Ein wenig Licht in das Dunkelfeld: Menschen, die mit Hartz IV aufstocken könnten, es aber nicht tun

Hunderttausende Beschäftigte verzichten auf Hartz IV„, so lautet die Schlagzeile eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung von Thomas Öchsner. Es geht wieder einmal um die so genannten „Aufstocker“, also Menschen, die Einkommen aus Erwerbsarbeit haben, die aber so niedrig sind, dass die Differenz zu dem ihnen zustehenden Hartz IV-Satz in der Grundsicherung als „aufstockende“ Grundsicherungsleistung gewährt wird. Oder eben gewährt werden könnte, wenn man den Ergebnissen von Berechnungen folgt, die vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen vorgelegt wurden. Von denen es aber eine relevante Gruppe anscheinend nicht macht. Ausgangspunkt sind die etwa vier Millionen Menschen, die weniger als sieben Euro brutto die Stunde verdienen. Darunter sind natürlich auch viele, für die der niedrige Lohn in ihrem jeweiligen Haushalts- oder Lebenskontext nicht zu aufstockenden Ansprüchen an das Grundsicherungssystem führt, weil sie beispielsweise mit jemanden zusammenleben, der ein ausreichendes Einkommen hat.

Aber es gibt eben auch diejenigen, die aufstocken könnten.  »Doch nicht alle machen von ihrem Recht Gebrauch. Das gilt auch für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor wie Leiharbeiter, Zimmermädchen oder Gebäudereiniger. Obwohl es für sie um ein paar hundert Euro im Monat gehen kann, lassen sich viele von ihnen den Lohn nicht vom Staat mit Hartz IV aufbessern.« Mehrere Hunderttausend Haushalte mit Erwerbstätigen hätten ein Recht auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen, wüssten aber offenbar nicht, dass sie Geld bekommen könnten, so wird Gerhard Bäcker vom IAQ in dem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung zitiert.

Die Ergebnisse basieren auf einen Vergleich: Auf der einen Seite der Hartz IV-Empfänger, dessen Leistungsansprüche sich aus den Regelleistungen sowie den Kosten für eine angemessene Unterkunft zusammensetzen. Wenn er oder sie arbeitet, dann kann ein Teil des Erwerbseinkommens behalten werden, ohne dass dies auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet wird. Und hat der Hartz-IV-Empfänger beispielsweise Kinder, dann stehen ihm oder ihr Leistungen für diese zu. Das IAQ hat nun auf der anderen Seite den Vollzeit-Arbeitnehmer gestellt und für verschiedene Fallkonstellationen ausgerechnet, wie hoch dessen Netto-Einkommen sein müsste, um zuzüglich der ihm oder ihr gegebenenfalls zustehenden Leistungen wie Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag auf einen Betrag zu kommen, der dem entspricht, was der Hartz IV-Empfänger erhält.
Die Ergebnisse dieser Vergleichsberechnungen finden sich in den Erläuterungen des IAQ: „Bei Niedriglöhnen und hohen Mieten: Trotz Vollzeitarbeit droht ein Einkommen unterhalb des Hartz IV-Niveaus„. Dort findet man die folgenden Befunde:

»Um ein Nettoeinkommen zu erreichen, das zumindest auf der Höhe des Grundsicherungsbedarfs/Hartz IV (einschließlich des Erwerbstätigenfreibetrags) liegt, muss – im Januar 2012 – ein vollzeitbeschäftigter Single einen Bruttostundenlohn von 7,98 Euro verdienen.«

Allerdings ist dieser Wert von 7,98 Euro nicht in Stein gemeißelt, sondern er resultiert aus der Annahme bundesdurchschnittlicher Wohnkosten, die bekanntlich eine weite Streuung aufweisen. Genau das berücksichtigen die IAQ-Wissenschaftler und erläutern das am Beispiel München:
»So muss in München der Stundenlohn in einem Single-Haushalt schon bei 9,66 Euro liegen, um auf das Grundsicherungsniveau zu kommen. Bei dieser Berechnung werden die anerkannten Durchschnittsbeträge für München als Maßstab genommen. Die Neumieten in München fallen allerdings noch weit höher aus: Nimmt man die Obergrenze des Mietrichtwertes für München als Maßstab, dann liegt die Stundenlohnschwelle bei 10,93 Euro für einen Single.«

Nun gibt es ja neben dem Single weitere Haushaltskonstellationen, die den zu erreichenden Bruttostundenlohn nach oben treiben. Hier die Zusammenfassung der relevanten Werte für den Bundesdurchschnitt (und immer mitlaufend in Klammern die Werte für einen Arbeitnehmer in München bei Durchschnittsmiete und bei Neumiete):

=> Alleinverdiener in einem Paar-Haushalt ohne Kinder: 10,18 Euro (11,63 Euro/13,23 Euro)
=> Alleinverdiener  bei einem Ehepaar mit einem Kind: 10,65 Euro (14,29 Euro/16,49 Euro)

Diese Werte werden jetzt offensichtlich verglichen mit den Befunden über die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor, die das IAQ regelmäßig auf der Basis einer Auswertung der SOEP-Daten veröffentlicht. Daraus soll sich dann das folgende Ergebnis ergeben:
»Derzeit stocken gut 1,3 Millionen Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV auf. Etwa ein Viertel oder mehr als 300.000 haben eine Vollzeitstelle. Bäcker hat ermittelt, dass deren Zahl mindestens doppelt so hoch sein müsste«, schreibt Öchsner in seinem Artikel, wobei sich das aus den Berechnungsunterlagen, die vom IAQ veröffentlicht wurden, nicht auf Anhieb erschließt, wie man auf diesen Wert kommt. Gerhard Bäcker spricht von einer „hohen Dunkelziffer“ bei den aufstockungsberechtigten Nicht-Aufstockern.

