„Die“ Pflege mal wieder … Von Betrug und fehlender Kontrolle hin zu der eigentlichen Frage: Wie sichert man gute Pflege, wenn man sie überhaupt bekommt?

Eine gelungene Vorlage für die vielen Medien, die gerne mit skandalisierenden Headlines das eigene Publikum versorgen: Die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland hat die Studie „Transparenzmängel, Betrug und Korruption im Bereich der Pflege und Betreuung“ in Berlin vorgestellt. Die Schwachstellen-Analyse stellt erhebliche Mängel fest: zu wenig Transparenz und Kontrollmöglichkeiten für die Betroffenen und jede Menge Möglichkeiten, die Abhängigkeit von Menschen mit Pflegebedarf wirtschaftlich auszubeuten.

„Die Vielzahl der Akteure und der gesetzlichen und Verwaltungsvorschriften macht es schwierig, Verantwortlichkeiten eindeutig zuzuordnen. Dadurch entstehen Einfallstore für Betrug und Korruption“, so wird Barbara Stolterfoht, Co-Autorin der Studie zitiert.

Entsprechend sind viele Berichte überschrieben: „Transparency legt Betrugsmaschen der Pflegebranche offen“ oder „Markt statt Ethik„, um nur zwei zu zitieren. So können wir bei Spiegel Online lesen:

»Die für die Untersuchung geführten Expertengespräche haben Transparency zufolge gängige Betrugsmaschen offengelegt, die sich aus den Milliardenausgaben für die soziale Pflegeversicherung speisten. Als Beispiel nannte die Organisation Fälle, in denen Ärzte von Pflegediensten Honorare für die Überweisung von Patienten erhielten. Auch „verkauften“ Pflegedienste lukrative Patienten an andere Pflegedienste. Weitere Fälle betrafen Sanitätshäuser, die an Heimleiter spendeten. Damit wollten sie sicherstellen, dass die Heimbewohner Rollatoren, orthopädische Schuhe oder sonstige Hilfsmittel aus ihrem Geschäft beziehen. Zudem soll es bei der Entscheidung über Pflegestufen vorgekommen sein, dass die zuständigen Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ein „Kopfgeld“ erhielten – wenn sie bei der Einstufung möglichst restriktiv vorgingen. Damit würden die Ausgaben der Pflegeversicherung gesenkt, heißt es in der Studie weiter.«

Thorsten Denkler beschreibt in der Süddeutschen Zeitung, über was wir hier reden: »In der Pflege sind Milliarden zu holen. Allein die gesetzliche Pflegeversicherung gibt jedes Jahr weit über 20 Milliarden Euro aus. Etwa die gleiche Summe kommt aus den Töpfen privater Versicherer, der Angehörigen und den Sozialämtern, die die Pflege für Bedürftige bezahlen müssen. Für die über 2,5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland arbeiten heute gut eine Million Menschen als Pflegekräfte oder in der Verwaltung. Mehr als in der Automobilindustrie. Allerdings zu weit geringeren Löhnen.«

Konkret beklagt Transparency die mangelnde Kontrolle der Heimbetreiber, da es keine bundesweite Kontrolle geben würde. Interessant ist die folgende Formulierung im Beitrag von Denker:
»Die kriminelle Energie einiger Heimbetreiber kennt kaum Grenzen. Um etwa die Unterbringungskosten künstlich in die Höhe zu schrauben, wird das Heim-Gebäude einfach an einen Dritten verkauft und für viel Geld zurückgemietet. Die höheren Kosten werden den Patienten aufgebürdet. Idealerweise ist das dritte Unternehmen mit dem Pflegebetrieb geschäftlich verbunden. Am Ende bleibt dem Betreiber mehr Geld in der Kasse. Auf Kosten der Patienten.« Man muss sich allerdings an dieser Stelle fragen – ist das jetzt „kriminelle Energie“ oder sind das nicht eher typische Verhaltensweisen auf einem „Markt“? Wobei die Beantwortung dieser Frage in Richtung „Markt“ auf die eigentlichen Problematik in diesem Bereich hinführt, wo es um die Sorge-Arbeit mit nur sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr beurteilungsfähigen Menschen geht.

Transparency fordert, ein deutschlandweites Register über Verstöße von Heimbetreibern einzurichten und die Sanktionsmöglichkeiten der Sozialämter zu erleichtern. Außerdem müssten Behörden die wirtschaftliche Zuverlässigkeit und fachliche Qualität von Pflegediensten durch „regelmäßige unangemeldete Kontrollen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich“ überprüfen. Da stellt sich natürlich die Frage: Haben wir das nicht schon? Gibt es nicht den „Pflege-TÜV„, der diese Prüfung sowohl der stationären und der ambulanten Pflegedienste gewährleisten soll? Und gibt es nicht die Heimaufsicht? Da sind wir mit dem „Pflege-TÜV“ schon bei der nächsten Baustelle, denn parallel zur Veröffentlichung der Studie von Transparency Deutschland wurde bekannt, dass es nach zähen Verhandlungen zu einer „Reform“ des Systems der Pflegebenotung kommen soll.
»Pflegekassen und Heimbetreiber hatten sich nach dreijährigen Verhandlungen bereits im Juni in einer Schiedsstelle geeinigt. Ende vergangener Woche lief die Widerspruchsfrist ab. „Jetzt wird der Schiedsspruch ausformuliert und veröffentlicht“, hieß es in Verhandlungskreisen.

