Positive Nachrichten über die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. Wenn es denn so einfach wäre

Endlich mal gute Nachrichten aus einem Bereich, der höchst kontrovers diskutiert wird – die Integration von Menschen mit Fluchthintergrund, wie das offiziell so heißt. Allen ist klar, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt eine wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle für eine gelingende Integration spielt. Und zugleich waren die vergangenen Monate vor allem durch zunehmend resignative Berichte hinsichtlich der Beschäftigungsperspektiven für diese Menschen geprägt. Das klappt nicht – dieser Eindruck hat sich in den Köpfen vieler Beobachter festgesetzt (oder verstärkt). Und dann kommen solche Schlagzeilen: Aus Asylländern kommen zahlreiche Fachkräfte oder Flüchtlinge arbeiten als Fachkräfte, um nur zwei von vielen Beispiele zu zitieren. Also doch, wird der eine oder andere denken. Grundlage ist wie so oft bei solchen Meldungen eine „Studie“, in diesem Fall des an den aktuellen Rändern immer sehr umtriebigen arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Deren Botschaft wird dann so unter das Volk gebracht: »60 Prozent der Beschäftigten aus den wichtigsten Asylländern arbeiten in Jobs, die eine Qualifikation erfordern. Besonders unter Afghanen sind viele Fachkräfte.« Oder so: »In Deutschland haben laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft etwa 140.000 Geflüchtete aus den Hauptherkunftsländern einen sozialversicherungspflichtigen Job. Mehr als die Hälfte davon arbeitet als qualifizierte Fachkraft.«

Da hilft immer ein Blick in die Original-Quelle, in diesem Fall also in die von vielen Medien erwähnte „Studie“ des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) – „Studie“ deshalb in Anführungszeichen, weil das IW selbst nicht von einer solchen spricht, sondern eine Auswertung der amtlichen Statistik seitens der BA vorgenommen und diese als „Kurzbericht“ veröffentlicht hat:

Svenja Jambo / Christoph Metzler / Sarah Pierenkemper / Dirk Werner (2017): Mehr als nur Hilfsarbeiter. IW-Kurzberichte 92/2017, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft, Dezember 2017

Die Kurzfassung geht so: »Aktuell sind etwa 140.000 Menschen aus den acht Hauptasylherkunftsländern in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Drei Viertel von ihnen arbeiten in kleinen und mittleren Unternehmen. Knapp 60 Prozent sind als qualifizierte Fachkräfte beschäftigt, 40 Prozent in Helfertätigkeiten. Insgesamt zeigen sich erste Beschäftigungserfolge.«

Das wird eine Menge Leute überraschen – ist die bisherige Diskussion doch vor allem dadurch geprägt, dass man den Flüchtlingen gerade aus den außereuropäischen Fluchtländern neben den zwangsläufig vorhandenen Sprachproblemen immer wieder fehlende berufliche Qualifikationen und sogar oftmals gar keine oder nur eine rudimentäre Schulausbildung zugeschrieben hat.

Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, sich die präsentierten Zahlen einmal genauer anzuschauen (vor allem, wenn mit Anteilswerten gearbeitet wird) und außerdem etwas zu tun, was man von Wissenschaftlern unbedingt und von Medien eigentlich auch erwarten darf – eine Einordnung der Zahlen in das gesamte Zahlenwerk, damit man beurteilen kann, ob das nun viele oder wenige sind.

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der IW-Auswertung hat Florian Diekmann auf Spiegel Online vorgelegt: Beschäftigte aus Asylländern: Was hinter der hohen Fachkraftquote steckt. Er beginnt seine Analyse so: »60 Prozent der Beschäftigten aus Asylländern arbeiten in Deutschland als Fachkraft: Das stimmt zwar – sagt aber etwas anderes aus, als es zunächst den Anschein hat.« Der erste Teil stimmt zwar auch nicht ganz, wie wir gleich sehen werden, aber schauen wir uns seine detaillierte Argumentation genauer an – denn er leistet u.a. genau das, was soeben hier eingefordert wurde, also eine Einordnung der Zahlen in den Gesamtkontext (siehe dazu vor allem den Punkt 3):


1. Es geht um „Menschen aus wichtigen Asylländern“, nicht um Flüchtlinge: »Das IW Köln nutzt die offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die erfasst zwar seit kurzem auch den Aufenthaltsstatus, also etwa auch die Information darüber, ob jemand als Schutzsuchender nach Deutschland gekommen ist. Aber eben erst seit kurzem, bis dahin erfasste die BA lediglich die Staatsangehörigkeit – was gesicherte Aussagen über die Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt schwierig macht. Auch die Detaildaten zur Beschäftigung, wie sie das IW Köln nutzt, liegen nur nach Staatsangehörigkeit aufgeschlüsselt vor. Die aktuellen Angaben beziehen sich also nicht ausschließlich auf Flüchtlinge. Sondern auf Menschen, die die Staatsangehörigkeit von acht Ländern besitzen, aus denen auch viele der kürzlich angekommenen Flüchtlinge kommen – konkret: Iran, Irak, Syrien, Eritrea, Somalia, Afghanistan, Nigeria und Pakistan. Das trifft nun aber auch auf viele Menschen zu, die schon sehr lange in Deutschland leben und aus ganz anderen Gründen gekommen sind … Bereits im Januar 2010 hatten rund 52.000 Menschen aus diesen acht Ländern eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Die meisten von ihnen dürften nach wie vor in Deutschland arbeiten – und zählen somit zu den 140.000 Personen, auf die sich die Fachkraft-Quote bezieht.«


2. Die Zahlen sind inzwischen überholt: »Das IW Köln bezieht sich zwar auf die aktuellsten Zahlen der BA – die geben aber den Stand von Ende März 2017 wieder und sind bereits seit Oktober frei zugänglich … Von März bis Juni hat sich aber eine Menge getan, so viel ist jetzt schon klar: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus den acht Ländern ist in diesem Zeitraum von 140.000 auf rund 157.000 gestiegen. Im September waren es sogar schon rund 195.000.«


3. Die Zahlen beziehen sich nur auf einen kleinen Teil der betroffenen Personen: »Zwar haben 2017 bemerkenswert viele Menschen aus den acht Asylländern Arbeit gefunden – die große Mehrheit aber ist noch nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt angekommen. Im November galten rund 507.000 aus diesem Personenkreis als arbeitssuchend. 185.000 davon waren offiziell arbeitslos, die übrigen absolvieren derzeit überwiegend Integrations- und Sprachkurse. Der in der IW-Publikation zitierte Anteil der Fachkräfte bezieht sich aber nur auf die rund 140.000 Personen, die Ende März einen Arbeitsplatz hatten. Der Anteil der Fachkräfte an allen Personen im erwerbsfähigen Alter aus diesen Ländern wäre also wesentlich niedriger. Und auch der relativ hohe Anteil an Fachkräften unter denen, die bislang Arbeit gefunden haben, ist wenig überraschend: Erstens zählen eben auch Menschen dazu, die schon lange in Deutschland leben. Zweitens liegt es auf der Hand, dass auch unter denen, die tatsächlich kürzlich als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, die gut Qualifizierten schneller einen Arbeitsplatz finden.«

Das alles sind wichtige Hinweise – warum aber ist auch die Aussage am Anfang des Artikels von Florian Diekmann (»60 Prozent der Beschäftigten aus Asylländern arbeiten in Deutschland als Fachkraft: Das stimmt zwar«) so nicht richtig? Dazu muss man sich diese kritische Aufarbeitung der Zahlen der BA anschauen, die Paul M. Schröder in der von ihm gewohnten Tiefe veröffentlicht hat:

Paul M. Schröder (2017): Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus nichteuropäischen „Asylherkunftsländern“: Medien verbreiten zum Jahresende 2017 falsche Informationen des Institut der deutschen Wirtschaft, Bremen: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, 29.12.2017


In dieser Veröffentlichung findet man die nebenstehende Tabelle mit einer Aufschlüsselung der Zahlen der Beschäftigten. Schröder weist darauf hin, dass die vom IW berichteten „Knapp 60 Prozent sind als qualifizierte Fachkräfte beschäftigt, 40 Prozent in Helfertätigkeiten“ wurden für die 140.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten offensichtlich so berechnet, dass im Zähler die 14.457 sozialversicherungspflichtigen Auszubildenden als „Fachkräfte“ hinzugerechnet wurden. Wenn man die Azubis richtigerweise ausklammert, dann stellen sich die Daten schon anders dar: Betrachtet man lediglich die 125.010 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ohne Auszubildende, dann ergibt sich eine Fachkraftquote von zusammen 52,2 Prozent.