»Das mag daran liegen, dass viele von ihren Ansprüchen und den komplexen Gesetzesregeln nichts wissen. Viele dürften aber auch den Weg zum Amt scheuen und lieber eiserne Ausgabendisziplin halten oder Überstunden schieben, als den Staat um Hilfe zu bitten«, so die Schlussfolgerung von Thomas Öchsner in seinem Beitrag.

Da kann man schon durcheinander kommen: In Deutschland fehlen eine Million Wohnungen, gleichzeitig finden die Statistiker 500.000 Wohnungen mehr als angenommen. Auf alle Fälle gilt: Die Wohnungsfrage ist/wird ein großes Thema

Diese Tage durfte die Öffentlichkeit endlich die ersten Ergebnisse der „kleinen“ Volkszählung erfahren, die im Jahr 2011 durchgeführt worden ist. Dabei musste man nicht nur zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland immerhin 1,5 Millionen Menschen weniger hat, sondern auch, dass es angeblich 500.000 Wohnungen mehr gibt als man bislang angenommen hat.
So teilt uns das Statistische Bundesamt hierzu in einer Pressemitteilung mit: »In Gebäuden mit Wohnraum … gab es 40,8 Millionen Wohnungen – das waren 500.000 mehr als in der bislang gültigen Fortschreibung des Wohnungsbestandes. Deutschland zeichnet sich im internationalen Vergleich traditionell durch eine niedrige Eigentümerquote aus, also den Anteil der bewohnten Wohnungen, die von den Eigentümern selbst bewohnt werden. Zwar ist die Eigentümerquote in den letzten Jahren langsam aber kontinuierlich gestiegen – am Zensusstichtag betrug sie 45,8 %. Damit wohnte aber immer noch die Mehrheit der Haushalte zur Miete. In Wohngebäuden liegt die Leerstandsquote in Deutschland insgesamt bei 4,4 % …, im Osten ist sie allerdings höher als im Westen.«

Diese Meldung ist besonders relevant vor dem Hintergrund einer anschwellenden Diskussion über die Wohnungsfrage als neue soziale Frage, vor allem in den (groß)städtischen Räumen: »Ob in Berlin, Hamburg oder München: Laut Mieterbund und Studentenwerk wird das Wohnen in den größten Städten für viele unbezahlbar. Wenn nicht schnell zahlreiche Neubauten entstehen, müssen etliche Menschen wegziehen«, können wir in dem Artikel „Deutschlandweit fehlen eine Million Wohnungen“ von Maris Hubschmid lesen. Bereits zu Beginn verdeutlicht der Beitrag das Problem, dass man eben nicht von „der“ Wohnungsnot reden könne, denn der Befund ist eine zunehmend polarisierte Entwicklung: »In Brandenburg stehen immer mehr Häuser leer – und in Berlin herrscht Wohnungsnot.« Allein in den Ballungsräumen fehlen heute schon 250.000 Wohnungen, behauptet der Deutsche Mieterbund (DMB) auf seiner Jahrestagung, die dieses Jahr in München stattgefunden hat (vgl. hierzu: Bezahlbare Wohnungen fehlen – Wohnkosten und Mieten steigen. Bundesbürger fordern aktive Wohnungs- und Mietenpolitik ein). »Leerstandsquoten von unter 1 Prozent in Großstädten (München 0,6 %, Hamburg 0,7 %) – Wohnungsfachleute sehen eine Leerstandsquote von 3 Prozent als Fluktuationsreserve für notwendig an – und drastisch steigende Wiedervermietungsmieten sind Zeichen der aktuellen Wohnungsnot«, so der Mieterbund. Bei Neuvermietungen, das zeigen aktuelle Umfragen, liegt der Quadratmeterpreis inzwischen bis zu 40 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete, so Hubschmid in ihrem Beitrag.

