Neuer alter Tarifvertrag für die Leiharbeit – über sozialpartnerschaftlichen Pragmatismus und Mindest-Mindestlohnrhetorik

Nach mehrmonatigen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Verbänden der Leiharbeitsbranche ist die Katze aus dem Sack: „Leiharbeit: Löhne steigen, Abstand zwischen West und Ost sinkt„, so der DGB in seiner Pressemitteilung. Das hört sich ordentlich an. Und von Holger Piening, der stellvertretende Verhandlungsführer auf der Gegenseite, wird der Ausspruch berichtet: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, noch vor der Bundestagswahl ein tragfähiges Verhandlungsergebnis zu erzielen“. Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verfällt gar in eine wahre Jubelarie, wenn sie von einem „überragenden“ Schritt in der Mindestlohndebatte spricht. Was ist denn hier passiert? Welchen Durchbruch können und dürfen wir feiern für eine Personengruppe, die seit einigen Jahren im Mittelpunkt einer intensiven Debatte über die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt steht und die zuletzt fast schon einen Symbol-Status für fragwürdige Ausformungen des deutschen „Jobwunders“ angenommen hat? Ist jetzt etwa endlich die alte Forderung nach „Equal Pay“, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit, in die Wirklichkeit gehoben worden?

Die Tabelle fasst die wichtigsten Ergebnisse des neuen Tarifabschlusses zusammen. Ab dem kommenden Jahr bekommen die Leiharbeiter in drei Schritten mehr Geld, die prozentualen Steigerungsraten liegen in Westdeutschland bei 3,8%, 3,5% und 2,3%. Die Euro-Beträge für die niedrigste Entgeltgruppe in der Leiharbeit markieren zugleich den Mindestlohn für Leiharbeiter – bzw. korrekter formuliert für den einen West- und den anderen Ost-Mindestlohn, wenn denn diese Beträge seitens des Bundesarbeitsministeriums für allgemeinverbindlich erklärt wird, woran aber kein großer Zweifel bestehen kann. Dazu hat sich die amtierende Ministerin sogleich zu Wort gemeldet und das Ergebnis der Tarifparteien auch noch gegen die Oppositionsparteien eingebaut in den gerade auslaufenden Wahlkampf:

»Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte an, sie wolle die neuen Mindestlöhne umgehend für allgemeinverbindlich erklären, „damit alle Beschäftigten der Branche ab 1. Januar 2014 von dem Aufschlag profitieren können“. Die Einigung habe „eine überragende Bedeutung für die Mindestlohndebatte in Deutschland“. Das Ergebnis zeige auch, dass die Tarifparteien keine Vorgaben der Politik brauchten, um auf vernünftige Lohnhöhen zu kommen, sagte von der Leyen. Sie verwies damit auf Forderungen von SPD, Linken und Grünen nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zwischen 8,50 und 10 Euro.«

„Von Anfang an war es für die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit klar, dass keinem Ergebnis zugestimmt wird, das nicht die 8,50 Euro als unterste Entgeltgruppe festschreibt. Damit haben wir zugleich die Lohnuntergrenze für den Branchenmindestlohn in der Leiharbeit festgelegt.“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki. Das ist eine durchaus mutige Interpretation des nun vorliegenden Tarifergebnisses, denn schaut man sich die Werte für Ostdeutschland an, dann ist festzuhalten, dass dort  der auf der Forderungsebene für jetzt seitens der Gewerkschaften gleichsam in Stein gemeißelte Betrag von 8,50 Euro tatsächlich erreicht wird – allerdings erst im Juni 2016!
Zugleich ist die mit dem Tarifabschluss auf Jahre festgeschriebene Zementierung einer ungleichen Bezahlung der Leiharbeiter in West und Ost zumindest begründungsbedürftig.

Das wird Ärger geben innerhalb der Gewerkschaften, worüber gleich noch zu sprechen sein wird. Hinter diesem Punkt werden dann auch die anderen erzielten Verbesserungen im Regelwerk verblassen und verschwinden. So weist der DGB darauf hin: Mit dem Abschluss sei es auch gelungen, den Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten als Streikbrecher zu unterbinden. Und weiter: »Geändert wurden die missbrauchsanfälligen Entgeltgruppenbeschreibungen in den untersten Entgeltgruppen EG 1-4. Leiharbeitsbeschäftigte, die z.B. als VerkäuferInnen im Einzelhandel eingesetzt sind, können nun nicht mehr grundsätzlich in EG 1 eingruppiert werden. FacharbeiterInnen haben durch die neuen Beschreibungen die Möglichkeit, höher gruppiert zu werden.«

Aber zurück zu den Hinweisen auf den drohenden Ärger innerhalb des gewerkschaftlichen Lagers. Die Kritiker haben sich bereits zu Wort gemeldet: Der Gewerkschaftsbund würde durch die Verlängerung der Tarifverträge für Leiharbeiter weiter den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unterlaufen, so der Vorwurf von Daniel Behruzi in seinem Artikel „Dumping dank DGB„. Das ist starker Tobak. Wie begründet er seinen Vorwurf mit Blick auf den aktuellen Tarifabschluss?

