Zunehmende Ungleichheit in Deutschland gibt es nicht? Oben hui, unten pfui, meint hingegen der DGB-Verteilungsbericht

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat einen Verteilungsbericht mit umfangreichen Daten zur Einkommensentwicklung der privaten Haushalte, der Verteilung des Vermögens und zu Veränderungen am Arbeitsmarkt in den vergangenen zwei Jahrzehnten zusammengestellt. Darüber berichtet Stefan Sauer in seinem Artikel DGB-Verteilungsbericht: Wachsende Kluft zwischen hohen und geringen Einkommen. Mit aufschlussreichen Daten, beispielsweise zur Entwicklung der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit: »Zwischen 2000 und 2016 stiegen die inflationsbereinigten Nettolöhne im Mittel um jährlich 0,3 Prozent. Umgerechnet in Euro und Cent erzielte das mittlere Nettoarbeitseinkommen ein preisbereinigtes Plus von 1398 auf 1468 Euro. 70 Euro mehr Kaufkraft innerhalb von 16 Jahren?« Das kommt bescheiden daher. In Norwegen waren es 2,2 Prozent jährlich. »Auch Deutschland ähnlichere Länder wie Frankreich (0,7 Prozent pro Jahr) und Großbritannien (0,5 Prozent) verzeichneten höhere Reallohnzuwächse.« Das Wachstum der Reallöhne an sich ist das eine, besonders problematisch aber erscheint die Verteilung des Anstiegs, von Stefan Sauer so auf den Punkt gebracht: »Oben hui, unten pfui.«

Wieder einmal werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass (fast) alles im Leben ungleich verteilt ist, schaut man sich die differenzierten Daten an:

»Das Fünftel der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen musste zwischen 1995 und 2015 einen Reallohnverlust von sieben Prozent hinnehmen, auch das darüber liegende Fünftel kam preisbereinigt noch auf ein Minus von fünf Prozent. Erst das mittlere Fünftel weist ein Plus von 2,5 Prozent auf, während die oberen beiden Fünftel einen Reallohnanstieg von neun Prozent erzielten.«

Der DGB benennt als Ursache für dieses Auseinanderlaufen vor allem den gewachsenen Niedriglohnsektor. „Die ungleiche Verteilung führt zu geringerer Kaufkraft von Millionen Menschen mit niedrigem Einkommen und in der Summe zu weniger Nachfrage, die wiederum Investitionen der Unternehmen beeinträchtigt“, wird Stefan Körzell vom DGB-Bundesvorstand zitiert. Selbst OECD und IWF befürworteten mittlerweile Maßnahmen gegen die wachsende Ungleichheit (vgl. dazu ausführlicher Stefan Sell: Vom Streit über »echte« oder »vermeintliche« Armut zur Ungleichheit als sozial­ politisches und ökonomisches Problem, in: ifo Schnelldienst, Heft 10/2017, S. 9-12).

Und auch die „soziale Mobilität“ wird thematisiert: Den »amtlichen Daten zufolge gelingt es Armen und Geringverdienern … immer seltener, ihre Einkommenssituation nachhaltig zu verbessern. 1995 befanden sich 42,5 Prozent der armutsgefährdeten Personen in der gleichen Notlage wie fünf Jahre zuvor. 2013 war diese „Verharrungsquote“ am unteren Rand auf 50 Prozent gestiegen. Umgekehrt gelang Topverdienern, die mindestens das Dreifache des mittleren Monatsnettoeinkommens erhalten, häufig ein weiterer Karriereschritt: Ihre „Aufstiegsquote“ in die nächst höhere Einkommensklasse stieg von 10,2 Prozent 1995 auf 13,2 Prozent 2013.«

