Die letzten Zuckungen der Riester-Rente und die Zerstörung der Illusion eines schönen kapitalgedeckten Lebens im Alter, wenn es viele machen (wollen/sollen/müssen) und nicht nur einige

In einem Land wie Deutschland, in dem das Sparen und Fragen der Altersvorsorge selbst bei jungen Menschen einen hohen Stellenwert haben bzw. hatten, müssen diese Zeiten wirklich als eine Zumutung empfunden werden. Die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung, die wichtigste Säule der Alterssicherung, ist seit Mitte der 1990er Jahre systematisch kaputt geredet worden, aber die als lukrative Alternative promovierte private, kapitalgedeckte Altersvorsorge – umgangssprachlich mit einem eigenen neuen Verb namens „riestern“ aufgewertet – hat ihren Nimbus spätestens seit der Finanzkrise verloren. Und jetzt auch noch die langanhaltende und sich noch weiter radikalisierende Niedrigzinspolitik der Zentralbanken, die derzeit korrekter als Nullzins- bzw. Negativzinspolitik zu benennen ist. In eine solche Gemengelage passen dann solche Artikel, die in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie mit ganz schwerem Geschütz hantieren: Deutschland steuert auf eine Katastrophe zu, meinen Anja Ettel und Holger Zschäpitz dem verunsicherten Bürger zurufen zu müssen und schieben sogleich hinterher: »Es droht eine Rentenkrise riesigen Ausmaßes. Auch private Vorsorge verspricht keine Rettung.«

Und die beiden Autoren konkretisieren ihren pessimistischen Blick auch auf die bislang so hochgelobte private Altersvorsorge – allerdings mit einer noch zu kritisierenden eindimensionalen Verengung auf die Zinspolitik der Notenbanken, die ja nicht vom Himmel gefallen ist, sondern den Versuch darstellt, mit dem geldpolitischen Instrumentarium der Zentralbank :

»Lange Zeit wurde die private Altersvorsorge – also Betriebsrenten, Riester-Verträge oder Lebenspolicen – als rettende Lösung aus dem staatlichen Finanzierungsdilemma verkauft. Doch die intensiv beworbenen Riester-Verträge und Lebensversicherungen werfen immer weniger ab. Schuld ist das seit Jahren andauernde extrem niedrige Zinsniveau, das die Berechnungen einer ganzen Branche über den Haufen wirft und die versprochenen Leistungen immer stärker stutzt.
Entsprechend dramatisch ist die Lage für viele Lebensversicherungen. Besonders die deutschen Anbieter, die einen Großteil ihrer Kundengelder in Zinspapiere wie Staatsanleihen oder Unternehmenstitel investieren, bekommen von den Experten der Ratingagentur Moody’s einen negativen Ausblick.«

Das ist nur ein Teil der Wahrheit und darüber hinaus kann man in Deutschland einen massiven Vertrauensverlust hinsichtlich der Riester-Rente schon seit einigen Jahren beobachten – auch gespeist aus den immer öfter und von immer unterschiedlichen Seiten vorgetragenen Kritik, dass es sich eigentlich im Wesentlichen um ein Bereicherungsprogramm der Finanzindustrie handelt und der einzelne Sparer die Zeche zu zahlen hat.

Passend schreiben dazu Nando Sommerfeldt und Holger Zschäpitz in ihrem Artikel Die traurige Wahrheit über die Riester-Rente: »Zu bürokratisch, zu teuer und damit unlukrativ – der Ruf der Riester-Rente ist seit Jahren ramponiert.« Und fahren die Ernüchterung vorantreibend fort: »Nur ein Produkt galt als positive Ausnahme. Doch auch dieses offenbart jetzt eklatante Schwächen.«

In dieser Woche wurde bekannt, dass auch die letzte von Kritikern akzeptierte Riester-Variante einen unangenehmen Haken besitzt, berichten uns die beiden Autoren. Danach habe die „Stiftung Warentest“ herausgefunden, »dass Fonds- und Banksparpläne künftig nicht mehr so kostengünstig sind wie bislang gedacht. Vor Auszahlung der privaten Rente können je nach Anbieter neue Gebühren anfallen, was auch diese Riester-Option deutlich unattraktiver macht. Wer „riestern“ will, muss in jedem Fall hohe Kosten in Kauf nehmen.«

Das Besondere an der aktuellen Kritik: Während bislang schon die Ansparphase aufgrund der niedrigen bzw. nicht mehr vorhandenen Zinsen im Mittelpunkt der Kritik stand, wird nun auch die Auszahlungsphase der Riester-Rente kritisch  unter die Lupe genommen – mit einem bösen Erwachen für so manchen Vorsorger. Konkret:

»Bislang war es so, dass die ausgezahlte Summe zu 100 Prozent in eine Rente umgewandelt und dann monatlich ausgezahlt wurde. Jetzt aber kündigte die Versicherungswirtschaft überraschend neue Abschlusskosten bei der Verrentung an. Das erscheint umso ärgerlicher, da viele Vorsorgesparer bewusst die Fondsprodukte gewählt hatten, um teure Versicherungsverträge zu umgehen. Riester-Sparer dürfen sich maximal 30 Prozent der angesparten Summe auf einen Schlag auszahlen lassen. Der Rest muss in eine Rente umgewandelt werden. Diese Aufgabe übernimmt ein Versicherer. Und der will jetzt abkassieren.«