»Den Unternehmern bleibt damit … auf Jahre hinaus die Möglichkeit, reguläre Tarifverträge zu unterlaufen. Ohne eine Neuauflage des DGB-Vertrags wäre das laut Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nicht mehr möglich gewesen … Die Schlechterstellung von Leiharbeitern gegenüber den Stammbeschäftigten wird mit dem DGB-Kontrakt zementiert. Dabei sieht das AÜG eigentlich gleiche Bezahlung (Equal Pay) vor – wenn dem kein Tarifvertrag entgegensteht. Da die Vereinbarungen der »christlichen Gewerkschaften« von den Gerichten längst für illegal erklärt wurden, ist es nun allein der DGB-Tarif, der Equal Pay verhindert.«

Hier wird eine offene Wunde innerhalb des Gewerkschaftslagers angesprochen – denn in den vergangenen Monaten hatten sich nicht wenige Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre für einen Ausstieg aus dem Tarifvertrag ausgesprochen, um den „Equal Pay“-Mechanismus des Gesetzes auszulösen. So wurde im Mai dieses Jahres unter der Überschrift „Gewerkschafter gegen Leiharbeitstarifvertrag“ berichtet: »In einem Offenen Brief fordern Sekretäre, Basisaktivisten und ganze Betriebsratsgremien, die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften auf, den Tarifvertrag für die Leiharbeitsbranche einfach auslaufen zu lassen.« Der hier angesprochene Offene Brief „Equal Pay durchsetzen statt Lohndumping tarifieren – Nein zum DGB Tarifvertrag in der Zeitarbeit!“ datiert vom 11. April 2013. Darin findet man u.a. die folgenden Ausführungen:

»Wir sind gemeinsam mit zahlreichen Arbeitsrechtler/innen der Überzeugung, dass die Vorteile einer ersatzlosen Kündigung angesichts des Equal-Pay-Grundsatzes im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gegenüber möglichen und angeblichen Risiken deutlich überwiegen. Eine ersatzlose Kündigung des Tarifvertrags ermöglicht die Durchsetzung einer gleichen Bezahlung von Leiharbeiter/innen. Eine Neuauflage des Tarifvertrags hingegen zementiert Lohndumping durch die Leiharbeit und beschädigt unsere gewerkschaftliche Glaubwürdigkeit nachhaltig.«

Das hört sich im Lichte der nun bekannt gewordenen tarifvertraglichen Fortführung nach einer großen verlorenen Gelegenheit an. Das Hauptargument der Kritiker lautet ja, dass die Gewerkschaften nur einen tarifvertragslosen Zustand herbeiführen müssten, damit die im AÜG normierte Regelung des „Equal Pay“ greifen kann und muss. An dieser Stelle darf die Erinnerung erlaubt sein, dass die DGB-Gewerkschaften bei der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit im Gefolge der rot-grünen Agenda 2010-Politik ihren Tarifabschluss zur Leiharbeit damit gerechtfertigt haben, dass sie damals vor dem Problem standen, »dass ihnen die Arbeitgeber der Branche immer drohen konnten (und teilweise haben sie es auch praktiziert), statt mit ihnen mit den so genannten „christlichen Gewerkschaften“, einer wundersamen Truppe „gelber“ Nicht-Gewerkschaften, abzuschließen, die bereit waren, auch unterirdische Vergütungsbedingungen zu akzeptieren«, wie ich erst vor kurzem in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite angemerkt habe. Nachdem das Bundesarbeitsgericht diese ominösen „Tarife“ 2010 wegen der fehlenden Tariffähigkeit für unwirksam erklärte, haben die „christlichen Gewerkschaften“ das Tarifgeschäft aufgegeben.

Was kann gegen die kritische Argumentation, dass mit einer Fortführung der tarifvertraglichen Regelung eine einmalige Chance vertan wird, zu einer „Equal Pay“-Regelung zu kommen, ins Feld geführt werden? Unter der Überschrift „Tarifverträge Leiharbeit – überflüssig oder notwendig?“ findet man auf der Seite der IG Metall die folgenden drei Haupt-Argumente für einen Tarifvertrag:

»Tarifverträge schaffen Klarheit: Das Gesetz beschreibt nicht, wie Equal Pay im Betrieb funktionieren soll. Für Beschäftigte wäre nicht transparent, welche Ansprüche sie haben. Das können Arbeitgeber ausnutzen. Leiharbeitnehmer müssten unter Umständen bei jedem Einsatz ihre Ansprüche selbst ermitteln, geltend machen und notfalls vor Gericht einklagen. Im Tarifvertrag ist alles klar geregelt. Er schafft Rechtssicherheit.«

»Im Gesetz gilt das Equal-Pay-Gebot nicht für Zeiten, in denen Leihbeschäftigte nicht in Einsatzbetriebe entliehen sind. Anders als im Tarifvertrag ist dazu im Gesetz nichts geregelt.»