Und auch die Zahlen zur Verteilung der Vermögen sind ernüchternd: »Während die betuchtesten zehn Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des gesamten Nettovermögens (Eigentum minus Schulden) besitzen, verfügt die finanzschwächere Hälfte nur über 2,5 Prozent.  Oder anders: Das vermögendste Prozent hält ebenso viel Nettovermögen wie 87 Prozent der Bevölkerung.«

Das sind nur einige Aspekte aus dem neuen Bericht, den man sich hier im Original anschauen kann:

DGB Bundesvorstand (Hrsg.) (2017): Jetzt handeln – Ungleichheit bekämpfen. DGB Verteilungsbericht 2017, Berlin, Juni 2017

Kinder der Krise. Millennials sind rund 40 Prozent ärmer als ihre Eltern. „Nur“ in den USA?

Wir gehören alle zu einer bestimmten Generation. Auch wenn die Abgrenzung ein naturgemäß schwieriges Unterfangen ist, so ist man doch immer wieder konfrontiert worden mit den „Baby Boomern“ (geboren zwischen 1946 and 1964, also in den USA, in Deutschland verschiebt sich das dann schon ein wenig) oder die „Generation X“ (geboren zwischen 1965 and 1980). Und die nach 1980 Geborenen werden als „Millennials“ bezeichnet – zuweilen und gerade bei uns auch als „Generation Y“ bekannt. Mit dieser Typologie arbeiten beispielsweise Lisa Dettling and Joanne W. Hsu in ihrem Artikel Playing Catch-up, der in der Zeitschrift „Finance & Development“, die vom Internationalen Währungsfonds herausgegeben wird. Dettling und Hsu beschäftigen sich mit diesem Thema: »Millennials began to enter the workforce during the most severe global economic crisis since the Great Depression, and their present and future economic decisions will be shaped by the historic upheaval in housing, financial, and labor markets they faced at the onset of adulthood. Millennials must also contend with other emerging issues critical to their prospects of building wealth, such as the rapidly escalating cost of higher education and uncertain retirement income.« Und sie kommen zu interessanten Ergebnissen.

Sie untersuchen die Auswirkungen unterschiedlicher Muster der makroökonomischen Bedingungen, die beim Einstieg in das Erwerbsleben gegeben waren, auf die finanzielle Situation typischer Haushalte in den verschiedenen Generationen. Datentechnisch beziehen sie sich auf den Survey of Consumer Finances, einer repräsentativen Untersuchung des amerikanischen Notenbank Fed. Die Daten beziehen sich also auf US-amerikanische Haushalte.

Einer der wichtigsten Befunde der Studie von Dettling und Hsu, der auch in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags erkennbar wird: » Between ages 25 and 34, the typical millennial’s net worth was about 60 percent that of the typical baby boomer at the same age. And although baby boomers and Gen Xers looked similar in young adulthood, Gen Xers are currently faring worse than their baby boomer counterparts at the same age, due in part to the Great Recession.«

Die Studie wurde auch in diesem Artikel aufgegriffen: Kinder der Krise: Millennials sind rund 40 Prozent ärmer als ihre Eltern. »Laut IWF-Berechnungen profitierten frühere Generationen in den Industrieländern von einem wesentlich besseren gesamtwirtschaftlichen Umfeld. Auch wenn die Wirtschaftskrise überstanden scheint, bleibt das Wachstum doch weit hinter den Raten vergangener Jahrzehnte zurück … Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit. Doch die Lohnentwicklung bleibt überraschend schwach.«

»Im Durchschnitt hat die Generation Y in den entwickelten Ökonomien ein 40 Prozent geringeres Vermögen als die Baby Boomer oder die Generation X zu ihrer Zeit, errechnet der IWF. Ein Grund dafür sei, dass die jungen Menschen heute seltener Immobilien erwerben können als früher.