Der 2009 eingeführte Pflege-TÜV bewertet über 10.400 Pflegedienste und Pflegeheime in Deutschland wie in der Schule von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ – und stellt die Noten ins Internet. Allerdings kritisieren Politiker, Patientenvertreter und Experten seit langem, dass der TÜV ein geschöntes Bild zeige. Es kämen zu viele Bestnoten heraus.

Schlechte Heime können sehr gute Noten bekommen, obwohl sie in wichtigen Kriterien wie Vorbeugung gegen das gefürchtete Wundliegen oder Medikamentenversorgung mangelhaft abschneiden. Das liegt daran, dass die endgültige Pflegenote aus Dutzenden Kriterien errechnet wird, die alle gleich stark gewichtet werden«, so der Beitrag „Pflege-TÜV wird verschärft„. Künftig sollen unter den bisher 82 Kriterien für die Bewertung eines Heims die Ergebnisse in den 21 zentralsten Punkten im Internet besonders hervorgehoben werden. Darunter die Frage, ob es in einem Heim Vorbeugung gegen Wundliegen gibt, ob die Flüssigkeitsversorgung angemessen ist und die Notwendigkeit von freiheitseinschränkenden Maßnahmen regelmäßig überprüft wird. Die Krankenkassen konnten sich aber nicht mit der Forderung durchsetzen, dass diese Kriterien bei der Benotung eines Heims stärker gewichtet werden. Andere Kriterien sollen künftig nicht mehr aufgeführt werden, etwa ob es „jahreszeitliche Feste“ gibt. Außerdem wird bei mehr Bewohnern als bisher die Pflege überprüft, vor allem bei mehr schweren Fällen der Pflegestufe drei. Auch sollen die Noten wegen geänderter Berechnung etwas schlechter ausfallen können. Einrichtungen, die heute mit 1,4 abschneiden, sollen etwa eher eine gute 2 bekommen, so der Bericht „Pflege-TÜV prüft alles außer Pflege„.

Trotz heftigster Kritik von allen Seiten hat es also drei Jahre gedauert, bis sich Pflegekassen und Heimbetreiber dieser Tage auf eine sehr bescheidene Nachbesserung des so genannten Pflege-TÜVs einigen konnten. Eine grundsätzliche Infragestellung dieses Instrumentariums ist damit nicht verbunden.  Man kann durchaus von einem „faulen Kompromiss“ sprechen.

Die eigentliche Frage muss doch lauten: Ist dieses Instrument einer formalen, punktuellen Überprüfung wirklich geeignet, die Pflegequalität zu sichern? Es handelt sich hier um ein höchst komplexes Feld der Sorge-Arbeit mit Menschen, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Entscheidend sind die täglichen Abläufe und die Haltung der Menschen, die diese Sorge-Arbeit zu machen haben. So notwendig externe Kontrollen sind und auch in Zukunft bleiben werden – sie können niemals eine innere Qualitätsentwicklung ersetzen, die aber – das sei hier besonders betont – nicht sogleich deformiert werden darf durch die wieder von außen determinierte Ausrichtung des Systems und der in diesem arbeitenden Menschen auf formale Kriterien, die dann möglichst gut zu dokumentieren sind, was wieder enorme Ressourcen bindet, die bei den eigentlichen Kernprozessen in der Pflege fehlen. Und Kontrolle entfaltet dann ihre besondere Schlag- und Wirkkraft, wenn sie in der täglichen Praxis erfolgt seitens der Menschen, die als Angehörige oder als Quartiersbewohner in die Heime kommen. Es geht also um die Herstellung einer umfassenden Verantwortungsgemeinschaft vor Ort, so dass die Öffnung der Heime gegenüber dem Sozialraum, in dem sie angesiedelt sind, ein entscheidendes und eigenständiges Qualitätsmerkmal darstellt.

In diesem Zusammenhang muss dann aber auch auf eine gewisse Unwucht der öffentliche Wahrnehmung und Diskussion hingewiesen werden: Immer wieder werden angebliche und tatsächliche Missstände in den Heimen angeprangert, schon viel weniger die Situation in der ambulanten oder erst recht der häuslichen Pflege, wo natürlich ebenfalls vieles nicht gut läuft. Auch die immer stärker expandierenden Wohngemeinschaften verschwinden gerade in einem „schwarzen Loch“ der Nicht-Beachtung und Nicht-Zuständigkeit. Die Heimaufsicht? Der MDK? Wer kümmert sich genau um diese „Mini-Heime light“?

Und auch die von Transparency beschriebenen Ausformungen „marktlogischen“ bis hin zu betrügerischem Verhalten in der ambulanten Pflege – dass beispielsweise Leistungen abgerechnet werden, die gar nicht erbracht worden sind – hängt doch nicht nur an der Schlechtigkeit der beteiligten Akteure, sondern hat zumindest strukturelle Treiber, so ein Finanzierungssystem, das auf abrechenbare Einzelleistungen basiert und Pflege konsequent zu einer Minutenpflege zerstückelt. Man darf sich nicht wundern, wenn sich die Menschen dann der damit verbundenen Logik anpassen. Hier würde beispielsweise der Blick in andere Länder und Systeme helfen, so in die Niederlande, um nur einen Hinweis anzudeuten.

