Die gesetzliche Pflegeversicherung als „größter Fehler der Nachkriegsgeschichte“. Leider ein weiteres Beispiel für „junk science“

Unvermeidbar ist es so, dass in der Sozialpolitik die Trennung zwischen der reinen Analyse und der Bewertung und normativen Einordnung oftmals schwer fällt und die Ebenen vermischt werden. Nicht selten analysiert man etwas, um die eigene Position zu fundieren – oder noch schlimmer man schreibt denen nach dem Maul, von denen man finanziert wird oder denen man sich aus welchen Gründen auch immer verpflichtet fühlt. Und wir haben gerade in der Sozialpolitik immer wieder den Mechanismus sehen müssen, dass man sich – angeblich – „wissenschaftlicher“ Expertise bedient hat und bedient, um bestimmte Vorhaben als „alternativlos“ zu brandmarken und darüber zu legitimieren. Von größter Bedeutung für ganz unterschiedliche sozialpolitische Themenfelder ist dabei die immer gerne verwendete Bezugnahme auf „die“ demografische Entwicklung, deren scheinbare Unausweichlichkeit dann immer herhalten muss für ebenso unausweichliche sozialpolitische Konsequenzen des Um- und nicht selten nur Abbaus bestehender sozialer Sicherungssysteme oder Leistungen dieser Systeme. Das ist angesichts der tatsächlich äußerst vertrackten Folgen aus der demografischen Entwicklung nicht zulässig (vg. dazu meinen Beitrag Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet vom 6. Mai 2015 oder als Beispiel für die angedeutete Instrumentalisierung des Demografie-Themas den Beitrag Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ vom 28. April 2015).

Das Pfund an der demografischen Entwicklung, mit der man bei Interesse wuchern kann, ist die Tatsache, dass sich viele und ganz unterschiedliche sozialpolitische Themenfelder einpassen lassen in die Spurrillen des negativen Demografie-Diskurses, der uns seit vielen Jahren zu beherrschen versucht. Also nicht nur die Altersversorgung, also vor allem die gesetzliche Rente, oder die Gesundheitsausgaben und damit das duale System aus gesetzlichen und privaten Krankenkassen bis hin zu dem wahrscheinlichen Mega-Thema der vor uns liegenden Jahre: Die Pflege und die Pflegeversicherung, die einen wichtigen Finanzierungsbaustein darstellt. Und die ist mal wieder ins Schussfeld der Apologeten der Finanzindustrie geraten. Angesichts der gewaltigen Geschäftspotenziale, die sich ergeben (würden), wenn man die umlagefinanzierte gesetzliche Pflegeversicherung nur schlecht genug redet (übrigens ein Mechanimus, der bei der Rentenversicherung hervorragend geklappt hat), ist es verständlich, wenn man immer wieder versucht ist, einen oder mehrere Miet-Professoren in Anspruch zu nehmen, denn wenn das direkt aus den Unternehmen kommt, dann ist den meisten klar, dass es hier nur um Verkaufe geht.

Da greift man dann beispielsweise gerne auf Bernd Raffelhüschen zurück.

»… Bernd Raffelhüschen ist nicht unumstritten und wird von Kritikern als Lobbyist der privaten Versicherungswirtschaft bezeichnet. So ist Raffelhüschen Mitglied im Aufsichtsrat der ERGO Versicherungsgruppe sowie der Volksbank Freiburg. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für die Victoria Versicherung AG in Düsseldorf tätig. Für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine wirtschaftsliberale Lobby-Organisation der Metall-Arbeitgeber, tritt er als Markenbotschafter in Erscheinung«, kann man einem Beitrag auf der Seite des Versicherungsboten entnehmen. Weitere Aktivitäten kann man einem Beitrag über ihn auf der Lobbypedia-Seite entnehmen.

Der nun wurde interviewt zum Thema Pflegeversicherung in seiner für die meisten Menschen gültigen und relevanten Ausgestaltung als eigener Zweig des (umlagefinanzierten) sozialen Sicherungssystems: „Größter Fehler der Nachkriegsgeschichte“, so hat der Deutschlandfunk das Interview mit ihm überschrieben.

Darin findet sich dann der folgende Passus mit Blick auf die Einführung der Pflegepflichtversicherung Mitte der 1990er Jahre:

»Wir haben aus der Wissenschaft immer ganz, ganz vehement davor gewarnt, diesen Weg zu gehen. Das war der größte sozialpolitische Fehler der Nachkriegsgeschichte, den wir dort gemacht haben. Den hat uns im Übrigen auch keiner nachgemacht. Alle haben auf Deutschland gezeigt und gesagt, so geht es halt nicht!»

Gleichsam en passant streut er hier „die“ Wissenschaft ein, um den damit verbundenen Nimbus für seine Bewertung zu nutzen. Schon recht dreist, wenn man sich die differenzierten wissenschaftlichen Diskurse zu diesem Thema anschaut. Aber mehr als eine Frechheit, nämlich schlichtweg eine Lüge ist die Aussage des Herrn Professors, der sich offensichtlich nicht auskennt in der internationalen Entwicklung der Absicherung der Pflegebedürftigkeit (das wäre die nette Variante) oder der das einfach fälschlicherweise umdeuten will zugunsten seiner negativen Bewertung: »Alle haben auf Deutschland gezeigt und gesagt, so geht es halt nicht!« Haben sie eben nicht.

Dazu die Hinweise in meinem durchaus kritischen Beitrag 20 Jahre Pflegeversicherung. Eine – wie immer in der Sozialpolitik – unvollständige Erfolgsgeschichte jenseits der Festveranstaltungen vom 17. Januar 2015. Dort wird aus dem BARMER GEK Pflegereport 2014 zitiert:

»… die deutsche Pflegeversicherung (wurde) Vorbild für die Einführung der Pflegeversicherung in Luxemburg, Japan und Korea und für viele aktuelle Debatten zur Pflegesicherung in anderen Teilen der Welt« (Rothgang et al. 2014: 27).«

Aber Raffelhüschen schießt eine weitere Nebelkerze ab, wenn er auf die Frage, wie man denn die Pflegekosten in die Griff bekommen könne ohne Pflegeversicherung, antwortet:

»Wir haben das vor 95 ja auch in den Griff bekommen! Vor 95 musste halt der Mensch – es sei denn, er war arm, dem haben wir geholfen! –, aber vor 95 musste man entsprechend selbst vorsorgen. Und das ging, ohne weiteres. Nach 95 haben alle was bekommen. Die Armen dasselbe wie vorher, die haben nichts dadurch gewonnen, und die Reichen, na, die wurden bereichert. Die Pflegeversicherung ist nichts anderes als so eine Art groß angelegtes Erbschaftsbewahrungsprogramm für den deutschen Mittelstand gewesen.«

Das ging eben nicht ohne weiteres – die strukturelle Überforderung des Einzelnen und vor allem der Kommunen mit ihren aus der Sozialhilfe zu bestreitenden Ausgaben der „Hilfe zur Pflege“ haben doch in einem langjährigen und quälenden Prozess der Suche nach einer Lösung zu der dann eingeschlagenen beitragsfinanzierten Sozialversicherungslösung geführt. Dazu aus dem Beitrag über 20 Jahre Pflegeversicherung:

So waren vor Einführung der Pflegeversicherung etwa 80 % der Pflegeheimbewohner auf die bedürftigkeitsabhängige Hilfe zur Pflege angewiesen, heute sind es weniger als die Hälfte. Die Versorgungssituation war damals eine ganz andere und durch erhebliche Defizite, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einrichtungen, sondern auch im Hinblick auf das konkrete Leistungsangebot gekennzeichnet. Qualität war kein Thema. Hier hat es nach Einführung der Pflegeversicherung erhebliche Veränderungen gegeben: Im Bereich der Pflegeinfrastruktur kam es zu einer dramatischen Expansion des Angebots an formeller Pflege. Im Pflege-Versicherungsgesetz wurde erstmals die ganze Bevölkerung obligatorisch in eine gesetzliche Versicherung einbezogen. Vor allem aber wurde das Pflegerisiko mit Einführung der Pflegeversicherung als allgemeines Lebensrisiko anerkannt, das einer sozialrechtlichen Bearbeitung bedarf.