Und Schröder wirft auch einen genaueren Blick auf die Entwicklung in den Monaten von März 2016 bis März 2017, auf die auch im IW-Bericht hingewiesen wird:

»Betrachtet man den vom IW auch berichteten Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt um etwa 47.000 (46.612) von März 2016 bis März 2017, dann zeigt sich: Von diesem Anstieg entfielen rechnerisch 7.837 auf die sozialversicherungspflichtigen Auszubildenden und 21.814 auf „Helfer“. Lediglich 16.907 des Anstiegs entfiel auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten „Fachkräfte“, „Spezialisten“ und „Experten“.«

Und ein weiterer Kritikpunkt an den Berechnungsversuchen des IW präsentiert uns Paul M. Schröder:

»Und zum Schluss noch ein weiterer unglaublicher Fehler im IW-Kurzbericht. Im IW-Kurzbericht heißt es zum Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von März 2016 bis März 2017: „Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Beschäftigten aus den acht Asylherkunftsländern um knapp 47.000 Personen und damit deutlich gestiegen. Allerdings entfiel ein gutes Drittel des Anstiegs auf geringfügig Beschäftigte, von denen Ende März 2017 rund 50.000 der insgesamt 140.000 Beschäftigten zu verzeichnen waren.“ Dies ist vollkommen falsch. Die von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit genannten 50.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigten aus den acht „Asylherkunftsländern“ (50.357 im März 2017, 15.959 mehr als im März 2016) sind nicht Teil der 140.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, und deren Anstieg um 15.959 auch nicht Teil des Anstiegs um 47.000.«

Ja, es ist schon ein Kreuz mit den Zahlen. Zum Abschluss sei hier auf die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verwiesen – vor allem auf die zweite Grafik mit der Entwicklung der Zahl der „Erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ (ELB) im Hartz IV-System. Hier weist die BA für August 2017 insgesamt 634.000 Menschen aus den nichteuropäischen Asylherkunftsländern aus – davon geschätzt 584.000 Menschen mit Fluchthintergrund, die im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion stehen. Und man kann auch erkennen, dass die offizielle Zahl der Arbeitslosen diese Personengruppe betreffend weitaus geringer ist: 191.000/175.000. Das hört sich doch ganz anders an als die 634.000 Menschen aus diesen Ländern, die bereits im Hartz IV-Bezug sind.

Die vieldiskutierte Herrschaft der Algorithmen am Beispiel der Entscheidung über Leben und Tod. Ein Todes-Algorithmus „nur“ als ein weiteres Geschäftsmodell?

Schon seit Jahren wird immer wieder über die „Herrschaft der Algorithmen“ diskutiert. Nehmen wir aus der Medienberichterstattung als eines der vielen Beispiele einen Artikel aus dem Jahr 2010: Herrschaft der Algorithmen: Die Welt bleibt unberechenbar von Jürgen Kuri: »Algorithmen beherrschen die Welt, die Gesellschaft, unser Leben, online wie offline. HedgeFonds entscheiden über Wohl und Wehe von Märkten, Firmen und ganzen Volkswirtschaften anhand der Berechnungen, mit denen die Algorithmen der Finanzmathematik die Welt erklären. Die selbständigen Transaktionen der automatisierten Börsensoftware lösen Auf- und Abwärtsbewegungen der Aktienindizes, ja ihren plötzlichen Absturz aus … Scoring-Algorithmen bestimmen anhand persönlicher Zahlungsmoral, individuellen Umfelds, Wohn- und Arbeitssituation die Kreditwürdigkeit eines Bürgers. In per W-Lan vernetzten Kraftfahrzeugen entscheiden Algorithmen, welche Autobahn die Strecke mit den wenigsten Staus verspricht und wie schnell oder langsam der Wagen fahren muss, um effizient und schnell ans Ziel zu kommen. Smartphone-Apps zeigen anhand von Bevölkerungsdaten und Kriminalitätsstatistik, ob es eine gute Idee ist, die schicke Wohnung ausgerechnet in diesem oder jenem Wohnviertel zu beziehen. Empfehlungsalgorithmen sagen uns, welche Musik wir hören wollen, welches Buch wir lesen möchten, welche Menschen wir treffen sollen.«

Das hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter ausdifferenziert und für viele von uns ist die algorithmische Durchdringung des Alltags schon gar nicht mehr als solche wahrnehmbar, weil so selbstverständlich. Irritationen und ungute Gefühle kommen – wenn überhaupt – bei den meisten nur noch dann auf, wenn die Algorithmen (und die immer dahinter stehenden Menschen) in Grenzbereiche vorstoßen, die mit einem Rest an Eigensinn ausgestattet sind bzw. denen eine an sich der Kalkulation nicht zugängliche Wertigkeit zugeschrieben wird.

Dazu gehört sicher für die meisten Menschen die Frage von Leben und Tod. Aber auch hier muss man zur Kenntnis nehmen, dass das grundsätzlich keine geschützte Zone ist (außer man definiert, fixiert und verteidigt diese als solche). Und der eine oder andere ahnt es schon – angesichts der Geldsummen, die in diesem Grenzbereich durch medizinische Behandlung und Pflege ausgegeben werden, ist der sprichwörtliche Teufel nicht weit, der sich in unseren Zeiten gerne hinter scheinbar wertfreien und nur technisch daherkommenden Begrifflichkeiten wie Effizienz und Effektivität zu tarnen versucht, um hier Geschäftsmodelle aufzusetzen, an denen andere ein großes Interesse haben.

Und wer da welche Interessen hat, kann man schnell erkennen, wenn man solche Versprechen zur Kenntnis nimmt: „Wir können sagen, welche Patienten in einer Woche, sechs Wochen oder einem Jahr sterben. Wir können zu Behandlungsplänen sagen: Wie viel kostet der Patient?“
Diese Worte stammen von Bill Frist und das „wir“ bezieht sich auf das auch von ihm gegründete US-Unternehmen Aspire Health. Darüber wird in diesem Artikel von Tina Soliman berichtet: Geschäftsmodell Lebenserwartung: Der Todes-Algorithmus. Das Thema wurde auch in einem Beitrag des Politikmagazins Panorama aufgegriffen.