Gleichzeitig kommen auf sie höhere Kosten für Bildung zu, insbesondere in Ländern wie den Vereinigten Staaten. Als Folge „starten Millennials ihr Berufsleben mit wesentlich höheren Schulden als junge Erwachsene früherer Generationen“, stellt der IWF fest. Das verschärft ein weiteres Problem der Jungen: die Sicherung des Alters. „Die Renten-Landschaft hat sich dramatisch geändert, seit die in den Sechzigern Geborenen ihr Berufsleben begannen“, so der Fonds. Die meisten Staaten hätten die Rentenleistungen gekürzt. Folge: drohende Altersarmut.«

Man muss an dieser Stelle allerdings anmerken, dass genau genommen die Werte, die da zitiert werden mit Bezug auf die Studie von Dettling/Hsu, erst einmal „nur“ für die USA gelten und deshalb nicht eins zu eins übertragen werden können beispielsweise auf Deutschland – das kann man nachvollziehen, wenn man die Bedeutung steigender Ausbildungskosten für die jüngere Generation betrachtet, die in den USA den rapide gestiegenen Studiengebühren geschuldet sind, die es so in dieser Form nicht gibt. Andere Aspekte sind aber sicher gut übertragbar, so beispielsweise die Tatsache, dass es für die jüngere Generation heute wesentlich schwerer ist als für die Vorgänger, Wohneigentum zu erwerben.

Wie immer hängt eine Menge an der Arbeitsmarktentwicklung. Und mit Blick auf den Arbeitsmarkt der vor uns liegenden Jahre heben auch die IWF-Autoren die Dramatik hervor. Dazu beispielsweise der Beitrag von Arun Sundararajan: The Future of Work: »The digital economy will sharply erode the traditional employer-employee relationship.« Um Arbeitsplätze zu verbilligen und zu automatisieren, zerlegen die Unternehmen Vollzeitjobs in einzelne Aufgaben und Projekte. Das Arbeitsleben wird zersplittert. Vorbei die Zeiten, in denen man jahrelang zu festen Zeiten für das gleiche Unternehmen arbeitete. „Die Macht der Gewerkschaften wird schwinden“, prophezeit Sudararajan. Das Problem dabei sei, dass das System der sozialen Sicherung meist noch auf Vollzeitjobs basiere: Mindestlöhne, bezahlter Urlaub, Rente, Krankenversicherung. Dieses System gerät aus den Fugen. „Die Herausforderungen für die Millennial-Arbeitnehmer sind recht beängstigend“, so Sudararajan.

Das hat auch Auswirkungen in Deutschland, wo die Wirtschaft deutlich besser läuft als in vielen anderen Ländern und die Arbeitsmarktlage deutlich entspannter geworden ist aufgrund der demografischen Entwicklung. Dennoch: Nur einer von drei Millennials blickt zuversichtlich in die Zukunft, meint eine Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte gefunden zu haben. Nur jeder achte glaube, ihm werde es finanziell besser gehen als den Eltern. Vgl. dazu Deloitte Millennial Survey 2017.

Abzüglich des zu berücksichtigenden „typisch deutschen“ Grundpessimismus wird es nicht verkehrt sein, anzunehmen, dass die Entwicklung so weitergeht.

Das hat auch Folgen für die politische Haltung eines Teils der jungen Generation, folgt man diesen Ausführungen: »Laut Deloitte wünscht sich immerhin ein Drittel der deutsche Millennials einen radikalen Wandel der Gesellschaft. In Großbritannien, den USA und Frankreich wenden sich die jungen Menschen den „alten Sozialisten“ zu. „Das Manifest der britischen Labour-Partei wurde von der Presse als ‚Rückschritt in die 70er Jahre’ bezeichnet“, schreibt die 29jährige Sarah L. June in der New York Times. „Für einige mag das wie eine Bedrohung geklungen haben, aber für viele junge Menschen ist es ein Versprechen.“

Abb.: IMF (2017), Amassing wealth

Vor dem Vermieter und vor dem Vermittler sind nicht alle gleich. Über „Benachteiligungsrisiken“ und den neuen Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes

Diskriminierung ist nicht nur ein wirklich großes Wort, sondern auch eine höchst komplexe Sache. Zuallererst handelt es sich um einen massiven Vorwurf und es gibt auch hierfür oder besser hiergegen ein eigenes Gesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Und von der Bundesregierung ist sogar eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes installiert worden. Nun ist das, was die einen „Diskriminierung“ nennen, aus Sicht der anderen eine freie Entscheidung für oder gegen jemanden, und die Wirklichkeit ist nicht selten eher grau als schwarz oder weiß. So wurde vor kurzem beispielsweise dieser Artikel veröffentlicht: Diskriminierung bei der Wohnungssuche: „Manche Vermieter legen beim Wort Geflüchtete auf“. Darin wird eindrücklich beschrieben, mit welchen Hürden Menschen konfrontiert werden, die als Flüchtlinge versuchen, eine Wohnung zu finden. Aber zugleich ist die Vermietung einer Wohnung, wenn sie denn über Privatvermieter läuft, immer ein notwendigerweise diskriminierender Akt aus Sicht der Betroffenen, die bei der Entscheidung nicht zum Zuge kommen. Denn wenn der Vermieter auswählen kann aus zahlreichen Bewerbern, dann werden Selektionskriterien zum Zuge kommen, die selbstverständlich als Diskriminierung interpretiert werden können. Wenn man gesicherte Einkommensverhältnisse als Maßstab wählt, diskriminiert man Erwerbslose oder prekär Beschäftigte. Wenn man aus welchen Gründen auch immer keine Menschen aus arabischen Ländern in seiner Wohnung haben möchte, diskriminiert man diese. Das kann man beklagen, aber auf der anderen Seite würde jeder von uns, wenn wir denn in der Vermieter-Rolle wären, eine Selektionsentscheidung treffen (müssen).

Um das hier in aller Deutlichkeit zu sagen – damit soll keinesfalls diskriminierendes Verhalten entschuldigt werden, aber es ändert nichts: Die Grenzen zwischen auf eigenen Präferenzen, für manche Vorurteile, basierenden für den einzelnen durchaus legitimen Auswahlentscheidungen und der bewussten Diskriminierung von Personengruppen aufgrund irgendwelcher Gruppenmerkmale, die das Individuum wegdefinieren, sind in der Lebenswirklichkeit eben nicht trennscharf zu ziehen. Und natürlich haben solche individuellen Entscheidungen teilweise sehr negative strukturelle Konsequenzen, auf dem Wohnungsmarkt ist das in den Städten tagtäglich zu beobachten.

Die Menschen sind – man mag das beklagen – vor dem Vermieter nicht gleich. Das werden viele selbst schon in ihrem Leben erfahren haben. Aber sie sind offensichtlich auch vor den Arbeitsvermittlern nicht gleich, folgt man dem neuen Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes:

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.) (2017): Diskriminierung in Deutschland. Dritter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages, Berlin, Juni 2017

 Thomas Öchsner hat das in seinem Artikel Vor dem Vermittler sind nicht alle gleich aufgegriffen. Er bezieht sich auf den neuen Bericht, der aufzeige, »dass es Benachteiligungen in Jobcentern und Arbeitsagenturen gibt. Das Risiko ausgegrenzt zu werden, sei hoch.« Er zitiert drei Beispiele aus dem Bericht der Antidiskriminierungsstelle:

»Einer 53-jährigen Frau wird ein Computerkurs verwehrt, weil sich die „finanzielle Investition in ältere Menschen nicht mehr lohnen würde“. Eine Gehörlose wünscht sich für die Beratungsgespräche im Jobcenter vergeblich einen Schriftdolmetscher. Ein dunkelhäutiger Arbeitsloser leidet an einer Hautkrankheit. Sein Betreuer macht sich über seine weißen Flecken auf der dunklen Haut lustig.«