Die wirklichen Schwachstellen und Herausforderungen, die es hier zu diskutieren gilt, interessieren den Herrn Raffelhüschen überhaupt nicht. Sie finden sich beispielsweise in dem von Rothgang et al. verfassten BARMER GEK Pflegereport 2014:

»Gleichzeitig enthält das Pflege-Versicherungsgesetz einige Geburtsfehler dieses neuen Sozialversicherungszweig, die bis heute nachwirken und aktuelle Reformvorhaben und -debatten prägen. Hierzu zählt der (zu) enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, der im für 2017 geplanten zweiten Pflegestärkungsgesetz erweitert werden soll, die fatale Eingrenzung der Beitragspflicht auf Löhne, Gehälter und Lohnersatzleistungen ebenso wie das duale System von Sozialer Pflegeversicherung und Privater Pflegepflichtversicherung, das normativ nicht gerechtfertigt werden kann. Auch produziert das Nebeneinander von einer Krankenversicherung mit Kassenwettbewerb und einer Pflegeversicherung ohne Kassenwettbewerb Fehlanreize an den Schnittstellen.«

Nein, was Raffelhüschen hier betreibt, das ist plumper Lobbyismus für die private Finanzindustrie und das par excellence. Hier soll ein Teilfinanzierungssystem zur Absicherung der Pflegebedürftigkeit diskreditiert und sturmreif geschossen werden, um dann in die erzeugte Lücke mit privaten Absicherungsmodellen hineinstoßen zu können.

So was muss man schlicht und einfach „junk science“ nennen:

»Junk Science … bzw. Minderwissenschaft ist Forschung, mit deren Ergebnissen Vertreter wirtschaftlicher, religiöser oder politischer Interessen versuchen, hoheitliche Entscheidungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Interessenvertreter sind dabei zugleich die Geldgeber der Forschung (gewöhnlich erfolgt die Finanzierung indirekt über eine Denkfabrik), wobei dieser Zusammenhang verschleiert oder zumindest nicht offenkundig gemacht und ausdrücklich angesprochen wird. Auf diese Weise erwecken die Forschungsergebnisse den Eindruck der Objektivität und wissenschaftlichen Unabhängigkeit. «

Digitale Drecksarbeit hinter unserem Rücken

Es verändert sich viel in der Arbeitswelt – und das häufig nicht zum Guten. In den vergangenen Jahren wurde viel diskutiert über Leiharbeit, Werkverträge oder befristete Beschäftigung. Immer wieder tauchen auch Berichte auf über die Arbeitswelt jenseits der in Berliner Cafés mit Apple-Geräten arbeitenden Kreativlinge. Vieles, um das es hier geht, nutzen wir alle, beispielsweise Google und Facebook. Aber auch in dieser anscheinend schönen neuen Glitzerwelt gibt es Drecksarbeit, digitale Drecksarbeit, um genau zu sein.

»Google-Suchergebnisse bewerten, pornografische Inhalte bei Youtube herausfiltern, Hass-Postings bei Facebook löschen: Hinter den Kulissen der Internetgiganten machen viele Menschen digitale Drecksarbeit zum Hungerlohn. Ist das der „Arbeitsstrich des 21. Jahrhunderts“?«, so die Fragestellung in dem Artikel Die unsichtbaren Porno-Löscher bei Youtube von Thomas Kutschbach.

Er verweist darauf, dass auf der einen Seite Google einer der attraktivsten Arbeitgeber ist, dessen Arbeitsbedingungen gerne in den Medien gehypt werden.»Es ist eine scheinbar perfekte Welt da im Silicon Valley. Doch längst nicht jeder, der für Google tätig ist, darf daran teilhaben. Für den Suchmaschinengiganten arbeiten Tausende unsichtbarer Helfer zu Mini-Löhnen. Ohne Versicherung, ohne Urlaubsanspruch, ohne Arbeitnehmerrechte.«

Kutschbach bezieht sich auf einen Vortrag bei der diesjährigen re:publica in Berlin:

»Die „Magie” der Google-Suche ist nur möglich, weil Heerscharen von „Google quality raters” den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen und Suchergebnisse bewerten. Menschen bringen dem Algorithmus bei, welche gefundenen Webseiten gut sind und welche nicht. „Hat sich schon mal jemand gefragt, warum es bei Youtube keine Pornos gibt?”, fragt Speaker Johannes Kleske bei seinem Vortrag „Mensch, Macht, Maschine” ins Publikum. Er gibt die Antwort gleich selbst: „Weil es Menschen gibt, die sie den ganzen Tag lang aussortieren.”«

Die Menschen, die das tun, werden Datenhausmeister genannt, auch Begriffe wie Crowdworker oder Clickworker sind geläufig.
»Sie sind das schlecht bezahlte Prekariat der digitalen Welt«, so Kutschbach.

Aber wie kann das sein, in der Welt der Algorithmen und der Programme?

»Es gibt sie, weil Menschen in vielen Bereichen einfach besser arbeiten als Maschinen. Beim Identifizieren von Werbung oder Hasskommentaren zum Beispiel.«

Amazon treibt dieses Geschäftsmodell mit „Amazon mechanical turk” auf die Spitze. Dort bestimmt eine Computerschnittstelle, welche Aufgaben von Clickworkern übernommen werden. Der Algorithmus wird zum Vorgesetzten, so Kutschbach.
Johannes Kleske hat in seinem Vortrag sogar vom „Arbeitsstrich des 21. Jahrhunderts“ gesprochen.

Kann man was dagegen machen? Schwierig, vor allem aufgrund der Vereinzelung und des brutalen Konkurrenzkampfes in der Branche. Aber:

»So hat die IG Metall am 1. Mai die Plattform faircrowdwork.org gestartet. Und auch einige Startups gehen schon in eine andere Richtung. Der Butler-Service Alfred setzt bewusst auf festangestellte Mitarbeiter, um die Qualität des Services zu garantieren.«

Kleine Schritte auf einem unvermeidbaren Weg. Immerhin.

Die Pflege allein zu Haus. Diesseits und jenseits der auch am diesjährigen Tag der Pflege vorgetragenen warmen Worte braut sich was zusammen

Der internationale Aktionstag „Tag der Pflege“ („International Nurses Day“, eigentlich müsste man also richtigerweise von „Tag der Krankenschwestern und -pfleger sprechen) am 12. Mai wird in Deutschland seit 1967 veranstaltet. Es ist der Geburtstag von Florence Nightingale, der Begründerin der systematischen Krankenpflege. Solche mehr oder weniger sinnvollen Tage des … werden dann gerne genutzt, um den Müttern, Vätern (kommt diese Woche auch noch) oder wem auch immer seine Aufwartung zu machen und auf die Schulter zu klopfen.

Aber sie können auch einen Impuls setzen, einen etwas genaueren Blick zu werfen auf das, was da meistens als toll, wertvoll und unverzichtbar semantisch eingenebelt wird. Gerade im Bereich „der“ Pflege ist das auch wahrlich dringend angezeigt. Wobei die Anführungsstriche bereits andeuten, dass es mit „der“ Pflege gar nicht so einfach ist.

Welche Pflege meinen wir denn? Die in den Krankenhäusern oder Psychiatrien? Die in den Altenpflegeheimen oder ambulanten Pflegedienste, die wiederum nicht nur die Pflegebedürftigen nach dem SGB XI betreuen, sondern auch in die häusliche Krankenpflege nach dem SGB V involviert sind und damit die versorgen, die immer schneller aus den unter Fallpauschalenbedingungen agierenden Kliniken wieder ausgestoßen werden (müssen)? Oder meinen wir vielleicht die „24-Stunden-Pflege“ eines demenzkranken Familienangehörigen in seinem häuslichen Umfeld mithilfe einer osteuropäischen Pflege- oder Betreuungskraft? Oder die Pflege der vielen Angehörigen, die das allein machen, ohne auf professionelle Unterstützung zurückzugreifen? Bereits diese erste Annäherung verdeutlicht, dass wir es mit einem mehr als unübersichtlichen Gelände zu tun haben.