»Das von Google mitfinanzierte Unternehmen wertet mithilfe von Algorithmen ärztliche Diagnosen von Patienten aus und gleicht das Krankheitsbild mit Mustern häufiger Therapien ab. So soll verhindert werden, dass Schwerkranke unnötige Behandlungen bekommen, die außerdem noch viel Geld kosten. Das spart teure Untersuchungen, wenn man zu wissen glaubt, dass es ohnehin bald um den Patienten geschehen ist. „Aspire Health“ will Kosten senken. Rund 40 Prozent der Ausgaben für Behandlungen könnten eingespart werden, erwartet das US-Unternehmen, das sein Geld mit Palliativpflege verdient. Denn Pflege kostet weniger als Behandlung. Das klingt nach Effizienz.«

Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden, dass das alles doch nur auf statistischen Wahrscheinlichkeiten basiert – und die abstrahieren bekanntlich gerade vom Einzelfall. Lässt sich die Prognose über den Krankheitsverlauf eines Menschen anhand von Statistiken errechnen? Was ist mit nicht messbaren, aber entscheidenden Faktoren – wie etwa dem Überlebenswillen eines Patienten?

»Kevin Baum, Computer-Ethiker der Universität des Saarlandes, warnt vor Schwächen der Algorithmen. Sie urteilten nur auf der Basis der Daten, mit denen sie gefüttert würden, sagt er. „Sie bilden immer nur das Modell eines Menschen ab, nie den Menschen selbst.“ Nicht beachtete individuelle Eigenschaften, die aber durchaus relevant sein können – wie etwa der Kampfeswille – können somit übersehen werden. Maschinen lernen, aber sie denken und fühlen nicht.

„Was eine Maschine nicht kann, ist, eine Einzelfallentscheidung zu fällen“, so Baum. Die Idee sei, dass ähnliche Fälle ähnlich funktionierten. „Das muss aber auch nicht unbedingt sein. Wir könnten uns zwei Patienten vorstellen, die beide auf dem Fragebogen die gleichen Antworten gegeben haben, deren Patientenakten genau gleich aussehen. Wir können annehmen, dass das alles in den Algorithmus eingeht. Und trotzdem können wir annehmen, dass der eine Patient nach sechs Monaten tot ist und der andere Patient noch 15 Jahre lebt.“«

Übrigens wurde hier in diesem Blog über das Unternehmen und das Thema schon Anfang des Jahres berichtet, in dem Beitrag Der Algorithmus als Sensenmann? Umrisse der Gefahr einer totalen Ökonomisierung am Ende des Lebens vom 9. Januar 2017. In diesem Beitrag wird Adrian Lobe zitiert, der in seinem Artikel Der Algorithmus schlägt die letzte Stunde prägnant bilanziert hat:

»So funktioniert das Gesundheitswesen im neoliberalen Gleichungssystem: weniger Geld gleich mehr Leistung. Statt im Krankenhaus soll der Todgeweihte palliativmedizinisch zu Hause behandelt werden, wovon man sich Einsparungen für das Gesundheitssystem erhofft. Das ist der Ausstieg aus dem Solidarsystem. Der Hintergrund: Ein Viertel des jährlichen Budgets der amerikanischen Krankenversicherung Medicare, rund 150 Milliarden Dollar, fließt in die Behandlung von Patienten in ihrem letzten Lebensjahr.

Das Kalkül ist nun, dass man sich teure Untersuchungen sparen kann, wenn man zu wissen glaubt, dass es um den Patienten ohnehin bald geschehen sei. Für jeden Patienten wird ein medizinisches Ablaufdatum errechnet, das ihn als Risikopatienten oder hoffnungslosen Fall ausweist. Im Klartext heißt das: Ein Algorithmus bestimmt, wie jemand ärztlich versorgt wird.«

Die Nutzung von Algorithmen im Gesundheitswesen breitet sich immer mehr aus – und sie ist auch nicht grundsätzliche zu verdammen. „Wenn aber Algorithmen entwickelt werden von Firmen, die etwas verkaufen wollen oder die Kosten dämpfen wollen – dann ist das ein Punkt, der mir zu weit geht. Und den muss man in der Umsetzung verbieten“, sowie wird einer zitiert, der sie selbst in seiner medizinischen Praxis anwendet, aber auf der Grundlage von selbst entwickelten Algorithmen, bei denen man die Basis kennt: der Onkologe Wolfgang Hiddemann von Klinikum Großhadern in München.

Vor diesem Hintergrund sollten sich einem sämtliche Nackenhaare sträuben, wenn man liest: »Start-Ups wie „Aspire Health“ legen ihre Algorithmen nicht offen. So wird die Entscheidung über Leben und Tod an eine Firma ausgelagert, deren Manager und Strukturen nicht bekannt sind. Das Leben: ein Betriebsgeheimnis.«

Und ein weiters mehr als bedenkliches Beispiel wird genannt: Mit 23andMe gibt es eine US-Firma, die einen Gen-Selbsttest anbietet: »Man schickt eine Speichelprobe ein und bekommt eine Analyse des eigenen DNA-Bauplans. Man erfährt etwa, ob man unter einer Erbkrankheit leidet.« Es handelt sich – Überraschung – um eine ebenfalls auch von Google mitfinanzierte Start-Up, das die Entschlüsselung der Erbinformation anbietet. Längst arbeitet die Firma mit  internationalen Pharmafirmen zusammen. Bereist 2013 wurde davor eindringlich gewarnt: Erbgutanalysen: Arzneiprüfer warnen vor Gentests von 23andMe – und zwar seitens der US-Arzneimittelbehörde FDA. Nun schreiben wir das Jahresende 2017 und die Firma ist weiter auf dem Markt des Schreckens unterwegs.

Und sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine dieser modernen Erfolgsgeschichten werden – denn ungeachtet aller völlig berechtigten grundsätzlichen, aber auch durch zahlreiche fehlerhafte Messungen empirisch begründeten Kritik kann man sich lebhaft vorstellen, dass Versicherungen und Arbeitgeber durchaus ein großes, ein sehr großes Interesse an den Daten haben und Wege suchen werden, an diese Daten zu kommen. Weil sich hier handfeste unterschiedliche ökonomische Interessen vermischen mit den (scheinbaren) Potenzialen der Welt der Algorithmen. Und je mehr wir uns daran gewöhnen und sie akzeptieren, desto schwieriger wird es sein, Dämme gegen die Kommerzialisierung und Instrumentalisierung zu bauen und diese zu sichern. Und neben den Gefahren einer klassischen Indienstnahme der Verfahren für finanzkräftige Interessen werden wir zunehmend konfrontiert mit einer Verselbständigung der Algorithmen, die selbst ihre Schöpfer immer öfter ratlos zurücklassen.

Und auch – ein höchst sensibles Thema – die Sterbehilfe muss an dieser Stelle aufgerufen werden. Dazu wurden in diesem Blog zahlreiche Beiträge veröffentlicht, in denen immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass neben allem Verständnis für die individuelle und damit immer einzigartige Entscheidungssituation, die für die Inanspruchnahme der Sterbehilfe sprechen kann, eine gewaltige gesellschaftliche Drohkulisse am Zukunftshorizont in Umrissen erkennbar ist, wenn man denn hinschauen will. In dem Beitrag Wo soll das enden? Sterbehilfe als Wachstumsbranche und eine fortschreitende Verschiebung der Grenzen, der vor einem Jahr hier veröffentlicht wurde, kann man diesen Blick in die Glaskugel finden, der sich am Ende des Jahres 2017 genau so wieder aufrufen lässt:

In diesem Kontext sollte man auch so ein Urteil hinsichtlich seiner langfristigen Bedeutung sehen und kritisch diskutieren: Leben als Schaden, so hat Maximilian Amos seinen Artikel überschrieben, in dem er über eine Entscheidung des OLG München berichtet: »Das OLG München hat einen Arzt zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt, weil er einen Patienten am Leben erhielt. Sein Vertreter sieht darin eine Wende in der Medizinethik.« Das Gericht hat einen Arzt verurteilt, weil er einen Patienten zu lange am Leben erhalten hatte (Urt. v. 21.12.2017, Az. 1 U 454/17). Schon das Landgericht (LG) München I hatte in erster Instanz daraufhin festgestellt, dass in der Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen ein Behandlungsfehler liege und dies einen Schaden herbeiführe.