Und natürlich muss man bei der ganzen Debatte auch sehen, dass es sich bei der Pflege und Betreuung eben um personenbezogene soziale Dienstleistungen handelt, die nur marginal oder oftmals gar nicht einer Rationalisierung und damit einer Produktivitätssteigerung unterworfen werden können. Insofern ist die Personalfrage eine entscheidende – und bereits heute knirscht es gewaltig und der Fachkräftemangel beginnt sich immer stärker auszuprägen. Die hinreichende Ausstattung mit Personal wird sicher die Kardinalfrage im System. »Die Arbeitgeber fordern 50 000 zusätzliche Stellen in der Pflege. Bis Ende 2014 sollen – wie einst schon von der Politik geplant – 25 000 Helfer zu Fachkräften qualifiziert werden. Die Hilfskräfte hätten oft jahrelange Berufserfahrung, würden Abläufe kennen und seien motiviert, sagte Arbeitgeberpräsident Greiner. Er verlangt außerdem 25 000 zusätzliche Betreuer für Demenzkranke – also Helfer die sich etwa durch Spaziergänge oder Vorlesen mit Altersverwirrten beschäftigen. Die Betreuer sollten den Mindestlohn beziehen, den auch die Helfer bekommen (derzeit acht Euro Bruttostundenlohn im Osten, neun im Westen). Das wären rund 500 Millionen Euro im Jahr, die wohl aus dem Bundeshaushalt kommen müssten«, so  Hannes Heine und Rainer Woratschka in ihrem Beitrag „Das Dilemma mit der fremden Hilfe„.

Die neue Studie von Transparency Deutschland beleuchtet – und das sei abschließend noch angeführt – noch einen weiteren wichtigen Bereich: Untersucht wurde der Bereich der rechtlichen Betreuung – eine echte „Boombranche“:

»Die Zahl rechtlicher Betreuungen ist von 420.000 (1992) auf rund 1,3 Millionen (2008) gestiegen; zugleich stiegen die Kosten von fünf Millionen Euro auf 640 Millionen. Für die selbstständige Tätigkeit als Berufsbetreuer gibt es keine berufsrechtlich definierten Zugangskriterien. Die Berufsbetreuer unterstehen lediglich der gerichtlichen Kontrolle durch Rechtspfleger. Ein Rechtspfleger ist im Durchschnitt für die Aufsicht von fast 1.000 Verfahren zuständig. Die Einfallstore für Betrug und Korruption sind im Lauf einer Betreuung vielfältig, wie zum Beispiel bei der Haushaltsauflösung, abzuwickelnden Immobiliengeschäften oder der Vermögensverwaltung.«

Transparency Deutschland fordert im Bereich der rechtlichen Betreuung:

  • Die Aufsicht und Kontrolle im Bereich der rechtlichen Betreuung ist erheblich zu stärken, auch durch zusätzliche Personalressourcen im Bereich der Rechtspflege.
  • In den Amtsgerichtsbezirken sind Register für Berufsbetreuer sowie Datenbanken zum amtsgerichtsübergreifenden Abgleich der berufsbetreuerbezogenen Fallzahlen, aber auch zu Beschwerden und Verstößen einzurichten. 
  • Bei gerichtlicher Anordnung der Ermittlung des Vermögens von zu Betreuenden ist diese Aufgabe von der laufenden Betreuung zu trennen und durch die Rechtspfleger durchzuführen. Das Vier-Augen-Prinzip von Betreuer und Rechtspfleger ist strikt anzuwenden und eine genaue Dokumentation zum Prozess der Ermittlung zu erstellen.
  • Berufsbetreuer sind nach dem Verpflichtungsgesetz zu verpflichten. Damit würden sie als Amtsträger den strengen strafrechtlichen Regeln der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung unterworfen.

Diese Forderungen sind richtig und sollten unterstützt werden.

Blanke Not oder „gestiegene Konsumlust“? Vermutungen über eine Tatsache: Die Anzahl der Zweitjobs wächst weiter. Das Problem sind die Minijobs an sich

So viele Deutsche wie nie haben Zweitjob, meldet Spiegel Online unter Berufung auf Daten der Bundesagentur für Arbeit, die von der Linken-Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann abgefragt worden sind. Ende vergangenen Jahres besserten 2,66 Millionen Menschen ihr Einkommen aus einer regulären Hauptbeschäftigung mit einem Minijob auf. Das waren 59.000 beziehungsweise 2,3 Prozent mehr als Ende 2011. 9,1% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben damit einen Zweitjob auf Basis einer geringfügigen Beschäftigung. Der Anstieg ist offensichtlich: Ende 2003 hatten lediglich 4,3% der Arbeitnehmer mit regulären Jobs noch eine zusätzliche geringfügige Beschäftigung.