Ein teilweise erhebliches Ausgrenzungsrisiko hätten »vor allem Personen, die es auf dem Arbeitsmarkt ohnehin meist schwer haben, wie Zuwanderern, Menschen mit Behinderungen oder Alleinerziehenden.«

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes schreibt dazu unter der Überschrift Gemeinsamer Bericht an den Deutschen Bundestag zeigt Benachteiligungsrisiken in der Arbeitsvermittlung:

»Diskriminierungserfahrungen bei der Arbeitsvermittlung können demnach individuelle Ursachen haben wie beispielsweise offen diskriminierende Einstellungen von Fachpersonal. Von weitaus grundsätzlicherer Bedeutung sind jedoch Diskriminierungsrisiken in Verfahrensabläufen. Diese können dazu führen, dass Menschen bei der Arbeitssuche nicht ausreichend unterstützt werden – und im schlimmsten Fall dauerhaft arbeitsuchend bleiben.«

Als problematisch wird in dem Bericht beispielsweise das Kennzahlensystem herausgestellt, das von Arbeitsagenturen und Jobcentern angewendet wird. Fachkräfte richten demnach ihre Vermittlungsanstrengungen zu wenig an Arbeitsuchenden aus, die ihnen auf den ersten Blick arbeitsmarkfern erscheinen – beispielsweise Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderungen.

»Auch Informations- und Beratungsdefizite sowie Barrieren beim Zugang zu Dienstleistungen von Arbeitsagenturen und Jobcentern können institutionelle Diskriminierungsrisiken darstellen. Dazu zählt etwa fehlende Barrierefreiheit (z.B. keine Angebote in Leichter Sprache) oder der eingeschränkte Einsatz von Dolmetscherdiensten für Zugewanderte.«

In dem Bericht werden aber auch Lösungsvorschläge unterbreitet:

»Aus Sicht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der beiden Beauftragten kann der Mehrzahl der institutionellen Diskriminierungsrisiken effektiv und mit einem vertretbaren Aufwand begegnet werden. Im Bereich der Arbeitsvermittlung fordern sie unter anderem, die Kennzahlensteuerung hinsichtlich der vorhandenen Diskriminierungsrisiken zu prüfen und wenn nötig anzupassen. Das in Arbeitsagenturen und Jobcentern bestehende Kundenreaktionsmanagement sollte um unabhängige Ombudsstellen ergänzt werden, an die Kundinnen und Kunden sich auch bei Diskriminierung wenden können. Darüber hinaus sollten Arbeitsagenturen und Jobcenter Leistungsberechtigte noch stärker vorab über Verfahrensrechte wie Akteneinsicht oder mögliche zusätzliche Anträge und über den Anspruch auf Barrierefreiheit informieren. Das Weiterbildungsmanagement sollte stärker auf Sensibilisierung zu Diskriminierungsthemen abzielen.«
Positiv wurde hervorgehoben, dass die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit der Antidiskriminierungsstelle kooperativ zusammenarbeite. In dem Bericht wird auch darauf hingewiesen, dass es bei den Zielvorgaben bereits qualitative Verbesserungen gegeben habe. „Zusammenfassend lässt sich aber feststellen, dass die öffentliche Arbeitsvermittlung über keinen für die Betroffenen einfach zugänglichen Diskriminierungsschutz verfügt“, wird in der Analyse kritisiert.

„Luftlöcher im Lebensverlauf“ und andere Ideen für die Arbeit der Zukunft und die Zukunft der Arbeit

Bekanntlich ist es in der Politik ein beliebtes Mittel, strittige Themen gleichsam auszulagern an Arbeitsgruppen oder Kommissionen, die dann mehr oder weniger längere Zeit über die Dinge brüten und am Ende einen meist voluminösen Abschlussbericht der mehr oder weniger interessierten Öffentlichkeit präsentieren können.

