Betriebsräte und die Mühen der Ebene, die ewige Machtasymmetrie zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern und die handfesten Folgen von (Nicht-)Tarifbindung

Jede zweite Brille in Deutschland ist von Fielmann. Der Konzern produziert nicht im Ausland, sondern im brandenburgischen Rathenow. 3,5 Millionen Brillen allein im letzten Jahr. Innerhalb von zwei Tagen, so das Versprechen an die Kunden, wird die neue Brille geliefert: Modische Modelle für wenig Geld. Andere Brillenhersteller können da kaum mithalten: Fielmann ist der unumstrittene Marktführer und hat nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, Österreich und Italien Filialen. Nach einem Rekordumsatz in 2014 hat die Aktiengesellschaft mehr als 134 Millionen Euro Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet. Das Unternehmen hat knapp 17.000 Mitarbeiter.
Die produzieren also sogar in Deutschland, dann auch noch in Ostdeutschland, wo solche Arbeitsplätze dringend gebraucht werden. Eine echte Erfolgsgeschichte.

Aber wie so oft eine mit zwei Seiten. Der Beitrag Fielmann: Überstunden und Niedriglöhne von work-watch (www.brennpunkt-betrieb.de) wirft ein wenig Licht auf die so gar nicht glänzende andere Seite der Erfolgsstory.

»Viele der 1000 Beschäftigten des Produktions- und Logistikzentrums der hundertprozentigen Konzerntochter Rathenower Optische Werke, einem Betrieb ohne Tarifbindung, teilen diese Sicht nicht: Sie klagen über befristete Arbeitsverträge, kurzfristig anberaumte Überstunden, schlechte Bezahlung auf Mindestlohnniveau, hohen Arbeitsdruck und eine Betriebsatmosphäre, die von Angst geprägt ist. In der Montage werden zum Beispiel Stückzahllisten und „Bruchlisten“ über defekte Brillen geführt. Sogenannten „Minderleistern“ – also denen, die ihre Vorgaben nicht erfüllen – droht dann ein Gespräch mit dem Vorgesetzten. Vor allem die überbordende Arbeitszeit – manchmal mehr als 50 Stunden in der Woche – führte zur Unzufriedenheit in der Belegschaft.«

Unter den den etwa 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Brillenfertigung soll der Krankenstand mehr als zehn Prozent betragen.

»Vor allem die überbordende Arbeitszeit – manchmal mehr als 50 Stunden in der Woche – führte zur Unzufriedenheit in der Belegschaft. Festgelegt war die Arbeitszeitregelung in der Betriebsvereinbarung (BV) von 1997 …: „Obergrenze der regelmäßigen Arbeitszeit sind 50 Stunden die Woche, zehn Stunden am Tag. In Ausnahmefällen kann die Verteilung der Arbeitszeit auf sechs Tage erfolgen.“ Die Ankündigungsfrist für Mehrarbeit beträgt eigentlich drei Tage. „Aus dringenden betrieblichen Gründen“, so schränkt die Vereinbarung ein, „ist im Ausnahmefall auch eine kürzere Ankündigungsfrist zulässig.“ Die Ausnahmeregelung sei häufig zur Anwendung gekommen, lautet der Vorwurf.«

Zugleich kann man an diesem Fall auch wieder einmal studieren, dass es vor Ort in den Betrieben oftmals eine Gemengelage gibt, die es verbietet, von einer einfachen „Hier die Arbeitnehmer, da das Unternehmen“-Logik auszugehen.

Es gibt einen Betriebsrat, aber der ist wie in anderen Unternehmen auch oft zu beobachten, keineswegs einheitlich aufgestellt: Vor allem Betriebsräte der Industriegewerkschaft Metall haben die Missstände kritisiert und sind dafür an den Pranger gestellt worden. Die Spaltung der Belegschaftsvertreter kann man hier erkennen:

»Rundgänge der Betriebsräte und ihre Gespräche mit Kollegen – also die Grundvoraussetzung jeder Betriebsratsarbeit – würden die Arbeitsabläufe und damit den Betriebsfrieden stören. Diesen Vorwurf habe sogar die ehemalige Betriebsratsvorsitzende, die mehr als zehn Jahre lang jede Anfrage der Geschäftsleitung abgenickt hätte, formuliert. Sie gehört immer noch der Betriebsratsmehrheit an.«

Die Mehrheit im Betriebsrat wird als „arbeitgebernah“ bezeichnet. Diese Betriebsratsmehrheit hat im Jahr 2015 keine einzige Betriebsversammlung einberufen, obwohl eigentlich vier im Jahr gesetzlich vorgeschrieben sind.

Die Mitarbeiter hoffen nun auf die neue Betriebsvereinbarung, die Anfang dieses Jahres nach „zähen Verhandlungen“ unterzeichnet wurde. Aber auch hier zeigt sich die letztendlich nicht auflösbare Machtasymmetrie zwischen Arbeitnehmern und dem Unternehmen: Die IG Metall ist mit Blick auf die neue Betriebsvereinbarung skeptisch und angesichts der Vereinbarung „zwiegespalten“. Sie sei zwar besser als die alte, aber würde hinter den Standard anderer Betriebsvereinbarungen in vergleichbaren Unternehmen zurückfallen.