Es geht hierbei vor allem um Kunden mit einem Bank- oder Fondssparplan, Die neuen, für die meisten völlig überraschenden Zusatzkosten müssen im Zusammenhang gesehen werden mit dem ersten Schlag, den man ihnen versetzt hat – die „Gestaltung“ der kalkulierten Lebenserwartung: »Nach den aktuellen Sterbetafeln geht die Versicherungsbranche davon aus, dass Männer bei einem Renteneintritt im Jahr 2040 rund 95 und Frauen rund 100 Jahre alt werden. Diese hohen Lebenserwartungen hatten die Riester-Produkte durchgängig weniger rentabel gemacht.« Vgl. dazu auch bereits meinen Beitrag Weil der Riester-Mensch durchschnittlich hundert Jahre alt wird und weil er die FAZ liest, kann er sicher glauben, dass sie sicher ist, die (Riester)-Rente vom 27.10.2014.

Es ist offensichtlich, um was für eine Sackgasse es sich bei den Riester-Renten handelt.

Aber schauen wir grundsätzlicher auf den Sachverhalt, denn immer noch es ist so, dass viele Menschen grundsätzlich der Idee der (stärker) kapitalgedeckten Altersvorsorge einiges abgewinnen können. Vor allem deshalb, weil sie aus einer individualistischen und vergangenheitsbezogenen Perspektive an die Sache herangehen.

In früheren Jahrzehnten war es ohne Frage so, dass die, die gespart hatten, lediglich durch den Zinseffekt ihrer Sparbeträge auf eine ordentliche Rendite gekommen sind, wenn sie sich der Kapitaldeckung gewidmet haben. Man ließ sein Kapital „arbeiten“ und es vermehrte sich scheinbar automatisch und in einer angenehmen Größenordnung. Dieser Mechanismus ist nun augenscheinlich gestört bzw. zerstört durch die langjährige Niedrig- und nun auch Nullzinspolitik der Zentralbanken in Verbindung mit den vielen Anlagebeschränkungen, die man der Finanzindustrie bei Altersvorsorgeprodukten auferlegt hat.

Aber es gibt noch eine weitere fundamentale und von vielen übersehene Dimension. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn nur einige sparen, dann lassen sich hohe, sehr hohe Renditen erwirtschaften. So war das auch in der Vergangenheit gewesen. Aber selbst unter anderen als den heutigen, vorwiegend aus politischen Steuerungsmotiven heraus verursachten Niedrig- und Nullzinsbedingungen würde die Lage anders aussehen, wenn nicht nur einige, sondern ganz viele an dem Spiel mi der Verzinsung teilnehmen wollen, sollen oder – wie bei uns durch die „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung bedingt – müssen, um die parallelen Kürzungen der Leistungen aus der umlagefinanzierten Rente kompensieren zu können.

Das hier angesprochene Problem ist keine neue Erkenntnis, sondern wird seit vielen Jahren in der Fachdiskussion aufgeworfen. Man schaue sich dazu nur diese Veröffentlichung an, die aus dem Jahr 2001 stammt:

Andreas Heigl und Martin Katheder: Age Wave – Zur Demographieanfälligkeit von Aktienmärkten. Policy Brief 4/2001, München: Hypovereinsbank, 2001

Ihre Argumentation damals, im Jahr 2001 (also in der Zeit, in der die damaligen Schröder-Regierung das Loblied der kapitalgedeckten Altersvorsorge gesungen hat), ging so: Insbesondere die Generation der heute 30- bis 50-jährigen muss mit niedrigeren Renditen für ihre Geldanlage in die Aktienmärkte rechnen. Denn auch die Kapitaldeckung ist im Zuge der demografischen Alterung ähnlichen Risiken ausgesetzt wie die umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme. Ursächlich hierfür ist das sich künftig deutlich verschlechternde Verhältnis von Sparern zu Entsparern („Age Wave“).

Man kann das auch so ausdrücken: Wir sind alle Gefangene unserer Kohorte. Wenn also größere Summen von den Vorsorgenden eingesammelt werden, um diese rentierlich anzulegen und dann, wenn das Alter gekommen ist, die vereinbarten und die in Aussicht gestellten Beträge auch auszahlen zu können, dann braucht man Abnehmer für die Sachen, in die man Geld angelegt hat, beispielsweise in Immobilien oder in Aktien. Und was, wenn es zu diesem Zeitpunkt gar nicht genug Abnehmer gibt oder geben kann, weil deren Zahl deutlich niedriger ist als es in der Vergangenheit noch war.
Die bedingungslosen Befürworter dieses Modells würden an dieser Stelle darauf verweisen, dass das alles kein Problem sei, weil man ja bei der Anlage des Kapitals nicht auf Europa oder nur Deutschland angewiesen sei, sondern das Kapital sehr bereit streuen könnte.
Aber, so wird über die beiden Autoren berichtet:

»Als möglicher Ausweg wird oft ein verstärkter Kapitaltransfer in demographisch junge Länder mit hohem Wachstumspotenzial ins Feld geführt. Sie sollen mit den späteren Erträgen die Ruheständler der westlichen Industrienationen versorgen („demographische Arbitrage“). Hier sind die Autoren aber skeptisch: Zum einen sind die Schwellenländer kaum in der Lage, das riesige Kapitalvolumen auch zu absorbieren. Wenn sich für die zufließenden Summen keine rentablen Investitionsmöglichkeiten mehr finden, kann die makroökonomische Stabilität sogar gefährdet sein.«