In keiner deutschen Stadt steigen die Mieten für frei verfügbare Wohnungen schneller als in Berlin. Dies geht aus einer aktuellen Erhebung hervor: 40 Prozent mehr in fünf Jahren: Bei Neuvermietungen liegt Berlin damit bundesweit an der Spitze. Der Wert für Berlin bezieht sich auf „Angebotsmieten“ und auf die Jahre 2007 bis 2012. Der Wohnungsmangel in Berlin wird brutal, so wird Ulrich Pfeiffer vom Forschungsinstitut empirica in dem Beitrag zitiert. Die Wohnungsnot sei die Kehrseite der Popularität der Stadt. Pfeiffer weist darauf hin, dass sich in Berlin eine „duale Mietergesellschaft“ herauszubilden beginnt: »Wer künftig eine Wohnung suche, werde mit der „brutalen“ Lage am Markt konfrontiert – „die Mehrheit der Mieter“ könne dagegen „friedlich den Vorzug alter und daher günstiger Mietverträge“ genießen.« Das erklärt auch die derzeitige – insgesamt betrachtet noch „günstige“ – Positionierung Berlins im Großstädtevergleich: »Denn der Blick auf die absoluten Mietpreise zeigt, dass frei verfügbare Wohnungen in Berlin zu einem Durchschnittspreis von rund 9,50 Euro je Quadratmeter und Monat angeboten werden. Damit liegt die Hauptstadt im bundesweiten Städtevergleich nur im Mittelfeld, etwa auf dem Mietniveau von Köln. Die höchsten Mieten werden in München gefordert, im Durchschnitt 13 Euro je Quadratmeter und Monat, gefolgt von Frankfurt am Main und Hamburg mit 10,50 Euro beziehungsweise 11,50 Euro.«

Der Mieterbund benennt das Problem und die folgenden Daten zum Preisanstieg bei Wiedervermietungen von Wohnraum:

»Bei einem Mieterwechsel, das heißt beim Abschluss eines neuen Mietvertrages, können Vermieter die Miete nahezu nach Belieben festsetzen. Konsequenz ist, dass in angespannten Wohnungsmärkten – also in Groß- und Universitätsstädten – die Wiedervermietungsmieten deutlich über den Mieten in bestehenden Mietverhältnissen – der ortsüblichen Vergleichsmiete – liegen. Mieter, die in Frankfurt eine Wohnung neu anmieten, müssen heute 31 Prozent mehr zahlen, als dort ortsüblich ist, also im Durchschnitt gezahlt wird. In München beträgt die Differenz 28 Prozent, in Düsseldorf 25 Prozent, in Hamburg 24 Prozent und in Berlin 19 Prozent. Am größten ist der Preisunterschied zwischen Wiedervermietungsmieten und Mieten in bestehenden Mietverhältnissen in Konstanz (44 %), Münster (40 %), Regensburg (39 %) und Heidelberg (36 %).«

Es stellt sich natürlich die Frage, ob und wie man politisch gegen diese Entwicklung vorgehen kann. Der Mieterbund fordert eine Obergrenze für Preiserhöhungen bei Neuvermietung. Wiedervermietungsmieten dürfen höchstens 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Bei bestehenden Mietverhältnissen dürfe die Miete um höchstens 15 Prozent in vier Jahren steigen (derzeit sind es 20 Prozent in drei Jahren).

Man muss aber auch sehen, dass teilweise langjährige Entwicklungen jetzt negativ zu Buche schlagen und auch vor dem Hintergrund, dass der Wohnungsmarkt beweglich ist wie ein Tanker, keine einfachen und schnell wirksamen Patentrezepte verfügbar sind, denn (1) jahrelang wurden zum einen zu wenig neue Wohnungen gebaut, (2) zum anderen sind zahlreiche bislang preisgünstige Sozialwohnungen aus der Preisbindung entlassen worden. Zu beiden Problemen nennt der Mieterbund wieder Zahlen, die das Ausmaß verdeutlichen können:

(1) Bundesweit müssten jährlich 140.000 bis 150.000 neue Mietwohnungen fertiggestellt werden, davon rund ein Viertel als Sozialwohnungen. In den letzten vier Jahren, zwischen 2008 und 2011, bewegten sich die Fertigstellungszahlen auf einem historischen Tiefstand. Schätzungsweise 65.000 bis 70.000 Mietwohnungen wurden nur noch pro Jahr bundesweit neu gebaut.

(2) »Zwischen 2002 und 2010 ist der Bestand an öffentlich geförderten Wohnung in Deutschland von 2,4 Millionen auf 1,6 Millionen Wohnungen zurückgegangen. Allein um den Sozialwohnungsbestand auf diesem niedrigen Niveau zu stabilisieren, werden 100.000 neue preis- und belegungsgebundene Wohnungen in Deutschland benötigt – durch Neubau, Ankauf von Belegungsbindungen oder Preisbindungen aufgrund von Modernisierungsförderungen.«

Auf alle Fälle haben die Oppositionsparteien SPD, Grüne und die Linke den gesellschaftspolitischen Sprengsatz, der in dem Thema liegt, erkannt und fordern eine entsprechende Mietpreisgrenze – und diese Tage hat sich die Bundeskanzlerin bei der Andeutung der geplanten Wahlversprechen der Union nicht nur zum Erstaunen ihres Koalitionspartners FDP einer solchen Forderung „im Prinzip“ angeschlossen.

Die Bundesregierung hat zwischenzeitlich das Mietrecht verändert, um eine Modernisierung von Wohnungen zu erleichtern und Kostensteigerungen zu begrenzen. Aber die Kritik an der Unvollkommenheit dieser Änderungen ist vielstimmig. Eine gute Übersicht findet sich in der Hintergrund-Sendung „Wohnen wird immer mehr zum Luxus. Das neue Mietrecht ändert daran wenig“ des Deutschlandfunks.