»Der amtierende Betriebsratsvorsitz … habe eine „zu harte“ Betriebsvereinbarung mit der Begründung abgelehnt, den Arbeitgeber nicht so sehr einzuschränken, weil sonst der Standort möglicherweise verlagert werde.«

Der Geschäftsführer des Unternehmens hat 2014 auf einer Betriebsversammlung gesagt: „Wir wollen die Standortfrage nicht stellen – brauchen aber eine gewisse Flexibilität der Mitarbeiter“.
Herausgekommen ist eine Betriebsvereinbarung des „kleineren Übels“. So wurde die – gesetzliche – Höchstgrenze der Wochenarbeitszeit von 48 Stunden in die Vereinbarung geschrieben.

Dieses Beispiel zeigt erneut, dass es in der betrieblichen Realität eben nicht nach einfachen Mustern geht (die da unten, die da oben), sondern das ewige Damoklesschwert der Standortverlagerung sorgt für eine beständige Machtasymmetrie und zugleich ist es aus der betrieblichen Perspektive ja auch verständlich, dass man eine gewisse Flexibilität braucht, wenn man im Wettbewerb steht. Auch gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte wissen das und müssen permanent Kompromisse schließen zwischen den (angeblichen) betrieblichen Interessen und den Forderungen aus der Gewerkschaftsperspektive. Das ist kein Gelände für Klassenkampf, zugleich aber wird wieder einmal deutlich, welche Entlastungsfunktion eine Tarifbindung der Unternehmen haben kann, denn dort sind auf einer überbetrieblichen Ebene viele Punkte geregelt, die ansonsten vor Ort nur sehr mühsam bis gar nicht ausgehandelt werden können. Und gerade in Ostdeutschland ist die Tarifbindung desaströs niedrig.

Wozu das führt, kann man diesem Beitrag entnehmen: Schwache Verhandlungsposition im Osten.

»Die Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind nach wie vor groß: In den neuen Bundesländern fallen die Bruttoverdienste fast 20 Prozent niedriger aus. Wie ist eine solche Differenz – 25 Jahre nach der Wiedervereinigung – zu erklären? Als Begründung werden oft Unterschiede in der Produktivität oder Qualifikation herangezogen. Doch es gibt einen weiteren, wenig beachteten Faktor: Die Arbeitnehmer im Osten sind vor allem bei Neueinstellungen bereit, „einen relativ niedrigen Lohn zu akzeptieren“, schreiben Christoph S. Weber und Philipp Dees von der Universität Erlangen. Das bedeute nicht, dass sich Ostdeutsche keine höheren Löhne wünschen, sondern eher, dass sie wenig Chancen sehen, diese durchzusetzen. Arbeitgeber könnten sich dies zunutze machen und niedrigere Löhne zahlen.«

In Zahlen ausgedrückt:

»Nicht nur die tatsächlich gezahlten Löhne, sondern auch die Erwartungen sind in Ostdeutschland deutlich geringer. Im Schnitt lagen die Lohnerwartungen aller nicht beschäftigten Personen, die eine Vollzeitstelle suchten, 2011 im Westen bei 1.618 Euro netto, im Osten bei 1.303 Euro«, so die Wissenschaftler in ihrer Untersuchung (vgl. ausführlicher: Christoph S. Weber, Philipp Dees: Anspruchslöhne: immer noch Unterschiede zwischen Ost und West, in: WSI-Mitteilungen, Heft 8/2015, S. 593–603).

Daraus kann sich offensichtlich eine Art Teufelskreis entwickeln:

„Das bestehende niedrigere Lohnniveau drückt wahrscheinlich die Anspruchslöhne. Diese niedrigeren Anspruchslöhne wiederum sorgen dafür, dass auch die tatsächlich gezahlten Löhne niedriger bleiben.“

Und hier spielt die Frage der Tarifbindung eine wichtige Rolle:

»Dass dieser Effekt im Osten noch stärker zum Tragen kommt als im Westen, liegt an der geringeren Tarifbindung: „In Abwesenheit von Tarifverträgen werden Löhne grundsätzlich freier verhandelt“, schreiben die Wissenschaftler. Dadurch hätten die Unternehmen erheblich mehr Gestaltungsspielraum. Anders ausgedrückt: Die Arbeitgeber haben es leichter, niedrige Erwartungen der Bewerber auszunutzen und die Löhne zu drücken.«

Die Zusammenhänge – und die Unterschiede – sind offensichtlich:

»Wer nach Tarif bezahlt wird, verdient bereits heute im Osten kaum weniger als im Westen. In Ostdeutschland arbeiten über alle Branchen hinweg allerdings nur 47 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben, während es in Westdeutschland 60 Prozent sind. Die Zahl der Beschäftigten, deren Vergütung sich am Branchentarifvertrag orientiert, ist ebenfalls niedriger als in Westdeutschland.«