Genau das ist auch das Problem, dass wir bekommen, wenn man über Alternativen zur verbrannten Riester-Rente nachdenkt, beispielsweise in Gestalt der „Deutschland-Rente“, die einen gigantischen Staatsfonds beinhaltet, der die Vorsorgegelder von vielen Millionen deutschen Sparern anlegen muss (vgl. dazu auch den Beitrag Riester in Rente und endlich eine „faire private Altersvorsorge“? Die „Deutschland-Rente“ schafft es immerhin schon in den Bundestag vom 29. Januar 2016). Man kann es auch so ausdrücken: Wenn ein enormes Angebot an Anlagen in der Auszahlungsphase auf eine aus welchen Gründen auch immer deutlich niedrigere Nachfrage stößt, dann muss nach allen Regeln der Ökonomie der Preis sinken.

Mehr als ein rentenpolitischer Sturm im Wasserglas? Die „Lebensleistungsrente“ erhitzt die Gemüter

Was plant die Bundesregierung? Einen erneuten milliardenschweren Griff in die Rentenkasse? Will sie das sozialpolitische Füllhorn über die Rentner auskippen? Auf solche Fragen wird man förmlich gestoßen, wenn man einen Blick auf die Berichterstattung in den Medien wirft: Wirtschaftsflügel der Union protestiert gegen geplante Mindestrente heißt es in der Überschrift eines Artikels. Oder eine Nummer heftiger: Unionsaufstand gegen Mindestrente für Geringverdiener. Aber offensichtlich haben nicht nur Teile der Union Probleme: Rentenversicherung sträubt sich gegen Lebensleistungsrente, so ist ein anderer Artikel überschrieben. Auch die Kommentaren bringen sich in Stellung: Von Rente ohne Leistung bis hin zu Lebensleistungsrente ist ein sozialpolitisches Placebo. Auslöser für diese Reaktionen sind solche Berichte: »Die Regierungsparteien haben sich darauf verständigt, die im Koalitionsvertrag vereinbarte „solidarische Lebensleistungsrente“ für Geringverdiener wie geplant umzusetzen. Der CDU-Rentenexperte Peter Weiß verteidigte am Dienstag in einem Zeitungsinterview die Reformpläne als notwendig, um künftige Akzeptanzprobleme für die gesetzliche Rentenversicherung zu vermeiden. Die Lebensleistungsrente sei „fraglos nötig, weil es immer mehr Menschen gibt, die lange hart gearbeitet haben, im Alter aber trotzdem nicht auf einen Rentenanspruch kommen, der oberhalb der Grundsicherung liegt“, erklärte Weiß gegenüber der „Badischen Zeitung“. Diese Entwicklung sei „gefährlich, weil die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung schwindet“.«

Wie immer hilft an dieser Stelle ein Blick in den Koalitionsvertrag zwischen den Unionsparteien und der SPD aus dem Dezember 2013. Dort findet man auf der Seite 52 die folgende Vereinbarung:

»Lebensleistung in der Rente honorieren
Wir wollen, dass sich Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung in der Sozialversicherung auszahlen. Wir werden daher eine solidarische Lebensleistungsrente einführen. Die Einführung wird voraussichtlich bis 2017 erfolgen.
Grundsatz dabei ist: Wer langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert war, Beiträge gezahlt hat (40 Jahre) und dennoch im Alter weniger als 30 Rentenentgeltpunkte Alterseinkommen (Einkommensprüfung) erreicht, soll durch eine Aufwertung der erworbenen Rentenentgeltpunkte bessergestellt werden. Dies kommt vor allem Geringverdienern zugute und Menschen, die Angehörige gepflegt oder Kinder erzogen haben. Durch eine Übergangsregelung bis 2023 (in dieser Zeit reichen 35 Beitragsjahre) stellen wir sicher, dass insbesondere die Erwerbsbiografien der Menschen in den neuen Ländern berücksichtigt werden. In allen Fällen werden bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit wie Beitragsjahre behandelt. Danach soll zusätzliche Altersvorsorge als Zugangsvoraussetzung erforderlich sein. In einer zweiten Stufe sollen jene Menschen, die trotz dieser Aufwertung nicht auf eine Rente von 30 Entgeltpunkten kommen, jedoch bedürftig sind (Bedürftigkeitsprüfung), einen weiteren Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30 Entgeltpunkten erhalten. Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln … .«

Das hat man bislang liegen gelassen und nun wurde das erneut aufgerufen. Einige Kommentatoren nehmen die Hinweise auch von Rentenexperten aus der Union, dass ein strukturelles Problem in der gegebenen Rentenversicherung vorhanden ist, was in den vor uns liegenden Jahren an Gewicht gewinnen wird, gar nicht erst auf, sondern ordnen den Vorstoß entweder ein in eine parteipolitische Manöverkritik oder aber in ein gerne gespieltes Instrument, nach dessen Melodie es „den“ Alten heute gut und „den“ Jungen vor allem in Zukunft schlecht gehen wird, wenn man was auf der Leistungsseite zugunsten (eines Teils) der Älteren macht.