Sozialpolitisch im engeren Sinne besonders relevant sind dann beispielsweise solche Äußerungen:

»Mit eindringlichen Worten hat die Freie Wohlfahrtspflege in NRW Reformen bei der Pflege angemahnt. „Es wird einen gesellschaftlichen Knall geben», warnte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege, Ludger Jutkeit, am Dienstag in Düsseldorf. Bis 2030 werde die Zahl der Pflegebedürftigen im bevölkerungsreichsten Bundesland nach offiziellen Behörden-Schätzungen auf 700.000 ansteigen, bis 2050 sogar auf 930.000. Unter dem Motto „Wir für Sie“ haben die Mitgliedsverbände am Dienstag eine landesweite „Initiative für eine gute Pflege heute und in Zukunft“ gestartet.
Dringend nötig sei eine Aufwertung des Pflegeberufs, forderte Jutkeit. Mehr wohnortnahe Pflegeangebote seien ebenso notwendig wie eine stärkere Einbindung von Ehrenamtlichen. „Sonst werden wir das nicht schaffen“, betonte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege. Bereits jetzt werden knapp 580.000 kranke und alte Menschen in NRW gepflegt. Knapp ein Drittel lebt nicht mehr zu Hause, sondern in Heimen.«

Dabei ist das noch eine sehr zurückhaltend formulierte Stellungnahme mit kritischen Tönen. Aus den Reihen der Pflege selbst kommen da ganz andere Stimmen und auch die Medienberichte als gesellschaftliches (Problem-)Beobachtungssystem zeichnen überwiegend ein düsteres Bild von der Pflege. Hier nur einige Beispiele aus der aktuellen Fernseh-Berichterstattung:

Kontraste: Streit um abgelegene Dörfer für Demenzkranke (07.05.2015)
Zur Betreuung und Pflege von Demenzkranken gibt es in Deutschland erste „Demenzdörfer“. In diesen Einrichtungen soll den Erkrankten in einem Maße Sicherheit und Bewegungsfreiheit ermöglicht werden, was sie in konventionellen Heimen nicht finden. „Demenzdörfer“ liegen meist abseits, dort, wo bauen preiswert ist. Die Betreiber werden hart kritisiert: Inklusion sei da nicht möglich, die Kranken würden einfach abgeschoben. Obwohl gerade die dort alles finden, was sie brauchen.

Zu wenig Pfleger für zu viele Heimbewohner – bereits jetzt ist zu spüren, was angesichts immer älter werdender Generationen auf uns zukommt. Das Problem: Es entscheiden sich viel zu wenige Menschen für einen Job als Pflegekraft. die story stellt die Frage: Was macht diesen Job so unattraktiv? Djamila Benkhelouf und Philipp Kafsack begleiten zwei erfahrene Pflegekräfte bei ihrer Arbeit in einem Haus für demenziell erkrankte Menschen und bekommen einen intensiven Einblick in diesen emotional und körperlich extrem herausfordernden Beruf. Gleichzeitig überprüft die story die groß angekündigte Pflegereform der Bundesregierung auf deren Praxistauglichkeit und trifft eine Frau, die Deutschland verlassen hat, weil sie die miserablen Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte hier nicht mehr ertragen hat. die story will wissen: Sind die Pfleger Opfer eines völlig veralteten und falsch organisierten Pflegesystems? Und was bringt die Pflegereform tatsächlich?
Alte Menschen, die krank oder dement sind, brauchen Pflege. In Deutschland sind das zweieinhalb Millionen. Doch die Rente reicht oft nicht aus, um die Kosten zu decken, etwa eine Unterbringung im Heim. Deshalb sind heute schon 40 Prozent der Pflegebedürftigen auf das Sozialamt angewiesen. Und es werden immer mehr. Die Autoren Hauke Wendler und Carsten Rau haben gefragt: Was läuft bei der Pflege falsch? Was sollten Betroffene und ihre Angehörigen wissen?

Report Mainz: Riskante Nächte im Pflegeheim (14.04.2015)
In vielen Pflegeheimen arbeiten viel zu wenig Nachtwachen, teilweise ist eine Pflegekraft für 90 Bewohner verantwortlich. Die bayerische Pflegeministerin will das jetzt ändern.

WDR tag 7: Pflege macht arm (07.04.2015)
Sieben Jahre lang hat sie ihre schwerkranke Mutter gepflegt, rund um die Uhr. Jetzt aber, nach dem Tod der Mutter, nimmt Renate Lonn die Fäden ihres Lebens wieder auf. Sie will raus aus Hagen. Die Realität aber treibt sie ins Jobcenter, sie muss Hartz IV anmelden.

Wir sind noch gar nicht auf Betriebstemperatur beim Verlinken der aktuellen Beiträge, stoppen aber an dieser Stelle in Anbetracht des wahrscheinlichen Einwands des einen oder der anderen, dass das eben eine sehr verzerrte Wahrnehmung dessen sei, was Pflege ist, denn Medien neigen bekanntlich dazu, oft oder ausschließlich einen eher skandalisierenden, zumindest einen nur problem- bzw. defizitfokussierten Zugang zum Thema zu wählen.
Aber auch die eher wissenschaftlich fundierte Literatur ist da nur graduell – nicht aber von der Richtung – anders, natürlich mit einem höheren Differenzierungsgrad versehen. Aus der Vielzahl an Studien zu den sehr unterschiedlichen Bereichen seien hier nur neuere Arbeiten zu einem Teil des Pflegesystems exemplarisch herausgegriffen, der immer im Schatten der Pflegedebatte steht: Die zahlreichen osteuropäischen Pflegekräfte und Haushaltshilfen, die in vielen deutschen Familien dafür sorgen, dass Pflegebedürftige zu Hause versorgt werden können und (noch) nicht ins Heim müssen.
Patrycja Kniejska thematisiert in ihrer im Mai 2015 veröffentlichten Expertise die All-inclusive-Pflege aus Polen in der Schattenzone. Ergebnisse von Interviews mit polnischen Pflegekräften, die in deutschen Privathaushalten beschäftigt sind. In diesem Kontext sei auch auf die im Juli 2014 publizierte Expertise Haushaltsnahe Dienstleistungen durch Migrantinnen in Familien mit Pflegebedürftigkeit. 24 Stunden verfügbar – Private Pflege in Deutschland von Andrea von der Malsburg und Michael Isfort hingewiesen. Man muss sich an dieser Stelle darüber im Klaren werden, dass die meisten dieser Menschen in halb-legalen bzw. illegalen Verhältnissen arbeiten (müssen), die seit Jahren beklagt werden und die es mit sich bringen, dass die Betroffenen hier bei uns eigentlich – wenn es denn jemand kontrollieren würde – ständig mit einem Bein im Gefängnis stehen.

Die Politik ist seit vielen Jahren über diesen Tatbestand informiert, vergleiche dazu beispielsweise meine Ausführungen in dem bereits 2010 erschienenen Paper Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten). Faktisch nutzen wir in erheblichem Umfang das immer noch enorme Wohlstandsgefälle zwischen Osteuropa und uns in Form der Beschäftigung von osteuropäischen Pflegekräften und Haushaltshilfen zu unseren Gunsten aus, aber die politischen Entscheidungsträger agieren weiterhin im Grunde nach dem Vogel-Strauß-Prinzip.  Gleichzeitig sind die betroffenen Menschen aus Osteuropa in der unguten Situation, dass sie im Regelfall alleine auf sich gestellt in Privathaushalten arbeiten, ohne dass es eine systematische Einbettung und Begleitung durch Außenstehende gibt, was selbstverständlich Ausbeutungssituationen befördert. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Frauen in ihren Herkunftsländern erhebliche Lücken reißen, den viele von Ihnen haben kleine Kinder, die sie oft monatelang zurücklassen müssen. Außerdem fehlen viele von ihnen in den Pflegesystem ihrer Länder. Das teilen Sie dann mit den vielen Ärzten aus Osteuropa, die mittlerweile in deutschen Krankenhäusern den Zusammenbruch des medizinischen Versorgungssystems gerade in den ländlichen Regionen bei uns verhindern. 

An dieser Stelle soll ein Blick auf die mehr als heterogenen Pflegewelt geworfen – und mit einem besonderen Fokus auf die Menschen, die in der Pflege arbeiten – die Frage gestellt werden, was denn die zentrale Baustellen in der Pflegelandschaft sind. Nicht wirklich überraschend landen wir da bei einigen wenigen zentralen Entwicklungen, die wir auch aus anderen Handlungsfeldern der Sozialpolitik kennen, die aber in der Pflege – sowohl in den Krankenhäusern wie auch in der Altenpflege – massive Schneisen geschlagen haben, mit der Folge einer erheblichen Druckzunahme im Kessel.