Das kann man nicht ohne Grund auch skeptisch sehen und den Ansatz ablehnen. Auf der anderen Seite gibt es unstrittig Themenfelder, die dermaßen komplex und verschachtelt sind, dass eine breit aufgestellte Expertise Sinn macht und man auch Zeit haben muss, die unterschiedlichen Ebenen und Konsequenzen zu durchdenken. Die Frage nach der Zukunft „der“ Arbeit gehört sicher dazu.

Zu diesem wirklich großen Thema hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung eine Kommission „Arbeit der Zukunft“ eingerichtet. Die 34-köpfige Kommission wurde von der Soziologin Prof. Dr. Kerstin Jürgens (Universität Kassel) und Reiner Hoffmann, dem Vorsitzenden des DGB, geleitet. Die Kommission hat sich mit sieben Themenfeldern beschäftigt: Erwerbstätigkeit, Einkommen, Qualifizierung, Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Migration und Gesellschaft. Jedes Thema hat sie vor dem Hintergrund von vier Veränderungstreibern auf dem Arbeitsmarkt betrachtet: Alterung, Feminisierung, Digitalisierung und Wertewandel. Ein weiteres wichtiges Querschnittsthema war die Mitbestimmung.

Mit Blick auf das Selbstverständnis der Kommission ist dieser Passus der Besonderheit des Ansatzes sicher aufschlussreich: »Die Kommission möchte gegen die Apokalyptiker und die Propheten vom Ende der Arbeitswelt eine besonnene Analyse und die Willen zur Gestaltung der Aufgaben setzen. Darum beschreibt sie mit Hilfe von Denkanstößen die Elemente einer Humanisierung der Arbeitswelt 4.0.«

Man muss den Kontext sehen, in dem die Kommission eingebettet war. Bei ihrer Einsetzung vor zwei Jahren standen viele unter dem Eindruck von neuen Horrorvisionen aus den USA, was die zukünftige Arbeitsmarktentwicklung angeht. Fast die Hälfte der Arbeitsplätze würden dort in den nächsten zwanzig Jahren durch die Digitalisierung wegfallen, prognostizierten Forscher wie Osborne/Frey. An dieser Stelle gibt die Böckler-Kommission Entwarnung: Auf den deutschen Arbeitsmarkt mit seinen Facharbeitern lasse sich das nicht übertragen. In bestimmten Bereichen werden in den nächsten 20 Jahren weniger Menschen gebraucht, in anderen wie der Pflege absehbar mehr.

Nunmehr hat die Kommission ihren vollständigen Abschlussbericht veröffentlicht und auf einer großen Tagung in Berlin der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt:

Kerstin Jürgens, Reiner Hoffmann, Christina Schildmann (2017): Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Band 189, Bielefeld 2017

Marie Rövekamp berichtet in ihrem Artikel Recht auf Homeoffice und Auszeiten: Gewerkschaftsnahe Fachleute haben diskutiert, wie eine soziale Arbeitswelt aussehen könnte. Arbeitnehmer bräuchten „Luftlöcher im Lebensverlauf“. Sie beginnt ihre Darstellung dessen, was die Kommission zur Diskussion stellt, interessanterweise mit einem Beispiel, wo das schon umgesetzt wird – und benennt ein Unternehmen, das ansonsten auf der Arbeitnehmer- und Gewerlschaftsseite nicht so einen guten Ruf hat:

»Zwei Monate im Jahr können sich die Beraterinnen und Berater bei McKinsey eine Auszeit nehmen, über ihren Jahresurlaub hinaus, ohne einen Grund zu nennen. Ein Mitarbeiter hat währenddessen eine Klavierkonzertreise gemacht, ein anderer einen Jagdschein. Aus Sicht einer gewerkschaftsnahen Expertenkommission sollte bald jeder das Recht auf eine solche Pause haben. Arbeitnehmer bräuchten „Luftlöcher im Lebensverlauf“, heißt es in ihrem am Mittwoch vorgestellten Abschlussbericht.«

54 Handlungsempfehlungen der Expertengruppe zählt der Abschlussbericht. Man kann nur einige herausgreifen, wie das beispielsweise in diesem Beitrag gemacht wird: Teilzeit als neue Norm.

