„Hunderttausende Beschäftigte verzichten auf Hartz IV„, so lautet die Schlagzeile eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung von Thomas Öchsner. Es geht wieder einmal um die so genannten „Aufstocker“, also Menschen, die Einkommen aus Erwerbsarbeit haben, die aber so niedrig sind, dass die Differenz zu dem ihnen zustehenden Hartz IV-Satz in der Grundsicherung als „aufstockende“ Grundsicherungsleistung gewährt wird. Oder eben gewährt werden könnte, wenn man den Ergebnissen von Berechnungen folgt, die vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen vorgelegt wurden. Von denen es aber eine relevante Gruppe anscheinend nicht macht. Ausgangspunkt sind die etwa vier Millionen Menschen, die weniger als sieben Euro brutto die Stunde verdienen. Darunter sind natürlich auch viele, für die der niedrige Lohn in ihrem jeweiligen Haushalts- oder Lebenskontext nicht zu aufstockenden Ansprüchen an das Grundsicherungssystem führt, weil sie beispielsweise mit jemanden zusammenleben, der ein ausreichendes Einkommen hat.
Aber es gibt eben auch diejenigen, die aufstocken könnten. »Doch nicht alle machen von ihrem Recht Gebrauch. Das gilt auch für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor wie Leiharbeiter, Zimmermädchen oder Gebäudereiniger. Obwohl es für sie um ein paar hundert Euro im Monat gehen kann, lassen sich viele von ihnen den Lohn nicht vom Staat mit Hartz IV aufbessern.« Mehrere Hunderttausend Haushalte mit Erwerbstätigen hätten ein Recht auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen, wüssten aber offenbar nicht, dass sie Geld bekommen könnten, so wird Gerhard Bäcker vom IAQ in dem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung zitiert.
Die Ergebnisse basieren auf einen Vergleich: Auf der einen Seite der Hartz IV-Empfänger, dessen Leistungsansprüche sich aus den Regelleistungen sowie den Kosten für eine angemessene Unterkunft zusammensetzen. Wenn er oder sie arbeitet, dann kann ein Teil des Erwerbseinkommens behalten werden, ohne dass dies auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet wird. Und hat der Hartz-IV-Empfänger beispielsweise Kinder, dann stehen ihm oder ihr Leistungen für diese zu. Das IAQ hat nun auf der anderen Seite den Vollzeit-Arbeitnehmer gestellt und für verschiedene Fallkonstellationen ausgerechnet, wie hoch dessen Netto-Einkommen sein müsste, um zuzüglich der ihm oder ihr gegebenenfalls zustehenden Leistungen wie Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag auf einen Betrag zu kommen, der dem entspricht, was der Hartz IV-Empfänger erhält.
Die Ergebnisse dieser Vergleichsberechnungen finden sich in den Erläuterungen des IAQ: „Bei Niedriglöhnen und hohen Mieten: Trotz Vollzeitarbeit droht ein Einkommen unterhalb des Hartz IV-Niveaus„. Dort findet man die folgenden Befunde:
»Um ein Nettoeinkommen zu erreichen, das zumindest auf der Höhe des Grundsicherungsbedarfs/Hartz IV (einschließlich des Erwerbstätigenfreibetrags) liegt, muss – im Januar 2012 – ein vollzeitbeschäftigter Single einen Bruttostundenlohn von 7,98 Euro verdienen.«
Allerdings ist dieser Wert von 7,98 Euro nicht in Stein gemeißelt, sondern er resultiert aus der Annahme bundesdurchschnittlicher Wohnkosten, die bekanntlich eine weite Streuung aufweisen. Genau das berücksichtigen die IAQ-Wissenschaftler und erläutern das am Beispiel München:
»So muss in München der Stundenlohn in einem Single-Haushalt schon bei 9,66 Euro liegen, um auf das Grundsicherungsniveau zu kommen. Bei dieser Berechnung werden die anerkannten Durchschnittsbeträge für München als Maßstab genommen. Die Neumieten in München fallen allerdings noch weit höher aus: Nimmt man die Obergrenze des Mietrichtwertes für München als Maßstab, dann liegt die Stundenlohnschwelle bei 10,93 Euro für einen Single.«
Nun gibt es ja neben dem Single weitere Haushaltskonstellationen, die den zu erreichenden Bruttostundenlohn nach oben treiben. Hier die Zusammenfassung der relevanten Werte für den Bundesdurchschnitt (und immer mitlaufend in Klammern die Werte für einen Arbeitnehmer in München bei Durchschnittsmiete und bei Neumiete):
=> Alleinverdiener in einem Paar-Haushalt ohne Kinder: 10,18 Euro (11,63 Euro/13,23 Euro)
=> Alleinverdiener bei einem Ehepaar mit einem Kind: 10,65 Euro (14,29 Euro/16,49 Euro)
Diese Werte werden jetzt offensichtlich verglichen mit den Befunden über die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor, die das IAQ regelmäßig auf der Basis einer Auswertung der SOEP-Daten veröffentlicht. Daraus soll sich dann das folgende Ergebnis ergeben:
»Derzeit stocken gut 1,3 Millionen Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV auf. Etwa ein Viertel oder mehr als 300.000 haben eine Vollzeitstelle. Bäcker hat ermittelt, dass deren Zahl mindestens doppelt so hoch sein müsste«, schreibt Öchsner in seinem Artikel, wobei sich das aus den Berechnungsunterlagen, die vom IAQ veröffentlicht wurden, nicht auf Anhieb erschließt, wie man auf diesen Wert kommt. Gerhard Bäcker spricht von einer „hohen Dunkelziffer“ bei den aufstockungsberechtigten Nicht-Aufstockern.
»Das mag daran liegen, dass viele von ihren Ansprüchen und den komplexen Gesetzesregeln nichts wissen. Viele dürften aber auch den Weg zum Amt scheuen und lieber eiserne Ausgabendisziplin halten oder Überstunden schieben, als den Staat um Hilfe zu bitten«, so die Schlussfolgerung von Thomas Öchsner in seinem Beitrag.