Es ist ein wahrlich schwieriges Thema, die aktive Sterbehilfe. Es zerreißt nicht nur die gewohnten Fronten, es polarisiert die Diskussionen, wenn man sie denn überhaupt offen führt. Es spaltet auch die einzelnen Menschen, hin und her gerissen zwischen den höchst eigenen Ängsten und Hoffnungen und dem Erkennen, dass das eben nicht ein nur individuelles Thema ist und sein kann, sondern das man es – so schwer das fallen mag – auch gesellschaftspolitisch einbetten muss.
In diesem Blog wurde das Thema Sterbehilfe bereits in mehreren Beiträgen aufgerufen, so am 24. Oktober 2014: Vielleicht kein „Dammbruch“, aber eine „Sickerblutung“ in das gesellschaftliche Gewebe hinein. Es geht um das Sterben, um die Sterbehilfe. Und da braucht es Skepsis, Fragen und eine Warnung. Am 13. Juni 2015 ging es dann um Die Schweiz als letztes Asyl für Sterbehelfer auf der Flucht vor Verfolgung in Deutschland? Oder geht es um todbringende Geschäftemacher, die ihr Business retten wollen? Und am 8. November 2015 wurden die gesetzgeberischen Aktivitäten in Deutschland untersucht: Auf ganz dünnem Eis: Sterben und Tod als Gegenstand gesetzgeberischen Handelns. Zuerst das Hospiz- und Palliativgesetz, direkt danach der Regelungsversuch der Sterbehilfe. Warum ein solches Thema in einem sozialpolitischen Blog?
Auf keinen Fall kann und darf es darum gehen, die unglaublich komplexen und schwierigen Entscheidungen in einer individuellen Situation ex cathedra zu beurteilen und zu bewerten – hier geht es nicht nur, aber auch um die Selbstbestimmung des Einzelnen. Wenn, dann müssen die möglichen, denkbaren Folgewirkungen in der gesellschaftlichen Debatte thematisiert werden. Hier deutet sich ein letztlich unauflösbares Spannungsfeld zwischen der individuellen und den (möglichen) gesellschaftlichen Konsequenzen der Sterbehilfe an. Denn wenn die organisiert wird – und darum geht es hier -, dann entfaltet das ob gewollt oder nicht – Rückwirkungen auf die Wahrnehmung und möglicherweise auf die Instrumentalisierung der Sterbehilfe.
Es muss nicht näher erläutert werden, dass man sich in Deutschland vor dem Hintergrund der Euthanasie-Erfahrungen während des Nationalsozialismus „schwerer“ tut mit dem Thema Sterbehilfe, als das in anderen, uns umgebenden Ländern der Fall ist.
Aktive Sterbehilfe ist in den meisten Ländern verboten. In der Europäischen Union erlauben nur die Niederlande, Luxemburg und Belgien ausdrücklich die Tötung auf Verlangen. Die passive Sterbehilfe, der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, ist in zahlreichen Ländern erlaubt beziehungsweise wird geduldet – auch in Deutschland.
Apropos Belgien: »Belgien hat eines der liberalsten Sterbehilfe-Gesetze weltweit. Seit 2014 ist die Tötung auf Verlangen sogar bei Minderjährigen erlaubt. Nun wurde die Regelung erstmals bei einem Teenager angewandt«, kann man dem Artikel Erstmals Sterbehilfe für Minderjährige geleistet entnehmen.
Schauen wir konkret in die Niederlande. Seit 2002 ist dort Sterbehilfe für unheilbar Kranke gesetzlich zugelassen. Ärzte können seitdem unter Überwachung tödliche Injektionen verabreichen. Laut einer Kontrollkommission ist das im vergangenen Jahr 5516 Mal geschehen. Siebzig Prozent der Menschen waren krebskrank, 2,9 Prozent litten an Demenz oder Nervenkrankheiten.
Und nun erreicht uns diese Meldung: Niederlande wollen Sterbewilligen den Suizid erleichtern: »In Zukunft sollen Senioren in den Niederlanden unter ärztlicher Hilfe aus dem Leben scheiden können – auch ohne an einer schlimmen Krankheit zu leiden.«
Und es sind, wenn man in Ruhe nachdenkt, bedenkliche Töne, die wir aus unserem Nachbarland vernehmen müssen:
»Die niederländische Regierung will ihr Gesetz zur Sterbehilfe reformieren. Ältere Menschen sollen Hilfe zum Suizid bekommen können, wenn sie der Meinung sind, ein „erfülltes Leben“ hinter sich zu haben. In einer gemeinsamen Erklärung der Minister für Gesundheit und für Justiz heißt es, der Schritt müsse nach „gründlicher Überlegung“ der Kandidaten sowie unter „strengen Bedingungen“ und „genauen Kriterien“ geschehen … Die Politiker sind … zu dem Entschluss gekommen, dass großes Leid auch ohne eine schwere Krankheit möglich sein und einen legitimen Grund für Sterbehilfe sein könnte. Die Betreffenden sähen „keine Möglichkeit mehr, ihrem Leben einen Sinn zu geben“, seien „tief betroffen vom Verlust ihrer Unabhängigkeit“ und fühlten sich „isoliert oder einsam vielleicht wegen des Verlusts eines geliebten Menschen“. Sie seien zudem „überwältigt von einer vollständigen Müdigkeit und dem Verlust ihres Selbstwertgefühls“. Doch zur Beendigung ihres Lebens benötigten sie Hilfe.«
Fragen über Fragen drängen sich beim Lesen solcher Ausführungen förmlich auf: Wo soll das enden? Wo könnte das enden, auch wenn es von denen, die das initiieren, überhaupt nicht anvisiert war? Trifft die These vielleicht doch zu, dass die Debatte über aktive Sterbehilfe mit einem emanzipatorischen, auf Selbstbestimmung und Wahlfreiheit abstellenden Impuls startet – und irgendwann später immer weiter in das gesellschaftliche Gewebe diffundiert und sich transformiert zu einem nicht nur gesellschaftlich akzeptierten, sondern auch unter Umständen erwarteten Handlungsraum? Wer garantiert uns, dass das in den vor uns liegenden Zeiten mit vielen alten Menschen, die versorgt und betreut und gepflegt werden müssen, nicht ausartet zu einem neuen sozialdarwinistischen Euthanasie-Programm – unter dem liberal daherkommenden Deckmantel, man wolle nur der Selbstbestimmung des Einzelnen zu ihrem Recht verhelfen, in Wahrheit aber das vermischt mit blutleeren Kosten-Nutzen-Überlegungen?
Wenn man Kategorien wie ein „erfülltes Leben“ einführt als Bewertungskriterium für die Zulässigkeit eines Tötungsdelikts, was kann dann noch kommen?
Es bleiben erhebliche Zweifel, ob wir nicht gerade Zeuge werden des Beginns einer Reise auf einer Rutschbahn nach unten, wo man später fragen wird, warum man die gesellschaftspolitische Brisanz des schrittweisen Abgleitens in immer unbestimmter werdende „Indikationen“ für die Tötung „auf Verlangen“ (welches Verlangen und von wem?) nicht erkannt oder gestoppt hat.
Wie gesagt, eins schwieriges Thema, aber eines, dem man sich sollte. Bevor man zu spät realisiert, was da begonnen wurde.