»Der Mindestlohn in der Leiharbeit basiert auf Tarifverträgen. Der Gesetzgeber hat den Tariflohn als Lohnuntergrenze in der Branche anerkannt. Daran müssen sich auch Verleihfirmen etwa mit Sitz in Polen halten. Ohne Tarifverträge könnten sie ihre Arbeitskräfte zu den niedrigeren polnischen Löhnen nach Deutschland schicken.«

An anderer Stelle hört man dann immer wieder auch noch den Hinweis, dass ja bei abgelaufenen Tarifverträgen eine Nachwirkung der Tarifverträge gelten würde und die betroffenen Arbeitnehmer dann unter den bestehenden schlechten Bedingungen weiter arbeiten müssen. Diese Nachwirkungsthese wird allerdings von den Kritikern mit Blick auf die gesetzliche Normierung des „Equal Pay“ bei fehlendem Tarifvertrag bestritten – eine Frage, deren letztendliche Beantwortung in den Händen von Arbeitsrechtlern liegen muss.

Auch wenn man ein Befürworter einer pragmatischen Vorgehensweise ist, dann muss zumindest die lange Laufzeit, die nun vereinbart wurde, verwundern. Hier wird tatsächlich auf Jahre hinweg ein tarifliche Eigenwelt für die Leiharbeit zementiert.

Eine der größten Gefahren für die Gewerkschaften wird sein, dass sie am Beispiel dieses neuen Tarifabschlusses vorgeführt werden hinsichtlich ihrer „Mindest-Mindestlohnrhetorik“, die seit längerem immer auf die 8,50 Euro fokussiert war und ist und nachdem dieser Betrag immerhin Beschlusslage der Gewerkschaften darstellt, auch gut abgesichert im Binnengefüge der Gewerkschaften. In der Praxis geht es aber offensichtlich sehr wohl, hiervon zumindest für einen langen Übergangszeitraum abzuweichen.

Dem einen oder der anderen könnte hier die These in den Kopf kommen, da waren ja sogar die Friseure, von denen nun wirklich nicht wenige Betriebe Probleme mit einem halbwegs akzeptablen Mindestlohn haben, schneller und mutiger. Allerdings kann man die auch in der Tabelle ausgewiesenen Beträge natürlich nicht eins zu eins vergleichen mit den angestrebten Mindestlohnsätzen bei den Friseuren, denn bei denen kommen dann zwar auch noch die Arbeitgeberkosten dazu, aber bei der Leiharbeit tritt als weitere Kostenkomponente der Betrag dazu, der an die Leiharbeitsfirma fließt. Deshalb muss der entleihende Betrieb ja auch kostenseitig einen Betrag kalkulieren, der im Schnitt mindestens das Doppelte dessen beträgt, was dem einzelnen Leiharbeiter am Ende der Nahrungskette zugestanden wird. Und nicht nur das: In einigen Branchen, allen voran der Metall- und Elektroindustrie, wurden ja auch tarifvertraglich „Branchenzuschläge“ vereinbart, die den Leiharbeiter nach längerer Beschäftigungsdauer in die Nähe der Vergütung der Stammbelegschaft in seinem bzw. ihren Tätigkeitsfeld führt („natürlich“ ohne die sonstigen Zusatzleistungen, die die Stammbelegschaft oftmals noch beziehen kann). Eine deutlich stärkere Anhebung der Vergütungssätze für die Leiharbeit hätte diese Beschäftigungsform kostenseitig dann sicher in einer zunehmenden Zahl von Fällen den betriebswirtschaftlichen Relevanzboden entzogen (was zugleich ein explizites Ziel ist eines Teils der Kritiker an der Leiharbeit generell). Und schon wären wir mittendrin in einer notwendigerweise höchst komplexen Tiefenanalyse der unterschiedlichen Aufgaben der Leiharbeit und der Beschäftigung von Leiharbeitern, auch und gerade mit Blick auf die Stammbelegschaften und deren Eigeninteressen. Das würde den Rahmen dieses Blog-Beitrags sprengen, aber darauf hinweisen sollte man schon.

Sozialpolitische (Nicht-)Themen eingeklemmt „zwischen Plätscherparty und brodelnder Unruhe“ im bedrohten Paradies. Anmerkungen zum Bundestagswahlkampf

Die neue Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL macht auf mit einer heftigen Breitseite gegen die (vermutete) Rekordzahl an Nichtwählern, die man am kommenden Sonntag bei der Bundestagswahl erwartet: „Die Schamlosen“, so ist die Titelgeschichte der Hamburger Meinungsmacher überschrieben und darunter finden wir die knackige Summary: „Nichtwählen ist salonfähig geworden. Schuld daran sind Intellektuelle und Prominente, die ihre teils politikverachtende Haltung über alle Kanäle verbreiten. Sie schaden damit der Demokratie“. Die Vorwürfe werden ohne Zurückhaltung ausgebreitet: »Die neuen Nichtwähler kennen keine Scham, sie tragen ihr Nichtwählertum wie eine Monstranz vor sich her … So ist die Politik- und Parteienverachtung bis in die höheren Etagen der deutschen Gesellschaft vorgedrungen, ventiliert und absolutiert von ein paar Fernsehintellektuellen, aber auch von einer wachsenden Zahl an weniger prominenten Aktivisten. Die neuen Nichtwähler trifft man inzwischen überall, in Zahnarztpraxen, an Stammtischen, in der Berliner Künstlerszene oder im Internet« (S. 22/23). Als Kronzeugen zitiert der SPIEGEL den Philosophen Peter Sloterdijk („Bisher hieß, politisch vernünftig sein, das geringere Übel zu wählen. Doch was tun, wenn ich nicht mehr weiß, wo das geringere Übel liegt?“) und seinen Fernseh-Kollegen Richard David Precht (es handele sich „um die vermutlich belangloseste Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik“ sowie: „Zum Bekenntnis zu einer Partei fehlt mir nicht der Mut, sondern die Möglichkeit der Identifikation“). Bei der Vorführung der Angeklagten darf natürlich auch Gabor Steingart, der Herausgeber des Handelsblatts, nicht fehlen, der sich schon 2009 mit dem Buch „Die Machtfrage: Ansichten eines Nichtwählers“ auf dem Markt der Meinungen positioniert hat und der das Nicht-Wählen als eine Art „Notwehrmaßnahme“ stilisiert. Sloterdijk nennt die Bundesrepublik eine „Lethargokratie“, der Wirtschaftswissenschaftler Max Otte sieht den Staat in Richtung „Plutokratie“ driften, also eine Herrschaft der Reichen.