Wenn man es auf den Punkt bringen muss, dann lässt sich sagen, dass in den beiden großen Bereichen der Pflege in den vergangenen Jahren Prozesse stattgefunden haben, die dazu führen, dass nicht nur generell davon gesprochen werden muss, dass zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist, sondern dieses dann auch noch ständig unter Volllast-Bedingungen arbeiten muss. Man kann sich das sowohl mit Blick auf die Krankenhäuser wie auch auf die Altenheime ganz einfach verdeutlichen:
  • Anfang des Jahrtausends wurde die Finanzierung der Krankenhäuser in Deutschland fundamental umgestellt, von der bis dahin dominierenden Finanzierung über tagesgleiche Pflegesätze in zu einem Fallpauschalensystem auf DRG-Basis. Die Absicht, die mit diesem Systemwechsel damals verbunden war, wurde keineswegs verschwiegen: Es ging um eine bewusste Ökonomisierung der Krankenhäuser dergestalt, dass die Kosten der Krankenhausbehandlung dadurch gesenkt werden sollten, dass die Patienten immer kürzer zu behandeln sind und gleichzeitig auf die Kliniken ein enormer Spezialisierungsdruck ausgeübt wurde. Beide Effekte sind eingetreten – allerdings mit der für das Pflegepersonal durchaus als fatal zu bezeichnenden Folge, dass die – wie gesagt beabsichtigte – deutliche Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit der Patienten dazu geführt hat, dass man in den Krankenhäusern nur noch mit pflegeintensiven Fällen konfrontiert ist und der in früheren Zeiten immer vorhandene Puffer an Patienten, die letztendlich in den letzten Tagen ihres Aufenthalts lediglich Hotellerie-Leistungen in Anspruch genommen haben, nicht mehr vorhanden ist. In der Konsequenz für das natürlich dazu, dass das Pflegepersonal permanent unter Druck arbeiten muss, weil es eine Konzentration im Sinne einer deutlichen Zunahme der Pflegeintensität gegeben hat.
  • Einen durchaus vergleichbaren Prozess haben die Altenheime in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren durchgemacht. wenn man früher ein Altenheim betreten hat, dann wurde man mit einer typischen Drittel-Mischung der Bewohner konfrontiert. Ein Drittel der Menschen waren noch so fit, dass sie im wesentlichen nur auf Hotellerie-Leistungen angewiesen waren  Und in unterschiedlicher Art und Weise durchaus am gesellschaftlichen Leben innerhalb des Heims teilnehmen konnten. Ein weiteres Drittel der Bewohner war normal und das andere schwer pflegebedürftig. Wenn man heute in ein Pflegeheim in Deutschland kommt, dann wird man mit einer ganz anderen Konstellation konfrontiert: Das durchschnittliche Heimeintrittsalter liegt bei über 85 Jahren und die meisten Bewohner sind in der Pflegestufe zwei oder drei und der Anteil der Demenz Kranken beläuft sich oft auf über 60 %. Wir sehen etwas, was der Heimkritiker Klaus Dörner als „Konzentration der Unerträglichkeit“ für beide Seiten im Pflegeprozess, also für die Bewohner wie auch für die Pflegekräfte, bezeichnet hat. Eine – wohl gemerkt aus Sicht der Institutionen und der dort arbeitenden Menschen – „gesunde“ Mischung der Bewohnerschaft ist heute nicht mehr gegeben. Auch hier haben die Pflegeintensität und die damit verbundenen Belastungsprofile ganz enorm zugenommen. 
Insofern kann man – summa summarum – die an vielen Stellen von den Pflegekräften vorgetragenen Klagen über eine dauerhafte Überlastung absolut nachvollziehen. Angesichts der deutlichen Verschiebung der Grundgesamtheit ihrer „Kunden“ in Richtung auf schwerere Fälle bringt es mit sich, dass immer mehr Pflegekräfte im wahrsten Sinne des Wortes „auf dem Zahnfleisch gehen“.
Was wäre die eigentliche Konsequenz, die man aus einer solchen Situation beziehen müsste? Natürlich, die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmer müssten versuchen, die Arbeitsbedingungen des Personals (wieder) zu verbessern. Aber die in diesem Bereich zuständige Gewerkschaft Verdi bewegt sich eben nicht auf einem normalen Markt, sondern die Finanzierung der Krankenhäuser wie auch der Pflegeheime wird im wesentlichen determiniert über administriere Preise, die vom Staat bzw. den Sozialversicherungen – wenn auch formal in Verhandlungen – diktiert werden. Und wie soll beispielsweise ein Pflegeheim, dessen Gesamtkosten anteilig zu 70 % oder mehr aus Personalkosten besteht, die Vergütungen der Pflegekräfte deutlich anheben, wie es vielleicht bzw. sicher angebracht wäre, wenn die so genannten „Kostenträger“ über harte Budgetregeln eine solche Maßnahme aufgrund der begrenzten Refinanzierung gar nicht zulassen.

Gerade in solchen Systemen zeigt sich die besondere Bedeutung und Sinnhaftigkeit von – idealerweise auf fachwissenschaftlicher Basis kalkulierter – Standards, beispielsweise einer konkreten Verpflichtung, bestimmte Personalschlüssel zu realisieren. Gerade im Krankenhausbereich wird darüber seit vielen Jahren erbittert diskutiert und gestritten. Und natürlich versucht die Krankenhaus-Seite jeden Vorstoß in diese Richtung abzublocken und zu verhindern.
Aber wir sehen erste zarte Pflänzchen des Widerstands gegen die ständige Verweigerungshaltung hinsichtlich der angesprochenen Standards der Personalausstattung. Vgl. dazu mit Blick auf die Krankenhäuser den Diskussionsbeitrag Personalbesetzungsstandards für den Pflegedienst der Krankenhäuser: Zum Stand der Diskussion und möglichen Ansätzen für eine staatliche Regulierung von Michael Simon aus dem vergangenen Jahr oder auch die Studie Instrumente zur Personalbemessung und ‐finanzierung in der Krankenhauspflege in Deutschland von Dominik Thomas, Antonius Reifferscheid, Natalie Pomorin und Jürgen Wasem.
Auch die Beschäftigten selbst haben in jüngster Zeit die Initiative in diesem Bereich ergriffen und das, was beispielsweise an der Charité in Berlin abgelaufen ist, kann gar nicht hoch genug bewertet werden: »Die Krankenschwestern und -pfleger gehen auf die Barrikaden: Sie wollen kommende Woche streiken. Es geht ihnen nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen«, so  Jörn Boewe und Johannes Schulten in ihrem Artikel Diagnose: Heilung kaum mehr möglich. Da wurde im Vorfeld über den damals noch geplanten Streik der Pflegekräfte an der Charité berichtet. Und die Forderung hinter der damaligen Streikandrohung geht so:

»Es ist ein ungewöhnlicher Ausstand. Denn es geht dabei nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen. Eine Pflegekraft soll auf einer Normalstation nicht mehr als fünf Patienten betreuen, auf Intensivstationen zwei, fordert die Gewerkschaft Verdi. Nachts soll niemand mehr allein auf einer Station eingesetzt werden. Derzeit betreut eine Pflegekraft an der Charité im Schnitt zwölf Patienten.«

Und die Pflegekräfte haben durchaus konsequent ihr Anliegen vorangetrieben: „Gravierender Warnstreik“ an der Charité – 400 Operationen fallen aus, so eine der vielen Schlagzeilen. »Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus. Zu Recht«, so die Kommentierung von Hannes Heine unter der Überschrift Ein krankes System:

»Manchmal macht eine Handvoll engagierter Männer und Frauen einen Unterschied, der bald Hunderttausende, mittelbar gar Millionen betreffen wird. Als am Montag der Streik an der Charité begann, könnte das so ein Moment gewesen sein: Die Schwestern und Pfleger der Universitätsklinik legten die Arbeit nicht etwa nieder, weil sie mehr Lohn wollten – obwohl viele von ihnen auch damit einverstanden wären. Die Streikenden fordern hingegen mehr Kollegen auf den Stationen. Sie wollen nachts nicht mit 25 Patienten allein sein, sie wollen mit Schwerkranken reden, ohne gleich zum nächsten Patienten hetzen zu müssen, sie wollen Überstunden abbauen, statt anzuhäufen. Kurz: Sie wollen ein anderes Gesundheitssystem.«

Und er fügt an: »Bislang ist es nur den Ärzten gelungen, aus den gedeckelten Töpfen mehr zu erkämpfen. Die Pflegekräfte aber werden kaum irgendwo in der westlichen Welt so verheizt wie in Deutschland. Selbst in den USA gehen Kliniken pfleglicher mit ihrem Personal um.«
Und auch in der Altenpflege geht es immer wieder und immer stärker um dieses eine Thema: mehr Personal ist erforderlich.