»Triebkraft des stattfindenden Wandels ist die Digitalisierung. Aber sie ist nicht alles. Demografische Veränderungen, neue Rollenverständnisse von Frauen und Männern, die nötige Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit wie auch die Zuwanderung bestimmen aus Sicht der Kommission die Arbeit der Zukunft entscheidend mit. »Arbeit ist mehr als Erwerbsarbeit«, betont die Soziologin Jürgens … (Der Abschlussbericht) verabschiedet das »Normbild Vollzeitbeschäftigung« und das Bild des »männlichen Alleinernährers« und erhebt das Teilzeitmodell zur neuen typischen Beschäftigungsform – sozial und rechtlich abgesichert.«

Es sind wie gesagt große und sperrige Themen, die da von der Kommission mit ihren „Denkanstößen“ behandelt werden. Und sie lassen sich nicht gut „verkaufen“ wie kleinteilige oder skandalisierend daherkommende Themen. Da verwundert es nicht, dass sich die Medien schwer damit tun, über den Abschlussbericht und die Handlungsempfehlungen zu berichten. Aber vielleicht brauchen die Journalisten einfach das, was von der Kommission auch eingefordert wird (nur in einem anderen Sinne): Zeit.

„Orientierung“ am Tarif kann auch 25 Prozent weniger bedeuten

Anfang Juni wurde in diesem Blog über die neuesten Zahlen zur Tarifbindung in Deutschland berichtet, vgl. dazu den Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck: Generell zeigt der Blick auf die Jahre seit 1996, dass die Tarifbindung der Unternehmen und der Beschäftigten auf dem Sinkflug ist, mit einer gewissen Stabilisierung am aktuellen Rand. Bei der Tarifbindung der Betriebe zeigt sich, dass sich hochgerechnet rund 29 Prozent der westdeutschen, aber nur 19 Prozent der ostdeutschen Betriebe an Branchentarifverträge binden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten für 2 Prozent der Betriebe in den alten und etwa 3 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern. 68 Prozent der westdeutschen und sogar 79 Prozent der ostdeutschen Betriebe, sind nicht tarifgebunden. Mit Blick auf die Tarifbindung der Beschäftigten: 2016 haben rund 51 Prozent der westdeutschen und etwa 36 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in einem Betrieb gearbeitet, der einem Branchentarifvertrag unterliegt. Firmentarifverträge gelten für 8 Prozent der westdeutschen und 11 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten. Für rund 42 Prozent der westdeutschen und 53 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer gibt es keinen Tarifvertrag.

Allerdings wird auch hervorgehoben, dass es unter den Betrieben (und damit den betroffenen Beschäftigten) in der Gruppe „kein Tarifvertrag“ bei einem Teil der Betriebe die Angabe gibt, dass man sich bei den Einzelarbeitsverträgen an bestehenden Branchentarifen „orientieren“ würde. Allerdings sagt das noch nicht aus, in welchem Ausmaß und bei welchen Punkten man sich an die bestehenden Tarifverträge anlehnt.

Immerhin haben etwa 40 Prozent der nicht tarifgebundenen Betriebe in Westdeutschland und 39 Prozent in Ostdeutschland angeben, sich in ihren Einzelarbeitsverträgen an bestehenden Branchentarifen zu orientieren.