Wer verhindert (später) das Reinrutschen in eine gesellschaftliche Konstellation, in der „sozioökonomische Schwierigkeiten im Alter“ als legitimer Grund für Sterbehilfe angesehen wird, weil die „Normalisierung“ der aktiven Sterbehilfe, die am Anfang auf einige wenige und für die meisten Menschen durchaus nachvollziehbare schwerste Krankheitssituationen beschränkt war und damit eine Art „Erlösungsbonus“ verbuchen konnte, zwischenzeitlich immer weiter ausgedehnt wurde und wird? Und kann es nicht auch sein, dass die gesellschaftlich immer größer werdende Akzeptanz der assistierten Selbsttötung eine Erwartungshaltung, diesen Weg zu gehen, ans Tageslicht befördert, um Probleme zu „entsorgen“? Angesichts dessen, was an Verteilungskonflikte aufgrund der Alterung der europäischen Gesellschaften noch auf uns zukommen wird, kann man an dieser Stelle eine große Beunruhigung empfinden.

Organisierte Kriminalität in der ambulanten Pflege und ein wirkungsloser Papiertiger seitens des Staates?

Im April 2016 wurde in diesem Blog unter dieser Überschrift über Betrugsvorwürfe gegen ambulante Pflegedienste berichtet: Eine „russische“ Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe. Darin wurden Dirk Banse und Anette Dowideit aus ihrem Artikel So funktioniert der Milliarden-Betrug der Pflege-Mafia zitiert: »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind.« Neben all den Fragwürdigkeiten (beispielsweise „russische“ Pflegedienste) hat die Berichterstattung den Finger auf die Wunde Abrechnungsbetrug in ganz großem Stil im Bereich der ambulanten Pflegedienste gelegt, denn es ging eben nicht „nur“ darum, dass man in Zeiten der Minutenpflege und des systembedingten Stückkostendenkens an der einen oder anderen Stelle mal mehr gebucht hat, als tatsächlich passiert ist, sondern in den damals aufgerufenen Fällen ging es um das „Erfinden“ von Pflegebedürftigen in großem Stil.

Man kann es auch so formulieren:

  • Zum einen gibt es – das legen die aktuellen Ermittlungsergebnisse nahe – einen kleinen, aber hochgradig kriminellen Kern an Pflegediensten (dabei geht es um 230 von gut 14.000 Pflegediensten, was nicht heißen soll, dass die wirkliche Zahl nicht weitaus höher liegen kann, aber dennoch nur einen kleinen Teil der Dienste insgesamt berührt), die oftmals eingebettet in relativ stark geschlossene Gruppen wie den Zuwanderern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion agieren und dort komplexe Netzwerke „auf Gegenseitigkeit“ formieren können, die es überaus schwierig machen, konkrete Verfehlungen nachzuweisen.
  • Auf der anderen Seite haben wir es aber auch mit einem veritablen Systemproblem zu tun. Wenn man die Pflege in eine Minutenpflege zerlegt und diese dann zur Grundlage der Abrechnungsfähigkeit macht, dann ist es realitätsfern anzunehmen, dass die damit immer auch einhergehenden „Spielräume“ bei der Dokumentation der (angeblich) erbrachten Leistungen nicht auch mehr oder weniger stark in Anspruch nimmt, so dass wir mit einem Kontinuum fließender Übergänge zwischen partiellen Mitnahmeeffekten bis hin zu einem betrügerische Geschäftsmodell konfrontiert sind.

Und jeder erfahrene Beobachter weiß, dass schon das Aufdecken solcher Machenschaften eine mehr als komplizierte Angelegenheit ist – das wird dann noch mal potenziert durch die gerichtliche Aufarbeitung, die sich irgendwann später mal anschließt. Da erlebt man dann nicht selten Frustrationen im Angesicht des eigentlichen Vergehens (vgl. dazu aus dem Februar 2017 diesen Beitrag: Die „Pflegemafia“ … und ihre Verarbeitung durch die Rechtsprechung am Beispiel von tatbeteiligten Pflegebedürftigen).

Im Mai 2017 wurde hier ebenfalls zu diesem Thema berichtet unter der Überschrift Die „Pflegemafia“ aus dem Osten reloaded: Organisierte Kriminalität, Geschäfte an und mit alten Menschen und die nicht-triviale Frage: Was tun? Darin konnte man lesen, »die Bundesregierung wiegelt ab: »Keinen weiteren Gesetzgebungsbedarf zur Pflegebetrugsprävention sieht der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Karl Josef Laumann (CDU). Er verweist auf die Kontrollbefugnisse des MDK, die mit dem Pflegestärkungsgesetz III ausgeweitet wurden. Bei den Pflegebetrugsfällen, die jetzt ans Licht gekommen sind, handele es sich noch um Altlasten. Alles, was jetzt bekannt werde, sei auch dem geschuldet, dass die Kontrollmöglichkeiten ausgeweitet wurden.«

Das besagte Pflegestärkungsgesetz III ist ja mittlerweile in Kraft und so kann man nach einem Jahr durchaus mal hinschauen, ob es zu dem, was der Bundesgesundheitsminister angekündigt hat, gekommen ist.

Das haben die Tageszeitung WELT und der Bayerische Rundfunk getan – und das Ergebnis hört sich nicht wirklich beruhigend an. So titelt der Bayerische Rundfunk: Kampf gegen Pflegemafia: Neues Gesetz weitgehend wirkungslos:
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe wollte den Sumpf betrügerisch arbeitender Pflegedienste, die teilweise auch Verbindungen in das Milieu der Organisierten Kriminalität haben, trockenlegen. In einem Interview mit dem BR im Mai 2017 sagte Gröhe:

„Wir haben die entscheidenden Schritte, bessere Kontrolle, die Möglichkeit, auch eben  Pflegediensten, die Zulassung zu entziehen, vorgenommen. Es geht jetzt darum, dies auch konsequent anzuwenden. Und da wird mit allen Beteiligten zu prüfen sein, ob weiterer Handlungsbedarf besteht.“

Die Krankenkassen haben erweiterte Kontrollbefugnisse bekommen.

»Was ist seitdem erreicht? Mitte November trafen sich rund 120 Experten von Krankenkassen, Staatsanwaltschaften und Strafverfolgungsbehörden in Berlin zum Erfahrungsaustausch. Vertraulich und hinter verschlossenen Türen. Ein Teilnehmer zog in seiner Präsentation ein vernichtendes Fazit: „Was wurde nicht erreicht? Kein wesentlicher Beitrag in der Bekämpfung von organisierter Kriminalität. Der eigentliche Anlass für die Maßnahmen des Gesetzgebers ist nicht gelöst.“ Zwar decken die Prüfer der Kassen inzwischen deutlich mehr falsche Abrechnungen auf, auch die Zahl der Hinweise steigt, wie aus einer internen Erhebung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) Niedersachsen von Anfang Dezember hervorgeht. Danach war gut ein Drittel von über 700 Prüfungen auffällig. Dabei handelt es sich aber eher um kleine Falschabrechnungen bei legal operierenden Diensten. Die großen Fische gingen so nicht ins Netz, klagt ein Vertreter einer großen Krankenkasse, der weder seinen Namen noch seine Funktion in der Presse hören oder lesen will: „Erwischt werden jetzt eigentlich nur noch die Pflegedienste, die sich blöd anstellen.“ Hinzu kommt, so Dina Michels, die bei der Krankenkasse KKH mit Sitz in Hannover für den Bereich Bekämpfung Abrechnungsbetrug zuständig ist, dass jene, die absichtlich betrügen würden, ohnehin mit doppelter Buchführung arbeiteten. Gegenüber den MDK-Prüfern würden sie ganz besonders darauf achten, dass bei Prüfungen keine Ungereimtheiten zwischen Abrechnungen, Pflege-Dokumentationen und Leistungsnachweisen vorliegen. Außerdem finden Vor-Ort-Kontrollen in der Regel nach vorheriger Anmeldung statt.«