Ob das nun alles wirklich so unverantwortliche und zu verurteilende Positionen sind oder nicht – an dieser Stelle soll es um einen anderen Aspekt gehen, der ebenfalls in der neuen SPIEGEL-Titelgeschichte angesprochen wird: Zum einen um die Frage nach den sozialpolitischen Themen des Bundestagswahlkampfs sowie der Frage nach hier erkennbaren Unterschieden zwischen den Parteien und zum anderen der Hinweis darauf, dass Arbeitslose, Arme und andere Abgehängte in einem doppelten Sinne ausgeschlossen werden, zum einen, weil sie sich nur sehr unterdurchschnittlich als Wähler einbringen (was die Parteien wissen) und zum anderen, weil es in der wahlentscheidenden „Mitte“ eine zunehmende Distanzierung von Aspekten des sozialen Ausgleichs, geschweige denn des Versuchs der Herstellung von sozialer „Gerechtigkeit“ gibt, so zumindest die These, mit der man immer wieder auch aus der Wahlforschung konfrontiert wird.

Doch zuerst der Blick auf die Unterschiede zwischen den Parteien, denn eine der zentralen Behauptungen der Apologeten der bewussten Nichtwählerschaft ist die von der zunehmenden Nicht-Unterscheidbarkeit der Parteien. Precht spricht vom „Kinderkrempel-Wahlkampf“ und beklagt, es gebe nur noch eine „Mega-Partei“. Hier hält der SPIEGEL dagegen – interessanterweise vor allem mit Beispielen aus dem Formenkreis der sozialpolitischen Themenrelevanz:

»Hätten Precht, Sloterdijk und Kollegen zwischen ihren Auftritten auch nur kurz durch die Wahlprogramme geblättert, sie hätten die Unterschiede nicht übersehen können. Dann wüssten sie, dass SPD und Grüne eine völlig andere Steuerpolitik vertreten als Union und FDP. Dass es einen Unterschied macht, ob die bisherige Krankenversicherung in eine Bürgerversicherung umgewandelt wird oder nicht. Dass die Positionen zum Ehegattensplitting, zum Adoptionsrecht für homosexuelle Paare oder zur Kinderbetreuung weit auseinandergehen. Dass auch die Frage, wer für die Schulden der Länder Südeuropas aufkommen soll, sehr unterschiedlich beantwortet wird. Doch all dies übersehen die Propagandisten des Nichtwählens. Es würde die These zerstören, wonach ohnehin alles eins ist« (S. 24).

So richtig das sein mag – dennoch beschleicht gerade den sozialpolitisch interessierten Beobachter der Eindruck, dass die Themen, mit denen die Oppositionsparteien SPD, Grüne und die Linken derzeit im Bundestagswahlkampf antreten, beispielsweise Mindestlohn, Bürgerversicherung, Pflege oder auch Arbeitsmarktfragen generell, wie an einer Teflonwand abprallen – und das nicht nur an der Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch an vielen Wählern.

Nils Minkmar hat die hier angedeutete Grundsatzfrage in einem lesenswerten Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zum Thema gemacht: „Auf Doktor Merkels Couch„, so hat er seinen Artikel überschrieben und er fragt sich: »Sind wir Wähler wirklich so schwach, so ausgebrannt, so depressiv, dass man uns eine Therapie verordnet? Statt uns mit den wahren Problemen zu belästigen? Ein Plädoyer für mehr Streit, mehr Ernst, mehr Politik«.

Er legt den Finger auf einige offene Wunden: »Der Werbespot der CDU zum Bundestagswahlkampf 2013 wird in die Museen eingehen als das Leitfossil unserer Tage … noch brisanter ist, was nicht gezeigt wird. Wir sehen das Land nicht, über dessen Zukunft am 22. September entschieden wird. Wir erfahren nichts davon, wie es in vier Jahren aussehen soll, wie die Menschen sich entwickeln könnten, wie man dann hier lebt. Kein unnützes Wissen, keine beschwerenden Fakten, nur der gemeinsame Moment zählt.« Und überaus passend zur heutigen Landtagswahl in Bayern (während dieser Blog-Beitrag entsteht, laufen die ersten Hochrechnungen über die Ticker, die der CSU die absolute Mehrheit der Mandate in Aussicht stellen): »Dasselbe Muster auch bei dem Film, mit dem Horst Seehofer für die CSU wirbt: Beruhigende Worte, Nähe, eine heimelige Kulisse. Bilder, Musik, alles vom Feinsten. Das größte politische Irrlicht des Landes wird wie ein Leuchtturm inszeniert, ein reflektierter und reflektierender Landesvater. Die wahre Botschaft transportiert sich über das vegetative Nervensystem: Nicht mal mit einer Daunenfeder werdet ihr belastet. Wir schultern eure Last.«