Warum aber tut sich dann so wenig? Neben vielen anderen Aspekten muss man schlichtweg zur Kenntnis nehmen, dass das Arbeitsfeld, in dem sich die Pflegekräfte bewegen, eben nicht vergleichbar ist mit einer Automobilfabrik bei Daimler oder VW, die man durchaus lahmlegen kann durch eine Streikaktion, ohne dass deshalb die Republik zum Stillstand kommt oder neben den Schäden für die Arbeitgeber irgendwelche weiteren Auswirkungen auf die Bürger zu beobachten sind. Denn, seien wir ehrlich: Ein Streik in einem Pflegeheim ist erst einmal eine apokalyptische Vorstellung für die Betroffenen, die ja 24 Stunden am Tag den Pflegekräften im positiven wie negativen Sinne ausgeliefert sind. Und auch viele Pflegekräfte äußern genau an dieser Stelle ihre Vorbehalte bzw. ihrer Ablehnung von „klassischen“ Streikaktionen.
Vor diesem Hintergrund werden viele Pflegekräfte überaus aufmerksam den derzeit laufenden und mittlerweile unbefristeten Streik der Erzieher/innen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen beobachten und verfolgen. Denn die sind mit den gleichen Problemen konfrontiert, die wir auch in der Pflege antreffen. Sollte es den Gewerkschaften Verdi und GEW gewinnen, die streikenden Erzieherinnen zu einem halbwegs akzeptablen Tarifergebnis zu führen, dann wird sich über kurz oder lang auch und gerade bei den Pflegekräften, die in teilweise noch desaströseren  Arbeitsbedingungen fest hängen, ein großer Arbeitskampf entwickeln, um anzuschließen an die neuere Entwicklung bestimmter Berufe oder Branchen, denen es nicht nur, aber auch aufgrund ihrer Streikfähigkeit gelungen ist, der Gegenseite zu signalisieren, dass man eben nicht mehr alles mit ihnen machen kann.
Der Pflege bzw. korrekter: den Menschen, die pflegen,  wäre genau das wirklich zu wünschen.

Die kleinen egoistischen Wilden? Beiträge zur Versachlichung der Debatte über Berufs- und Spartengewerkschaften

»Bei der Rolle der Berufsgewerkschaften in der Tarifpolitik handelt es sich um ein heikles, sehr kontrovers und häufig auch emotional diskutiertes Thema. Für die einen sind die Berufs- und Spartengewerkschaften der neue Typus einer kämpferischen Gewerkschaft, die unbeeindruckt von den Restriktionen einer eingefressenen Sozialpartnerschaft für die originäre Interessenvertretung ihrer Mitglieder steht. Für die anderen sind sie hingegen eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit, die rücksichtslos und ohne Blick auf die Interessen der Gesamtbelegschaften die Einzelinteressen kleiner Belegschaftsgruppen vertreten.« So beginnt ein wirklich lesenswerter Artikel von Reinhard Bispinck vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit der Überschrift Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik.
Er beginnt seine Einordnung mit dem Hinweis auf fünf zentrale Entwicklungslinien in der Tarif- und Gewerkschaftslandschaft: Erosion der Tarifbindung, Fragmentierung der Tariflandschaft, Pluralität der Gewerkschaftsverbände, Über- und Unterbietungskonkurrenz sowie eine gestiegene Bedeutung der Berufs- und Spartengewerkschaften.

Wenn man über Tarifpolitik – auch über die Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften – spricht, muss man sich bewusst sein, dass es um ein schrumpfendes Handlungsfeld geht, in dem nur noch 58 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge erfasst werden –  Ende der 1990er Jahre waren es noch mehr als 70 Prozent. »Nur noch in Ausnahmefällen gibt es den Idealtypus des branchenübergreifenden Flächentarifvertrages, der einheitlich Arbeits- und Einkommensbedingungen in den betreffenden Betrieben regelt.« Und diese Fragmentierung des Tarifsystems wird ergänzt durch Gewerkschaftspluralität, was seit einem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 auch Tarifpluralität bedeutet, jedenfalls noch, denn ein „Tarifeinheitsgesetz“ ist schon von der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden. Neben den DGB-Gewerkschaften gibt es die Berufs- oder Spartengewerkschaften. Und die sind seit geraumer Zeit in das Visier der Politik geraten. Und die Debatte über sie hat in den Medien teilweise hysterische Züge angenommen, vor allem mit einem völlig verengten Blick auf die GDL (und besonders auf den Vorsitzenden dieser Truppe, also auf Claus Weselsky) sowie auf die Pilotengewerkschaft Cockpit, die regelmäßig die Lufthanseaten unter den Piloten in den Ausstand führen.

Immer wieder – so Bispinck – wird im Zusammenhang mit den Sparten- und Berufsgewerkschaften vor „englischen Verhältnissen“ gewarnt, wonach die 600 Klein- und Kleinstgewerkschaften in Großbritannien den Industriestandort ruiniert haben. Aber das entlarvt er für Deutschland als das, was es ist – Unsinn. Denn:
»Es gibt hier nicht etwa 600, sondern nur sechs Berufsgewerkschaften, die man als streikfähige Gewerkschaften bezeichnen kann, als akzeptierte Tarifvertragsparteien mit eigenständigen Tarifverträgen. Diese Zahl ist seit langer Zeit stabil, selbst nach dem BAG-Urteil von 2010 hat sich daran nichts geändert.«

Von den sechs wichtigsten Berufsgewerkschaften sind die meisten auch keine Neugründungen, sondern haben Jahrzehnte – im Fall der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) – sogar mehr als ein Jahrhundert Geschichte hinter sich. Sie zeichnen sich aus durch einen hohen Organisationsgrad. Und wie sagt man so schön: Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen, was zutreffend ist, wenn man sich die tarifpolitische Bedeutung der „kleinen“ Gewerkschaften vor Augen führt:

»Laut dem jährlichen Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) haben wir rund 47.000 sogenannte Ursprungstarifverträge. Änderungs- und Paralleltarifverträge sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt. Zusammengerechnet sind es aber nur 567 Ursprungstarifverträge, die Marburger Bund, GDL, Vereinigung Cockpit (VC), Deutscher Journalisten-Verband (DJV), UFO und der Verband der medizinischen Fachangestellten (VmF) abgeschlossen haben. Die meisten Tarifverträge wurden mit dem Marburger Bund abgeschlossen, gefolgt von der GDL. Sehr häufig handelt es sich dabei um Firmentarifverträge.«

Und wie ist es mit der gerade gegenwärtig heftig diskutierten „Streikwelle“ durch diese Gewerkschaften? Auch hier ist wieder ein nüchterner Blick angesagt:

»Die Bedeutung der Streiks in der Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften wird deutlich überschätzt. Es gibt zwar eine Reihe von spektakulären Arbeitskämpfen, die von Berufsgewerkschaften durchgeführt worden sind, aber keineswegs nur solche. Die normale Tarifrunde einer Berufsgewerkschaft ist nicht immer durch Warnstreiks oder Streiks gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir haben in den letzten Jahren ein völlig normales Tarifgeschäft beobachten können.«

Der entscheidende Punkt hierbei ist: Arbeitskämpfe in den Vertretungsbereichen der Berufsgewerkschaften erfahren häufig eine ganz andere mediale Aufmerksamkeit. Bispinck dazu: »Wenn – wie in dieser Tarifrunde 2015 – 890.000 Beschäftigte in den Metallbetrieben warnstreiken, dann steht das in der Zeitung, es nimmt aber niemand wahr. Wenn tausende Beschäftigte  bei der Bahn, in den Krankenhäusern oder im Luftverkehr in den Streik treten, ist die unmittelbare Betroffenheit eine ganz andere.« Wir sind hier also konfrontiert mit einem Auseinanderfallen der subjektiven Wahrnehmung und der objektiven Daten.