Das LKA Nordrhein-Westfalen, dass bundesweit federführend bei diesem Thema ermittelt, wird vom BR so zitiert: „In Fällen des organisierten Pflegebetruges stoßen die Prüfer des MDK jedoch an Grenzen, wenn Abrechnung und Pflegedokumentation mit entsprechendem Aufwand so frisiert sind, dass sie nach außen hin korrekt und plausibel erscheinen.“

Die „Ärzte Zeitung“ berichtet über das Thema unter der Überschrift Pflegemafia: Organisierte Kriminalität schwer zu fassen. Dort wird darauf hingewiesen, dass der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS) und das BKA im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität konträre Strategien verfolgen.

„Durch polizeiliche Maßnahmen allein ist eine nachhaltige Bekämpfung des Kriminalitätsphänomens nicht möglich. Da auf dem Gebiet der Pflege sehr viele Akteure mitwirken, bedarf es einer breit aufgestellten Diskussion zwischen allen beteiligten Akteuren“ – mit klaren Worten wies das Bundeskriminalamt (BKA) … auf Nachfrage der „Ärzte Zeitung“ die alleinige Zuständigkeit im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität (OK) in der häuslichen Krankenpflege zurück.

Die andere Seite wird vertreten von Peter Pick, dem Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS), der aus seiner Perspektive zu begründen versucht, warum er die MDK auf Landesebene als machtlose Kontrollinstanz gegen OK-Strukturen in der Pflege sieht.

„Mit den Abrechnungsprüfungen können wir Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten feststellen und somit wichtige erste Hinweise für Ermittlungen geben. Stehen Pflegedienste jedoch im Verdacht, zur Organisierten Kriminalität zu gehören, dann kann nur polizeiliche Ermittlungsarbeit helfen. Wenn Pflegedienst, Patienten, Angehörige und vielleicht auch Ärzte und Hilfsmittellieferanten gemeinsam in betrügerischer Absicht geschlossen handeln, dann sind das Machenschaften, die nur durch Polizeiarbeit aufgedeckt werden können. Zu bedenken ist auch, dass der MDK nur dann die Abrechnung eines Versicherten prüfen kann, wenn der Betroffene damit einverstanden ist“, erläuterte Pick.

Damit weist Pick auf eine substanzielle Schwachstelle des Pflegestärkungsgesetzes III hin: »Dieses sieht zwar unangemeldete Pflegequalitätskontrollen in den Einrichtungen der Krankenpflege vor. Kontrollen in den eigenen vier Wänden sind aber zustimmungspflichtig. Im Klartext heißt das: Wer sich nicht kontrollieren lassen will. der bekommt auch keinen Besuch vom MDK. Andernfalls hat die OK Zeit, ihre Komplizen – in der Regel erhalten die Pflegebedürftigen Kick-back-Zahlungen als Belohnung für die Kooperation beim Pflegebetrug – für die Kontrolle fit zu machen. Geschützt ist die Intimsphäre nur dann nicht, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft ein begründeter Verdacht vorliegt, der in eine Durchsuchung münden kann.«

Zulassung zum Medizinstudium: Das Bundesverfassungsgericht und die Windmühlen einer gerechteren Selektion im Verteilungskampf inmitten von wenig Angebot und viel Nachfrage

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat wieder einmal gesprochen und erneut und in diesem Fall ganz besonders viel Aufmerksamkeit bekommen. Wie üblich um 10 Uhr des Verkündigungstages ist der Hammer des obersten Gerichts gefallen: Bundes- und landesgesetzliche Vorschriften über die Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar, so ist die das Urteil zusammenfassende Pressemitteilung überschrieben. Zum einen haben tausende mehr oder mittlerweile nicht mehr ganz so junge Menschen (und/oder ihre Eltern) sehnlich darauf gewartet, dass die ganz hohe Hürde eines extremen Numerus clausus (NC), der als als überaus enges Nadelöhr beim Begehr, einen Platz in dem stark nachgefragten und mit enormer Reputation (wie auch auch sehr guten Einkommensperspektiven) versehenen Ärzte-Studium zu bekommen, wirkt, endlich fällt. Zum anderen haben viele die Hoffnung, dass in Zukunft weniger die 1,0 auf einem Abiturzeugnis, sondern die Eignung für den Beruf des Mediziners im Mittelpunkt stehen wird. Alles durchaus begründbare und nachvollziehbare Hoffnungen – die aber durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wenn, dann nur embryonal erfüllt werden (können).

Das geht schon aus der Formulierung in der Überschrift der Pressemitteilung des BVerfG hervor – „teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar“, steht da. Wenn man dann genauer hinschaut, wird man erkennen, dass das Gericht den NC gerade nicht verworfen, sondern grundsätzlich bestätigt hat – die Auswahl nach der Abiturbestenquote soll nur aus verfassungsrechtlich gebotenen Gründen stärker eingehegt und durch mindestens ein alternatives Auswahlverfahren ergänzt, aber eben nicht ersetzt werden.

Die derzeitige Verteilungsformel bei der Zulassung zum Medizinstudium ist in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags dargestellt, die einem Artikel hier in diesem Blog entnommen ist, der vor der Entscheidung des BVerfG das Thema umfassend aufgearbeitet hat: Das letztendlich unauflösbare Dilemma der Mangelverwaltung. Angebot und Nachfrage nach Studienplätzen in der Humanmedizin (06.10.2017).

Was hat nun das BVerfG genau entschieden? An den Anfang gestellt sei hier der Hinweis, dass das Verfassungsgericht grundsätzlich die Abiturbestenquote als Zugangskriterium bestätigt hat (und damit die eigenen Rechtsprechung der Vergangenheit: »Das Abstellen auf die Durchschnittsnote der Hochschulzugangsberechtigung für einen Anteil von 20 % der in den Hauptquoten zu vergebenden Studienplätze (Abiturbestenquote) unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insoweit knüpft der Gesetzgeber an eine Beurteilung der Leistungen der Studienbewerber an, die von der Schule am Ende einer allgemeinbildenden Ausbildung vorgenommen wurde. An der Sachgerechtigkeit der Abiturnote als Eignungskriterium auch für die Vergabe von Studienplätzen der Humanmedizin bestehen auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse keine verfassungsrechtlichen Bedenken.«

Eine Unvereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG sieht das Gericht in den folgenden Punkten, die der Gesetzgeber bis Ende 2019 neue regeln muss:

(1) Dem Ersten Senat besonders „angetan“ hat es die Ortspräferenz bei der Angabe der (maximal) sechs Hochschulen, an denen man sich bewerben möchte. Die Unvereinbarkeit der bestehenden gesetzlichen Regelungen mit der Verfassung wird vom Gericht in den Fällen gesehen, wo diese »die Angabe von Ortswünschen in der Abiturbestenquote beschränken und diese bei der Vergabe vorrangig vor der Abiturnote berücksichtigen, soweit sie die Hochschulen im eigenen Auswahlverfahren zur unbegrenzten Berücksichtigung eines von ihnen zu bestimmenden Grades der Ortspräferenz berechtigen.« Dahinter steht die Kritik der Verfassungsrichter, »das Kriterium der Abiturdurchschnittsnote wird als Maßstab für die Eignung durch den Rang des Ortswunsches überlagert und entwertet.« An anderer Stelle findet man die Feststellung: »Beim Grad der Ortspräferenz handelt es sich um ein Kriterium, das nicht an die Eignung für Studium und Beruf anknüpft und dessen Verwendung sich erheblich chancenverringernd auswirken kann.«

Angesichts der wirklich restriktiven Bedeutung der Angabe der Ortspräferenz fast schon putzig ist die Begründung, warum das nun gerade auf sechs Hochschulen begrenzt ist. Dazu kann man diesem Artikel die folgenden Erläuterungen entnehmen: »Bei der Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) müssen derzeit alle Bewerber angeben, an welchen Orten sie am liebsten studieren würden, die Ortspräferenz ist auf sechs Städte begrenzt. Der Kritikpunkt der Richter: Wer mit seinen Ortsangaben Pech hat, kann leer ausgehen, obwohl er eigentlich alle Bedingungen erfüllt. Das sei mit der Forderung des Grundgesetzes nach gleicher Teilhabe nicht vereinbar. Der Ortswunsch dürfe nicht als primäres Kriterium herangezogen werden. Zudem sei die Begrenzung auf sechs Städte willkürlich. Die Festlegung auf sechs Plätze ist laut SfH zustande gekommen, weil das System für die Vergabe so programmiert worden war. Eine Änderung sei nicht mehr möglich, weil die Software zu alt sei.«

(2) Eine weitere Unvereinbarkeit wird vom BVerfG dann identifiziert, wenn die gesetzlichen Regelungen »im Auswahlverfahren der Hochschulen auf einen Ausgleichsmechanismus zur Herstellung einer hinreichenden Vergleichbarkeit der Abiturnoten über die Landesgrenzen hinweg verzichten.« Hier geht es nicht um die Studienplatzvergabe in der Abiturbestenquote, die wie bereits dargestellt für die 20 Prozent abgesegnet wurde, sondern um den Rückgriff auf die Abiturdurchschnittsnote sowohl »für das Vorauswahlverfahren als auch für das Auswahlverfahren selbst.« Das Gericht stört sich hier daran, dass der Gesetzgeber »auf Mechanismen, die die nicht in dem erforderlichen Maße gegebene länderübergreifende Vergleichbarkeit der Abiturdurchschnittsnoten ausgleichen«, verzichtet. Man muss das so lesen, wie es gemeint ist – das BVerfG anerkennt ein Problem unseres föderalen Bildungssystems, dass jeder kennt: »Das Außerachtlassen dieser Unterschiede führt zu einer gewichtigen Ungleichbehandlung. Es nimmt in Kauf, dass eine große Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern abhängig davon, in welchem Land sie ihre allgemeine Hochschulreife erworben haben, erhebliche Nachteile erleiden.« Es macht eben einen teilweise gewichtigen Unterschied, in welchem Bundesland man zur Schule gegangen ist und eine 1,0 in Berlin oder Bremen ist eben eine andere als eine, die in Rheinland-Pfalz oder Bayern erworben wurde bzw. dort nicht erworben werden konnte, auch wenn der Schüler in einem anderen Land eine solche bekommen hätte.

(3) Eine weitere Unvereinbarkeit statuiert das BVerfG bei den gesetzlichen Regelungen, »soweit sie gegenüber den Hochschulen neben der Abiturnote nicht die verpflichtende Anwendung mindestens eines ergänzenden, nicht schulnotenbasierten Auswahlkriteriums zur Bestimmung der Eignung sicherstellen.« Dieser Punkt berührt die angesprochene Hoffnung vieler, dass es auch andere Kriterien als die Abschlussnote geben muss, wenn es um den Zugang zum Medizinstudium geht. Man sollte sich aber genau anschauen, was das Gericht dem Gesetzgeber an Aufgaben mit auf den Weg gegeben hat:

»Der Gesetzgeber muss zudem sicherstellen, dass die Hochschulen, sofern sie von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen, eigene Eignungsprüfungsverfahren durchzuführen oder Berufsausbildungen oder -tätigkeiten zu berücksichtigen, dies in standardisierter und strukturierter Weise tun. Er muss dabei auch festlegen, dass in den hochschuleigenen Studierfähigkeitstests und Auswahlgesprächen nur die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber geprüft wird.«

Das hört sich absolut nachvollziehbar und unterstützenswert an – nur wird der Praktiker an dieser Stelle zynisch einwerfen: Viel Spaß bei dem Versuch, Auswahlverfahren an den Hochschulen „standardisiert und strukturiert“ zu konzipieren (was man für sich genommen noch hinbekommen könnte mit allen neuen Fragwürdigkeiten, die solche Verfahren eröffnen) und vor allem bei der Umsetzung der Vorgabe, dass in Auswahlgesprächen „nur die Eignung“ geprüft wird. Das unterschätzt nicht nur das Dilemma der niemals zu vermeidenden subjektiven „Verunreinigungen“ von Auswahlgesprächen, sondern vor allem die Bezugnahme auf die „Eignung“ ist extrem voraussetzungsvoll. Wann ist denn ein 18-jähriger Bewerber für ein Medizinstudium geeignet und muss jemand, der schon eine Ausbildung im Pflegebereich absolviert hat, nicht ganz anders bewertet werden hinsichtlich der Eignung? Fragen über Fragen, die uns noch beschäftigen werden.

(4) Und eine weitere Unvereinbarkeit sieht das BVerfG in den gegebenen rechtlichen Regelungen, »soweit sie die Wartedauer in der Wartezeitquote nicht zeitlich begrenzen.« Wie man der Abbildung entnehmen kann, ist die Wartezeit mittlerweile auf 15 Semester, also mehr als sieben Jahre angestiegen und würde sich ceteris paribus weiter erhöhen. 20 Prozent der Studienplätze werden über Wartezeit vergeben. Dazu das Gericht grundsätzlich: »Die Bildung einer solchen Wartezeitquote ist verfassungsrechtlich nicht unzulässig.« Aber: 1. Der Anteil von 20 Prozent ist die Obergrenze. Und bei 2. wird man dann mit dem eigentlichen Dilemma aller Rationierungen konfrontiert, wenn die Verfassungsrichter schreiben:

»Als verfassungswidrig erweist es sich, dass der Gesetzgeber die Wartezeit in ihrer Dauer nicht angemessen begrenzt hat. Denn ein zu langes Warten beeinträchtigt erheblich die Erfolgschancen im Studium und damit die Möglichkeit zur Verwirklichung der Berufswahl. Sieht der Gesetzgeber demnach zu einem kleineren Teil auch eine Studierendenauswahl nach Wartezeit vor, ist er von Verfassungs wegen gehalten, die Wartedauer auf ein mit Blick auf ihre negativen Folgen noch angemessenes Maß zu begrenzen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die verfassungsrechtlich gebotene Beschränkung der Wartedauer dazu führen mag, dass viele Bewerber am Ende keinen Studienplatz über die Wartezeitquote erhalten können.«

Anders formuliert: Zum einen fordert das Gericht eine kürzere Wartezeit als sieben oder mehr Jahren – durchaus nachvollziehbar. Auf der anderen Seite begrenzt es die maximale Quote der darüber zu verteilenden Studienplätze auf 20 Prozent. Eine schöne Aufgabe für angewandte Mathematik: Wenn die Leute kürzer warten dürfen, aber aufgrund der begrenzten Zahl an Studienplätze weiterhin viel zu wenig Studienplätze zur Verfügung stehen, dann passiert was? Das, was das Gericht andeutet: Man wartet formal kürzer und kommt doch nicht zum Zuge, weil man nicht mehr verteilen kann als an Plätzen da ist.