Aber auch eine Mietpreisbremse würde – darüber muss man sich im Klaren sein – das evidente „doppelte Angebotsproblem“ in den (groß)städtischen Räumen nicht lösen – es könnte aufgrund der Wirkungen auf Investitionsentscheidungen dieses sogar noch als ungewollter Nebeneffekt verschärfen. Das „doppelte Angebotsproblem“ – und das verdeutlicht die sozialpolitische Dimension des Problems – besteht darin, dass es nicht nur generell einen Mangel an Wohnraum gibt, was zunehmen wird, sondern darüber hinaus einen besonderen Mangel an Wohnungen im unteren Preissegment für die vielen einkommensschwachen Haushalte. Und die müssen heute schon einen überdurchschnittlichen Anteil ihres Haushaltseinkommens für Miete (und Nebenkosten) aufbringen und wenn sie auf staatliche Transferleistungen wie Hartz IV angewiesen sind, dann sind sie mit dem Problem konfrontiert, dass sie zum einen immer wieder konfrontiert werden mit den Diskrepanzen der gegebenen Mietpreise und dem, was die Jobcenter als „angemessene Kosten“ der Unterkunft zu akzeptieren bereit sind, zum anderen beispielsweise Energiepreisanstiege nur unvollkommen in ihren Leistungen abgebildet sind.

Insgesamt – dazu bedarf es keiner großen prognostischen Anstrengung – wird die Wohnungsfrage (wieder) zu einer „neuen“ sozialen Frage. Und wieder einmal erweist sich, dass man besser auf die Kassandra-Rufe derjenigen, die vor Jahren schon den flächendeckenden Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau als eine fatale Entwicklung gegeißelt haben, gehört hätte statt wie so oft, den Kurzfrist-Ökonomen zu glauben, die immer nur die jeweils aktuelle Lage sehen und diese dann fortschreiben.

Krankenhausbetten, die sich gleichsam selbst füllen? Zumindest für Österreich wird das behauptet

In der Gesundheitsökonomie gibt es einen erst einmal sperrig daherkommenden Terminus namens „angebotsinduzierte Nachfrage“. Schaut man sich im Netz nach Definitionen um, dann findet man beispielsweise solche Definitionsversuche: „Die Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient gibt dem Arzt die Möglichkeit, auf den Umfang der „Nachfrage“ nach seinen Leistungen zu seinem ökonomischen Vorteil Einfluss zu nehmen. Bei entsprechender Information über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten hätte der Patient diese Leistungen nicht nachgefragt.“ Und dazu einen weiteren Hinweis: „Amortisationsdruck bei hohen Geräteinvestitionen zwingt dazu, nicht indizierte Leistungen zu erbringen.“ Ein allgemein bekanntes Problem, das schon seit langem diskutiert und das irgendwie auch nachvollziehbar erscheint, wenn man von monetären Interessen ausgeht.
Schauen wir vor diesem Hintergrund in unser Nachbarland Österreich, die erst vor kurzem in der Öffentlichkeit erwähnt wurden angesichts der bei ihnen im internationalen Vergleich sehr hohen Krankenhausinanspruchnahme: Anfang April war in einer OECD-Studie zu lesen, dass der Wert von 261 Krankenhausaufenthalten pro 1.000 Einwohnern und Jahr in Österreich international gesehen die Spitze darstellt.

Andreas Wetz berichtet in seinem Artikel „Spitalsbetten als Krankmacher„:

»Viele Spitalsaufenthalte und Operationen sind in Österreich nicht auf objektiv festgestellte Krankheiten und Gebrechen zurückzuführen, sondern schlicht auf das Vorhandensein entsprechender Spitalsbetten: Betten, die Politiker in der Vergangenheit errichten ließen, und die nun unbedingt belegt – und damit finanziert – werden müssen. Das ist das Ergebnis einer noch unveröffentlichten Forschungsarbeit eines Dissertanten aus Salzburg.«

Florian Habersberger, der selbst einige Jahre in der Krankenhausverwaltung tätig war, hat mit seinen Berechnungen nachgewiesen: Wenn in der Vergangenheit in einer Region die Zahl der Krankenhausbetten um 1% gestiegen ist, dann stiegen automatisch auch die Zahl der Krankenhausaufenthalte: Bei der Inneren Medizin um 1,72%, bei der Urologie um 1,62%, in der Orthopädie um 1,48%. Seine zentrale These lautet, dass dort, wo Überkapazitäten von Betten aufgebaut wurden, auch besonders eifrig eingewiesen und operiert wird. Und man kann ihm laut Artikel auch nicht damit kommen, dass man doch die unterschiedliche Struktur der Einwohner in den Regionen berücksichtigen müsse, zumindest gilt dies nicht für den immer wieder und gerne vorgetragenen demografischen Faktor: Habersberger hat die von ihm untersuchten Regionen um demografische Besonderheiten bereinigt, da in Regionen mit einer statistisch älteren Bevölkerung automatisch mehr Einweisungen entstehen.