Quelle der Abbildung: Böckler Impuls 20/2015 

Verloren im Niemandsland zwischen Dauer-Hartz IV-Bezug und einem – oft nur kurzen – Job. Und dann noch Förderprogramme, die nicht wirklich funktionieren können. Aber auch kleine Lichtblicke

Immer wieder wird das deutsche „Job-Wunder“ beschworen und tatsächlich ist es so, dass in den zurückliegenden Jahren die allgemeine Arbeitsmarktentwicklung durchaus positiv war. Die registrierte Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen, der Mindestlohn wurde ohne die von vielen Ökonomen prognostizierten Beschäftigungsverluste nicht nur weggesteckt, sondern es hat einen weiteren Zuwachs an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gegeben. Selbst beim Arbeitsvolumen, das sich in der Vergangenheit aufgrund der zunehmenden Teilzeitarbeit nicht so dynamisch entwickelt hat, zeigen die Daten nach oben. Alles gut? Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Und damit soll an dieser Stelle gar nicht auf die Frage nach der Qualität der Arbeitsplätze aufgeworfen werden, sondern der Finger muss in eine offene Wunde dieses vermeintlichen Beschäftigungswunders gelegt werden: die Langzeitarbeitslose, von denen viele gar nicht haben profitieren können von der guten Arbeitsmarktentwicklung.

Kaum Jobchancen für Langzeitarbeitslose, so hat Stefan Sauer seinen Artikel dazu überschrieben und er bezieht sich auf eine Analyse von Wilhelm Adamy, der Arbeitsmarktexperte des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Vgl. dazu den Beitrag „Von der Arbeitsmarktpolitik vernachlässigt: Langzeitarbeitslose – Warum ihre Zahl seit fünf Jahren stagniert“, in: Soziale Sicherheit, Heft 12/2015, S. 446 ff.

Die bittere Zusammenfassung: »Nur sehr wenige Langzeitarbeitslose finden dauerhaft eine reguläre Stelle. Wenn sie einen Job erhalten, ist er oft so schlecht bezahlt, dass die Menschen weiterhin auf staatliche Hilfen angewiesen sind.«

Die Befunde aus der Datenanalyse des DGB, die Sauer zitiert, sind mehr als ernüchternd:

»Von den 1,47 Millionen Personen, die sich 2014 aus der Langzeitarbeitslosigkeit verabschiedeten, meldeten sich 62 Prozent nicht länger arbeitssuchend und wanderten somit in die Nichterwerbstätigkeit ab. Etwa ein Viertel wurde in Weiterbildungskurse und öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen vermittelt. Gerade einmal 13 Prozent der Abgänge bekamen tatsächlich eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt, wovon wiederum nur etwa die Hälfte das Arbeitsverhältnis dauerhaft halten konnte.«

Damit ist die steigende Beschäftigung in den vergangenen Jahren fast komplett an den Langzeitarbeitslosen vorbei gegangen. „Seit 2010 hat sich der Bestand faktisch nicht mehr verändert“, so wird Wilhelm Adamy in dem Artikel zitiert. 90 Prozent der Langzeitarbeitslosen sind Hartz IV-Empfänger und bei ihnen sieht es richtig düster aus: Im Schnitt wechseln monatlich nur 1,3 Prozent aus dieser Personengruppe in den ersten Arbeitsmarkt. Der Unterschied zu den Kurzzeitarbeitslosen ist mehr als markant:

»Pro Monat gelingt es etwa einem Zehntel dieser Gruppe, eine sozialversicherungspflichtige Stelle zu finden. Ihre Chancen auf einen regulären Job sind siebenmal besser als die von Hartz-IV-Empfängern.«

Und die wenigen, die 2014 auf dem „ersten Arbeitsmarkt“ untergekommen sind, konzentrierten wich in wenigen und teilweise nicht unproblematischen Branchen:

»Ein Fünftel der 185.000 Menschen, die 2014 aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus eine reguläre Stelle antraten, landete in Leiharbeitsfirmen. Etwa 40 Prozent fanden Beschäftigung in Reparaturdiensten, im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie im Handel und Gastgewerbe. Nur gut sieben Prozent erhielten eine Stelle in der Industrie, knapp sechs Prozent auf dem Bau.«

Und leider ist es so, dass ein Unterkommen auf dem ersten Arbeitsmarkt für die Gruppe der ehemaligen Langzeitarbeitslosen keineswegs generell bedeutet, dass sie sich aus der Hilfebedürftigkeit verabschieden können:

»Rund 53 Prozent der langzeitarbeitslosen Hartz-IV-Empfänger, die 2013 und 2014 eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung annahmen, verdienten so wenig, dass sie als Aufstocker weiterhin auf staatliche Transfers angewiesen waren.«

Hinzu kommt: Die Jobs sind oft das Gegenteil von nachhaltig. Adamy (2015: 448) schreibt dazu:

»Je nach Rechtskreis sind bereits ein Viertel bzw. ein Fünftel der in Arbeit vermittelten ehemaligen Langzeitarbeitslosen schon einen Monat später nicht mehr sozialversichert beschäftigt … Insgesamt hatten – über beide Rechtskreise hinweg – nur 51 % aller in einen sozialversicherten Job integrierten Langzeitarbeitslosen aus dem Jahr 2013 nach einem Jahr noch einen sozialversicherten Job.«

Ganz offensichtlich sind wir konfrontiert mit dem, was Arbeitsmarktforscher eine Verfestigung und Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit nennen.