Damit wären wir auch schon beim Fazit und dem Blick auf das, was eigentlich notwendig wäre über eine „Optimierung“ des Verteilungsschlüssels hinaus:

Das eigentliche Grundproblem ist ein klassisches Angebots-Nachfrage-Dilemma: 1990 gab es allein in den alten Bundesländern 12.000 Studienplätze für Humanmedizin. Diese wurden seitdem kontinuierlich reduziert. Statt 16.000 Plätze, die sich nach der Wiedervereinigung aufgrund der acht hinzugekommenen Fakultäten in Ostdeutschland hätten ergeben müssen, sind es aktuell nur noch rund 10.000 in Deutschland insgesamt. Das hat dazu geführt, dass sich immer mehr Bewerber um immer weniger Plätze bemühen müssen. Die Quote der Bewerber auf die verfügbaren Studienplätze liegt bei 5 zu 1.

Schon unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung in den Jahren seit der Wiedervereinigung stehen zu wenig Studienplätze für Humanmedizin zur Verfügung. Und wenn man dann weitere Faktoren berücksichtigt, so die – auch andere Berufe – treffende Ersatzproblematik der in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheidenden Ärzte aus der Baby Boomer-Generation sowie die Tatsache, dass es in den vergangenen Jahren eine „Feminisierung“ des Arztberufs gab, was auch Auswirkungen hat auf das verfügbare Arbeitsvolumen der Ärzte nach dem Studium (so dass eine gleiche oder sogar größere Kopfzahl an Ärzten weniger Arbeitsvolumen bedeuten kann als früher) und Aspekte wie ein höherer Ärztebedarf aufgrund anderer Arbeitszeitvorschriften in den Krankenhäusern sowie generell eine steigende Inanspruchnahme aufgrund der demografischen Entwicklung – wenn man all das zusammenzählt, dann wird klar, dass wir mit einer generellen und zugleich politisch zu verantwortenden Mangelsituation auf der Angebotsseite konfrontiert sind, so dass jeder Lösungsansatz auf eine gezielte Adressierung dieses Angebotsmangels nicht verzichten kann und darf. Aber selbst wenn man das tut, wird man nicht umhin kommen, die Selektion der Medizinstudierenden angesichts einer Vielzahl an Bewerbern zu regeln.

Selbst in Ländern, in denen die Zulassung nicht über die Abiturnoten gesteuert wird, gibt es teilweise hammerharte Selektionsverfahren, die wie in Frankreich zwar allen am Anfang eine Möglichkeit eröffnen, dann aber in den beiden ersten Jahren zwei enorm schwierige Prüfungen platziert haben, die dazu führen, dass die meisten, die angefangen haben, nach zwei Jahren wieder aus dem System gekickt werden – vgl. zu Frankreich sowie zu den Auswahlverfahren in Österreich, Großbritannien und Rumänien (derzeit ein Geheimtipp unter der Eltern, die ihren Kindern ein Medizinstudium im Ausland kaufen) diesen Artikel.

Nun hat der Gesetzgeber bis Ende 2019 Zeit, neue Verfahren zu vereinbaren,um die Vorgaben des BVerfG umsetzen, aber nichts an dem Grundcharakter ändern werden – es geht um die Verteilung von sehr vielen Bewerbern auf wenige Studienplätze. Und auch das vom Gericht angesprochene Gerechtigkeitsproblem wird man beispielsweise durch die Standardisierung von Testverfahren auf der einen Seite einhegen können, zugleich eröffnet man neue Ungerechtigkeiten, denn man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass alle Schulabsolventen mit den gleichen Chancen in das Verfahren reingehen können oder dass die Eltern, die es sich leisten können, nicht die Chancenpositionierung der eigenen Kinder durch massive Investitionen steigern werden.

Neben der seit langem auch hier angemahnten Diskussion über eine Anpassung der Zahl der Studienplätze nach oben stellt sich eine weitere, unter inhaltlichen Gesichtspunkten noch weitaus bedeutsamere Aufgabe, über die wieder einmal kaum bis gar nicht systematisch diskutiert wird:
Es geht um die Frage, wie denn die Mediziner in Zukunft eingebettet werden in das Gesamtsystem der Gesundheitsberufe, denn allen müsste doch klar sein, dass die Zeiten einer pyramidalen, arztzentrierten Versorgung vorbei sind und es mit Blick auf die vor uns liegenden Versorgungsaufgaben um die Verbindung mit den Potenzen und Kapazitäten anderer Gesundheitsberufe, die ebenfalls einer Weiterentwicklung und in vielen Fällen einer Aufwertung bedürfen, gehen wird bzw. gehen muss. Eine Reform des Medizinstudiums kann sich neben der quantitativen Frage, die nun endlich im Sinne einer Ausweitung der Kapazitäten beantwortet werden sollte, nicht der Aufgabe entziehen, die Weiterentwicklung nicht im eigenen Saft zu veranstalten oder entlang der eigenen Strukturen, die sich  in der Vergangenheit herausgebildet haben, sondern die Frage nach den Inhalten offensiv zu beantworten mit Blick auf aufzuwertende andere Gesundheitsberufe, die wir dringend brauchen.

Was hier gemeint ist, habe ich in meinem letzten Beitrag zu diesem Thema so formuliert: »Eigentlich dürfte man nicht nur die quantitativen Kapazitäten an den Hochschulen erhöhen, also mehr von dem, was wir haben (auch wenn man das im bestehenden System gut begründen kann), sondern notwendig wäre ein qualitativer Sprung nach vorne, also ein Systemwechsel. Konkret bedeutet das beispielsweise ein Medical School-Modell, bei dem nicht nur angehende Mediziner ausgebildet werden, sondern diese gemeinsam mit den anderen Gesundheitsberufen, mit denen sie im Team zusammenarbeiten werden bzw. die in Zukunft immer mehr Aufgaben eigenverantwortlich werden übernehmen müssen, die heute noch als ärztliche Tätigkeiten reklamiert werden. Gemeinsam, wenigstens streckenweise, mit den Pflegekräften, mit den Physiotherapeuten, mit den psychologischen Psychotherapeuten, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur, wenn die angehenden Ärzte von Anfang an damit konfrontiert werden, dass es auch andere Disziplinen und Berufe gibt, die ihren Stellenwert und Bedeutung und Nützlichkeit im Gesundheitswesen haben, wird sich substanziell etwas im System verändern können.«

Auszubildende auf der Flucht? Oder doch nicht? Man muss schon genauer hinschauen. Neue Zahlen und alte Befürchtungen zu den Entwicklungen auf dem „Ausbildungsmarkt“