Für die erste Kritiklinie steht beispielhaft Karl Doemens, der in seinem Kommentar Lebensleistungsrente ist ein sozialpolitisches Placebo den Ansatz zu einem sozialdemokratischen Projekt verengt, obgleich die ersten Anläufe bereits von der damaligen christdemokratischen Bundesrentenministerin Ursula von der Leyen stammen:

»Deutschland altert. Doch die Anhänger der SPD ergrauen besonders schnell. Bei den drei Landtagswahlen Anfang des Monats erhielt die Partei deutlich mehr Stimmen von den über 60-Jährigen als vom Rest der Bevölkerung. Es ist also kein Wunder, dass Parteichef Sigmar Gabriel der Rentenpolitik zentralen Stellenwert einräumt. Gleich nach der Bundestagswahl 2013 machte er die Rente mit 63 zur Bedingung für eine große Koalition. Nun forciert er in der Flüchtlingskrise eine Mindestrente für Geringverdiener.
Beide Projekte folgen demselben Grundgedanken: Wer lange  gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, der soll es im Alter auf jeden Fall besser haben als derjenige, der kürzer oder gar nicht eingezahlt hat. Als Anerkennung winkt ein früherer Ruhestand oder ein Zuschlag, der das Altersgeld über Sozialhilfe-Niveau hebt.«

Heike Göbel von der FAZ hingegen wirft in ihrem Kommentar Rente ohne Leistung Union und SPD in eine Tonne und ordnet das ganze in eine andere Kritiklinie ein:

»Union und SPD haben Übung darin, Gruppen der Rentner willkürlich besserzustellen. Doch die Lebensleistungsrente hat ein Legitimationsproblem, denn den Alten geht es besser als den Jungen.«

Und wieder werden wir auch hier konfrontiert mit einem bekannten Argumentationsmuster, das darauf abstellt: »… nach wie vor sind nur drei Prozent der Rentner, eine halbe Million, auf den Gang zum Sozialamt angewiesen. In der Gesamtbevölkerung ist die Armutsquote mehr als doppelt so hoch. Armut betrifft in Deutschland nach wie vor mehr junge Leute und alleinerziehende Haushalte, nicht Alte.« Das ist nicht offensichtlich falsch, aber der Fehler liegt in der Generalisierung („die“ Alten, die es eben nicht gibt) und der – wenn überhaupt – nebulösen Hinweise, dass Altersarmut „noch“ kein Problem sei (aber eines werden kann). Dazu beispielsweise bereits den Beitrag Die vorprogrammierte Altersarmut im System und das hässliche Gesicht der Altersarmut vor Ort. Und dann das Nichtstun als Alternative zur Alternative vom 10. April 2015.

Ist also die geplante „Lebensleistungsrente“ – nur als Fußnote sei hier notiert, dass in den aktuellen Berichten und Diskussionen das „solidarische“ an dieser neuen Leistung irgendwie schon verloren gegangen ist – eine echte Lösung für ein reales Problem mit eingebauter Wachstumsgarantie?

Man kann die Beantwortung grundsätzlich angehen – oder aber in einem ersten Schritt die aktuelle Protestwelle heranziehen. Bei deren Analyse wird deutlich, was es bedeutet, wenn man zu kurz springt. Schauen wir uns beispielsweise die Argumentation der Kritiker innerhalb der Union an. Dem Artikel Unionsaufstand gegen Mindestrente für Geringverdiener kann man entnehmen:

„Die Mindestrente ist nicht finanzierbar“, sagte etwa Hans Michelbach, Chef der CSU-Wirtschaftsvereinigung. Und der JU-Vorsitzende Paul Ziemiak fordert statt der Lebensleistungsrente gar eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters: „Es kann nicht bei der Rente mit 67 bleiben, wenn wir Altersarmut vermeiden wollen.“

Nicht finanzierbar? Um welche Größenordnungen geht es hier? Man muss an dieser Stelle vorwegschicken, dass sich die Leistungsausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung im vergangenen Jahr auf über 270 Milliarden Euro summiert haben. Dem Artikel Regierung einig: Für neue Rente kann man entnehmen: »Kurz vor Ostern hatte sich die Bundesregierung darauf verständigt, 2017 erstmals 180 Millionen Euro für die Lebensleistungsrente im Bundeshaushalt vorzusehen. Diese Summe soll laut Medienberichten bis 2020 schrittweise auf 700 Millionen Euro jährlich anwachsen.«

Wohlgemerkt – es handelt sich hierbei um Bruttobeträge, nicht um die tatsächlichen Ausgaben, darauf verweist schon der Passus im Koalitionsvertrag von Ende 2013. Dort steht auf der bereits erwähnten Seite 52: »Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln, u.a. dadurch, dass Minderausgaben in der Grundsicherung im Alter als Steuerzuschuss der Rentenversicherung zufließen, und durch die Abschmelzung des Wanderungsausgleichs.«

Anders formuliert: Die Zuschussrente soll nicht aus Beitragsmittel der Rentenversicherung finanziert werden (was ja ein weiterer klassischer Verschiebebahnhof wäre), sondern aus Steuermitteln – aber nicht aus zusätzlichen, sondern vor allem aus solchen, die ansonsten in einem anderen Systemen geflossen wären bzw. fließen werden: aus der Grundsicherung für Ältere (und Erwerbsgeminderte) nach dem SGB XII, die früher von den Kommunen finanziert werden mussten, mittlerweile ist hier der Bund eingestiegen, um die Kommunen zu entlasten.
Noch anders formuliert: Ein nicht geringer Anteil dessen, was hier als „neue“ Leistung verkauft wird, würde sowieso fließen im Rahmen der Grundsicherung für Ältere.