Reflexhaft setzt – wieder einmal – der Versuch einer Einordnung dieser Daten ein: Die »Linken-Politikerin Zimmermann sieht in der deutlichen Zunahme einen Beleg dafür, dass „für immer mehr Beschäftigte das Einkommen aus einem Job nicht mehr ausreicht“. Der überwiegende Teil der Zweitjobber mache dies „aus purer finanzieller Not und nicht freiwillig“.« Das bleibt nicht unwidersprochen: »Eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums sagte hingegen, es gebe keine Erhebung zu dem Thema. Deshalb seien außer finanziellen Engpässen auch andere Gründe vorstellbar, etwa eine „gestiegene Konsumlust“.«

Das kommt einem sehr bekannt vor, gleichsam wie das Recycling einer kurzen Debatte, die wir bereits Anfang Oktober des vergangenen Jahres beobachten konnten: „Immer mehr Deutsche brauchen einen Zweitjob“ meldete Spiegel Online am 05.10.2012 mit Bezug auf den in der Saarbrücker Zeitung veröffentlichten Bericht „Zahl der Beschäftigten mit zusätzlichem Minijob hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt“, der sich damals ebenfalls auf Daten bezogen hatte, die von Sabine Zimmermann bei der BA abgefragt wurden. Und auch damals gab es eine Art „Zweifrontenkrieg“ bei der Einordnung dieser Entwicklung, denn die Abgeordnete Zimmermann wurde damals zitiert mit den Worten, »die Entwicklung sei „ein deutlicher Hinweis darauf, dass Arbeit nicht mehr existenzsichernd ist und das Geld aus einem Job nicht mehr ausreicht“.«

»Gegen diese These spricht jedoch, dass vor allem Beschäftigte in reichen Teilen Deutschlands nebenbei jobben. In Baden-Württemberg lag ihr Anteil Ende 2011 bei 11,4 Prozent, im strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern dagegen nur bei 4,7 Prozent. „Der größere Teil der Beschäftigten mit Zweitjobs sind durchaus qualifizierte Leute mit gutem Einkommen, die sich noch etwas dazu verdienen“, sagte die Arbeitsmarktexpertin der Grünen, Brigitte Pothmer, der „Saarbrücker Zeitung“. Sie betonte jedoch ein anderes Problem der Entwicklung: Menschen, die in ihrem Betrieb Überstunden machten, müssten dafür alle Lohnnebenkosten einschließlich Steuern zahlen. Wer dagegen noch einen Minijob habe, brauche das nicht, so Pothmer. Das sei „extrem unfair gegenüber der Versichertengemeinschaft“. Ihre Forderung: Minijobs müssten unattraktiver gemacht werden. Etwa durch eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro, sagte Pothmer der Zeitung. Die Bundesregierung plant aber genau das Gegenteil. Sie will die Minijobs noch ausbauen und die beitrags- und steuerfreie Verdienstgrenze auf 450 Euro anheben.«

Die von Sabine Zimmermann vertretene „Not-These“ als treibende Kraft der Expansion der Zweitjobs ist auch ein wichtiger Baustein in der nur wenige Seiten umfassende „Expertise“ des Eduard Pestel Instituts in Hannover für die beiden Gewerkschaften ver.di und NGG, die im April 2013 unter der Überschrift „Veränderungen der Arbeitswelt“ veröffentlicht wurde. Auch dort hat man sich die Entwicklung der Minijobs – differenziert nach ausschließlich geringfügig Beschäftigte und im Nebenjob geringfügig Beschäftigte – für den Zeitraum 2003 bis 2013 angeschaut und kommt zu der folgenden Bewertung:

»Während sich die Zahl der ausschließlich im Minijob Beschäftigten bundesweit um knapp 11% erhöhte, „explodierte“ die Zahl derer mit einem Minijob als Nebenjob um durchschnittlich gut 120%. Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Minijobarbeitsverhältnisse um gut ein Drittel.« Das Fazit des Instituts: »Der seit mindestens 15 Jahren unzureichende Inflationsausgleich führte zusammen mit der stetigen Ausweitung von Teilzeit- und Minijobverhältnissen und der damit verbundenen Arbeitszeitverkürzung (ohne Lohnausgleich) zu einer wachsenden Notwendigkeit der Aufnahme von Zweitjobs. Das geringere Niveau in Ostdeutschland dürfte eher den Mangel an Jobangeboten widerspiegeln als eine geringere Nachfrage seitens der potenziellen Zweitjobber.«

Um es an dieser Stelle deutlich zu sagen: Das ist alles Spekulation, insofern gilt grundsätzlich die Aussage aus dem Bundesarbeitsministerium, dass es neben finanziellen Engpässen auch andere Gründe sein könnten, die zu diesem Anstieg beigetragen haben, wir wissen das aufgrund der defizitären Forschungslage derzeit nicht genau zu bestimmen. Aber der Ansatz des Ministeriums, das mit einer „gestiegenen Konsumlust“ abweichend von der „Not-These“ zu begründen, hat schon ein putziges Moment.