Und Bispinck treibt die notwendige Differenzierung und damit verbunden auch Relativierung weiter, in dem er darauf hinweist, dass es im Kern um drei Bereiche geht:

»Das erste Konfliktfeld ist der Flughafen. Es gibt verschiedenste Berufsgruppen und mehrere zuständige Gewerkschaften. Piloten, Kabinenpersonal, Bodenpersonal, Fluglotsen, Sicherheitspersonal und das breite Spektrum von Dienstleistungsanbietern rund um das gesamte Flughafengeschäft. Die großen oder größeren Player sind hier ver.di, Cockpit, UFO und die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF).

Bei der Bahn ist das Feld übersichtlicher, was aber nicht heißt, dass es weniger konfliktträchtig wäre. Die beiden dort aktiven Gewerkschaften sind die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die GDL. Und wir haben mit der Deutschen Bahn AG einen Arbeitgeber, der versucht, in diesem Umfeld Tarifkollisionen in Tarifverträgen zu vermeiden.

Schließlich das Konfliktfeld Krankenhaus. Neben ver.di ist hier vor allem der Marburger Bund ein aktiver tarifpolitischer Akteur. In der aktuellen Diskussion um die Berufsgewerkschaften steht dieser Bereich nicht im Zentrum, weil es in den vergangenen Jahren nur selten zu Tarifkonflikten mit Streiks mit dem Marburger Bund gekommen ist.«

Und wie ist es mit der Gefahr der „Überbietungskonkurrenz“? Immerhin: »Hohe Tarifabschlüsse durch Cockpit (Lufthansa 2001), Marburger Bund (Ärzte 2006) und GDL (Deutsche Bahn 2008) legen den Schluss nahe: Wenn Berufsgewerkschaften antreten, erzielen sie deutlich bessere Ergebnisse.« Wie so oft kann es helfen, wenn man die Abschlüsse über einen längeren Zeitraum verfolgt. »Das Ergebnis: Bei der Deutschen Bahn hat die EVG in den Jahren 2007 bis 2014 etwas besser abgeschnitten als die GDL, bei der Lufthansa erreichten Cockpit ein Plus von 17 Prozent, UFO 21 Prozent und ver.di 27 Prozent.«

»Bleibt die Frage: Haben wir es bei den Berufsgewerkschaften mit einer klientelorientierten, gruppenegoistischen Tarifpolitik zu tun, während die DGB-Gewerkschaften ihrerseits eine solidarische Tarifpolitik betreiben, die Belegschaften insgesamt in den Blick nimmt …«
Auch hier ergibt der Vergleich mit den „Normal“- also DGB-Gewerkschaften keine Sonderrolle der Berufs- und Spartengewerkschaften:

»Hohe Tarifforderungen für einzelne Beschäftigtengruppen sind … kein „Privileg“ der Berufsgewerkschaften: Zwei Beispiele zeigen, dass auch DGB-Gewerkschaften entsprechende Forderungen in den Tarifverhandlungen stellen. Im Bewachungsgewerbe Nordrhein-Westfalen forderte ver.di 2013 30 Prozent mehr. In der aktuellen Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst werden im Schnitt zehn Prozent gefordert, bei genauerer Betrachtung für einzelne Berufsgruppen sogar ein Plus von bis zu 20 Prozent.«

Soweit die nüchterne Analyse von Bispinck.

Und ein weiterer Beitrag – mit einem besonderen Fokus auf das vor der Verabschiedung stehende Tarifeinheitsgesetz – soll hier nicht unerwähnt bleiben:

Mittlerweile fahren die Züge bei der Deutschen Bahn wieder bzw. sie versuchen es, wieder in Gang zu kommen. Die GDL verspricht den Kunden dieses Mobilitätsunternehmens eine „Pause“, in der sie nicht mit weiteren Streikaktionen rechnen müssen. Aber an der grundsätzlich verfahrenen Situation hat sich nichts geändert. Und während nicht wenige Medien ihr Heil zu suchen meinen in einer völlig unterirdischen Personalisierung des Konflikts mit einer Fokussierung auf einen angeblich völlig abgehoben bis durchgeplanten GDL-Chef Weselsky, gab es in den zurückliegenden Tagen durchaus erstaunlich viele differenzierte Kommentare in der Presse über die Hintergründe des scheinbaren Amoklaufs der Gewerkschaft GDL.

Das besten Beispiel für eine klare Sicht auf den eigentlichen Grundkonflikt, mit dem wir es nunmehr zu tun haben, liefert nicht irgendein linker Journalist, sondern Rainer Hank, der verantwortliche Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, gemeinhin bekannt für seine – wie gewisse Kreise sagen würden – ausgesprochen neoliberalen Positionen. Der hat heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag veröffentlicht, der hier nur empfohlen werden kann: Warum Weselsky nicht durchgeknallt ist, so kompakt hat er seinen Artikel überschrieben. Und er feuert gleich im Untertitel die Kernaussage ab: »Versteht noch jemand, was bei der Bahn los ist? Ja. Es ist die große Koalition, die Weselsky in den Streik hineingetrieben hat.«
So ist das wohl leider. Greifen wir einige Argumente von Hank heraus:

»Weselsky ist nicht durchgeknallt. Er mag womöglich nicht gerade ein Charmeur sein. Aber er hat intuitiv erkannt, dass es in diesem Streit nicht nur um die Bahn geht, sondern um ein grundsätzliches Thema: Wie halten wir es mit den Freiheitsrechten von Minderheiten?« Und weiter: »Das sogenannte Tarifeinheitsgesetz aus dem Hause von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist nicht die mögliche Lösung des Konflikts, sondern in Wirklichkeit seine Ursache.«

Und dann verdichtet Hank das Grundproblem völlig zutreffend:

»Es ist die Ironie der Geschichte, dass SPD-Minister sich zum Handlanger der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes) machen lassen: Die beiden Kartellverbände fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von den kleinen Gewerkschaften bedroht und verstehen es prächtig, ihre Machtanmaßung als Gemeinwohlinteresse zu kaschieren. In Wirklichkeit soll das Diktat der Mehrheit die Minderheit ersticken. Dabei hatten gerade die Arbeitgeberverbände noch nie ein Problem damit, durch Leiharbeit oder Werkverträge verursachte Lohnkonkurrenz in ihren Betrieben friedlich zu handhaben.«

Genau in diese Richtung habe ich in mehreren Beiträgen im Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ argumentiert.

Vgl. dazu Der Blick verengt sich auf den mehrtägig angelegten Streik der Lokführer. Und gleichzeitig wird im Parlament das Streikrecht und seine (eingeschränkte) Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt,

Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle 

sowie vor allem den Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Man kann nur weiterhin hoffen, dass der eine oder die andere noch rechtzeitig über das Tarifeinheitsgesetz nachdenkt, bevor es zur endgültigen Abstimmung im Bundestag kommt.

Diesseits und jenseits des „Muttertages“. Von glücklichen Müttern und armen Kindern

Seien wir ehrlich – viele Menschen werden versucht sein, den heutigen „Muttertag“ als ein Hochamt zugunsten der notleidenden Blumenhändler zu charakterisieren bzw. abzuwerten. Und es fehlt natürlich auch nicht an kritischen Einwürfen, die in ihrer Extremvariante auf eine Instrumentalisierung dieses „Feiertages“ im Nationalsozialismus meinen hinweisen zu müssen bzw. zumindest darauf aufmerksam machen, dass es scheinheilig sei, an einem Tag des Jahres die Mütter mit ihrem Tun vor allem im Bereich der unbezahlten Arbeit in den Familien zu würdigen und an den Verhältnissen ansonsten nichts zu ändern. Aber so einfach ist es eben nicht, wenn man einen kurzen Moment innehält und zurückblickt in die Entstehungsgeschichte dessen, was heute mehr oder weniger gelungen in vielen Familien inszeniert wird – zugleich wieder einmal ein Lehrbuchbeispiel, was im Laufe der Zeit aus einer ursprünglichen Absicht so werden kann.