Zu vergleichbaren Ergebnissen ist auch Michael Müller in seinem Beitrag Nur jeder Vierte hat nach Arbeitslosigkeit einen neuen Job am Beispiel der Stadt Chemnitz gekommen. Er macht einen interessanten Vergleich auf: »Chemnitz und seine Partnerstadt Düsseldorf trennten beim Blick auf den Arbeitsmarkt einst Welten – mittlerweile sind es nur noch ein paar Zehntel Prozentpunkte. Die Arbeitslosenquoten lagen zum Jahreswechsel ziemlich dicht beieinander, mit 8,5 Prozent hier und 8,1 Prozent dort. Vergleichbare Verhältnisse, könnte man meinen.«

Ein genauerer Blick auf die Zahlen für Chemnitz: »Laut Agentur für Arbeit wurden im vergangenen Jahr in Chemnitz knapp 28.500 Menschen neu arbeitslos, gut 29.500 beendeten im Laufe des Jahres ihre Arbeitslosigkeit. Doch nur etwa jeder Vierte von ihnen fand tatsächlich einen neuen regulären Job auf dem Arbeitsmarkt. Die meisten „Abgänge“ aus der Statistik, rund 29 Prozent, entfallen auf Menschen, die längerfristig krank oder zu einer von der Krankenkasse finanzierten Kur sind. Jeder fünfte Betroffene – insgesamt 6000 Menschen – begannen eine Ausbildung oder eine Schulungsmaßnahme.«

Es gibt nicht – das sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben – „die“ Langzeitarbeitslosen. Hinter dieser Kategorie verbergen sich überaus heterogene Schicksale, oftmals Menschen, die nicht nur ein, sondern mehrere „Vermittlungshemmnisse“, wie das im Amtsdeutsch so heißt, haben. Beispielsweise gesundheitliche Einschränkungen und Sprachprobleme und ein „hohes“ Alter (das auf dem Arbeitsmarkt heute oftmals schon ab 45 aufwärts beginnt).

Es ist eigentlich offensichtlich, dass viele dieser Menschen eine besondere Förderung bedürfen, damit sie überhaupt in die Nähe einer Chance kommen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Hierzu aber Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Dem Hartz-IV-System zu entkommen, erscheint mithin sehr schwierig. Dabei stehen auch gesundheitliche Einschränkungen sowie fehlende Ausbildungsabschlüsse vieler Betroffener einer Vermittlung im Wege. Anstatt aber Ausbildungsdefizite und andere Beschäftigungshemmnisse durch verstärkte Förderanstrengungen abzubauen, seien die BA-Mittel für diese Zwecke seit 2009 drastisch gekürzt worden, kritisiert Adamy: Begannen 2008 noch durchschnittlich 2,7 Prozent der Langzeitarbeitslosen pro Monat eine Fördermaßnahme, so waren es 2014 nur noch 1,4 Prozent.«

Das ist nicht nur eine Halbierung der Förderwahrscheinlichkeit, sondern man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass damit alle „Fördermaßnahmen“ gemeint sind, auch die vielen durchaus kritikwürdigen, zuweilen hanebüchenen Maßnahmen, mit denen die Klientel der Jobcenter „versorgt“ wird. Nicht jede Förderung ist auch sinnvoll. Teilweise wird durch fragwürdige Maßnahmen sogar das Gegenteil produziert, also eine weitere Frustration bis hin zu Aggression unter den Teilnehmern.

Aber die Rettung naht – könnte man denken, wenn man sich an die Ankündigungen der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) erinnert, die zur Förderung der Langzeitarbeitslosen neue Programme nicht nur angekündigt, sondern zwischenzeitlich auch ins Leben gerufen hat. Aber auch hier muss ein Menge Wasser in den Wein gegossen werden. „Nahles lässt Langzeitarbeitslose alternativlos sitzen“, so hat Stan von Borstel seinen Artikel dazu überschrieben: »Vollmundig hatte Andrea Nahles einst der Langzeitarbeitslosigkeit den Kampf erklärt. Nach zwei Jahren zeigt sich: Die geförderten Jobs gingen um ein Drittel zurück – und die neuen Projekte laufen nicht«, so seine Bilanzierung.