Man möge nur ein wenig nachdenken, dann wird man erkennen, dass es hier durchaus eine Vermischung der beiden Thesen geben könnte in der Realität: So wird von den „Konsumlust“-Theoretikern darauf hingewiesen, dass es gerade in den „reichen“ süddeutschen Bundesländern überdurchschnittlich viele Zweitjobs geben würde. Aber nur weil diese Bundesländer tatsächlich wohlhabend sind im Schnitt, bedeutet das bekanntlich nicht, dass deshalb jeder, der dort lebt, ebenfalls wohlhabend ist. Möglicher- und plausiblerweise werden gerade dort, wo natürlich auch das lokale und regionale Preisniveau recht hoch ist, viele Menschen auch aus der unteren und mittleren Mittelschicht dann gezwungen sein, einen Zweitjob zu machen, wenn sie ein an sich „ganz normales“ Konsumniveau aufrechtzuerhalten, zu dem beispielsweise gehören kann, einmal im Jahr in Urlaub zu fahren und dafür macht man dann den Zweitjob. Bei anderen wird der Zweitjob gerade in den hochpreisigen Regionen wiederum die einzige Möglichkeit sein, die Lebenshaltungskosten auf Dauer abdecken zu können – und wir hierbei nicht von einem Urlaub sprechen, sondern von Miete, Strom usw. Aber – auch das wissen wir nicht, empirische Daten fehlen (noch).
Was wir aber wissen und was gerade angesichts der neuen Meldungen nicht untergehen sollte in einem nicht zu entscheidenden, zugleich unterkomplexen Disput über Not versus Konsumlust ist die Tatsache, dass die Expansion der geringfügigen Beschäftigung auch und vor allem aus der Mechanik der geringfügigen Beschäftigung – also der „Minijobs“ – heraus vorangetrieben wird. Mit durchaus hochproblematischen Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt.
Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die deregulierte geringfügige Beschäftigung dazu beigetragen hat, dass „gute“, weil „normale“ sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt wurde und wird in „schlechte“ Minijobs. Zu dieser wichtigen Frage hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im vergangenen Jahr eine eigene Untersuchung veröffentlicht mit differenzierten, interessanten Befunden:

»Hinweise auf die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs finden sich vor allem im Einzelhandel, im Gastgewerbe sowie im Gesundheits- und Sozialwesen … Minijobs kommen besonders häufig in Dienstleistungsbranchen zum Einsatz. Die IAB-Arbeitsmarktforscher Christian Hohendanner und Jens Stegmaier erklären dies damit, dass in diesen Branchen lange Öffnungszeiten, Kundenorientierung und teilweise stark schwankende Nachfrage eine große Rolle spielen: „Hier lässt sich der Faktor Arbeit optimal nutzen, wenn er in Minijobs gestückelt zum Einsatz kommt.“ So könnten Betriebe flexibel auf Kundenwünsche und -ströme reagieren. „Wenn beispielsweise längere Öffnungszeiten im Einzelhandel oder ein hohes Gästeaufkommen in der Gastronomie zu bewältigen sind, lässt sich dies mit Hilfe vieler kleiner Beschäftigungsverhältnisse passgenauer bewältigen“, schreiben die Arbeitsmarktforscher. Das Problem dabei ist: Wenn Minijobs der Sozialversicherung Beitragszahler entziehen, erhöht sich der Druck auf das Sozialversicherungssystem … Indizien für die Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs gibt es vor allem für kleine Betriebe mit unter zehn Beschäftigten. In diesem kleinbetrieblichen Segment gehen also der Aufbau von Minijobs und die Reduktion der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Hand in Hand.« (Quelle: „Minijobs: Hinweise auf Verdrängung vor allem im Einzelhandel und Gastgewerbe„)

Die Studie im Original: Christian Hohendanner und Jens Stegmaier: Umstrittene Minijobs. Geringfügige Beschäftigung in deutschen Betrieben (= IAB-Kurzbericht Nr. 24/2012), Nürnberg 2012.
Und immer wieder – nicht überraschend – wird darauf hingewiesen, welche desaströsen Auswirkungen die Minijobs auf die Arbeitsmarktpositionierung wie auch auf die soziale Sicherung der Frauen haben. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme von Carsten Wippermann hierzu wurde im Frühjahr 2013 seitens des Auftraggebers, des Bundesfamilienministerium, veröffentlicht, allerdings ohne die ansonsten üblichen Verlautbarungen und Werbeaktionen, was darauf hindeutet, dass man sich nicht besonders identifizieren möchte mit den Befunden der Studie, die hier aber besonders empfohlen sei:

Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013

Man kann es drehen und wenden, wie man will, viele Frauen bleiben in der „Geringfügigkeitsfalle“ hängen, da sie nichts anderes finden als Minijobs (man schaue sich nur die Stellengesuche des Einzelhandels an) und weil auch das deutsche Steuerrecht mit dem Institut des Ehegattensplitting und der unterschiedlichen Steuerklassen dies leider befördert.

Gerade auf diesen Zusammenhang hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung im vergangenen Jahr abgestellt und konkrete Reformperspektiven vorgetragen:

»Ursache des Problems sei zum einen der abrupte Anstieg der Abgaben- und Steuerbelastung an der oberen Verdienstgrenze der begünstigen Minijobs. Zusätzlich werde dieser „Fehlanreiz“ oft gerade für gut ausgebildete Ehefrauen noch durch die Effekte des Ehegattensplittings bei der Einkommensteuer verschärft, so die Studie: Jeder Mehrverdienst der Partnerin führe dann über den sinkenden Splittingvorteil zu einem überproportionalen Anstieg der Steuerlast. Nach den Daten der Studie leben allein zwei Millionen der rund sieben Millionen Minijob-Beschäftigten mit einem vollzeitbeschäftigten Ehepartner zusammen. Gleichzeitig haben mehr als drei Viertel der Minijobberinnen mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung, ermittelten die Forscher« (Quelle: „Minijobs verschärfen Fachkräftemangel“).
Die Studie im Original:
Werner Eichhorst, Tina Hinz, Paul Marx, Andreas Peichl, Nico Pestel, Sebastian Siegloch, Eric Thode, Verena Tobsch: Geringfügige Beschäftigung: Situation und Gestaltungsoptionen, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2012
»Erst die Verbindung aus Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting … führt zu nennenswerten Beschäftigungseffekten, die sich sowohl in höherem Arbeitsvolumen als auch in mehr Stellen niederschlagen. Die bestmögliche Variante sieht vor, das gegenwärtige Ehegattensplitting durch ein Realsplitting zu ersetzen. Die Minijobs sollten ab dem ersten Euro der Einkommensteuerpflicht unterliegen und steigende Beitragssätze zur Sozialversicherung aufweisen. Damit würde die heute bestehende Regelung für Einkommen zwischen 400 und 800 Euro auf den Bereich bis 400 Euro ausgedehnt. Das zusätzlich entstehende Steueraufkommen würde zur Absenkung des Einkommensteuertarifes verwendet. Durch diese Maßnahmen ließen sich 60.000 neue Vollzeitstellen schaffen …« („Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting könnten 60.000 neue Vollzeitstellen schaffen“). 
Man könnte zahlreiche weitere Belege für die Fragwürdigkeit der Minijobs, die es in dieser Form wirklich nur in Deutschland gibt, anführen. Angesichts der beobachtbaren Verzerrungseffekte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, besonders aber in bestimmten Branchen, vor dem Hintergrund der desaströsen frauenpolitischen Dimension dieser Beschäftigungsform und auch der hier noch gar nicht beschriebenen spezifischen „Geringfügigkeitsfalle“ im „Aufstocker-Bereich“ des Grundsicherungssystems – es ist Zeit, sich zu verabschieden von den Minijobs und diese zu integrieren in eine intelligentere Entlastung der unteren Einkommen von den Sozialabgaben.

Übrigens – wer es lieber visuell mag, dem sei an dieser Stelle die sehenswerte ZDF-Dokumentation „Die Minijob-Masche. Maximale Ausbeutung – minimaler Lohn“ empfohlen:

»Die ZDFzoom-Reporter Kirsten Moser und Christian Bock zeigen, wie ein Arbeitsmodell, das ursprünglich Hausfrauen und Studenten einen unkomplizierten Nebenjob ermöglichen sollte, außer Kontrolle gerät. Wie es Vollzeitstellen vernichtet, den Sozialstaat aushöhlt, Arbeitnehmer zweiter Klasse erschafft. Beide Reporter waren als Minijobber unterwegs, putzten Büros und schufteten im Supermarkt. Ihr Fazit: Minijobs, das ist oft minimales Geld bei maximaler Ausbeutung.
Einer der „Erfinder“ der Hartz-Reformen, Professor Jobst Fiedler, damals Berater bei Roland Berger, äußert sich im ZDFzoom-Interview kritisch: „Wir wollten eigentlich nur Putzfrauen legalisieren. Aus heutiger Sicht sind die Minijobs insgesamt ein Fehler gewesen.“«

Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Jetzt sollen wirklich alle eine Fallpauschale werden, aber einige wollen nicht (mehr). Der (notwendige) Streit um die Krankenhausfinanzierung

Die Fallpauschalen als zentrale Komponente der Krankenhausfinanzierung in Deutschland sind zehn Jahre geworden: „Ein Geburtstag, der Fragen aufwirft„, so der Publizist Uwe K. Preusker in einem Beitrag für die „Ärzte Zeitung“. »Das gerade zehn Jahre alt gewordene deutsche Fallpauschalensystem als Basis für die Vergütung stationärer Leistungen gerät immer häufiger in die Kritik. Es betone zu stark die Ökonomie und fördere die Leistungsmenge – so lauten zentrale Kritikpunkte«, so Preusker. Dafür gibt es ja auch zahlreiche Belege, beispielsweise bei den vielen Knie- und Rücken-OPs in Deutschland. Oder die in die Kritik geratenen Chefarztverträge, in denen Zulagen für die Realisierung bestimmter Mengenvorgaben fixiert wurden. Man könnte die Liste beliebig fortsetzen.

Man muss an dieser Stelle kurz erinnern: Bis zur Einführung der Fallpauschalen gab es in den deutschen Krankenhäusern tagesgleiche Pflegesätze, die nach den einzelnen Abteilungen und Kliniken differenziert waren und im Prinzip dem Selbstkostendeckungsprinzip folgen sollten. Dies wurde – nicht unplausibel – als tendenziell unwirtschaftlich problematisiert, denn diese Vergütungsform beinhaltete den Anreiz, die Patienten länger als notwendig in den Kliniken zu halten. Und viele ältere Semester werden sich erinnern, dass es damals schlichtweg nicht vorgekommen ist, dass man an einem Freitag entlassen wurde, sondern frühestens am Montag, denn für die Tage dazwischen bekam das Krankenhaus den gleichen Pflegesatz wie unmittelbar am Tag nach einer OP, was natürlich angesichts der Tatsache, dass die Patienten im Wesentlichen nur noch Hotellerieleistungen in Anspruch nahmen, ein gutes Geschäft war.