Nun könnte man – durchaus naheliegend – auf den Gedanken kommen, dass das vor allem was damit zu tun hat, dass es zwar einer kleinen Gruppe schlecht oder gar noch schlechter geht, dass aber die große Mehrheit, vor allem die, die an die Wahlurnen marschieren, gut oder gar besser geht, dass man die tolle Lage, in der sich unser Land befindet, genießen möchte. Dann wäre das Setzen der Opposition auf soziale Fragen nicht nur ein Fehlgriff, sondern in dieser Logik würde es sich gegen sie wenden, bekommen sie dann doch den Status einer „Spaßbremse“ oder eines „Quälgeistes“ zugeschrieben – und wer wählt die schon gerne.

Interessanterweise vertritt Nils Minkmar in seinem Beitrag eine ganz andere These. Sein Schlüsselsatz lautet: »Dass das Land sich derart ruhebedürftig fühlt, weist darauf hin, dass große Unruhe herrscht.« Das ist eine begründungsbedürftige These und er erläutert sie uns:

»Es verhält sich immer so: In stabilen Verhältnissen wächst der Mut, etwas zu verändern, in instabilen klammern sich alle an das, was ist. In Zeiten mit echtem Wachstum, einer voll und gut beschäftigten Bevölkerung mit geregelten Arbeitszeiten, etwa den frühen siebziger Jahren, war der Wunsch nach Veränderung verbreitet. Fortschritt war damals ein gängiger Begriff, Kritik war zugleich eine Tugend und eine Praxis: Kritik am Arbeitsplatz, an den bestehenden Verhältnissen, an den gesellschaftlichen Rollenverteilungen, am Geschlechterverhältnis. Heute ist das nicht mehr so. Die komplette Umwälzung aller Branchen durch die Digitalisierung, das Aufblühen von privaten Internetfirmen und staatlichen Überwachungsdiensten, das Wachstum der anderen, außereuropäischen Gesellschaften, das alles inspiriert nicht zu großen Veränderungen, es schüchtert ein. Kritik ist völlig aus der Mode, Nostalgie nach dem eben vergangenen Augenblick ist die nationale Grundstimmung. Heute gilt als clever, wer jene gut findet, die schon ganz oben sind.«

Minkmar bezieht sich im weiteren Gang seiner Argumentation auf Befunde aus der Wahl- bzw. besser Wählerforschung des von Stephan Grünewald geleiteten Kölner Rheingold-Instituts. Dieses Institut arbeitet mit einem besonders interessanten Ansatz: Das Institut legte für eine neue Studie 52 Wähler in zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen sinnbildlich auf die Couch. Auf dieser qualitativen Basis erfolgte anschließend eine quantifizierende Befragung von 1.019 Wählern, um zu repräsentativen Ergebnissen zu kommen.

Herausgekommen ist die spannende Studie „Bundestagswahl 2013: Das bedrohte Paradies. Deutschland zwischen Plätscher-Party und brodelnder Unruhe“. Die Meinungsforscher stützen die These von Minkmar bzw. er hat seine von diesen Befunden leiten lassen: »Was tut sich unter der scheinbar so ruhiggestellten Oberfläche? rheingold hat die Wähler auf die Couch gelegt und die Stimmung im Lande ausgelotet. Das Ergebnis ist überraschend und alles andere als beruhigend: Denn draußen im Land ist längst nicht alles „heile Welt“, ruht der See nicht still. Unter der Decke brodelt es, das Paradies Deutschland scheint nach Ansicht vieler Bürger bedroht, das Schreckgespenst Krise führt zu erstaunlichen Bannungsformen und besorgniserregenden Ressentiments.«

Das muss man sich genauer anschauen. In ihrer Pressemitteilung zur neuen Studie finden wir die Haupterkenntnisse der Meinungsforscher in sechs prägnanten Thesen aufbereitet, die hier – auch aufgrund der prägnanten Ausformulierung – ausführlicher zitiert und kommentiert werden sollen:

1. Der politische Aufbruch findet nicht statt: Die Sehnsucht nach der permanenten Gegenwart
»Der Wahlkampf wird wie ein See erlebt, der still in sich ruht und in dem man allenfalls ein leises Plätschern vernimmt. Zukunftsvisionen, politische Positionen oder streitbare Themen werden von den meisten Wählern nicht artikuliert. Der Wunsch nach Stabilität und Besitzstandswahrung ist übergreifend und eint derzeit die politischen „Lager“: „Am besten alles so lassen, wie es ist“, lautet die Losung.« Insofern könnte man formulieren, dass die vielkritisierte Inhaltslosigkeit des Wahlkampfs eigentlich nur der konsequente Ausdruck des mehrheitlichen Wählerwillens darstellt. Die Risiken, die mit einem wirklichen Wandel und Aufbruch verbunden sind, werden durchweg von den Wählern gescheut, so eine der Schlussfolgerungen der Meinungsforscher. Der Blick auf die Zustände in den benachbarten Ländern, denen es wesentlich schlechter geht, lähmt die Wähler hier. »Die Stimmung im Lande lässt sich als Plätscher-Party beschreiben: die Versorgung soll gewährleistet sein, die kleinen Freuden des Alltags sollen genossen werden. Auf die große Sause wird jedoch verzichtet: Man schaltet im Alltag auf Autopilot: alles soll seinen gewohnten Gang gehen.«