Da sind sie wieder, die Schlagzeilen, die auf große Probleme hindeuten: Die Azubi-Krise beispielsweise: »Betriebe in Deutschland stellen 80.000 Ausbildungsplätze weniger zur Verfügung, als noch vor zehn Jahren. Dennoch sind die Chancen für Bewerber besser als zuletzt – weil die Zahl der Interessenten noch dramatischer gesunken ist.« Und Daniel Eckert hat seinen Artikel so überschrieben: Das Ausbildungsparadox – eine Gefahr für die deutsche Wirtschaft. »Die Situation auf dem deutschen Ausbildungsmarkt scheint paradox. Es gibt Stellen, und es gibt Bewerber, aber oft finden beide nicht zueinander. Vor allem im Osten des Landes tut sich eine riesige Kluft auf. Deutschlandweit fanden die Betriebe im Jahr 2016 – aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor – für 43.000 ihrer Ausbildungsstellen keinen passenden Bewerber. Rund jede zwölfte Stelle blieb unbesetzt. In den ostdeutschen Flächenländern war sogar für mehr zehn Prozent aller Ausbildungsplätze kein geeigneter Interessent zu finden. Gleichzeitig gingen bundesweit 80.000 oder gut 13 Prozent der Ausbildungsbewerber leer aus.«

Auf der anderen Seite findet man in der aktuellen Berichterstattung auch solche Meldungen am Beispiel der Hansestadt Hamburg: Boom bei Berufsausbildung hält an: »Obwohl 55,6 Prozent der Jugendlichen in der Hansestadt die Schule mit dem Abitur verlassen, entscheiden sich viele Mädchen und Jungen für eine berufliche Ausbildung.«

Die Artikel beziehen sich alle auf eine neue Studie, die von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht wurde:
Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) (2017): Ländermonitor berufliche Bildung 2017. Zusammenfassung der Ergebnisse, Gütersloh 2017

»Ob Jugendliche einen Ausbildungsplatz finden, ist stark abhängig vom Wohnort. Im Norden werden Bewerber schwerer fündig als im Süden, wo Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können. Bundesweit hat sich die Situation für Bewerber leicht verbessert, Hauptschüler profitieren davon jedoch kaum.« So beginnt die Zusammenfassung des neuen Länderreports: Region und Schulbildung entscheiden über Chancen auf Ausbildungsmarkt. Hier wird auf die erheblichen regionalen Disparitäten hingewiesen: »2016 standen in Bayern 100 Bewerbern 104 Ausbildungsplätze gegenüber, in Schleswig-Holstein nur 88. In den östlichen Flächenländern ist der Rückgang der dualen Ausbildung besonders dramatisch. Zwischen 2007 und 2016 ist dort die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze um knapp 40 Prozent und die Zahl der Bewerber um 46 Prozent gefallen.«

Folgende besondere Problembereiche werden identifiziert:

»Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt scheint paradox. 2016 fanden Betriebe für 43.000 Ausbildungsstellen keinen passenden Bewerber. Knapp acht Prozent aller Stellen blieben damit unbesetzt. In den ostdeutschen Flächenländern war es sogar mehr als jeder zehnte Ausbildungsplatz. Trotz der offenen Stellen gingen bundesweit 80.000 der Ausbildungsbewerber leer aus – also fast jeder siebte. Jugendliche und Betriebe kommen schon geographisch oft nicht zueinander. Im Süden Bayerns suchen die Betriebe händeringend Azubis, im Ruhrgebiet ist die Situation umgekehrt.

Hinzu kommt, dass Ausbildungsstellen in Berufen und Betrieben angeboten werden, für die sich Bewerber nicht interessieren. Besonders schwer haben es kleinere Betriebe, die in für Jugendliche unattraktiven Berufen ausbilden, beispielsweise im Hotel- und Gaststättengewerbe …

Obwohl sich die Lage für Bewerber verbessert hat und Stellen unbesetzt bleiben, profitieren Hauptschüler davon kaum. Im Jahr 2015 gelang es nur jedem zweiten Schulabgänger mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss, direkt eine Ausbildung im dualen oder im Schulberufssystem aufzunehmen. Die andere Hälfte wechselt zunächst in eine der zahlreichen Maßnahmen des Übergangssystems, in denen kein Berufsabschluss erworben werden kann.«
Diese Diagnosen sind nicht wirklich neu. Gibt es Handlungsvorschläge? Dazu wird Jörg Dräger zitiert, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung:

„Betriebe sollten neue Wege der Bewerberansprache einschlagen, sich verstärkt neuen Zielgruppen öffnen und in unattraktiven Berufen die Rahmenbedingungen verbessern.“ Gleichzeitig bräuchten insbesondere kleine Betriebe bessere Unterstützung bei der Ausbildung, zum Beispiel in Form von sozialpädagogischer Begleitung von Betrieb und Azubi. Die vorhandenen Fördermöglichkeiten sind oft zu unflexibel und zu wenig bekannt.

Und mit Blick auf die abgekoppelten Hauptschulabsolventen: „Wir treten dafür ein, jedem jungen Menschen die Chance auf einen Berufsabschluss zu eröffnen – auch mit einer staatlichen Ausbildungsgarantie.“

Die Zahlen aus dem Ländermonitor gehen bis in das Jahr 2016. Neuere Daten hat das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn diese Tage veröffentlicht: Angebot und Nachfrage mit leichtem Plus, jedoch erneut mehr unbesetzte Plätze. Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2017. Die Tabelle am Anfang dieses Beitrags ist der ausführlichen Fassung der neuen Zahlen entnommen:

Stephanie Matthes, Joachim Gerd Ulrich, Simone Flemming und Ralf-Olaf Granath (2017): Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2017. Angebot und Nachfrage mit leichtem Plus, jedoch erneut mehr unbesetzte Plätze, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, Dezember 2017

Das BIBB berichtet zu dem Thema: »2017 nahmen auf dem Ausbildungsmarkt sowohl die Zahl der angebotenen Plätze als auch die Zahl der jungen Menschen zu, die eine Berufsausbildung nachfragten. Allerdings stieg zum achten Mal in Folge die Zahl der Ausbildungsplätze, die nicht besetzt werden konnten. Mit 48.900 gab es so viele offene Ausbildungsstellen wie seit 1994 nicht mehr. Gebrochen wurde dagegen der Negativtrend bei der Ausbildungsplatznachfrage: Sie stieg erstmalig seit 2011 an, u. a. weil zunehmend mehr Geflüchtete unter den Ausbildungsstellenbewerbern zu finden waren.«

Und auch das BIBB weist auf diese (scheinbare) Paradoxie hin: »Die erneute Zunahme der Besetzungsprobleme von Ausbildungsplätzen und das nahezu unveränderte Ausmaß der Versorgungsprobleme von Ausbildungsstellenbewerbern führten dazu, dass sich die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt weiter verschärften.«

Zu der hier in Klammern eingeschobenen „scheinbaren“ Paradoxie: Immer wieder – auch beim BIBB – wird ganz selbstverständlich von einem „Ausbildungsmarkt“ gesprochen. Die Diagnose einer Paradoxie – auf der einen Seite nicht besetzte (besetzbare?) Ausbildungsstellen, auf der anderen Seite aber viele junge Menschen, die keinen direkten Einstieg in eine Berufsausbildung finden (können/wollen?) – wird abgeleitet aus der Gegenüberstellung der großen Zahlen auf der Angebots- und Nachfrageseite. Aber ist das überhaupt ein geeigneter Maßstab? Haben wir es wirklich mit einem „Markt“ zu tun?

Dazu bereits der Beitrag Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion? vom 4. November 2016. Dort findet man diesen Hinweis, der als Plädoyer für eine differenzierte Sichtweise zu verstehen ist:

»… sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.

Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.

Hinzu kommt – und das sollte nicht unterschätzt werden – eine weiterhin durchaus sehr eingeschränkte und dann auch noch geschlechtsspezifische Wahl der Ausbildungsberufe, wobei gerade die jungen Frauen immer noch Berufe wählen, von denen man nicht wird leben können oder nur unter sehr restriktiven Bedingungen.

Es ist halt alles nicht so einfach im wirklichen Leben jenseits der Zahlen.«