Diese Zeiten sind nun schon seit längerem vorbei. Aber die Deutschen haben vor zehn Jahren – bei dem Systemwechsel hin zu einem „vollständig fallpauschalierenden System“ der Krankenhausvergütung – wieder einmal so agiert wie so oft: Wenn sie etwas machen, dann aber „richtig“, will heißen, möglichst kompromisslos. Preusker dazu:

»Bei der Einführung des DRG-Systems hat Deutschland einen Weg eingeschlagen, den bis dahin kein anderes der rund 50 Länder eingeschlagen hatte, die international DRGs nutzen: In Deutschland sollte das DRG-System die bis dahin geltende Finanzierung der stationären Versorgung zu 100 Prozent ersetzen.
Schaut man in andere Länder, so hat man dort fast überall auf Systeme gesetzt, die eine Mischfinanzierung vorsehen, so zum Beispiel in Norwegen und Dänemark … Hinzu treten in vielen Ländern, die Fallpauschalen zur Honorierung stationärer Leistungen einsetzen, ergänzende Zuweisungen für besondere Leistungen: etwa für Vorhaltekosten. Auch die hochspezialisierte Versorgung oder die universitäre Medizin werden durch besondere Mechanismen außerhalb des Fallpauschalensystems finanziert.«

Womit wir schon mittendrin sind in den aktuellen Problemen, die sich herausgebildet haben aufgrund der Mechanik, die dem deutschen Fallpauschalensystem inhärent sind. Wenn die Krankenhäuser beispielsweise für eine bestimmte OP in einem Bundesland (tendenziell mal in ganz Deutschland) die gleiche Fallpauschale bekommen, mit der sie alle Kosten decken müssen, dann ist natürlich klar, dass die Kliniken, die sich auf diese OP spezialisiert haben und diese in großer Fallzahl durchführen (können), einen klaren Startvorteil haben gegenüber den Krankenhäusern, bei denen diese OP vielleicht nur 5 oder 10 mal im Jahr anfällt. Insofern hat das neue Finanzierungssystem zu einer massiven Spezialisierung der Kliniken beigetragen, was aber auch gewollt war. Nur gibt es eben Krankenhäuser, beispielsweise der Grundversorgung in den ländlichen Räumen, die auch wenn sie wollten niemals die Spezialisierungsvorteile von Kliniken mit einem partikularen Leistungsspektrum erreichen können. Die rauschen dann schnell in die Verlustzone, während die anderen mit den Pauschalen durchaus gewinn machen können.

Und noch für eine weitere Gruppe an Kliniken gibt es teilweise existenzbedrohende Risiken, die sich aus dem neuen System ableiten lassen: Die Fallpauschalen, das muss man an dieser Stelle wissen, sind durchschnittskostenkalkulierte Beträge, die sich hinsichtlich einer bestimmten Diagnose und/oder Preozedur auf Durchschnittsdauern beziehen. Daraus und aus der Tatsache, dass man die Zahl der DRGs (das sind die Diagnosen bzw. Prozeduren, die mit einer Pauschale belegt sind) überschaubar halten möchte, folgt als Kollateralschaden angesichts der Heterogenität der Fälle und Fallkonstellationen, dass es für besonders schwierige und damit natürlich auch aufwandsseitig teure Fälle zu wenig Geld gibt aus der Fallpauschale, die sich immer auf einen Standardfall beziehen muss. Genau in dieses Dilemma sind viele Kliniken der Maximalversorgung hineingelaufen, was man derzeit wieder einmal in der Berichterstattung am Beispiel der Kindermedizin beobachten kann.

Kind gerettet, Krankenhaus in den Miesen„, unter dieser Überschrift thematisiert Nina von Hardenberg in der Süddeutschen Zeitung, dass seltene Krankheiten für Kliniken oft ein Verlustgeschäft darstellen, da sie nur einen Teil der Behandlungskosten erstattet bekommen. Das spüren vor allem universitäre Einrichtungen, die viele Patienten mit solchen Leiden aufnehmen. In Tübingen protestieren nun Eltern gegen das Abrechnungssystem. Und das hat es in sich: »Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin hat im vergangenen Jahr 489 Kinder aufgenommen, die die Klink 50 Prozent mehr gekostet haben, als die Krankenkassen erstatteten. Diese Kostenausreißer machten zwar weniger als fünf Prozent aller Patienten aus, doch mit ihnen machte die ohnehin defizitäre Klinik immerhin 2,17 Millionen Euro Minus.«

»In Tübingen haben sich nun Eltern- und Fördervereine zusammengeschlossen, um für eine bessere Finanzierung der Klinik zu werben. Unter dem Motto „Ich bin keine Fallpauschale“ stellen sie im Internet Kinder vor, die im derzeitigen Abrechnungssystem den Kliniken, die ihnen helfen, eine ungedeckte Rechnung hinterlassen.«

Eltern und Klinikpersonal haben eine Petition erarbeitet, mit der sie für die Schwerst- und Spezialfälle an den Universitäts-Kinderkliniken umgehend eine faire und kostendeckende Vergütung, die sich am tatsächlichen Behandlungs- und Pflegeaufwand orientiert, fordern. Hierfür haben Sie eine eigene Webseite eingerichtet: „Ich bin keine Fallpauschale„.