Ende 2014 hatte die Bundesarbeitsministerin zwei Sonderprogramme angekündigt, um mehr als 40.000 schwer vermittelbare Langzeitarbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen. Damals lief das Programm „Bürgerarbeit“ für die öffentliche Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen aus.
Die Bilanz bis Ende 2015: »Gerade einmal 2278 Langzeitarbeitslose fanden bis Dezember 2015 einen Platz in dem Bundesprogramm der Ministerin.«
Auch unter Nahles blieben die Langzeitarbeitslosen die Stiefkinder der Arbeitsmarktpolitik:

»Insgesamt sank die Zahl der öffentlich geförderten Stellen für Langzeitarbeitslose in der Amtszeit von Andrea Nahles von rund 140.000 auf unter 90.000. Das war ein Rückgang um 50.000 oder knapp 36 Prozent. Die Zahl der offiziell registrierten Hartz-IV-Bezieher, die länger als ein Jahr ohne Jobs sind, ging dagegen im gleichen Zeitraum nur um 1,4 Prozent auf rund 927.000 zurück.«

 Ein „katastrophales Missverhältnis“, so wird die grüne Arbeitsmarktpolitikerin Brigitte Pothmer in dem Artikel zitiert, die die Zahlen beim Arbeitsministerium erfragt hatte. Komplett weggefallen ist die „Bürgerarbeit“, die vor zwei Jahren noch mehr als 27.000 Teilnehmer zählte. Nahles legte dafür ein Bundesprogramm auf, das 33.000 Langzeitarbeitslosen ohne Berufsabschluss einen Job bei einem Arbeitgeber verschaffen soll.

Nur: Das kommt noch nicht mal schleppend, sondern eher im Kriechgang voran:

»Zwar wurden die Projekte der teilnehmenden Jobcenter bis zum 1. Mai 2015 bewilligt … Die „eigentliche Akquise und Integrationsarbeit“ habe aber erst nach der Einstellung aller Betriebsakquisiteure begonnen – sie sollen Arbeitgeber motivieren, die Langzeitarbeitslosen mit Zuschüssen einzustellen.«

Hinzu kommt:

»Ein zweites Programm für 10.000 besonders schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose ohne Jobchancen mit dem Titel „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ ist bis heute nicht angelaufen. Nach Nahles Vorstellungen sollen diese Arbeitslosen etwa Gemüse in öffentlichen Parkanlagen anpflanzen.«

Die grüne Bundestagsbgeordnete Brigitte Pothmer fordert zu Recht, mit den ineffektiven und aufwendigen Sonderprogrammen müsse Schluss sein.

Dazu auch der Beitrag aus dem Politikmagazin „Exakt“ vom 20.01.2016: Förderung von Langzeitarbeitslosen – ein Flop?

Auf die strukturellen Probleme hinsichtlich der (Nicht-)Förderung wurde bereits in diesem Beitrag hingewiesen: Jobcenter verschwenden Fördergeld für Langzeitarbeitslose! Aber tun sie das wirklich? Die Lohnkostenzuschüsse und ein auf dem Kopf stehendes Förderrecht vom 22.12.2015.

Gibt es denn keine Hoffnung, wird der eine oder die andere fragen?

Da fällt einem natürlich eine solche Überschrift ins Auge: Hartz IV finanziert den Job: »Wie bekommt man Langzeitarbeitslose wieder in Jobs? In Baden-Württemberg werden mit den ohnehin vorhandenen Hartz-IV-Mitteln Arbeitsplätze finanziert – mit Erfolg«, so Monika Eispüler in ihren Artikel. Sie beschäftigt sich mit dem Programm Passiv-Aktiv-Transfer des Landes Baden-Württemberg. Aus Hartz-IV-Empfängern sollen wieder sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer werden. Die Idee des Projekts ist, statt in Arbeitslosigkeit in Arbeit zu investieren. Sie verweist auf die Leidensgeschichte der öffentlich geförderten Beschäftigung:

»Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gibt es seit 2009 nicht mehr, die Zahl der Ein-Euro-Jobs, einmal als Wegbereiter zum ersten Arbeitsmarkt gedacht, schrumpften von 300.000 auf weniger als 100.000 Stellen. Unter Arbeitsministerin von der Leyen (CDU) waren die Mittel für Fördermaßnahmen von 2010 bis 2013 von 6,6 auf 3,9 Milliarden gekürzt worden.«

Vor diesem Hintergrund hat man im Ländle versucht, von vielen Akteuren geforderte neue Wege zu gehen: Der Passiv-Aktiv-Transfer (PAT) der baden-württembergischen Landesregierung basiert auf Lohnkosten-Zuschüssen für die Arbeitgeber – und damit auf keinem neuen Instrumentarium. Die hat es schon immer gegeben. Aber:

»Im Fall des PAT müssen keine zusätzlichen Geldquellen angezapft werden. Das Projekt finanziert sich über die für Hartz-IV-Empfänger sowieso vorhandenen Mittel. Das Konzept, Jobs statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, ist bestechend einfach: Die 399 Euro Grundsicherung für Hartz-IV-Empfänger sowie das Geld für Unterkunft und Heizung wird als Lohnkostenzuschuss verwendet, um einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz zu schaffen. Das Land finanziert das Programm darüber hinaus mit insgesamt 17,4 Millionen Euro. Im Gegenzug zahlt der Arbeitgeber einen Stundenlohn von mindestens 8,50 Euro.«