Noch hanebüchener ist die Forderung des Vorsitzenden der Jungen Union zu bewerten, dass man das – abschlagsfreie – Renteneintrittsalter über 67 Jahre anheben und an die – statistische und durchschnittliche – Lebenserwartungsverlängerung koppeln sollte. Wenn man ganz zynisch drauf wäre könnte man diesen Vorschlag so kommentieren: Wenn die Leute nur lange genug gezwungen sind zu arbeiten, dann lässt sich darüber die verbleibende Rentenbezugsdauer deutlich verkürzen und das Rentenproblem gleichsam biologisch gelöst. Aber auch weniger dramatisierend ist der Ansatz nicht logisch, denn der Anstieg der Lebenserwartung ist eben gerade nicht gleichverteilt über alle Menschen, wir haben erhebliche Lebenserwartungsunterschiede in Abhängigkeit von der sozialen Lage der Menschen und das würde im Ergebnis dazu führen, dass die Menschen im unteren und mittleren Bereich schlechter gestellt werden als die im oberen Bereich, die sich zudem noch überdurchschnittlich häufig aus der gesetzlichen Rentenversicherung verabschiedet haben (beispielsweise in die berufsständischen Versorgungswerke oder als Selbständige ganz aus dem System).

Man kann aber auch ganz grundsätzlich an die Sache herangehen und fragen, warum es überhaupt den Problemdruck gibt, der offensichtlich zu dem Ansatz einer solidarischen Lebensleistungsrente geführt hat. Und der Erklärungskern dafür liegt in der Rentenformel begründet, die von ihrer Mechanik her voraussetzungsvoll daherkommt: Eine monatliche Bruttorente von etwas über 1.200 Euro bekommt man, wenn man 45 Jahre lang immer ohne Unterbrechung gearbeitet und Beiträge gezahlt hat – und zwar immer in Höhe des durchschnittlichen Einkommens der Versicherten, also ein Vollzeiteinkommen. Wenn man sich dieses Muster in Erinnerung ruft, dann wird klar, warum Menschen, die viele Jahre oder vielleicht sogar ihr gesamtes Erwerbsleben im Niedriglohnsektor gearbeitet haben oder die – noch schlimmer – viele Jahre in Teilzeit beschäftigt waren, keine Chance haben werden, eine gesetzliche Rente zu bekommen, die über, geschweige denn deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegen wird.

Was aber würde sich mit der geplanten „Lebensleistungsrente“ wirklich ändern? Nicht viel, das kann man an dieser Stelle schon mal vorausschicken. Bereits im Dezember 2013 hatte sich der Rentenexperte Johannes Steffen in seinem Beitrag »Solidarische Lebensleistungsrente«. Rentenniveausenkung konterkariert Armutsvermeidung kritisch mit den Hoffnungen auseinandergesetzt. Er hat sich damals diese Fragestellung genauer angeschaut: Reichen in der Summe 30 Entgeltpunkte aus, um zumindest bei einer typisierenden Betrachtung die Aufstockung der Rente durch Leistungen der Grundsicherung zu vermeiden? Das ernüchternde Ergebnis seiner Analyse, das heute aufgrund der von ihm angesprochenen grundsätzlichen Problematik einer mit den „Rentenreformen“ auf den Weg gebrachten und bis heute nicht korrigierten Absenkung des Rentenniveaus genau so Bestand hat, lautet: »Mit sinkendem Rentenniveau sinkt die Wertigkeit sämtlicher Rentenanwartschaften – immer im Vergleich zur Entwicklung der Löhne. Kaum, dass der »Kampf« gegen Altersarmut 2017 aufgenommen wird, ist er auch schon verloren. Denn ab 2020 reichen 30 EP nicht mehr aus, um den Grundsicherungsbedarf zu decken. Wer unbeirrt an der Rentenniveausenkung festhält, wird bei der Bekämpfung von Altersarmut absehbar scheitern.«

Man kann sich die bescheidene Wirkung der geplanten Lebensleistungsrente verdeutlichen, wenn man sich die aktuellen Beträge anschaut, um die es hier geht bzw. gehen würde:

Vorgesehen ist ja eine Anhebung der Renten auf eine Rente, die 30 Entgeltpunkten entspricht.
Mit aktuellen Werten bedeutet das aufgerundet:
30 EP x 29,21 Euro (= aktueller Rentenwert in Westdeutschland) = 876 Euro brutto => 782 Euro netto (nach Abzug der Sozialbeiträge der Rentner).
Auf diese Summe soll also die Rente aufgestockt werden (bei Bedürftigkeit).
Und wie sieht es in der Grundsicherung aus?
Dort liegt der Bedarf (von dem dann eigenes Einkommen abgezogen wird) für einen alleinstehenden Rentner bei (pauschalierten Unterkunft- und Heizkosten):
404 Euro Regelbedarf + 300 Euro Unterkunftskosten + 70 Euro Heizkosten = 774 Euro
Das wären also überschlägig noch nicht einmal 10 Euro Unterschied, wobei man aber berücksichtigen muss, dass auch der Rentner mit einer niedrigen Rente möglicherweise Anspruch hat auf Wohngeld.
Hinzu kommt: Die Lebensleistungsrente bekommt man nur mit den 40 Versicherten-/30 Beitragsjahren, außerdem würde das nur alle Neurentner betreffen, also alle im Bestand haben davon nichts.