Das heißt aber nicht, dass es keine Probleme geben würde. »… jenseits der deutschen Plätscher-Party-Meile lauert ein Minenfeld. Es haben sich so viele ungelöste und unfassbare Probleme angestaut, dass jeder, der sich in dieses Terrain wagt, zum Scheitern verurteilt ist. Und so trauen viele Wähler der großen Politik und den großen Parteien auch nicht mehr die großen Lösungen zu. Stuttgart 21, der Berliner Flughafen, aber auch die vielen gekippten Doktorarbeiten gelten als Beleg, dass die großen Projekte nicht mehr umgesetzt werden können. So „doktert“ man nur an den kleinen Problemen rum oder richtet sich darin ein, besser gar nichts zu tun.«

Dann kommt eine auf den ersten Blick irritierende These der Meinungsforscher:

2. Viele SPD-Wähler hoffen insgeheim auf einen Fortbestand der Regierung Merkel
»Viele Wähler immunisieren sich gegen die Krisengefahr, indem sie sich mehr und mehr in ihren Alltag zurückziehen, ihre privaten Interessen pflegen und sich von der undurchschaubar gewordenen Welt der Politik abkapseln.« Das scheint mir generell ein wichtiger Befund zu sein, denn dieses Verhalten trifft besonders zu auf die Angehörigen der Baby-Bommer-Generation, also derjenigen, die heute an vielen Schaltstellen unserer Gesellschaft sitzen und die das besonders konturieren, was als „Mitte“ im Fokus der Parteien steht. Das, was generell gilt, wächst sich nach Auffassung der Meinungsforscher zu einem besonderen Problem für die SPD aus: »Diese Teilnahmslosigkeit in Sachen Politik scheint bei vielen SPD-Wählern noch stärker ausgeprägt zu sein. Sie glauben nicht an den Wechsel. Da der Ausgang der Wahl für sie schon klar zu sein scheint, erscheint der Gang zur Urne als rein formaler Akt.« es wird darauf hingewiesen, dass es auffällig sei, wie oft Frau Merkel auch von den SPD-Wählern in den Tiefeninterviews verteidigt wird. Und dann kommt eine Schlussfolgerung über das Verhalten der SPD-Wähler, die der Sozialdemokratie gar nicht gefallen kann und wird: »Ihr seelischer Konflikt, einerseits treu zur SPD zu stehen, aber andererseits weiter die Merkelsche Konstanz zu wollen, werden sie lösen, indem sie letztlich nicht zur Wahl gehen.«

Die dann folgende These schließt an die vorangehende nahtlos an und verstärkt diese:

3. Der wehrhafte Schutzengel Angela Merkel garantiert besser als der Wackelkandidat Peer Steinbrück den stabilen Versorgungsrahmen
Merkel steht gerade nicht für hektischen Aktivismus oder mutige Reformen, sondern für Ruhe und Gelassenheit, sie wird wahrgenommen als „Fels in der Brandung“. Sie ist hineingewachsen in die Rolle einer „versorgenden Übermutter“, ihr wird „Überparteilichkeit“ zugeschrieben. Die gleichsam präsidiale Rolle wird im Wahlkampf durch die eindimensionale Personalisierung auf die Kanzlerin konsequent abgebildet. Peer Steinbrück hingegen »wirkt … wie ein Schatten seiner selbst: Unberechenbar, von parteitaktischen Zwängen gegängelt, täppisch und egoistisch«, so die Befunde der Meinungsforscher. Er steht für »riskante Alleingänge mit ungewissem Ausgang«. Dadurch bedroht er die deutsche Plätscher-Party-Stimmung und ihm fehlt die der Kanzlerin zugeschriebene „Mütterlichkeit“.

Soweit, so bekannt, könnte man an dieser Stelle notieren, wobei sich die hier nicht weiter zu verfolgende Frage aufdrängt, was davon Produkt einer bewusst-unbewussten Steuerung durch die mehrheitliche Medienberichterstattung ist und weniger auf Tatsachen basiert. Hierzu nur ein Hinweis auf eine neue Studie, die von der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall veröffentlicht wurde: „Bei BILD im Angebot: Eine starke Kanzlerin und ihr schwacher Partner SPD. Springers Boulevardmedien im Bundestagswahlkampf 2013 – Eine Zwischenbilanz„. Gegen einen Lagerwahlkampf, für eine Große Koalition und gegen eine rot- grüne Regierung haben sich die Boulevardblätter BILD und BamS im Bundestagswahlkampf 2013 positioniert, so heißt es in der Zwischenbilanz der Medienstudie der Otto Brenner Stiftung, die von Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt erarbeitet wird. Die Befunde in dieser Studie stützen die Ableitungen der Meinungsforscher von Rheingold: »Merkel werde als große Führungsfigur gehegt und gepflegt, unterbrochen von gelegentlichen freundlichen Ermahnungen an ihre Adresse. Diese dauerhafte Aufwartung und die konsequente Personalisierung aller politischen Ereignisse mache Merkel für das BILD- und BamS-Publikum allgegenwärtig. Steinbrück komme nur auf den ersten Blick quantitativ und inhaltlich ordentlich weg: Er werde oft in Zusammenhang mit peinlichen und nebensächlichen Themen gebracht und stets schwinge die Botschaft mit, der Kandidat sei in erster Linie ein ebenso aussichtslos wie verzweifelt kämpfendes Opfer seiner Partei und seiner selbst.«