Erste Ergebnisse aus der Begleitforschung liegen vor:

»Eine Studie … hat die Effekte geprüft und kam zu dem Ergebnis, dass von den über 900 Menschen, die bisher an dem Projekt teilgenommen haben, die Hälfte in ein festes Arbeitsverhältnis gekommen ist. Fast alle Teilnehmer des Programm beurteilen dabei ihr Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten als gut und ihre Tätigkeit als sinnvoll. Positiv überrascht waren auch mehr als zwei Drittel der Arbeitgeber von der Integrations- und Leistungsfähigkeit ihrer neuen Mitarbeiter.«

Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, so könnte ein Fazit lauten. Denn die Wirkmechanismen sind vielen seit langem bekannt, aber immer noch müssen wir in Modellprojekten verharren. Bestrebungen, endlich einen großen Wurf in der Arbeitsmarktpolitik zu machen und nicht nur ein neues Förderinstrumentarium, sondern eine grundlegend Reform des restriktiven Förderrechts und ein Poolen der verfügbaren bzw. relevanten Mittel vorzunehmen.
Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Die Vermeidung von Ghettoisierung durch Landverschickung? Residenzpflicht, Wohnsitzauflage: Zur Diskussion über eine Einschränkung der Wohnortwahl für Flüchtlinge

„Es ist nicht gut, wenn sich fast alle anerkannten Flüchtlinge und Asylbewerber in wenigen Städten und Ballungsräumen konzentrieren, denn dann wird die Integration dort schwieriger.“ Mit diesen Worten wird die Oberbürgermeisterin der Stadt Ludwigshafen und zugleich Präsidentin des Deutschen Städtetages, Eva Lohse (CDU), in dem Artikel Städtetagpräsidentin befürwortet Residenzpflicht zitiert. Und viele werden dieser Aussage auf der allgemein gehaltenen Ebene sicher voll zustimmen können. Man muss sich nur die erheblichen Probleme anschauen, die man in bestimmten Städten in bestimmten Stadtteilen hat. Und wenn nun auch noch die vielen Flüchtlinge in nur wenige meist größere Städte drängen, in denen wir bereits vor ihrer Ankunft massive Probleme beispielsweise im Wohnungsbereich hatten, dann muss man nicht lange überlegen, einer ausgewogeneren Verteilung dem Grunde nach zuzustimmen.

Allerdings liegt der Teufel mal wieder im Detail, denn: Viele Flüchtlinge und Asylbewerber lassen sich in Orten nieder, wo bereits Angehörige und Landsleute leben. Syrer wollen oft nach Berlin, Afghanen nach Hamburg. Wenn man das nicht (mehr) will, dann muss man steuern, lenken und natürlich auch die Frage beantworten (können), was man denn zu tun gedenkt, wenn sich die Menschen, um die es hier geht, nicht daran halten, was man ihnen auferlegt.

Beschränkungen hinsichtlich des Wohnortes gibt es derzeit nur für Asylbewerber im Verfahren und Geduldete, solange sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Anerkannte Flüchtlinge hingegen können frei ihren Wohnort wählen. Nun aber wird seit einigen Tagen immer intensiver eine Debatte geführt um die Frage, ob man die Wohnortwahl auch für die anerkannten Asylbewerber restriktiver gestalten soll:

Regierungssprecher Steffen Seibert wird mit den Worten zitiert, es werde derzeit „intensiv geprüft“, ob Wohnsitzauflagen für anerkannte und subsidiär geschützte Flüchtlinge ausgedehnt werden sollten.

»Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) argumentierte, die Wohnsitzauflage werde gebraucht, sonst zögen alle in die Großstädte „und wir kriegen richtige Ghetto-Probleme“. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte bereits für solch eine Auflage plädiert.«

Auch andere beteiligen sich an der Diskussion: Bundesagentur für Arbeit will Asylbewerbern Wohnort vorschreiben, kann man beispielsweise lesen: Angeblich hat sich die BA mit einem vertraulichen Schreiben an den saarländischen Innenminister Klaus Bouillon gewandt, der derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz ist. Darin wir nach Medienberichten seitens der BA für eine dreijährige Residenzpflicht für Asylbewerber votiert. »Flüchtlinge sollten demnach nur dann ihren Wohnsitz ändern können, wenn sie woanders im Bundesgebiet eine Wohnung und einen Arbeitsplatz fänden. Seit 1. Januar muss jeder Asylbewerber an seinem Wohnort bleiben – allerdings nur für drei Monate.« In dem Schreiben warnt die BA, »durch ungesteuerten Zuzug könne es zu einer Gettoisierung insbesondere in Metropolregionen wie Berlin kommen. Außerdem drohten Parallelgesellschaften.«