Dafür dieser Aufwand? Denn man muss berücksichtigen, dass mit der Lebensleistungsrente ein Fremdkörper in die gesetzliche Rentenversicherung eingebaut werden würde.
Um diesen Punkt zu verstehen, muss man mal wieder grundsätzlich werden: Wo gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen der Rentenversicherung und der Fürsorge? Auf die Leistungen aus der Rentenversicherung hat der Versicherte einen Rechtsanspruch, unabhängig davon wie und mit wem er lebt. Auf eine Fürsorge-Leistung hat man nur Anspruch, wenn die Bedürftigkeit geprüft wird, wenn also kein vorrangig anzurechnendes Einkommen oder gar Vermögen vorhanden ist.

Was das bedeuten würde? Eine bedürftigkeitsgeprüfte Altersrente verwischt die Grenze zwischen erworbenem Rentenanspruch und Fürsorge. Die Rentenversicherung kennt den Haushaltszusammenhang nicht, müsste diesen also erst einmal abbilden, um zu einer Entscheidung zu kommen. Eine Bedürftigkeitsprüfung wäre sehr aufwändig (was jeder besichtigen kann bei einem Besuch in einem Jobcenter, die sich damit tagtäglich herumschlagen müssen) und würde Doppelstrukturen in der Verwaltung schaffen. Und nicht zu vergessen: Bedürftigkeitsprüfungen bei Auslandsrenten wären kaum möglich, die spielen aber keine vernachlässigbare Rolle.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Sozialbeirat der Bundesregierung in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2015 zu einem skeptisch-ablehnenden Befund gekommen ist:

»Der Sozialbeirat hat sich zu nicht beitragsgedeckten Rentenaufstockungen in seinen Gutachten der vergangenen Jahre aus guten Gründen stets kritisch geäußert. Das Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung (nach dem sich die Höhe der Renten – wie bei einer privaten Versicherung – an den zuvor eingezahlten Beiträgen orientieren) nähme Schaden, wenn am Fürsorgeprinzip orientierte Elemente in die Ermittlung der Rentenhöhe einbezogen würden und der Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und späterer Rentenhöhe geschwächt würde. Wenn ein Teil des Rentenzahlbetrages einer Einkommensanrechnung unterliegt, dürfte die Rente insgesamt in den Augen der Versicherten in die Nähe einer einkommensabhängigen Fürsorgeleistung rücken. Letztlich würden die steuerfinanzierte, fürsorgerisch motivierte Grundsicherung im Alter und die beitragsfinanzierte Rente der Sozialversicherung vermengt. Dadurch – so unterstellt nicht nur der Sozialbeirat – dürfte das Vorhaben negative Auswirkungen auf die Akzeptanz der Rentenversicherung haben, weil dadurch gleich hohe Beitragsleistungen unterschiedlich hohe Rentenansprüche bewirken könnten.«

Aber der Sozialbeirat ist sich auch des folgenden Dilemmas bewusst:

»Allerdings verkennt der Sozialbeirat auch nicht die Problematik, dass langjährige Vorsorge nicht zwingend zu einem höheren Alterseinkommen führt als unterbliebene Vorsorge und dies vielfach als unbefriedigend empfunden wird. Zum einen wird argumentiert, dass die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung darunter leide („warum soll ich einzahlen?“), zum zweiten wird angeführt, dass deshalb private und betriebliche Altersvorsorge unterbleibe („die lohnt sich für mich am Ende nicht“).«

Gibt es aus Sicht des Sozialbeirats einen Lösungsansatz? Wenn, dann findet man ihn hier:

»Zur Überwindung der Problematik, dass lange Jahre der Beitragszahlung nicht immer ausreichenden Schutz vor Altersarmut bieten bzw. nicht immer zu einem höheren Alterseinkommen führen als eine Grundsicherung, bestehen zwei verschiedene Konzepte. Neben der „solidarischen Lebensleistungsrente“, die durch eine Aufwertung erworbener Entgeltpunkte langjährige Vorsorge belohnen will, gibt es den Vorschlag, Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bzw. der privaten und betrieblichen Altersvorsorge nur teilweise auf die Grundsicherung anzurechnen. Während die „solidarische Lebensleistungsrente“ damit an die gesetzliche Rentenversicherung als Leistungssystem anknüpft, setzt das Konzept der Anrechnungsfreibeträge bei der Grundsicherung an.«

Der Sozialbeirat kommt zu dem Ergebnis, dass die „solidarische Lebensleistungsrente“ nur für vergleichsweise wenige Fälle geeignet sei, das Problem zu lösen. »Insofern erscheint der mit der „solidarischen Lebensleistungsrente“ verbundene deutliche Bruch mit dem Äquivalenzprinzip, der zu Akzeptanzverlusten der gesetzlichen Rentenversicherung führen dürfte, unverhältnismäßig, da nur in sehr begrenzter und wenig zielgenauer Weise erreicht wird, dass geleistete Altersvorsorge stets zu einem höheren Alterseinkommen führt.«

