Der Eintritt in eine Welt, in der alle Lebens- und im wahrsten Sinne des Wortes auch Sterbensbereiche des Menschen der Ökonomisierung unterworfen werden, erfolgt nicht von hier auf heute, nicht durch ein großes Tor, das drinnen und draußen trennt, sondern das geht schleichend, man rutscht über viele kleine Etappen da rein. Deshalb ist es ja auch oftmals so schwer, am Anfang der Wegstrecke die Punkte zu erkennen, an denen man hätte stehen bleiben, umkehren, sich des Weges verweigern sollen. In mehreren Beiträgen wurde die Ambivalenz oftmals gut gemeinter Ansätze, die in eine völlig andere Richtung abdriften können, am Beispiel der Sterbehilfe diskutiert. Jetzt öffnet sich ein benachbartes Feld: »Eine Firma aus Amerika will voraussagen können, welche Patienten in einer Woche, sechs Wochen oder einem Jahr sterben«, berichtet Adrian Lobe in seinem Artikel Der Algorithmus schlägt die letzte Stunde. Er stellt gleich am Anfang seines Beitrags die entscheidende Frage: »Und was ist, wenn der Algorithmus errechnet, dass sich eine Behandlung nicht mehr lohnt?«
Die behaupten, einen Algorithmus entwickelt zu haben, der die verbleibende Lebensdauer schwerkranker Patienten vorhersagen soll. Und man sollte die folgenden Aussagen, die Lobe in seinem Artikel zitiert, zwischen Hybris und bedrohlicher Vision ansiedeln:
„Wir können sagen, welche Patienten in einer Woche, sechs Wochen oder einem Jahr sterben“, sagte William First, ehemaliger Mehrheitsführer der Republikaner im Senat und Mitgründer von Aspire Health, im Gespräch mit dem „Wall Street Journal“: „Wir können zu Gesundheitsplänen sagen: Wie viel kostet dich der Patient? Wir können sie für weniger Geld pflegen und gleichzeitig höhere Zufriedenheitsraten bei den Patienten haben.“
An diesen markigen Ausführungen ansetzend schreibt Adrian Lobe in seinem Artikel:
»So funktioniert das Gesundheitswesen im neoliberalen Gleichungssystem: weniger Geld gleich mehr Leistung. Statt im Krankenhaus soll der Todgeweihte palliativmedizinisch zu Hause behandelt werden, wovon man sich Einsparungen für das Gesundheitssystem erhofft. Das ist der Ausstieg aus dem Solidarsystem. Der Hintergrund: Ein Viertel des jährlichen Budgets der amerikanischen Krankenversicherung Medicare, rund 150 Milliarden Dollar, fließt in die Behandlung von Patienten in ihrem letzten Lebensjahr.
Das Kalkül ist nun, dass man sich teure Untersuchungen sparen kann, wenn man zu wissen glaubt, dass es um den Patienten ohnehin bald geschehen sei. Für jeden Patienten wird ein medizinisches Ablaufdatum errechnet, das ihn als Risikopatienten oder hoffnungslosen Fall ausweist. Im Klartext heißt das: Ein Algorithmus bestimmt, wie jemand ärztlich versorgt wird.«
Und wir haben hier im Hintergrund enorme Kapitalinteressen, die am Rand mitdrehen. Das junge Unternehmen wird finanziert von der Wagniskapital-Tochter „GV“ der Google-Mutter Alphabet. Das passt wie der Deckel auf den Topf, denn Google selbst »engagiert sich immer stärker im Wettbewerb um lukrative Gesundheitsdaten. Rund ein Prozent aller täglich drei Milliarden Suchanfragen betreffen Krankheitssymptome.«
Es wird nicht wenige geben, die an dieser Stelle abwinken und das für eine Spielerei von datenverliebten Nerds halten, die an der Komplexität des menschlichen Lebens und Sterbens scheitern werden. Aber selbst wenn das so ist, dann wäre die Verknüpfung unvollständiger Vorhersagesysteme mit den Kostenbegrenzungsinteressen der Versicherungen ein übler Giftcocktail. Wir sollten wachsam sein und bleiben – und die ersten holprigen Schritte in eine Welt, in der Algorithmen den Sensenmann spielen (können), konsequent zu Ende denken, um sie zu verhindern.