Anna Reimann hat in ihrem Artikel Flüchtlinge aufs Land – was das bedeuten würde die unterschiedlichen Aspekte der aktuellen Diskussion aufzudröseln versucht:
»Bei der aktuellen Diskussion geht es genau genommen nicht um eine Residenzpflicht, sondern um eine Wohnsitzauflage. Reisen dürften die anerkannten Flüchtlinge ja innerhalb Deutschlands trotzdem, sie müssten – etwa nach Vorstellung der BA – nur an einem bestimmten Ort leben.«
Sie weist allerdings auch darauf hin, dass die nun von vielen beklagte Konzentration der Zuwanderer nach ihrer Herkunft aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann:

»Für die neuen Flüchtlinge bedeutet das: Wenn man etwa als Syrer überall auf Arabisch durchkommt, in Geschäften, beim Friseur – dann gibt es natürlich weniger Anreize, Deutsch zu lernen, aus seiner Gruppe herauszutreten, sich mit der neuen Kultur auseinanderzusetzen. Dieses Problem verschärft sich natürlich, je größer eine Gruppe im Vergleich zu der anderen Bevölkerung ist.
Andererseits: Wer sich wohlfühlt und von Landsleuten aufgefangen wird, kann sich möglichweise auch leichter öffnen und integrieren.«

Sie zitiert Olaf Kleist vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück: „Die Tatsache, dass Menschen aus dem gleichen Herkunftsland dicht zusammenleben, ist nicht automatisch ein Problem“. Im Gegenteil: Solche Netzwerke seien hilfreich und „ein Teil von Integration“. Und ebenfalls in die Zeugenstand der Skeptiker gerufen wird Hannes Schammann, Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim: „An der Entstehung von ethnischen Kolonien würde allein eine Wohnsitzauflage sicher nichts ändern. Auch auf dem Dorf kann es sich für Migranten wie ein Ghetto anfühlen, wenn sie zusammen in mehreren Häuserblocks untergebracht werden.“

Wenn man trotz dieser skeptischen Einwürfe an einer Steuerung der Wohnortwahl festhält, muss man sich mit dem folgenden Hinweis von Anna Reimann auseinandersetzen: »Aus dem Osten Deutschlands zum Beispiel sind die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten scharenweise weggezogen, es gibt dort in manchen Gegenden noch immer weniger Jobs, eine schlechtere Infrastruktur. Was sollen nun Flüchtlinge dort?«

Laut Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit haben in der Vergangenheit mehr als 60 Prozent der Flüchtlinge ihre erste Stelle in Deutschland durch persönliche Netzwerke gefunden. Auch seien die Beschäftigungsquoten von anerkannten Flüchtlingen aktuell in den Städten höher als auf dem Land.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die beabsichtigte Steuerung eher über Anreizsysteme zu versuchen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund setzt in der Diskussion auf ein weicheres Anreizsystem: Erleichterungen, etwa beim Familiennachzug, sollten Flüchtlinge ermuntern, in ländlichere Gegenden zu ziehen. Einige Wissenschaftler plädieren für Anreize wie beispielsweise Qualifizierungsangebote in Gemeinden, wo bestimmte Fachkräfte gesucht werden – aber auch Hilfe bei der Job- und Wohnungssuche.

Aber auch wenn man trotz dieser Aspekte an dem Vorhaben festhalten möchte, die Wohnortwahl einzuschränken: Dann stellt sich die Frage, ob eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge mit dem internationalen Recht der Genfer Flüchtlingskonvention konform gehen würde.

Daniel Thym, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA) glaubt, dass Wohnsitzauflagen grundsätzlich rechtlich möglich seien. Dazu sein Warten auf den EuGH. Artikel Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge.  Dort zeigt er am Beispiel der Wohnsitzauflage, »wie komplex die Rechtsordnung gerade im Bereich des Ausländer- und Asylrechts geworden ist, wenn dieses durch eine wilde Gemengelage von nationalem und überstaatlichem Recht geprägt wird.«
Eine Wohnsitzauflage bei einem Sozialleistungsbezug wurde in Deutschland über lange Jahre praktiziert. In Form von wohnsitzbeschränkenden Nebenbestimmungen zur Aufenthaltserlaubnis wurden Flüchtlinge, die Sozialleistungen beziehen, jeweils zum Aufenthalt in einem bestimmten Bundesland verpflichtet. Aber: Diese Praxis wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Jahr 2008 als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention gewertet (vgl. hierzu BVerwG 1 C 17.07 vom 15.01.2008). Allerdings nicht – wie Thym ausführt – »aufgrund des Art. 26 GFK zum Freizügigkeitsrecht, sondern wegen Art. 23 GFK zur öffentlichen Fürsorge, weil die damalige Praxis die Wohnsitzauflage an den Sozialleistungsbezug knüpfte.« Das ist kein trivialer Punkt, vor allem nicht, wenn man an die notwendigerweise zu beantwortende Frage der Sanktionen bei Verweigerung der Steuerungsbemühungen denkt.