Hardenberg weist zu recht darauf hin, dass es sich hierbei um ein generelles Systemproblem handelt: »Tatsächlich sind Kostenausreißer kein Problem der Kindermedizin allein. Derzeit zahlen alle Krankenhäuser drauf, wenn ein Patient eine besonders komplizierte oder langwierige Behandlung benötigt. Im System der Fallpauschalen erhalten Klinken schließlich für jeden Patienten eine fixe Summe, die sich an den durchschnittlichen Kosten für die Behandlung bemisst. Dafür verdienen sie aber umgekehrt auch zusätzlich, wenn Patienten schneller als der Schnitt genesen. So sollen sich schwere und leichtere Fälle ausgleichen.«

Sie deutet an, dass es Hoffnung gibt für die betroffenen Krankenhäuser – die allerdings noch auf sich warten lassen wird: »Die Bundesregierung hat in einem der letzten Gesetze vor der Sommerpause beschlossen, das Problem der Kostenausreißer im Jahr 2014 wissenschaftlich untersuchen zu lassen. 2015 könnte mit den Ergebnissen der Studie dann eine Extravergütung für diese Patienten entwickelt werden.« Das muss man natürlich – sollte es überhaupt so kommen – erst einmal überbrücken.

Nun gab es einen Bereich, den man damals bewusst ausgeschlossen hatte von der Einführung eines durchgängig fallpauschalierenden Systems: die Psychiatrien. Hier wird weiterhin mit tagesgleichen Pflegesätzen vergütet. Aber auch dieser Teil der deutschen Krankenhauslandschaft soll nun eingegliedert werden in die schöne neuen Vergütungswelt, doch dagegen hat sich Widerstand entwickelt: Es geht um das „Pauschalierende Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychosomatik“ (PEPP).

Der aktuelle PEPP-Katalog für das Jahr 2013 enthält insgesamt 135 tagesbezogene Entgelte für voll- und teilstationäre Leistungen und 75 Zusatzentgelte, die für hochaufwendige Leistungen bezahlt werden. Psychiatrische und psychosomatische Krankenhäuser werden zukünftig ihre Leistungen auf Basis des PEPP-Katalogs abrechnen; ab Januar 2013 freiwillig, ab 2015 verpflichtend. Den neuen Entgeltkatalog hat das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) kalkuliert (Quelle: AOK zum PEPP)

Barbara Dribbusch beschreibt in ihrem Artikel „Tagessätze je nach Diagnose“ an einem Beispiel das mit dem neuen Entgeltsystem verbundene Problem: »16 Tage. So lange darf ein an Schizophrenie Erkrankter nach dem Entwurf eines neuen Entgeltsystem künftig in der Psychiatrie bleiben, während die Klinik den höchsten Tagessatz kassiert. Dauert der Aufenthalt länger, wird beim Tagessatz gekürzt.« Das neue Entgeltsystem werde „hoch individuellen Verläufen“ bei psychischen Erkrankungen nicht gerecht, so wird Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands, in dem Artikel zitiert. Rosenbrock, der sich in den Untiefen des deutschen Gesundheitssystems gut auskennt, weist auf eine Dilemma hin, das mit dem neuen System verbunden ist: »Mit den degressiven Tagessätzen in PEPP würden einerseits schwerer erkrankte Patienten möglicherweise zu früh entlassen, andererseits aber gebe es einen Anreiz, leichter Erkrankte so lange dazubehalten, bis die maximale Dauer für die höchste Vergütungsstufe ausgereizt sei«.
Die Befürworter des Systems weisen allerdings darauf hin, dass mit dem neuen System je nach Diagnose unterschiedliche Tagessätze gezahlt werden, was heute nicht der Fall ist, da die gegenwärtigen klinikindividuellen Pflegesätze unabhängig von der Erkrankung des Patienten stets gleich sind.

Kritiker hingegen weisen beispielsweise darauf hin, dass im PEPP-Katalog Leistungen etwa der Sozialarbeiter oder der Ergotherapeuten nicht erfasst werden. Diese würden als „Hintergrundrauschen“ nicht abgebildet.

Wir sprechen hier keineswegs über eine Orchideendisziplin, wenn wir auf die Psychiatrien schauen: Jährlich gibt es fast eine Million stationäre Aufnahmen, Tendenz steigend. Das ganze betrifft also viele Menschen.

Kommen wir abschließend und ausblickend zurück zu dem Beitrag „Ein Geburtstag, der Fragen aufwirft“ von Uwe K. Preusker, einem versierten Beobachter der Entwicklungen in der deutschen Krankenhauslandschaft: »Angezeigt wäre … eine Ergänzung des G-DRG-Systems durch Qualitätskriterien, die dann schrittweise einen größeren Einfluss auf die Vergütung bekommen könnten. Außerdem müssen nachgewiesene Fehlanreize, die das gegenwärtige System aufweist, durch sinnvolle Neuregelungen ersetzt werden. Und die Wege, die viele andere Länder eingeschlagen haben, weisen auch darauf hin, dass man individuelle Finanzierungsinstrumente benötigt, wenn man politisch priorisierte Ziele erreichen will, etwa eine flächendeckende Versorgung.«

Der entscheidende Aspekt mit Blick auf die Zukunft und die von vielen kritisierte fortbestehende Trennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung ist aber der folgende Gedanke von Preusker:

»Vor allem aber sollte man bei jeder Weiterentwicklung der existierenden Vergütungssysteme berücksichtigen, dass ambulante und stationäre Versorgung tendenziell immer stärker zusammenwachsen – irgendwann bedeutet dies unweigerlich, dass beide Sektoren auch unter ein gemeinsames Dach einheitlicher Vergütungsregularien kommen.«

Das wird noch eine Menge Arbeit und ein langer Weg.