Der Muttertag hat seinen Ursprung nicht in den Untiefen der nationalsozialistischen Mutterideologie und auch nicht in den Blumenläden auf der Suche nach neuen Absatzkanälen – sondern in der amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis (1832-1905) versuchte im Jahr 1865, eine Mütterbewegung namens Mothers Friendships Day zu gründen und sie organisierte Mothers Day Meetings, wo sich die Frauen austauschen konnten. Als Begründerin des heutigen Muttertags gilt jedoch Anna Marie Jarvis (1864-1948), die Tochter von Ann Maria Reeves Jarvis. In ihrem 2008 veröffentlichten Beitrag Die Muttertagsmaschinerie schreibt Sandra Kegel zu dieser Frau (und ihrer Mutter):

»Begonnen hat alles mit dem Einsatz der unverheirateten und kinderlosen Lehrerin, die im Hause ihrer Eltern lebt, für die Rechte der Frauen, die ihrer Ansicht nach unterdrückt werden, etwa, weil sie nicht wählen dürfen. Unterstützt wird Anna Jarvis von ihrer Mutter Ann, die ebenfalls politisch aktiv ist und im Jahr 1858 die Vereinigung „Mother’s Work Days“ gründet, um gegen hohe Kindersterblichkeit und für bessere sanitäre Anlagen zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisiert sie Geschlechtsgenossinnen und kümmert sich mit ihnen um die Verwundeten auf beiden Seiten sowie um die Annäherung der verfeindeten Lager.«

Frauen- und Friedensbewegung. Das sind also die Quellen dessen, was wir heute als „Muttertag“ besprechen. Und wichtig in diesem Entstehungskontext: »Was ihr vorschwebt, ist nicht die Würdigung eines Mutterbilds von edler Einfalt, stiller Größe und nimmermüder Opferbereitschaft. Der Tochter eines Methodistenpfarrers ist es um die soziale und politische Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu tun«, so Kegel in ihrem Artikel. Aus diesem Impuls entwickelte sich eine Bewegung, die dazu geführt hat, dass 1914 der „Muttertag“ erstmals als offizieller Feiertag in den USA begangen werden konnte. Und jetzt passierte, was man in vielen anderen Beispielfällen auch immer wieder erleben muss – das kapitalistische System zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Kapazität der „Landnahme“ solcher Dinge, die ursprünglich eine ganz andere Intention verfolgen wollten als denn die Steigerung der Absatzzahlen irgendwelcher „Merchandising“-Produkte in diesem Fall rund um einen Feiertag. Aber die Kommerzialisierung des „Muttertages“ war unaufhaltsam – und sie bzw. die kommerziellen Potenziale waren der Auslöser für die Übernahme in Deutschland.

Der eine oder die andere meint, das sei jetzt wieder eine dieser kritischen Übertreibungen? Also gut, schauen wir genauer hin, wie das in Deutschland gelaufen ist:

Sandra Kegel klärt uns auf: »In Deutschland ist es ein gewisser Rudolf Knauer, der 1922, als er aus Amerika von der Idee erfährt, begeistert mit Vortragsreisen durchs Land zieht und für eine solche Feier zu Ehren „der stillen Heldinnen unseres Volkes“ wirbt. Knauer aber handelt nicht als treusorgender Ehemann und Sohn, sondern als Beauftragter des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber, dessen Vorsitzender er 1923 wird – in jenem Jahr also, in dem die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.« Da sind sie also schon, die Blumenhändler. Und die haben damals ein veritables Fallbeispiel für höchst modern daherkommende PR-Arbeit geliefert:

»Knauer wendet für seine Blumenoffensive geschickt eine PR-Strategie an, die man heute social marketing nennen würde: In der Verbandszeitung fordert er die Blumenhändler auf, „irgendeine gemeinnützige Gesellschaft“ als „neutrale Stelle“ zu finden, um den Muttertag aus Amerika zu importieren: „Ein zu starkes Hervortreten der Blumengeschäftsinhaber in Deutschland wäre einer baldigen Einführung nicht zum Vorteil“, warnt der Blumenlobbyist. Die „neutrale Stelle“ ist im Jahr 1925 gefunden: Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ – ein Dachverband konservativ bis völkisch orientierter Vereine, in dem sich Alkoholgegner ebenso organisieren wie der Reichsbund der Kinderreichen, die kirchlichen Frauenverbände und Sittlichkeitsvereine „zur Bekämpfung von Schmutz und Schund“ – nimmt das Ansinnen Rudolf Knauers nur zu gern auf. Denn dieses Umfeld sieht die Mutterschaft als wahre Berufung der Frau und geißelt weibliche Berufstätigkeit, genauso wie die immer populärer werdende Emanzipationsbewegung.«

Man ahnt schon, was jetzt kommen muss: Bereits 1933 wurde der Muttertag von den Nationalsozialisten zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ verankert. Anfang der fünfziger Jahre wird der Muttertag wiederbelebt, allerdings nur in der Bundesrepublik; die DDR, wo er als westlich-reaktionär verschrien ist, ersetzt ihn durch den „Internationalen Frauentag“ am 8. März. Und schon ist alles wohlbeordnet in den ideologischen Welten einsortiert.

Eine immer wieder vorgetragene Kritik am Muttertag bezieht sich auf die dadurch – ob bewusst oder unbewusst – transportierte Stabilisierung der unentgeltlichen Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit  im Sinne einer asymmetrischen Verteilung zwischen den Geschlechtern. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in dem Blog-Beitrag Vom (eigentlich frauenbewegten) „Muttertag“ diesseits und jenseits des Blumenhandels bis hin zu einem (vergifteten) Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit aufgegriffen und beleuchtet.

In diesem Jahr soll es um zwei etwas anders gelagerte Aspekte gehen, die anschlussfähig sind an den „Mutter“-Begriff: Zum einen die Frage, ob denn „die“ Mütter in Deutschland glücklich sind und zum anderen die Tatsache, dass bei allen Unterschieden Mütter eines gemeinsam haben: Sie haben Kinder. Und ein Teil ihrer Kinder wird sozialpolitisch hoch relevant in diesen Tagen erneut thematisiert unter dem Dach der „Kinderarmut“ und der ungleichen Chancen zwischen den Kindern in unserer Gesellschaft.

Aber fangen wir mit dem „Glück“ an. Wobei das zugegebenermaßen noch schwieriger daherkommt als die Bestimmung von „Armut“, über die bekanntlich gerade derzeit wieder einmal heftig gestritten wird.
Norwegen ist das beste Land für Mütter – Deutschland auf Platz acht. So eine der Überschriften von Artikeln, in denen über eine neue Studie berichtet wird. Das Ranking ist das Ergebnis der diesjährigen internationalen Vergleichsstudie, die die Kinderschutzorganisation Save the Children in New York veröffentlicht hat. Für ihren 16. jährlichen Mütter-Index untersuchte die Hilfsorganisation 179 Länder. Deutschland gehört demnach zu den Top Ten und belegt Platz acht. Also dürfen wir uns freuen. Bevor man jetzt aber eine Falsche aufmacht, werfen wir noch einen Blick auf die Kriterien, mit denen die Organisation versucht zu messen, was „glückliche Mütter“ ausmacht. Dafür verwendet Save the Children fünf Kriterien:

Müttersterblichkeit, die Sterblichkeit bei unter fünfjährigen Kindern, die durchschnittliche Dauer der Ausbildung, Pro-Kopf-Einkommen und die Beteiligung von Frauen an der Regierung.