Aus dieser Perspektive besteht eine Lösung darin, Alterssicherungsleistungen nur in begrenztem Umfang auf die Grundsicherung im Alter anzurechnen. Aber so ganz überzeugt ist auch der Sozialbeirat in seiner offiziellen Stellungnahme zumindestens nicht, denn es würden neue Abgrenzungsfragen aufgemacht: »So wäre z. B. zu beantworten, warum Alterssicherungsleistungen nur begrenzt, Partnereinkommen dagegen voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.« Und hinzu kommt: »Die Einführung von Anrechnungsfreibeträgen für Alterssicherungsleistungen in der Grundsicherung würde – auch aufgrund der damit verbundenen Ausweitung der Zahl der Empfänger – zu höheren Kosten der Grundsicherung führen.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – erneut stoßen wir an dieser Stelle auf die strukturellen Probleme des bestehenden Alterssicherungssystem, das bis zu den erheblichen Rentenkürzungen, die Anfang des Jahrtausends beschlossen wurden, hervorragend funktioniert hat. Wenn immer mehr Menschen nicht die Voraussetzungen erfüllen (können), die man für eine halbwegs armutsfeste Alterssicherung braucht, dann muss man das System ändern.

Das aber würde bedeuten eine Debatte führen zu müssen über die Aufhebung der wirklichen Bremsstellen im System, also die Begrenzung der Finanzierung der Alterssicherung auf das Lohneinkommen aus sozialversichrungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und die auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze, ab deren Überschreiten kein Euro mehr zur Finanzierung der Renten herangezogen wird. Dann die zahlreichen Exklusionen aus dem System der Gesetzlichen Rentenversicherung, angefangen von den Beamten über die berufsständische Versorgungswerke für Ärzte & Co.bis hinzu den Selbständigen.

Und dann müsste man eine halbwegs armutsfeste Mindestrente einführen und die dafür erforderlichen Finanzmittel können nur über eine Umverteilung von oben nach unten mobilisiert werden, wie wir sie beispielsweise aus dem Schweizer System kennen. Alle zahlen ein, abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit, aber die Renten sind nicht nur armutsfest über eine Basisrente, sondern auch über eine Maximalrente, die natürlich so hoch bzw. niedrig dimensioniert ist, dass wir eine deutliche Umverteilung von oben nach unten hätten.

Die Tarifbindung ist ein Problem, im Handwerk mit seinen vielen kleinen Betrieben erst recht. Gibt es Grund zur Hoffnung durch ein neues Urteil des Bundesverwaltungsgerichts?

Immer wieder wird von der Industrie als dem Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft gesprochen. Das ist sicherlich nicht falsch angesichts der Bedeutung der Industrie für die Wirtschaftsleistung bis bin zur Beschäftigung. Aber wenn man schon über Rückgrat spricht, dann darf man an dieser Stelle das Handwerk mit seinen vielen, zumeist kleinen Unternehmen und den zahlreichen Beschäftigten, die dort ihr Brot verdienen, nicht vergessen.

Das Handwerk ist ein überaus heterogener Wirtschaftsbereich. Die Varianten reichen vom Zulieferbetrieb für die Industrie bis zum Handwerker im konsumnahen Umfeld, vom mittelständischen Unternehmen mit hunderten Mitarbeitern bis zum Kleinstbetrieb. Die Handwerksbetriebe sind nach der Handwerksordnung in 41 zulassungspflichtigen, 53 zulassungsfreien und 57 handwerksähnlichen Gewerben tätig. Über eine Million meist kleine und mittelständische Handwerksbetriebe sind in Deutschland tätig. Über die Hälfte der Betriebe sind dem Elektro- und Metallgewerbe sowie dem Bau- und Ausbaugewerbe zugeordnet. Knapp zwei Drittel der Handwerksbetriebe sind den zulassungspflichtigen Gewerben zugeordnet. Der Umsatz der Handwerksbranche wird mit deutlich über 500 Milliarden Euro ausgewiesen. Die Anzahl der Beschäftigten beläuft sich auf rund 5,3 Millionen. Wir sprechen hier also über eine richtig große Nummer.

Und diese an sich schon vielgestaltige Welt erfährt eine Fortsetzung auch auf der institutionellen Ebene: Jeder zulassungspflichtige Handwerksbetrieb, die zulassungsfreien sowie handwerksähnliche Handwerke sind Pflichtmitglied in der regional zuständigen Handwerkskammer. Außerdem sind viele Handwerksbetriebe in Innungen freiwillig organisiert. Diese Innungen eines Kreises bilden auf regionaler Ebene die Kreishandwerkerschaften. Innungen desselben oder sich fachlich nahestehender Handwerke eines oder mehrerer Bundesländer können sich zu Landesfach- beziehungsweise Landesinnungsverbänden zusammenschließen. Diese Verbände können sich auf Landesebene zu regionalen handwerkeübergreifenden Regionalvereinigungen als landesweite Arbeitgeberverbände (oft Unternehmer- oder Gesamtverband bezeichnet) zusammenschließen.

Und schon sind wir angekommen in den Tiefen und Untiefen des Tarifgeschehens. Man kann sich angesichts der sehr kleinbetrieblichen Struktur in diesem Bereich sicher  vorstellen, dass die Tarifbindung der Handwerksbetriebe sowie der im Handwerk Beschäftigten nicht die Größenordnung erreicht wie man das aus der Industrie kennt. Und auch da wird ja schon seit vielen Jahren über eine bröselnde Tarifbindung geklagt. Da ist es nicht wirklich verwunderlich, dass die Zahl der tarifgebundenen Unternehmen im Handwerk überschaubar ist.