Zurück zur Rheingold-Studie – und jetzt betreten wir sozialpolitisch hoch relevantes Terrain:

4. Der Wunsch nach einem „gerechten Deutschland“ – wachsende Ressentiments unter der Oberfläche 
Parteiübergreifend geben 81 % der Wähler an, dass soziale Gerechtigkeit das primäre Ziel der Bundesregierung sein sollte. Das ist doch eigentlich ein vielversprechender Wert. Doch allgemein für „soziale Gerechtigkeit“ zu sein, ist das eine. Das andere ist der folgende Befund, der hier besonders herausgestellt werden muss:

»Es gibt aber auch eine wachsende Gruppierung, die bereit ist, das Paradies Deutschland aktiv zu schützen. Der Status quo soll gegen all die verteidigt werden, die die eigene Moral nicht teilen. In den Interviews oder Gruppendiskussionen wehren sie sich gegen die vermeintlichen „Denkverbote und Tabus in der offiziellen Politik“. Mit Leidenschaft und Vehemenz zeigen sie auf, durch welche Menschen und Machenschaften sie „das kränkelnde System Deutschland“ von innen und außen bedroht sehen. In einer Aggressivität, die in den letzten 25 Jahren in rheingold-Studien noch nicht beobachtet wurde, wird angeprangert, dass „das eigene Geld im Süden versickert“, dass „Zuwanderer“ und „soziale Randgruppen“ „Geld von Vater Staat geschenkt bekommen“. Man grenzt sich pauschal von den „Harzern oder Sozialschmarotzern im eigenen Land“ ab, die nicht bereit sind, selber zu arbeiten.«

Und auch die nächste These hat zu tun mit Sozialpolitik, die ja auch immer Verteilungspolitik ist:

5. Die FDP wird über 5 % kommen, weil sie im Windschatten der CDU den Verteilungskampf und das Leistungsprinzip legitimert
Die FDP wollen insgeheim auch viele CDU-Sympathisanten an der Seite Merkels sehen. Denn die FDP artikuliert die CDU-nahen Forderungen nach einem individuellen Leistungsprinzip oder Steuererleichterungen, die von Angela Merkel nicht offen vertreten werden, so die Erkenntnisse der Meinungsforscher. Von daher werden sich schon genügend „Funktional-Wähler“ finden, um die FDP über die 5%-Hürde zu hieven, zumindest bundesweit.

Und wie sieht es aus mit den Grünen, die mal eine Zeit lang bei über 20% in den Umfragen lagen?

6. Die Grünen – zwischen Nachhaltigkeitsverfechtern und moralisierender Spaßbremse

Die Grünen greifen die Konsolidierungswünsche vieler Wähler auf, weil sie ein bewahrendes und die Natur konservierendes Versprechen haben. Bei der Stammwählerschaft gibt es Entwarnung für die Grünen, denn: »Vor allem in ihrer Kernklientel genießen sie eine Art Wahlabo, weil sie versprechen, trotz eigenem Wohlstand und eigenem Konsum ein gutes (Umwelt-)Gewissen haben zu können. Sogar die vorgeschlagenen Steuerhöhungen werden von vielen Grünwählern akzeptiert, weil sie einen Art Ablasshandel im Hinblick auf die eigenen Konsumsünden darstellen: durch das persönliche Steueropfer wird den Ansprüchen der Gemeinschaft Genüge getan.«

Es gibt allerdings eine gefährliche Entwicklung, die auch den gegenwärtig beobachtbaren Einbruch in den Meinungsumfragen mit erklären kann (sicher neben der Tatsache, dass ein Teil der Grünen-Wähler (wieder) zur SPD wechselt): »In ihrer sattsamen Etabliertheit mutieren sie in den Augen vieler Wähler mehr und mehr zu einer Spaßbremse in zweifacher Hinsicht. Einerseits verderben sie die Stimmung auf der deutschen Plätscher-Party durch ihre Forderungen nach einer Steuererhöhung … Andererseits wandelt sich ihr fröhliches Maßhalten zu einem verbissenen Maßregeln. Mit Rauch- und Genussverboten, mit Tempolimits und Gemüsegeboten beleben sie deutsche Kontrollzwänge, die der menschlichen Natur zuwiderlaufen.« Insgesamt wird den Grünen zunehmend ein „moralinsaurer Beigeschmack“ zugeschrieben, das kann sich noch mal bitter rächen.
Kommen wir abschließend wieder zurück zur neuen SPIEGEL-Titelgeschichte über die Nicht-Wähler. Ergänzend dazu findet sich in dem Heft 38/2013 ein weiterer Artikel, der aus einer weiteren Perspektive unterstreicht, warum es immer schwieriger wird, soziale Themen und hierunter vor allem Armut und Arbeitslosigkeit an die Oberfläche zu bringen, geschweige denn in den Fokus der Parteien: „Die Abgehängten“, so lautet der Titel des Beitrags von Christina Elmer et al. (S. 28-29): »In sozialen Brennpunkten gehen oft nur halb so viele Menschen zur Wahl wie in bürgerlichen Vierteln. Die Armen werden dadurch unterrepräsentiert.« Man könnte an dieser Stelle natürlich auch formulieren: Die Armen repräsentieren sich so selbst herunter.