Nicht nur der eine oder andere Leser wird an dieser Stelle skeptisch den Blick auf den Aussagegehalt solcher Kriterien für den Glückszustand der Mütter richten. Ohne das hier wirklich vertiefen zu können: Bereits eine Annäherung an den Glücksbegriff auf Wikipedia-Nievau muss zahlreiche Fragezeichen generieren:

»Das Wort „Glück“ kommt von mittelniederdeutsch gelucke/lucke (ab 12. Jahrhundert) bzw. mittelhochdeutsch gelücke/lücke. Es bedeutete „Art, wie etwas endet/gut ausgeht“. Glück war demnach der günstige Ausgang eines Ereignisses. Voraussetzung für den „Beglückten“ waren weder ein bestimmtes Talent noch auch nur eigenes Zutun. Dagegen behauptet der Volksmund eine mindestens anteilige Verantwortung des Einzelnen für die Erlangung von Lebensglück in dem Ausspruch: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Die Fähigkeit zum Glücklichsein hängt in diesem Sinne außer von äußeren Umständen auch von individuellen Einstellungen und von der Selbstbejahung in einer gegebenen Situation ab.«

Wer es hier wissenschaftlich fundierter braucht, dem seien nur beispielhaft die Beiträge zur Glücksforschung des Ökonomen Karl-Heinz Ruckriegel empfohlen, der sich seit Jahren und intensiv damit beschäftigt.

Wie schwierig das mit „dem“ Glück „der“ Mütter ist, kann man an einer aktuellen und überaus kontroversen Debatte aufzeigen, die sich an einer neuen Studie entzündet hat. »Anfang April veröffentlichte die israelische Wissenschaftlerin Orna Donath eine Studie, in der 23 Mütter öffentlich ihren Kinderwunsch bereuten. Vor allem in Deutschland entwickelte sich eine hitzige Debatte. Zahlreiche Medien berichteten darüber, unter dem Hashtag „RegrettingMotherhood“ diskutierten Männer und Frauen in sozialen Netzwerken«, so der Einstieg in das informative Tageschau-Dossier Alles gut zum Muttertag? Mutterschaft im Wandel von Anna-Mareike Krause und Michael Stürzenhofecker.

»Eine junge israelische Wissenschaftlerin veröffentlicht eine Studie in einer amerikanischen Fachzeitschrift für Geschlechterwissenschaft – und das deutsche Internet explodiert. Wie kann das sein? Nun, es ging um Mütter«, so die lapidare und auf die besondere Überhöhung des Mütter-Begriffs gerade in Deutschland abstellende Zusammenfassung in dem Artikel Mütter, die wie Männer denken von Anna Sauerbrey. Sie verweist auf einen interessanten Punkt: »An Frauen, die wie Männer denken, fühlen und handeln, hat sich die Gesellschaft gewöhnt. An Mütter, die wie Männer denken, fühlen und handeln, nicht.« Das Thema hat seine medialen Kreise gezogen – neben vielen Zeitungsartikeln wurde es auch in Radiobeiträgen aufgegriffen. Vgl. hierfür nur stellvertretend die Sendung Ich bereue – Vom Glück und Elend der Mütter des Hessischen Rundfunks.
Warum wird das hier aufgerufen? Um an diesem einen Beispiel zu zeigen, dass man äußerst behutsam mit Begriffen wir „Glück“ umgehen sollte. Es eignet sich nicht wirklich für eine gesellschaftspolitische Thematisierung von so komplexen und zugleich normativ enorm aufgeladenen Tatbeständen wie dem Geschlechterverhältnis oder dem Selbstverständnis von dem, was als „Mutterrolle“ verstanden wird, wobei sich das bereits zwischen zwei benachbarten Gesellschaften wie Deutschland und Frankreich erheblich unterscheiden kann (vgl. dazu und mit Blick auf weitere Länder den Artikel mit der leider sehr euphemistischen Überschrift Glückliche Mütter – was andere Länder besser machen).

Also rufen wir den zweiten Aspekt auf und der kommt leider weitaus handfester und bedrängender daher als die Frage nach dem „Glück“ der Mütter. Es geht um die Kinder bzw. um einen Teil von ihnen. Also denjenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind, sondern auf der anderen Seite. Die in Armut leben (müssen).

Armutsgefährdete Kinder sind materiell unterversorgt und sozial benachteiligt – unter dieser erst einmal leider nicht wirklich überraschend daherkommenden Diagnose hat die Bertelsmann-Stiftung auf zwei neue Studien hingewiesen, die von ihr in Auftrag gegeben wurden: »Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als armutsgefährdet. Verzicht und ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe sind die Folgen. Doch die staatliche Unterstützung für Familien in prekären Lebenslagen orientiert sich zu wenig an den Bedarfen der Kinder. Zu diesen Ergebnissen kommen zwei Studien der Bertelsmann Stiftung.«

»In der Bundesrepublik wachsen 2,1 Millionen unter 15-Jährige in Familien auf, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdeutlicht, was Armut für den Alltag der Kinder bedeutet: Er ist geprägt von Verzicht und einem Mangel an Teilhabe. Für eine zweite Untersuchung haben Armutsforscherinnen der Universität Frankfurt vertiefende Interviews mit Eltern und Fachkräften geführt. Demnach kann das staatliche Unterstützungssystem Armut nur unzureichend auffangen.«

Die beiden Studien – die man nicht frei zugänglich abrufen kann, sondern als Buchpublikationen bestellen müsste – werden von der Stiftung so zusammengefasst:

»Das IAB hat den Lebensstandard von Kindern aus SGB-II-Haushalten untersucht und mit der Situation von Kindern in gesicherten Einkommensverhältnissen verglichen. Während im Bereich der elementaren Grundversorgung nur geringe Benachteiligungen vorliegen, zeigen sich in anderen Bereichen deutlichere Unterschiede: 20 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug leben aus finanziellen Gründen in beengten Wohnverhältnissen – gegenüber 3,9 Prozent der Kinder, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen (Übrige). Drei von vier Kinder, deren Eltern SGB-II-Leistungen erhalten, können keinen Urlaub von mindestens einer Woche machen (Übrige: 21 Prozent), 14 Prozent leben in Haushalten ohne Internet (Übrige: 1 Prozent), 38 Prozent in Haushalten ohne Auto (Übrige: 1,6 Prozent) und knapp einem Drittel ist es aus finanziellen Gründen nicht möglich, wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen nach Hause einzuladen (Übrige: 3,3 Prozent). Bei jedem zehnten Kind mit SGB-II-Bezug besitzen nicht alle Haushaltsmitglieder ausreichende Winterkleidung (Übrige: 0,7 Prozent).

Das Aufwachsen von Kindern in armutsgefährdeten Familien ist vielfach geprägt von einem Bündel an Problemen. Das zeigen Familieninterviews der Armutsforscherinnen Sabine Andresen und Danijela Galic (Universität Frankfurt). Zur chronischen Geldnot kommen oftmals Krankheiten, Trennung der Eltern, beengte Wohnverhältnisse und unsichere Schulwege hinzu. Erziehung bedeutet für die Eltern häufig Erklärung von Nein-Sagen und Verzicht. Eine große Belastung, denn auch bei einkommensschwachen Eltern sind die Kinder der Lebensmittelpunkt: Sie wünschen sich für ihre Kinder vor allem gute Bildung und sind bereit, dafür eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Das Gefühl fehlender Selbstbestimmung führt bei einkommensschwachen Eltern oftmals zu Resignation und Erschöpfung. Auslöser ist auch Unzufriedenheit mit staatlicher Unterstützung. Eltern, die von der Grundsicherung leben, klagen über zu viele behördliche Anlaufstellen, wechselnde Ansprechpartner und bürokratische Hürden. Sie vermissen, als Familie mit spezifischen Problemlagen wahrgenommen zu werden. Die befragten Fachkräfte aus Verwaltung und Bildungseinrichtungen problematisieren ähnliche Themen und pflichten den Familien bei. Zeitmangel, bürokratische Hürden und verschiedene Zuständigkeitsbereiche erschweren passgenaue Unterstützung.«

Und was folgt daraus – zumindest für die Auftraggeberin, also die Bertelsmann-Stiftung?

»Bislang, so die Andresen/Galic-Studie, konzentriere sich die Familien- und Sozialpolitik zu stark auf die Integration von Eltern in den Arbeitsmarkt. Empfehlenswert sei die Einrichtung zentraler Anlaufstellen mit festen Ansprechpartnern, die die jeweilige Familiensituation kennen. Zugleich sollten strukturelle Veränderungen Fachkräften mehr Entscheidungsspielräume und eine passgenaue Unterstützung ermöglichen. Zudem setzt sich die Bertelsmann Stiftung dafür ein, das Existenzminimum für Kinder zu überprüfen und die staatliche Grundsicherung anzupassen.«

Übrigens – von „Glück“ wird im vorliegenden Fall nicht einmal gesprochen.