbeitslosen erneut leicht auf 2,94 Millionen gestiegen“. Und genau diese Zahl flimmert dann bereits am Abend über die Bildschirme der Fernseher in den deutschen Wohnstuben und wird am Folgetag auf den ersten Seiten vieler Tageszeitungen zu lesen sein. Aus Sicht der politischen Psychologie besonders wichtig sind natürlich die ,94 hinter der zwei, denn damit liegt die Zahl der Arbeitslosen unter der Grenze von 3 Millionen. Aber wie so oft im Leben gibt es auch in diesem Fall Kritikaster, die sich mit der offiziellen Mitteilung nicht zufrieden geben wollen. Und die gar behaupten, dass die echte Zahl der Arbeitslosen deutlich über den hier ausgewiesenen 2,94 Millionen liegen würde. So beispielsweise – mittlerweile ebenfalls jeden Monat – die Webseite „O-Ton-Arbeitsmarkt„, wo man zu den aktuellen Arbeitsmarktzahlen diesen Hinweis finden kann: „Offizielle Statistik verschweigt über 816.000 Menschen ohne Arbeit„. Wobei man fair sein sollte, den die Statistik der Bundesagentur für Arbeit liefert sehr wohl diese deutlich höheren Zahlen, allerdings wird genau diese Zahl nicht genannt in den Pressekonferenzen des Vorstands der BA, sondern die niedrigere Zahl der „registrierten“ Arbeitslosen, also eben jene 2,94 Mio. Menschen, wird auf den Pressekonferenzen an der vor allem für die Medien relevanten ersten Stelle genannt. Man kann sich dann die Zahl der fehlenden Arbeitslosen aus dem Statistik-Tabellen der Bundesagentur für Arbeit heraus suchen, was aber die wenigsten Journalisten tun.

Und dann ergibt sich eben mit der Befund, auf denen O-Ton-Arbeitsmarkt abstellt: »Denn Monat für Monat filtert die Bundesagentur für Arbeit tatsächlich Arbeitslose aus der offiziellen Arbeitslosenzahl in die Sonderkategorie Unterbeschäftigung. Im Juli über 816.000 Menschen nur deshalb, weil sie etwa an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnahmen, zum Zeitpunkt der Erfassung krankgeschrieben waren oder als über 58-Jährige innerhalb eines Jahres kein Jobangebot erhielten.«

Allerdings muss der Vollständigkeit halber angemerkt werden, dass auch diese um 816.000 Menschen erhöhte Zahl an Arbeitslosen nicht in der Lage ist, die wirkliche Problematik auf dem Arbeitsmarkt in toto abzubilden. Denn das landläufige Gegenteil von Arbeitslosigkeit ist bekanntlich eine Beschäftigung – und viele Menschen assoziieren – oftmals unbewusst – Beschäftigung mit einer normalen Vollzeitbeschäftigung mit einem halbwegs normalen Verdienst. Aber beschäftigt im Sinne der Statistik ist eben auch jemand, der beispielsweise nur einen 450-Euro-Job ausübt oder der nur 20 Stunden in der Woche arbeitet, auch wenn beide eigentlich gerne länger arbeiten würden, wenn es der berühmte Arbeitsmarkt nur hergeben würde. Und natürlich sagt die eine Zahl der Beschäftigten auch nichts darüber aus, zu welchen Bedingungen die „Normalarbeitnehmer“ oder die Minijobber oder die Selbständigen in der Praxis wirklich tätig sind. Aber auch wenn wir uns im Rahmen der konventionellen Arbeitsmarktstatistik bewegen, sind die von den Kritikern ausgewiesenen 816.000 Menschen, die tatsächlich arbeitslos sind und den 2,94 Millionen registrierten Arbeitslosen hinzuzurechnen wären, noch zu niedrig angesetzt. So können wir der IAB-Prognose 2013 „Der Arbeitsmarkt bekommt konjunkturellen Rückenwind“ entnehmen: »Zur Stillen Reserve im engeren Sinn zählen entmu- tigte Personen, die sich trotz Erwerbslosigkeit nicht bei den Arbeitsagenturen melden.« Und diese Gruppe, die zu denen, die sich Maßnahmen oder vorruhestandsähnlichen Maßnahmen befinden, noch hinzuzuzählen wären, hat nach IAB-Angaben ein Volumen von weiteren 720.000 Menschen. Wir werden auf diese hier für Deutschland ausgewiesen Gruppe noch zurückkommen.

Und so richtig schwierig wird es für die allermeisten, wenn man darauf hinweist, dass es nicht nur die 2,94 Millionen Menschen gibt, die offiziell arbeitslos registriert sind, sondern das sich allein im Grundsicherungssystem („Harz-IV“) mehr als 5,2 Millionen erwerbsfähige Leistungsempfänger befinden, von denen ganz offensichtlich viele gar nicht als registrierte Arbeitslose gezählt werden, obgleich sie erwerbsfähig und zugleich hilfebedürftig sind (vgl. hierzu den Blog-Beitrag „Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat“ auf dieser Website).