»Beharrliche Nichtwähler stammen vor allem aus den unteren sozialen Schichten. „Es gilt ohne Ausnahme: Je ärmer ein Stadtteil, desto geringer fällt die Wahlbeteiligung aus“, sagt Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Er hat die Ergebnisse der Bundestagswahl von 1500 Stadtteilen in 34 Großstädten analysiert. Die Bürger der unteren Schichten sind enttäuscht und gleichgültig, koppeln sich vom politischen Prozess ab. Sie haben wenig gemein mit den Elite-Nichtwählern, die in diesem Jahr weder Merkel noch Steinbrück etwas abgewinnen können.«

Als ein besonders krasses Beispiel wird in dem SPIEGEL-Artikel der Stadtteil Halle-Neustadt zitiert:
»Bei der letzten Bundestagswahl gingen hier nur 28,1 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne. Im Stadtteil liegt die Arbeitslosenquote bei 15 Prozent, 22 Prozent leben von Hartz IV, mehr als 30 Prozent sind 65 Jahre oder älter … Auch im Westen sind die Städte nach Wohlstand und Teilnahme am Urnengang gespalten. In der Ruhrgebietsmetropole Essen liegen zwischen Wahlbezirken im ehemaligen Arbeiterviertel Altenessen-Süd und im bürgerlichen Haarzopf bei der Wahlbeteiligung bis zu 35 Prozentpunkte.«

Das wissen die Parteien und deren Strategen natürlich auch, insofern liegt die folgende Schlussfolgerung auf der Hand: »Die Wahlverweigerung der Unterschicht hat Folgen: Sie führe zu einer „Schieflage in der politischen Repräsentanz“, weil die Politik „in immer stärkerem Maße die Interessen der eher privilegierten Schichten der Bevölkerung“ berücksichtige, heißt es in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.« Weitere Informationen zum Thema „Nichtwähler in Deutschland“ gibt es in der gleichnamigen Studie von Manfred Güllner, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde.

Aus den Untiefen einer kleingeschredderten Sozialpolitik: Das „Bildungs- und Teilhabepaket“ und ein einsames Cello

Insgesamt ist für die zurückliegenden Jahre in vielen Bereichen der Sozialpolitik die fortschreitende Tendenz hin zu einer „Playmobil“-Sozialpolitik zu diagnostizieren – ob wir hierfür den putzigen „Pflege-Bahr“ anführen, also die sensationellen 5 Euro Steuergeld, die man monatlich bekommen kann, um sich zusätzlich privat für den Pflegefall abzusichern, das „Betreuungsgeld“ in Höhe von 100 bzw. demnächst 150 Euro zur Herstellung von „Wahlfreiheit“ für junge Eltern als neueste Kreation dieses Ansatzes einer „modernen“ Sozialpolitik oder auch das hier besonders interessierende „Bildungs- und Teilhabepaket“ im Gefolge der – an sich – wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen im Grundsicherungssystem (vgl. hierzu „Regelleistungen nach SGB II (‚Hartz IV- Gesetz‘) nicht verfassungsgemäß“ sowie die Entscheidung im Original: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010). Man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung festgestellt hat, dass insbesondere Ausgaben für Bildung und Teilhabe als Bestandteile des soziokulturellen Existenzminimums im Regelsatz von Kindern und Jugendlichen nicht adäquat berücksichtigt werden. Der eigentlich konsequente Schritt wäre gewesen, auf der Basis dieser Feststellung die Regelleistungen für die Kinder und Jugendlichen zu erhöhen – bekanntlich aber entwickelte sich mit dem Ziel der Abwehr einer solchen Maßnahme eine skurrile Debatte über den Grad der Alkohol-, Tabak- und Flachbildfernseh-Nutzung der Eltern der betroffenen Kinder und der Kollektivhaftung aller „Hartz IV“-Eltern für eine angebliche missbräuchliche Inanspruchnahme der ihren Kindern zustehenden Gelder. Im Ergebnis der erfolgreichen Abwehr der Erhöhung der Regelleistungen für alle Betroffenen wurde dann das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ins Leben gerufen, sicher wohlwissend, dass die Ausgaben bei einer antragsabhängigen, bedürfigkeitsgeprüften Sonderleistung schon mal per se niedriger ausfallen, als wenn man den betroffenen Haushalten die Regelleistungen angehoben hätte.

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