Naheliegend – wie so oft im Gesundheitswesen  – ist die Vermutung, dass das was mit dem jeweiligen Finanzierungssystem zu tun haben muss. So auch die Diskussion in Österreich im Kontext der Befunde von Habersberger und der Blick auf die frühere und heutige Krankenhausfinanzierung offenbart zahlreiche Parallelen zu der Entwicklung in Deutschland: »Bis 1996 rechneten Spitäler nach der Zahl jener Tage ab, die ein Patient im stationären Betrieb verbrachte, was dazu führte, dass die ständig wachsenden Bettenburgen gefüllt werden mussten. Das ging so weit, dass in manchen Spitälern ab Freitagmittag keine Patienten mehr entlassen wurden, um sie noch bis Montagmorgen in Betreuung halten zu können. Auf dem Höhepunkt verbrachte der durchschnittliche Patient 11,2 Tage im Krankenhaus«, können wir in einem erläuternden Beitrag lesen. Das erinnert an das ehemalige System der tagesgleichen Pflegesätze in der deutschen Krankenhausfinanzierung. Bereits vor den Deutschen gab es in Österreich Änderungen, die wir hier mit dem Fallpauschalengesetz Anfang der 2000er Jahre nachvollzogen haben: »1997 führte Österreich die leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung (LKF) ein. Seither gibt es pro Leistung (zum Beispiel dem Einsetzen einer Hüftprothese) eine Anzahl von Punkten, für die die Kassen eine bestimmte Summe bezahlen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ging drastisch zurück. Heute liegt ein Patient – je nach Rechenmodell – nur noch zwischen 5,7 und 6,5 Tagen im Spital.« Aber das System reagiert entsprechend auf die neuen Rahmenbedingungen: Die Krankenhäuser hatten jetzt einen Anreiz, möglichst viele Einzelleistungen bei möglichst kurzer Aufenthaltsdauer zu erbringen. Was sie auf getan haben. Mit der Folge, dass die Belagstage pro Patienten zwar zurückgegangen sind, aber die Fallzahl deutlich anstieg, nämlich von seinerzeit 1,8 Millionen auf zuletzt 2,8 Millionen im Jahr 2011.

Wie so vieles ist auch diese Art und Weise der Finanzierung aus den USA importiert worden. Da lohnt ein Blick auf die Situation dort, was Oliver Grimm in seinem Beitrag „Im Spitalwesen geht es nicht um Moral. Sondern einzig ums Geschäft“ versucht. Die von ihm präsentierten Daten sind beeindruckend: »Im Jahr 2011 gaben die Amerikaner in Summe 2,7 Billionen Dollar (2,1 Billionen Euro) für ihr Gesundheitswesen aus … Das waren 17,9 Prozent der Wirtschaftsleistung: Ein Rekord im Kreis der industrialisierten Staaten. Die USA geben einen doppelt so hohen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für die Gesundheit aus wie der Durchschnitt der OECD-Länder. Der Staat und die Bürger teilen sich diese Ausgaben im Verhältnis 49 zu 51. Jeder fünfte Dollar entfällt dabei auf das Medicare-Programm. Präsident Lyndon B. Johnson schuf diesen Eckpfeiler seiner sozialstaatlichen „Great Society“-Agenda im Jahr 1965, um für Senioren über 65 sowie behinderten jüngeren Menschen die Krankenversorgung leistbar zu machen. Finanziert wird das in erster Linie mit den Einnahmen aus der Lohnsteuer. Die Senioren zahlen geringfügige Eigenbeiträge.« Experten in den USA konstatieren: »Medicare ist die Maschine, die in diesem Land die Ausgaben antreibt.« Das Systemproblem der Amerikaner bei Medicare: Das Programm gibt  den Senioren Versorgungsrechte, deckelt aber die Preise nicht, was wiederum die Anbieter dazu verleiten muss, an der Preisschraube zu drehen. Ein Teil der hohen Kosten in den USA lässt sich auch dadurch erklären, dass die Verwaltungskosten des US-Gesundheitswesens dreimal so hoch sind wie im OECD-Schnitt, nicht nur, aber auch aufgrund des Fallpauschalensystems, das in den USA noch mal differenziert nach den einzelnen Versicherungen, die mit den Leistungsanbietern Verträge schließen müssen und das auch tun.

Von den USA lernen, heißt eben nicht immer siegen lernen.

Statistiker schrumpfen Deutschland: 1,5 Millionen Menschen weniger. Dafür hat man 500.000 Wohnungen gefunden

Was für eine Nachricht – es ist weniger voll geworden in Deutschland, immerhin sind jetzt auch ganz offiziell 1,5 Millionen Menschen „verloren“ gegangen – „nur“ noch 80,2 Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik. Besonders betroffen von der Einwohnerschrumpfung sind die Stadtstaaten Berlin (diese Stadt ist nicht nur arm, aber sexy, sondern seit heute auch um 180.000 Einwohner kleiner) und Hamburg. Der Schwund liegt vor allem an den Ausländern: »In Deutschland leben … deutlich weniger Ausländer als bislang angenommen. 6,2 Millionen ausländische Staatsbürger wurden gezählt – 1,1 Millionen weniger als gedacht«, so Spiegel Online in einem ersten Bericht über die neuesten Ergebnisse des „Zensus 2011“.