Zurück zu der bereits skizzierten, auf den ersten Blick ziemlich verwirrenden Struktur des Handwerks. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die Innungen auch Funktionen eines Arbeitgeberverbandes übernehmen (können). Aber sie sind auch wieder keine Arbeitgeberverbände, denn bei einigen von denen gibt es etwas, was nunmehr durch die Rechtsprechung den Innungen verweigert wird. In Arbeitgeberverbände kann man Mitglied sein, ohne der Tarifbindung zu unterliegen, wenn man eine so genannte OT-Mitgliedschaft eingehen kann.

Und das wollten einige Unternehmen auch im Bereich der Innungen erreichen. Aber:

»Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig hat entschieden, dass eine Handwerksinnung die aus dem Bereich der Arbeitgeberverbände bekannte Mitgliedschaftsform einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitgliedschaft) nicht durch Satzung einführen darf (Urt. v. 23.03.2016, Az. 10 C 23.14)«, kann man dem Artikel Tarif­bin­dung darf nicht aus­ge­sch­lossen werden entnehmen.

Das Bundesverwaltungsgericht selbst teilt dazu unter der Überschrift Handwerksinnungen dürfen keine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung einführen mit:

»Die klagende Innung hatte eine Satzungsänderung beschlossen, nach der Mitglieder ihre Bindung an Tarifverträge der Innung durch Erklärung ausschließen können und tarifpolitische Entscheidungen ausschließlich von tarifgebundenen Mitgliedern in einem besonderen Ausschuss zu treffen sind. Die Handwerkskammer verweigerte eine Genehmigung der Satzungsänderung. Nachdem die Klage der Innung hiergegen vom Verwaltungsgericht abgewiesen wurde, verpflichtete das Oberverwaltungsgericht die Handwerkskammer zur Genehmigung der Satzung. Die Revision der Handwerkskammer hatte Erfolg.«

Und mit welcher Begründung?

»Die Handwerksordnung verleiht Innungen die Befugnis, Tarifverträge abzuschließen, damit in dem durch kleine Betriebe geprägten Bereich des Handwerks für sämtliche Innungsmitglieder eine tarifliche Ordnung hergestellt werden kann. Dieser gesetzliche Zweck wäre gefährdet, wenn einzelne Mitglieder der Innung für sich eine Tarifbindung ausschließen könnten. Zudem ist nach der Handwerksordnung die Innungsversammlung, in der jedes Mitglied stimmberechtigt ist, das für alle wesentlichen Fragen und für die Erhebung und Verwendung aller finanziellen Mittel zuständige Hauptorgan. Die Handwerksordnung lässt es nicht zu, einen für tarifpolitische Entscheidungen zuständigen Ausschuss der Innungen so zu organisieren, dass OT-Mitglieder keinen Einfluss auf diese Entscheidungen erlangen.«

Damit ist das Bundesverwaltungsgericht einer Sichtweise gefolgt, die bereits in einem im September 2015 veröffentlichten Rchtsgutachten von Bodo Pieroth und Tristan Barczak unter dem Titel Rechtmäßigkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung in der Satzung einer Handwerksinnung? vertreten wurde. Die Autoren haben dargelegt, dass solche Satzungsregelungen mit den rechtlichen Rahmenbedingungen der Handwerksordnung unvereinbar sind. Insbesondere kann die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Zulässigkeit von OT-Mitgliedschaften in privaten Arbeitgeberverbänden nicht ohne weiteres auf die körperschaftlich verfassten Handwerksinnungen übertragen werden.

Der DGB spricht von einem Urteil mit Signalwirkung (vgl. dazu Bundesverwaltungsgericht stärkt Tarifbindung im Handwerk) und zitiert Stefan Körzell vom DGB-Bundesvorstand mit diesen Worten:

»Das Bundesverwaltungsgericht hat gestern Abend ein wichtiges Signal für die Tarifbindung im Handwerk gesetzt. Dem OT-Unwesen in den Handwerksinnungen ist damit endlich ein Riegel vorgeschoben. Das Urteil muss nun schnell und ausnahmslos umgesetzt werden. Die Arbeitgeber müssen einsehen, dass sie mit dem Einsatz von OT-Mitgliedschaften auf dem Holzweg sind und ihren Branchen einen Bärendienst erwiesen haben. Durch die mangelnde Bereitschaft, Tariflöhne zu zahlen, hat das Handwerk stark an Attraktivität eingebüßt.«

Innungs-Mitglieder sind an Tarifverträge gebunden, so lässt sich also die Rechtsprechung auf den Punkt bringen – also alles gut? Leider nein, wenn man sich an dieser Stelle an den Aufbau der institutionellen Strukturen des Handwerks erinnert, vor allem an den Charakter der Innungen, denn:

»Der Tarifbindung könne sich der einzelne Handwerker nur entziehen, indem er aus der Innung austrete.«

Genau das kann er machen und genau das haben bereits so einige gemacht. Man kann nicht davon ausgehen, dass der Austrittsdrang durch das neue Urteil abgebremst wird, eher das Gegenteil kann angenommen werden. Außer die Betriebe würden den Mehrwert einer Tarifbindung auch für sich selbst erkennen. Was eine voraussetzungsvolle Annahme ist.