Aber alle diese Punkte sollen hier nicht weiter diskutiert, sondern der Blick soll über die Landesgrenzen nach Österreich gerichtet werden, wo es jetzt ebenfalls eine interessante Debatte darüber gibt, wer eigentlich – wirklich – arbeitslos ist und wer davon (nicht) gezählt wird. Österreich ist auch deshalb interessant, weil es nicht nur wie Deutschland im europäischen Vergleich über eine niedrige Arbeitslosenquote verfügt, sondern ganz konkret im EU-Vergleich der offiziellen Arbeitslosenzahlen auf dem ersten Platz mit einer entsprechend niedrigen Arbeitslosenquote rangieren kann. Also eine echte Erfolgsstory, die sich natürlich generell, vor allem aber in Zeiten des Wahlkampfs, gut verkaufen lässt. So wie derzeit gerade. Da mag man es aus der Perspektive der herrschenden Kräfte gar nicht, wenn jemand kommt und behauptet, die Arbeitslosenzahlen wären viel zu niedrig ausgewiesen. Und mit dem Platz 1 im EU-Vergleich ist es auch vorbei. Aber der Reihe nach.

Offiziell gibt es in Österreich 220.000 Arbeitslose. Das ist eine erfreulich niedrige Zahl. Laut der Statistikbehörde Eurostat gibt es seit 2010 keinen anderen EU-Staat, in dem die Arbeitslosenquote derart niedrig gewesen wäre. Aber die Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen wird nun durch eine neue Studie angegriffen, wie der „Standard“ in seiner Online-Ausgabe berichtet („250.000 Arbeitslose jenseits der Statistik„):

»… Ökonomen der Denkfabrik Agenda Austria haben nachgerechnet und kommen zu teils erstaunlichen Ergebnissen über die wahre Zahl der Arbeitslosen in Österreich. Demnach gibt es in Österreich 250.000 versteckte Arbeitslose, die meisten von ihnen sind zwischen 55 und 64 Jahre alt. Rechnet man sie in die Statistik mit ein, wäre Österreichs Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2013 nicht bei 5,1, sondern bei 10,3 Prozent gelegen. Im Europavergleich stünde die Republik zwar immer noch gut da, den Spitzenplatz in der EU wäre man aber los.«

Die Agenda Austria ist eine von Industriellen und vermögenden Privatleuten finanzierte Forschungseinrichtung unter Leitung des illustren Dr. Franz Schellhorn, ehemals Journalist bei der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“. Auch die Tageszeitung „Kurier“ berichtet in ihrer Online-Ausgabe von den neuen Ergebnissen: „Auf den Spuren der versteckten Arbeitslosig­keit. Studie: Heimische Arbeitslosen-Quote in Wirklichkeit doppelt so hoch wie angegeben„. So etwas kommt in der Endphase des Wahlkampfs in Österreich bei vielen sicher nicht gut an, aber wir schauen trotzdem oder gerade deswegen mal genauer hin:

Grundlage ist die Studie „Österreich, das Land der versteckten Arbeitslosigkeit“ der „Denkfabrik“ Agenda Austria. Darin kommen die beiden Autoren zu dem Ergebnis, dass man »vor allem bei den AMS-Schulungsteilnehmern, Frühpensionisten und der sogenannten „stillen Reserve“ fündig« geworden sei. Diese Gruppe erklären die Differenz zwischen den offen ausgewiesenen und den nun genannten „tatsächlichen“ Arbeitslosen. Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen sollte, dass der AMS – also das österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit – bei den allmonatlichen Präsentationen immer sehr deutlich auf die Zahl der Schulungsteilnehmer hinweist, offensiver als die BA. »„Österreich versteckt vor allem bei den 55- bis 64-Jährigen jede Menge Arbeitslose, dafür sind wir bei den Jüngeren wider Erwarten gut“, meint Agenda-Austria-Chef Franz Schellhorn und verweist auf die im EU-Vergleich nach wie vor niedrige Erwerbsquote bei den Älteren. Der Spitzenplatz bei der EU-Arbeitslosenquote sei aber mit teuren Frühpensionierungen erkauft worden«, schreibt der Kurier. Die Studie spricht an dieser Stelle von rund 81.000 versteckt Arbeitslose in dieser Altersgruppe und damit weit mehr als die 60.000 Menschen in Schulungsmaßnahmen des AMS, die auch nicht auftauchen in der offiziellen Zahl. Der Rest der Differenz speist sich aus der hier schon für Deutschland angesprochenen „stillen Reserve“, die auf 190.000 taxiert wird.

Aber auch Eurostat weist die „stille Reserve“ für Österreich auf der Basis der monatlich 1.500 Haushaltsbefragungen aus, nur tauchen die eben nicht in der offiziellen Arbeitslosenzahl auf, denn sie sind ja auch nicht offiziell arbeitslos. Eurostat kommt derzeit auf 126.000 Menschen in dieser Gruppe.

„Diese Zahl gibt es, die Medien interessieren sich nicht für sie“ , wird Melitta Fasching von der Statistik Austria zutreffend in dem Kurier-Artikel zitiert. Und auf die Frage, warum diese Menschen nicht auch offiziell ausgewiesen werden, sagt sie: „Die stille Reserve ist keine homogene Gruppe – zu ihr zählen Pensionisten ebenso wie Studenten und Eltern, die ihre Kinder betreuen“ , sagt Fasching, „es mache wenig Sinn, sie mit klassischen Arbeitssuchenden in einen Topf zu werfen“.
Das AMS kann mit der Studie wenig anfangen: „Die Zahlen sind überhaupt nicht nachvollziehbar“, so Sprecherin Beate Sprenger. Den betroffenen Frühpensionisten werde automatisch ein Arbeitswunsch unterstellt, was man bei den Frühpensionisten durchaus diskutieren kann und muss. Und IHS-Arbeitsmarktexperte Helmut Hofer hält es für unseriös, ein mögliches, aber theoretisches Beschäftigungspotenzial pauschal als Arbeitslose zu bezeichnen.