Zum Ausmaß der „Orientierung“ schreiben Ellguth/Kohaut (2017: 279): »Im Jahr 2011 wurden die betreffenden Betriebe ausführlicher dazu befragt, ob sie sich bei den Löhnen und auch bei anderen Regelungen – etwa bei den finanziellen Zusatzleistungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld, den Arbeitszeiten oder der Dauer des Jahresurlaubs – nach dem Branchentarif richten … Die Befragung hat gezeigt, dass dies bezogen auf die nicht tarifgebundenen Betriebe rund 19 % im Westen und 25 % im Osten waren. Nur in diesen Betrieben dürfen die Beschäftigten Arbeitsbedingungen vorfinden, die mit denen in branchentarifgebundenen Betrieben weitgehend vergleichbar sind.«

„Tariforientiert“ – das klingt auf den ersten Blick nach einer fairen Sache für die Arbeitnehmer: Ein Betrieb ist zwar nicht an den Tarifvertrag gebunden. Aber bei den Löhnen orientiert er sich daran, was tariflich gezahlt wird. Das wird allerdings durch die zitierten Werte aus der Befragung im Jahr 2011 ganz erheblich relativiert.

Nun wird über eine neue Studie vom Institut für Mittelstandsforschung an der Universität Mannheim berichtet, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Die Pressemitteilung zur neuen Studie steht unter der kompakten Überschrift: Tariforientierte Betriebe: Weit unter Tariflohn. Und tatsächlich kommt die Studie zu einem ernüchternden Ergebnis:

»Um 24,6 Prozent liegen die Löhne und Gehälter in tariforientierten Betrieben unter denen in tarifgebundenen Betrieben … Unter tariforientierten Betrieben versteht man Betriebe, die nicht in Unternehmerverbänden organisiert sind, deshalb formal nicht an Tarifverträge gebunden sind, aber angeben sich an entsprechenden Tarifverträgen zu orientieren. „Der 25%ige Unterschied in der Bezahlung erstaunt, da 19% dieser Betriebe angeben, besser als Tarif zu bezahlen und 77% die Bezahlung in ihren Betrieben als vergleichbar mit dem Tarif erachten“, erklärt Stefan Berwing, der die Studie durchgeführt hat. „Betrachtet man jedoch tarifferne Betriebe als Referenzgröße, also Betriebe, die weder an Tarife gebunden sind, noch sich daran orientieren, dann liegt der Bezahlungsunterschied mit 28,4% lediglich 3,8% darüber. Tariforientierte Betriebe sind daher tariffernen Betrieben wesentlich ähnlicher als Betrieben innerhalb des Tarifsystems“, führt er weiter aus.«

Folgerichtig lautet dann auch die Überschrift eines der Artikel über die neue Untersuchung: „Tariforientierte“ Firmen reden die Bezahlung schön. Darin wird Stefan Berwing, der die Studie erstellt hat, mit diesen Worten zitiert: „Das Ausmaß der Tariferosion ist wesentlich stärker als bisher vermutet“, sagt er. Bisher habe man angenommen, dass Beschäftigte in tariforientierten Betrieben zumindest indirekt von Flächentarifen profitierten. „Dies ist jedoch definitiv nicht der Fall.“
Angesichts des seit Mitte der 1990er Jahre beobachtbaren Absinkens der Flächentarifbindung in den Betrieben und damit für die Beschäftigten sind das leider schlechte Nachrichten, wenn man sich das hier in Erinnerung ruft, dass es für Arbeitnehmer handfeste Vorteile hat, wenn sie in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten (können). Mit Blick auf die zurückliegenden Jahren kann man sagen, dass die Löhne in den tarifgebundenen Unternehmen immer stärker angestiegen sind als in den nicht-tarifgebundenen Betrieben. Zudem profitieren sie von den vielen anderen Regelungen, die man in den Tarifverträgen findet. Dass die Beschäftigten in den nicht tarifgebundenen Unternehmen, die aber selbst behaupten, sich am Tarif zu orientieren, wenigstens bei der Vergütung von dem durch Tarifverträge gesetzten Niveau profitieren können, kann durch die neuen Untersuchungsergebnisse leider nicht bestätigt werden.