Die Gruppe der Menschen mit einem „Migrationshintergrund“ (dabei berücksichtigen die Statistiker jeden, der nach 1955 nach Deutschland eingewandert ist oder der mindestens einen zugewanderten Elternteil hat) ist natürlich deutlich größer als die Gruppe der Ausländer: »Insgesamt lebten in Deutschland etwa 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund; das waren rund 19 Prozent der Bevölkerung. Den höchsten Anteil hatte im Ländervergleich mit 27,5 Prozent Hamburg. Im Osten Deutschlands lag dieser Anteil in allen Bundesländern unter 5 Prozent, in Berlin haben 23,9 Prozent einen Migrationshintergrund.« Knapp 55 Prozent der Deutschen lebten zur Miete – und gleichzeitig erfahren wir durch die Zahlensammelei, dass 500.000 Wohnungen mehr vorhanden sind, als man bislang dachte.

Natürlich fragt sich der eine oder die andere, wie es denn dazu kommen konnte, dass man eine solche Bereinigung der Einwohnerzahlen vermelden muss. Hierzu finden wir erste Hinweise in dem Artikel „Warum Deutschland geschrumpft ist“ von Pascal Paukner:

»Die Gründe für die starken Korrekturen, die nun nötig waren, liegen weit in der Vergangenheit. Die letzte Volkszählung in Westdeutschland fand 1987 statt. In der DDR wurde letztmalig 1981 gezählt. Als sich West und Ost wiedervereinigten, wurden die Daten zusammengeworfen und über Jahrzehnte fortgeschrieben … Für die Fortschreibung der Bevölkerungszahl nutzt die Behörde mehrere Datenquellen: Die Geburten- und Sterbefälle der Standesämter, die als sehr akkurat gelten. Sowie die Angaben der Einwohnermeldeämter über Zu- und Wegzüge, die als fehleranfällig gelten, weil Wegzüge ins Ausland im Gegensatz zu Umzügen im Inland selten den Behörden gemeldet werden. Da passt es auch ins Bild, dass die Daten in Berlin, Hamburg und Baden-Württemberg besonders stark korrigiert werden mussten. Dort wohnen überdurchschnittlich häufig Menschen mit Migrationshintergrund.«

Aber auch die nun ausgewertete neue „Volkszählung“ ist mit Fehlern behaftet – denn sie ist eigentlich keine richtige Volkszählung, wie sie noch 1987 in der alten Bundesrepublik durchgeführt wurde, weil man beim „Zensus 2011“ im Wesentlichen vorhandene Datenbestände abgeglichen hat und nur eine Stichprobe aus der Grundgesamtheit befragt hat. Dies zum einen, weil man Angst hatte vor Widerständen gegen eine neue „richtige“ Volkszählung (was allerdings in Zeiten von Facebook & Co. mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist) und – natürlich – um Kosten z sparen, die mit einer Vollerhebung verbunden wären.

Wer sich genauer über die neue Datenlage informieren möchte, der wird reichlich Material finden auf der Webseite „Zensus 2011 – Fakten zur Bevölkerung in Deutschland„, die das Statistische Bundesamt anlässlich der heutigen Pressekonferenz eingerichtet hat. Dort kann man auch zahlreiche Daten abrufen.

Sozialpolitisch gesehen sind die hier nur angerissenen Ergebnisse hoch relevant und sie bergen so einigen Sprengstoff: Denn die Statistiker bekommen jetzt einige zusätzliche Arbeit, deren Ergebnisse wiederum für die sozialpolitische Diskussion elementar sein werden:  Diverse Angaben über Deutschland müssen neu berechnet werden – so etwa alle Pro-Kopf-Angaben wie zum Beispiel die Geburtenrate. Man darf gespannt sein.

Glückliche Kühe für die Kunden, aber unglückliche Mitarbeiter? Wieder einmal werden Dumpinglöhne auch in der Bio-Branche thematisiert

In den vergangenen Jahren gab es regelmäßig eine Vielzahl an Berichten über problematische Arbeitsbedingungen und Lohndumpingversuche der Arbeitgeber im großen weiten Feld des Einzelhandels. Und nicht nur Namen wie der mittlerweile vom Markt verschwundene Schlecker tauchen dabei auf, auch Netto und andere Discounter schaffen es regelmäßig in die Medien. Hinter den vielen Berichten steht ein grundsätzliches, strukturelles Problem des Einzelhandels – und warum soll das nicht auch für ein besonderes Segment gelten, das aber immer noch mit dem Etikett des „alternativen“ – und das meint für viele: des „guten“, „besseren“ – Einzelhandels herumläuft? Gemeint sind hier die Biomärkte und vor allem die expandierenden Bio-Supermärkte.