Unabhängig davon, ob man die in der Entscheidung des BVerwG im Jahr 2008 offensichtlich zugrundeliegende Annahme, dass das Gebot der Inländergleichbehandlung bei der öffentlichen Fürsorge nach Art. 23 GFK nicht nur die Leistungshöhe betrifft, sondern auch die Modalitäten der Leistungsgewährung, also ganz konkret die freie Wahl des Wohnorts, wo man Sozialleistungen beansprucht, teilt oder eher als „übergriffig“ interpretiert wie Thym das in seinem Artikel macht, muss zugleich mit Thym darauf hingewiesen werden, dass eine Wohnortzuweisung möglich wäre:

»Das BVerwG erkannte nämlich ausdrücklich, dass eine Wohnsitzauflage aus nicht näher bezeichneten „integrationspolitischen Gründen“ möglich bleibt.«

Wenn man diesem Ansatz folgen würde, »dann müsste andere Anknüpfungspunkte als der Sozialleistungsbezug gewählt werden, etwa der fehlende Integrationskurserfolg oder ein zu geringes Sprachniveau«, so Thym. Und weiter: »So würde Flüchtlingen auch ein Anreiz gegeben, die Integrationsangebote zu nutzen – und die Aufhebung der Wohnsitzauflage im Erfolgsfall könnte ein wichtiger Inhalt einer möglichen Integrationsvereinbarung sein.«
Und es ist nicht so, dass man hier keine Erfahrungswerte hat – die allerdings ebenfalls skeptisch stimmen. Hierzu Daniel Thym:

»Um vor den Gerichten bestand zu haben, sollte eine Wohnsitzauflage die Freizügigkeit möglichst wenig einschränken. So könnte man nur negativ verbieten, in bestimmten „belasteten“ Orten einen Wohnsitz zu nehmen. Die Freizügigkeit wäre grundsätzlich gewährleistet und nur der Zuzug in bestimmte Städte oder Landkreise untersagt. Gerade eine solche negative Pflicht müsste im Zweifel aber auch vollzogen werden, zumal die Flüchtlingsregistrierung zeigt, dass die Betroffenen den zugewiesenen Aufenthaltsort teils einfach verlassen.
Ganz ähnlich scheiterte bereits in den siebziger Jahren eine von den Bundesländern verhängte Zuzugssperre für „überlastete Siedlungsgebiete“ mit einem Ausländeranteil von mehr als 12 %, etwa Berlin-Kreuzberg, am fehlenden Vollzug in Fällen der Zuwiderhandlung. Hier könnte den Sozialleistungen eine Schlüsselrolle zukommen, weil der Vollzug deutlich erleichtert würde, wenn man diese nur an bestimmten Orten beantragen könnte.«

In den 1990er Jahren konnten arbeitslose Spätaussiedler verpflichtet werden, mehrere Jahre lang an dem ihnen zugewiesenen Ort leben. Andernfalls drohten ihnen Kürzungen bei der Sozialhilfe (vgl. dazu ausführlicher Sonja Haug und Lenore Sauer: Zuwanderung und Integration von (Spät-)Aussiedlern. Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen des Wohnortzuweisungsgesetzes, Nürnberg 2007).

Das alles erweist wieder einmal auf die in den grobschlächtigen politischen Debatten regelmäßig und gerne ausgesparten Aspekte der Umsetzbarkeit in den Untiefen der Praxis.
Und seien wir ehrlich an dieser Stelle – angesichts des derzeit im Kontext der außerordentlich großen Zuwanderungswelle offensichtlichen Systemversagens angesichts der manifesten Überforderung der gewachsenen bürokratischen Teil-Systeme, die ja noch nicht einmal in der Lage sind, Mehrfachregistrierungen und Nicht-Registrierungen zu vermeiden, bleiben erhebliche Zweifel hinsichtlich der Steuerungskapazitäten die Wohnortwahl betreffend.

Letztendlich verweist das auf einen ganz wunden Punkt in der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Unabhängig von der grundsätzlichen und natürlich hoch kontroversen Frage einer (geforderten) Abschottung gegenüber weiterer Zuwanderung und ob die überhaupt und wenn ja wie realisierbar wäre – wenn im gerade angebrochenen neuen Jahr noch einmal so viele Flüchtlinge zu uns kommen würden wie im vergangenen Jahr (geschätzt 1,1 Millionen Flüchtlinge, wobei dabei immer die anderen Zuwanderer beispielsweise aus den EU-Staaten „vergessen“ werden, die es auch noch gibt), dann wird das im bestehenden System nicht zu verarbeiten sein. Hier baut sich ein letztendlich unauflösbarer Konflikt auf zwischen der individuellen Perspektive eines jeden Flüchtlings und der Systemperspektive des aufnehmenden Landes. Es ist natürlich immer auch eine Frage der Quantitäten. Wenn jährlich 200.000 Menschen zu uns kommen würden, dann könnte man das von oben betrachtet vielleicht ganz gut wegstecken, ohne zu drastischen Steuerungsmaßnahmen zu greifen. Aber in 2015 haben wir uns in einer anderen Dimension bewegt und eine Fortsetzung auf diesem Level in 2016 würde massive Eingriffe unausweichlich werden lassen – wobei dann wieder ein bereits umrissenes großes Fragezeichen bleibt: Wer soll das wie machen?