Bereits im März 2010 geriet die Firma „Alnatura“ ins Visier der kritischen Berichterstattung. Die Süddeutsche Zeitung griff damals einen Bericht der taz auf und schrieb unter dem Titel „Yoga statt Tariflohn„: »Sie pochen auf umweltschonende Landwirtschaft und fairen Handel – doch niedrige Löhne gibt es auch bei Öko-Supermärkten. Alnatura bezahlt einige Beschäftigte unter Tarif.« Der Fall Alnatura war vor allem deshalb ein Einschnitt, weil die meisten Kunden der Bio-Branche bis dato davon ausgingen, dass Lohndumping ein Problem der Billiganbieter des konventionellen Einzelhandels sei.

Zudem, darauf hatte die taz damals hingewiesen: »Anders als viele Firmen der Alternativwirtschaft – etwa die taz – schreibt Alnatura hohe Gewinne: dem letzten veröffentlichten Jahresabschluss aus dem Geschäftsjahr 2007/2008 zufolge 9,3 Millionen Euro.« Die damaligen Vorwürfe entzündeten sich an dem Befund, »dass die Kette einige Mitarbeiter weit unter dem im Handel üblichen Tarifniveau entlohnt. Der niedrigste Stundenlohn lag bei 7,50 Euro. Ein Betrag, der um mehr als 15 Prozent unter dem Lohnniveau liegt, das beispielsweise die Tarifverbände für die Beschäftigten im Berliner Handel festgelegt haben«, so die Süddeutsche Zeitung in ihrem Artikel. Allerdings: Gegen geltende Gesetze hatte Alnatura nicht verstoßen, denn das Unternehmen ist nicht Mitglied im Arbeitgeberverband und daher auch nicht tarifgebunden. Unter Druck geriet damals auch Firmenchef Götz Rehn, einer der Pioniere und renommiertesten Unternehmer in der deutschen Bioszene. Der bekennende Anthroposoph, 60 Jahre alt, ist Gründer, Geschäftsführer und alleiniger Eigentümer von Alnatura. Zum damaligen Zeitpunkt war die Situation so, dass Alnatura Marktführer vor den Bioketten Denn’s Bio und Basic war. Der Umsatz belief sich auf 360 Millionen Euro und die Zahl der Beschäftigten auf 1.300. Aufgrund der Berichterstattung gab es dann allerdings eine schnelle Reaktion des Unternehmens in Form von teilweise kräftigen Lohnerhöhungen für bestimmte Mitarbeiterinnen und der Zusage, dass die Biomarkt-Kette mindestens Tarifgehälter zahlen wird und künftig auch bei Tariferhöhungen mitziehen will. Einen Rechtsanspruch haben die Mitarbeiter aber nicht.

Und nun berichtet die taz erneut von einem solchen Fall in der boomenden Bio-Branche, der sich auf den neuen Marktführer bezieht, der an Alnatura vorbeigezogen ist: »Deutschlands größte Öko-Supermarktkette denn’s expandiert rasant – auch auf Kosten der Mitarbeiter. Vielen zahlt Konzernchef Thomas Greim Dumpinglöhne. Oft müssen die Beschäftigten länger arbeiten als erlaubt,« so kann man in dem Artikel „Der Bio-Schlecker“ lesen. Immer geht es bei diesen Geschichten auch um Unternehmerpersönlichkeiten – bei Alnatura Götz Rehn, bei denn’s ist es Thomas Greim. Er ist der Chef von Deutschlands größter Öko-Supermarktkette und einige seiner Filialen nehmen zu wenig ein. Trotzdem eröffnet er in atemberaubenden Tempo einen Supermarkt nach dem anderen. Warum man bei diesem Unternehmen genau hinschauen sollte: Greim hat die meisten Biosupermärkte Deutschlands, eine Ladengattung, die immer mehr kleinere Geschäfte verdrängt. Mit seiner Marktmacht setzt er Standards für die Öko-Branche. Derzeit arbeiten 1.300 Mitarbeiter bei denn’s.
Worauf beziehen sich nun die aktuellen Vorwürfe, wie sie in der taz vorgetragen werden? Zum einen geht es um zu lange Arbeitszeiten und zu kurze Pausenzeiten. Gerade Filialeiter berichten von täglichen Arbeitszeiten von elf und mehr Stunden, was die Etikettierung des Unternehmens als „Ausbeuterladen“ verständlich werden lässt. Und natürlich geht es auch um die Bezahlung – nach den Aussagen der Gewerkschaft ver.di zahlen konventionelle Discounter wie Lidl besser aus die Öko-Supermarktkette. Hierzu zitiert Jost Maurin ein Beispiel in seinem Artikel:

»denn’s-Verkäuferin Schneider bekommt trotz mehr als zehn Jahren Berufserfahrung nach eigenen Angaben für 35 Stunden Arbeit pro Woche nur rund 1.500 Euro im Monat brutto und zusätzlich einmal jährlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Obwohl sie alle zwei Wochen fünf Tage hintereinander auch von 18.30 Uhr bis 20.15 Uhr im Laden steht, zahlt denn’s ihr keine Spätzuschläge. Das macht rund elf Euro pro Stunde – ein Drittel weniger als der Tarif, den Ver.di als Untergrenze mit den Arbeitgebern für den Einzelhandel in Hamburg vereinbart hat. denn’s hat die Tarifverträge der Branche nicht anerkannt – ganz so wie lange Schlecker.«

Natürlich wurde der Unternehmenschef mit den Vorwürfen konfrontiert und anders als andere Unternehmen hat er sich einem Gespräch gestellt. Auf die untertarifliche Bezahlung angesprochen wird er mit einer interessanten Argumentation zitiert:

»“Die Tarifverträge werden für den Mainstream gemacht“, antwortet Greim. Für die Discounter zum Beispiel, die viel mehr Umsatz pro Mitarbeiter machten als die Biobranche. Die Normierung durch die Tarifverträge würde „unsere Branche total diskriminieren“. Sein Argument lautet also: denn’s ist zu arm, um Tarif zu zahlen.«

Nach den eigenen Angaben des Unternehmens ist die wirtschaftliche Lage tatsächlich nicht berauschend, denn im Jahr 2012 hat denn’s etwa 180.000 Euro Gewinn erwirtschaftet – gerade mal 0,1 Prozent des Umsatzes. Hätte die Kette alle Gehälter auf Tarifniveau gehoben, wäre es wohl zu einem Verlust gekommen. Auch hier sind wir wieder mit einem strukturellen Problem der Branche konfrontiert: Die Kette hat zu viele Märkte, die zu wenig einspielen. Zitiert wird der Handelsexperte Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg: »Supermärkte dürften „nicht sehr viel weniger“ als zwei Millionen Euro im Jahr einnehmen, um rentabel zu sein.« Bei denn’s wird allerdings eingeräumt, dass ein erheblicher Teil der eigenen Märkte unter dieser Umsatzschwelle liegen.
Bleibt natürlich die Frage, warum das Unternehmen trotz dieser Restriktionen einen so markanten Expansionskurs fährt? Weil das Geschäftsmodell Biosupermarkt reif sei und man jetzt die Claims besetzen und abstecken müsse, sonst komme man zu spät und alles ist aufgeteilt, so die Argumentation des Firmenchefs. Getrieben wird die Expansion auch durch den Wettbewerb mit der Alnatura-Kette, die man mittlerweile hinsichtlich der Zahl der Märkte überholt hat, nicht aber mit Blick auf den Umsatz:

»Nach taz-Schätzungen lag der Umsatz pro Alnatura-Filiale im Geschäftsjahr 2011/2012 im Schnitt bei 3,7 Millionen Euro. Teilt man dagegen den denn’s-Umsatz durch die Zahl der von Thomas Greim betriebenen Märkte, kommt man auf weniger als die Hälfte: lediglich 1,6 Millionen Euro.«

Aus der Tatsache, dass der Umsatz pro Markt deutlich höher liegt, resultiert dann auch der Tatbestand, dass Alnatura genug Geld hat, um seinen Beschäftigten Löhne wenigstens auf Tarifniveau zu zahlen. »Das Beispiel Alnatura beweist also: Auch Biosupermärkte können Tariflöhne zahlen«, so Maurin in der taz. Letztendlich finanzieren die Beschäftigten über die niedrigeren Löhne die Expansionsstrategie des Unternehmens mit, der dann die niedrigeren Löhne rechtfertigt mit den zu geringen Umsätzen durch Expansion auch in umsatzschwache Lagen – eine Strategie, die tatsächlich einige Parallelen zu der Expansionsgeschichte von Schlecker aufweist. So auch die Schlussfolgerung von Maurin:

»Wenn denn’s der Bio-Schlecker ist, ist Alnatura der Bio-dm. Die Karlsruher Drogeriemarktkette zahlte ebenfalls früher als Schlecker Löhne auf Tarifniveau. Schlecker eröffnete Filialen in jedem noch so kleinen Dorf und kämpfte dann mit mickerigen Umsätzen. dm dagegen konzentrierte sich auf profitablere Standorte mit größerem Einzugsbereich. Dann ging Schlecker pleite. Kein gutes Omen.«

Da erscheint ein weiteres strukturelles Dilemma im Einzelhandel fast schon zwangsläufig: Ein kaum vorhandener Organisationsgrad der Gewerkschaft ver.di unter den Mitarbeitern bei denn’s und eine ausgeprägte Abneigung des Firmeninhabers gegen Betriebsräte, die es folgerichtig auch nicht gibt in seinem Reich.

Die Thematik hat es auch in die etablierte Wirtschaftspresse geschafft. So berichtet das Handelsblatt in einem längeren Artikel unter der Überschrift „Glückliche Kühe statt glückliche Mitarbeiter“ über die Vorgänge. In diesem Beitrag wird ebenfalls der bereits erwähnte Handelsexperte Roeb zitiert mit einer positiv gehaltenen Perspektive, die am Schluss dieses Beitrags zitiert werden soll:

»Deswegen glaubt Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, dass die Aussichten für die Angestellten in der Bio-Branche mittelfristig gar nicht so schlecht sind. Denn: „Der Image-Schaden für die Bio-Ketten wäre einfach zu groß“, so der Handelsexperte. Die öffentliche Berichterstattung dränge die Bio-Ketten-Chefs regelrecht zu einer angemessenen Bezahlung. „Die Löhne werden sich wohl eher ein wenig nach oben entwickeln.“«

Hoffen wir mal, dass er Recht bekommt mit seiner Einschätzung.